Welche Erfolge Frauen an anderen Fronten auch erzielten, unter Suffragetten wurden die Jahre von 1896 bis 1910 »die Flaute« genannt. Kein Bundesstaat wurde für das Frauenwahlrecht dazugewonnen, und nur sechs Referenden wurden abgehalten - drei davon in Oregon, die anderen in Washington, South Dakota und New Hampshire; sie endeten alle mit einer Niederlage. Susan B. Anthonys Zusatz zur Bundesverfassung zugunsten des Frauenwahlrechts schien dem Tode geweiht.
Die Situation innerhalb des Wahlrechtsverbands war nicht sehr ermutigend. Fast zwei Jahre nach Miss Anthonys Tod im Jahre 1906 schien es, als habe der Verlust dieser dominierenden Gestalt eine nicht mehr zu füllende Lücke gerissen. Die Frau, welche die NAWSA zu neuer Aktivität hätte zusammenschweißen können, stand nicht mehr am Ruder. Anna Howard Shaws Hingabe war unbezweifelbar, und sie war mit vielen Fähigkeiten begabt, aber sie war kein Organisationstalent.
Die NAWSA hatte nie ein arbeitsfähiges nationales Zentrum gehabt, abgesehen von der kurzen Zeit, als Carrie Chapman Catt voller Hoffnungen ein Hauptquartier in New York eröffnet hatte. Das jetzige »Bundeshauptquartier« dagegen befand sich in der kleinen Stadt Warren in Ohio, und zwar nur aus dem Grund, daß dort die Schatzmeisterin Harriet Taylor Upton lebte. Kate Gordon, inzwischen Schriftführerin, lebte in New Orleans. Dr. Shaw wohnte, wenn sie sich nicht auf Vortragsreisen befand oder bei Kampagnen mitmachte, in der Nähe von Philadelphia. Die übrigen Mitglieder des Bundesvorstandes waren über New York, Chicago, Boston und Louisville (Kentucky) verstreut. Sie trafen sich nur selten zwischen den Konferenzen; die Geschäfte wurden meistens auf dem schwerfälligen Weg per Post versandter Instruktionen und Bitten um Stellungnahme und Meinungen abgewickelt, wann immer Dr. Shaw es für nötig befand, daß eine bestimmte Angelegenheit die Aufmerksamkeit der Mitglieder erforderte. Dr. Shaw war schnell voreingenommen und wurde leicht aggressiv, so daß die Korrespondenz umfangreich, unergiebig und unerfreulich für alle Seiten war.[1] Unter diesen Umständen wurden Meinungsverschiedenheiten sehr schnell persönlich und hitzig ausgetragen. Die Reibereien an der Spitze blieben den anderen nicht verborgen. Die wachsende Unzufriedenheit galt nicht nur diesem schwerfälligen Apparat, sondern auch Dr. Shaws Tendenz, jedes Anzeichen von erwachender Initiative in den unteren Reihen als potentiellen Aufstand zu betrachten. Diese Situation förderte nicht gerade Einsatz und Initiative. Abgesehen von Kampagnen in einigen wenigen Staaten und fruchtlosen Versuchen in vielen andern, Referenden durchzusetzen, bestand die einzige sichtbare Aktion in einer Petition an Präsident Theodore Roosevelt mit der Bitte, sich bei seiner jährlichen Rede an den Kongreß für das Frauenwahlrecht auszusprechen. Mrs. Catt hatte diese Petition in der Hoffnung vorgeschlagen, auf diese Weise dem lähmenden Zustand ein Ende zu setzen - und bei dem Wahlrechtskonvent von 1908 berichtete Miss Gordon, daß sie an den Präsidenten geschrieben habe: »... wir wollten uns erkundigen - bevor wir uns den Mühen und Kosten unterziehen, die eine Petition mit sich bringt -, ob eine solche Petition ihn dahingehend beeinflussen könnte, in seiner Rede das Frauenwahlrecht zu empfehlen. Die Antwort war eine höfliche, aber bestimmte Absage«.[2]
Glücklicherweise hielt die Versammlung eher am Geist Susan Anthonys fest als an dem von Miss Gordon, und es wurde abgestimmt, daß die Sammlung von einer Million Unterschriften für eine Petition in Angriff genommen werde, die nicht an den Präsidenten, sondern an den Kongreß selbst gerichtet werden und einen Verfassungszusatz im Sinne des Frauenwahlrechts beantragen sollte. Es dauerte zwei Jahre, bis im Frühjahr 1910 eine Unterschriftensammlung zwar nicht von einer Million, wohl aber von 404 000 Namen förmlich eingereicht werden konnte.
Glücklicherweise erschöpften sich die Wahlrechts-Aktivitäten nicht in diesem einen Projekt. Wenn auch die bundesweite Arbeit fast zum Stillstand gekommen war, so regte sich doch immerhin in den einzelnen Saaten neues Leben. Die ersten Anzeichen zeigten sich in New York, wo zu dieser Zeit die zwei dynamischsten Frauen der Bewegung beheimatet waren. Eine davon war Mrs. Catt, die trotz ihrer Tätigkeit für den Weltbund für Frauenstimmrecht ihr Interesse an den Vorgängen im eigenen Land nicht verloren hatte. Die andere war Harriot Stanton Blatch, die Tochter von Mrs. Stanton. Harriot Stantons erster Einsatz für die Frauenwahlrechtsbewegung war nicht unbedeutend, obwohl sie damals erst wenige Jahre das College verlassen hatte. Die junge Vassar-Absolventin hatte bei ihrer Mutter und Miss Anthony darauf bestanden, daß ein Kapitel über Geschichte und Leistungen der alten AWSA in das Werk über die Geschichte des Frauenwahlrechts, das damals von den älteren NAWSA-Organisatorinnen zusammengestellt wurde, aufgenommen werden sollte.[3] Sofort wurde ihr diese Aufgabe übertragen. Wäre dieses Kapitel nicht aufgenommen worden, so hätte die in diesem Umstand zum Ausdruck kommende Geringschätzung die Vereinigung der beiden Organisationen noch schwieriger gemacht, als sie ohnehin schon war.
Ein Jahr später, 1882, heiratete Harriot Stanton den Engländer William Blatch, den sie während einer Europareise kennengelernt hatte. Sie hatte zwanzig Jahre in England gelebt und dort an vielen lebendigen sozialen Bewegungen teilgenommen, als sie 1902 mit Mann und Tochter in ihr Heimatland zurückkam. Sie wollte hier ebenso aktiv für die Bewegung arbeiten, in der Elizabeth Cady Stanton sie buchstäblich großgezogen hatte, und war entsetzt über den Zustand, in dem sie sie vorfand: »Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war die Wahlrechtsbewegung im Staat New York völlig festgefahren: ihren Freunden langweilig und ihren Gegnern ein Greuel. Das meiste Pulver wurde gegeneinander in privaten Wohnzimmern und öffentlichen Sälen verschossen, wo die von den eifriger Streiterinnen zusammengetrommelten und aufgescheuchten Anhängerinnen lustlos den alten, immer gleichen Argumenten zuhörten. Unbeirrbare Treue wurde immer noch hochgehalten, aber ach - es war Loyalität einer immer verfahreneren Sache gegenüber. Nichts beschreibt die Situation besser als der Titel einer Ansprache, die eine der Führerinnen hielt: >Sackgasse<. Der einzige Vorschlag, die Sache voranzutreiben, bezog sich auf einen langwierigen Erziehungsprozeß. Wir sollten organisieren, organisieren und noch einmal organisieren, um die öffentliche Meinung zu bilden, zu bilden und noch einmal zu bilden.«[4]
Und noch ein anderer Aspekt der Situation beunruhigte Mrs. Blatch: »Nicht ein Körnchen politischen Verständnisses schien es in der Bewegung zu geben... im staatlichen oder bundesstaatlichen Regierungsapparat mußte nichts geändert werden, um unsere Sache voranzutreiben. Aber in den Angriffsmethoden der Reformerinnen selbst war eine radikale Änderung nötig. Ein einst lebendiger Gedanke war durch phantasielose Arbeitsmethoden fast erstickt worden.«[5] Mrs. Blatchs Ungeduld rührte zum Teil daher, daß sie Kontakt zu den neuen Kräften hatte, die die Bewegung in England allmählich aufrüttelten. Diese Frauen handelten aus derselben Frustration und demselben Protest gegen die Phantasielosigkeit, die auch sie empfand. Seit den 1860er Jahren hatte das Frauenwahlrecht in Großbritannien zur Debatte gestanden, aber es war wie in den Vereinigten Staaten nur wenig vorangekommen. Die beiden größeren Parteien weigerten sich, das Thema überhaupt aufzugreifen oder es zur Debatte im Unterhaus zuzulassen, und unter den Suffragetten wuchs die Unzufriedenheit über so abgenutzte Arbeitsmethoden wie private Treffen, das Übergeben von Petitionen an Parlamentsmitglieder, die sie einfach ignorierten, oder das Befragen der Wahlkandidaten über ihre Einstellung dazu. Einige Frauen hatten versucht, unter den Arbeiterinnen in Manchester und anderen Zentren der Textilindustrie Anhängerinnen zu gewinnen, und begannen, kleine Versammlungen im Freien abzuhalten und auf öffentlichen Veranstaltungen die Regierungssprecher mit der Frage zu unterbrechen, wie sie zum Frauenwahlrecht stünden. 1903 gründete Emmeline Pankhurst eine neue Organisation, den Sozialen und Politischen Frauenbund (Women's Social and Political Union).
Dieser verfolgte anfangs noch keinen spektakulären Kurs, bis zwei seiner Mitglieder gewaltsam aus einer Versammlung entfernt wurden, während der sie einen der Führer der Liberalen Partei, Sir Edward Grey, befragt, oder besser: am Reden gehindert hatten. Draußen wurden die Frauen von Polizisten und Passanten körperlich mißhandelt und schließlich verhaftet: Eine war die Fabrikarbeiterin Annie Kenney, die andere Mrs. Pankhursts Tochter und rechte Hand Christabel. Der Aufruhr und das Aufsehen, die dieser Vorfall erregte, zeigten dem Sozialen und Politischen Frauenbund, daß er eine neue Waffe in die Hand bekommen hatte: Die Frauen gingen daran, brutale Angriffe seitens der Polizei zu provozieren, um die Parteiführer so aus der Fassung zu bringen, daß sie sich gezwungen sahen, irgend etwas in der Sache des Frauenwahlrechts zu unternehmen. Gegen den Widerstand der älteren Wahlrechtsgesellschaften führten die Frauen, durch neue Mitstreiterinnen gestärkt, diese Art der Agitation fort. Später griffen die Frauen auch selbst zur Gewalt - sie schleuderten Steine, warfen Fenster ein, gossen Säure in Briefkästen und griffen Regierungsmitglieder mit Peitschen und mit den bloßen Händen an. Die Weigerung der Behörden, sie im Gefängnis als »politische Gefangene« und nicht wie gewöhnliche Kriminelle zu behandeln, führte zu langen und aufsehenerregenden Hungerstreiks; brutale Versuche mit Zwangsernährung ließen die Flammen der Militanz noch höher schlagen.
Während Mrs. Blatch und andere nach Mitteln und Wegen suchten, die amerikanischen Verhältnisse neu zu beleben, befand sich die britische militante Frauenrechtsbewegung gerade erst in ihrer Frühphase. Mrs. Blatch gab bald jede Hoffnung auf, im Rahmen der etablierten Wahlrechtsgruppen etwas zu erreichen - in New York handelte es sich dabei um den der NAWSA angeschlossenen Staatlichen Wahlrechtsverein -, und gründete eine eigene Organisation:
»Wir, die Weitsichtigsten, hatten unser erstes Treffen im Januar 1907 in der Fourth Street, ein kleines Stück hinter der Bowery in New York. In einem schmutzigen kleinen Raum, der unser Hauptquartier werden sollte, hatten sich vierzig von uns versammelt, um die geeignetsten Mittel zur Wiederbelebung der Wahlrechtskampagne zu diskutieren. Wir alle waren davon überzeugt, daß die Wahlrechtspropaganda spektakulär sein müßte und daß Frauenrechtlerinnen politisch denken können müßten. Wir sahen die Notwendigkeit, die Arbeiterinnen in die Kampagne zu ziehen, und erkannten, daß diese Frauen nicht mit Müßiggängerinnen, sondern mit Frauen bessergestellter Berufe zusammengebracht werden sollten, die auch draußen ihren Lebensunterhalt verdienen mußten. Das Resultat war die Gründung der Liga Erwerbstätiger Frauen für Gleichberechtigung (Equality League of Self-Supporting Women), die später Politischer Frauenbund (Women's Political Union) genannt wurde.«[7]
Nur einen Monat später betrat die Liga bereits die Bühne des Geschehens in Albany, entschlossen, frischen Wind in die jährlichen Anhörungen der Gesetzesvorlage für das Frauenwahlrecht zu bringen, die inzwischen ein rein formeller und trockener Vorgang geworden war. Das geschah dadurch, daß sie zwei Arbeiterinnen als »Sachverständige« für die Gesetzesvorlage beibrachten, und zwar Mary Duffy von der Gewerkschaft der Overallnäherinnen und Clara Silver von der Gewerkschaft der Knopflochnäherinnen; frei von der Leber weg machten sie ihre Aussagen, die die müden Parlamentarier hochschrecken ließen. Mrs. Duffy sagte:
»Uns arbeitenden Frauen wird oft gesagt, daß wir zu Hause bleiben sollten und dann wäre schon alles in Ordnung. Aber wir können nicht zu Hause bleiben. Wir müssen hinaus und arbeiten. Ich habe meinen Mann verloren. Er war Diamanteneinfasser, ein guter Arbeiter, und hat ein schönes Stück Geld verdient, aber dann wurde er krank und lag lange Zeit flach. Ich mußte wieder zurück in meinen Beruf, um die Familie zu erhalten. Meine Herren, wir brauchen jede Hilfe, um den Lebenskampf zu bestehen, und daß der Staat uns übergeht, schafft nur ein Vorurteil gegen uns. Die Bosse denken, und die Frauen glauben es bald selbst, daß wir weniger wert sind als Männer.«[8] Nach nur dreimonatigem Bestehen organisierte die Liga zusammen mit der New Yorker Akademikerinnenliga für Gleiches Wahlrecht ihre erste große öffentliche Versammlung. Im Dezember fühlten sich die beiden Gruppen schon stark genug, ein noch ehrgeizigeres Projekt, nämlich eine Versammlung zu Ehren des Besuchs der britischen Wahlrechtsführerin Mrs. Cobden-Sanderson in der Cooper Union durchzuführen. Neu war auch, daß sie versuchten, die Gewerkschaften zu interessieren; an dem Abend, als Mrs. Blatch und eine Freundin die Gewerkschaftsbüros in ihrem Sinne bearbeiten wollten, legte ein Schneesturm das ganze Verkehrsnetz lahm, und so mußten die beiden Frauen ungefähr acht Kilometer der Fourth Avenue zwischen der 4. und der 134. Straße zu Fuß zurücklegen und die Treppe zu jedem Gewerkschaftsbüro auf ihrem Weg hochsteigen.
Solche Mühen zeitigten Ergebnisse. Nicht nur war die Cobden-Sanderson-Versammlung ein Erfolg, sondern im Oktober 1908 hatte die Liga auch rund 19 000 Mitglieder. Viele der Frauen, die im dynamischen Programm der Liga ihre Energien freisetzen konnten, waren bereits bekannte Persönlichkeiten oder sollten es noch werden: Charlotte Perkins Gilman, Florence Kelley, Leonora O'Reilly, Lavinia Dock vom Henry Street Settlement, Gertrude Barnum von der Frauen-Gewerkschaftsliga, Jessie Ashley, Helen Hoy Greely, Inez Milholland und Rose Schneiderman. Die Liga eroberte immer neues Terrain: sie veranstaltete zum erstenmal in der dreißigjährigen Geschichte der Frauenwahlrechtsbewegung Versammlungen im Freien, legte eine nach politischen Distrikten geordnete Mitgliederkartei an (diese Maßnahme wurde so selbstverständlich im Wahlrechtskampf wie in der übrigen politischen Organisationsarbeit, daß ihre Entstehung vergessen ist) und hielt vor den Fabriktoren der General Electric and American Locomotive in Schenectady Versammlungen ab, um bei den Arbeitern gegen die widerspenstigen Parlamentarier Stimmung zu machen. In der Stadt New York führte sie einen aktiven Feldzug gegen Abgeordnete, die gegen das Frauenwahlrecht waren, und in Albany kämpfte sie für das Recht der Frauen, während der Präsidentenwahl die Stimmabgabe zu kontrollieren. Mrs. Blatchs Organisation gebührt ebenfalls das Verdienst, die Umzüge eingeführt zu haben, die zu einer so erfolgreichen Form der Wahlrechtsagitation wurden, daß die Beunruhigung, die sie anfangs auslösten, bald unverständlich erschien. Die Gleichberechtigungsliga bereitete den allerersten dieser Umzüge 1910 in New York so schwungvoll vor, daß die anderen Wahlrechtsgruppen sich ein Fernbleiben nicht leisten konnten, aber ihr Zögern kaum verhehlten: »Bis zur letzten >Marsch<Teilnehmerin kletterte die Frauenwahlrechtsliga von New York in Automobile, sauste die Avenue hinunter, zeigte sich den Zuschauern wie ein gelber Blitz und war verschwunden. Nicht gerade das, was das Umzugskomitee der Gleichberechtigungsliga hatte erreichen wollen.«[9] Doch innerhalb von ein oder zwei Jahren hatten die Umzüge so an Ansehen gewonnen, daß selbst eine Mrs. O.H.P. Belmont in den Reihen zu finden war und auch andere Städte die Anregung aufgriffen. Angefeuert durch die Nachrichten über die zunehmenden Aktivitäten in England und seitens der Liga selbst (die sich inzwischen Politischer Frauenbund nannte), über die vom Woman's Journal und auf einzelstaatlichen und bundesweiten Wahlrechtsversammlungen berichtet wurden, begannen um 1909 die Frauen in zahlreichen weiteren Staaten, neue Wege zu erproben. Vier Frauen reisten mit dem Bus durch Massachusetts, von Springfield nach Boston, und hielten in jeder kleinen Stadt auf dem Wege ad-hoc-Versammlungen auf Straßen und Plätzen ab, nur ausgerüstet mit dem, was sie bei sich tragen konnten. Sie erregten ungeheure Neugier und Interesse. In Illinois wurden ähnliche Wahlrechts-Touren durch den Staat mit dem Auto unternommen. In Maryland reisten sechshundert Frauen, hauptsächlich aus Baltimore, zum Capitol von Annapolis, um das Wahlrecht zu verlangen. Neue Wahlrechtsgruppen schossen wie Pilze aus dem Boden, untrügliches Zeichen dafür, daß die älteren Gruppen zu statisch waren und die neuen Kräfte einengten; die neuen reichten von Organisationen, die von Mitgliedern der feinen Gesellschaft wie Mrs. Clarence Mackay gegründet worden waren, bis zu einer Gruppe aus Baltimore, zu der eine ganze Schar wirklich erstklassiger Wissenschaftlerinnen der John Hopkins University gehörte; bis zu einer Lohnempfängerinnen-Liga in San Francisco und einer Liga für Politische Gleichberechtigung in Pennsylvania, die versuchte, Hemdblusennäherinnen, Buchbinderinnen, Stenographinnen, Ärztinnen und Zahnärztinnen nach Gewerbegruppen zu organisieren.[10]
Von den altgedienten nationalen Wahlrechtsführerinnen war Mrs. Catt die einzige, die diese neuen Gärungsprozesse wahrnahm; es war kein Zufall, daß sie im Zusammenhang mit ihrer internationalen Wahlrechtsarbeit auch Großbritannien besucht hatte, und obwohl sie nicht davon überzeugt war, daß auch in den USA eine militante Taktik angewandt werden sollte, war sie doch tief beeindruckt von den Aufwallungen, die sich in dieser Taktik Ausdruck verschafften. Aber sie zog es vor, im Rahmen der bestehenden Wahlrechtsvereine zu arbeiten, die der alten NAWSA angeschlossen waren.[11] Während der Jahre 1907 und 1908 fügte sie einige dieser Vereine in New York City zu einem Städtischen Rat (Interurban Council) zusammen, der ein Jahr später das Fundament der Frauenwahlrechtspartei (Woman Suffrage Party) wurde; die Mitglieder wurden nach städtischen und administrativen Bezirken organisiert und von Aktivistinnen geführt, die in von Mrs. Catt konzipierten Schulen ausgebildet waren. Die öffentliche Vorstellung dieser Partei am 30. Oktober 1909 in der Carnegie Hall, bei der tausend Frauen als Delegierte und Stellvertreterinnen der fünf New Yorker Stadtbezirke anwesend waren, war eine reine Formalität; die eigentliche Arbeit war bereits seit Monaten geschehen, wie der Ausgang bewies. Mrs. Catts Plan sah ein Korps von 2000 Wahlbezirksleiterinnen vor, ferner eine Kartei von Mitgliedern und Sympathisanten in jedem Bezirk; sie beabsichtigte, unermüdlichen Druck auf die Parteizentrale der Demokraten, Tammany Hall, auszuüben, die sowohl die Politik des Staates als auch der Stadt New York unter Kontrolle hatte.
Beweis für die Anziehungskraft solcher Arbeitsmethoden waren die Versuche in anderen Staaten, sie zu übernehmen, vor allem in Massachusetts, Maryland, Kalifornien und Illinois. Die Ergebnisse waren immer ein Ansporn, aber nirgends war die Arbeit in dem Maße erfolgreich wie schließlich in New York.
Obwohl die Wahlrechtsbewegung im Osten gerade wiederbelebt wurde, sollten die ersten Siege an der Westküste erfolgen. In allen drei Staaten an der Pazifikküste war die Geschichte der Wahlrechtsbewegung von Mißerfolgen gezeichnet. Die riesige, aber unergiebige Kampagne von 1896 hatte Kalifornien um Jahre zurückgeworfen; die Frauen im Bundesstaat Washington, die schon zur Zeit des Territorialstatus das Wahlrecht erobert hatten, verloren es später durch Gerichtsbeschluß wieder und konnten es auch durch die Referenden von 1889 und 1898 nicht wiedererlangen; die Suffragetten von Oregon hatten sogar vier Referenden verloren. In Washington und Oregon stand jedoch ein weiteres Referendum am 8. November 1910 bevor. In Oregon endete es überraschenderweise wieder mit einer Niederlage, hauptsächlich deshalb, weil Abigail Scott Duniway darauf beharrte, je ruhiger die Kampagne verliefe, um so weniger würden die Interessen der Alkoholindustrie aufgebracht werden. Im benachbarten Washington jedoch wirkte Emma DeVoe, die im alten Organisationsausschuß der NAWSA unter Mrs. Catt für die Wahlrechtsbewegung ausgebildet worden war: So ruhig die Kampagne auch verlief, sie war doch bis aufs letzte durchorganisiert. Es gab nur wenige ausgesprochene Wahlrechtsveranstaltungen und keine Umzüge, aber viele Wahlrechtsrednerinnen traten bei Grange-, Gewerkschafts- und Kirchenversammlungen auf. In den frühen Morgenstunden des 9. November klingelte in New York neben Mrs. Catts Bett das Telefon, und sie erhielt die Nachricht, daß im Staat Washington die seit 14 Jahren dauernde Stagnation mit einer Mehrheit von beinahe 2:1 gebrochen worden war.[12]
Die Nachricht elektrisierte die Wahlrechtskämpferinnen im ganzen Land, aber es sollten noch mehr und bessere folgen. Im Frühjahr 1911 lief in Kalifornien die bis dahin größte Kampagne einer Wahlrechtsorganisation auf vollen Touren, und nach sechs Monaten ununterbrochener Aktivität war sie für Frauen anderswo ein Vorbild für intelligente, flexible und weitreichende Organisation. Keine der bisherigen Praktiken wurde ausgelassen und viele völlig neue wurde ausprobiert, z. B. große Plakatanschläge, Leuchtreklamen, Aufsatz-Wettbewerbe in Oberschulen, historische Umzüge, Theater und andere Arten von Unterhaltung. In späteren Kampagnen standen den Organisatorinnen und Rednerinnen ganze Autokonvois zur Verfügung. Die College-Liga für das gleiche Wahlrecht Nord-Kaliforniens (Northern California College Equal Suffrage League) fuhr einen »Blue Liner«, einen ausrangierten PKW mit sieben Sitzen, der bereits in der Washingtoner Kampagne gedient hatte: »Obwohl der Wagen in den Tageszeitungen und von uns als das >Kampagnenauto< bezeichnet und angesehen wurde, leistete er auch noch andere Dienste. Er war überhaupt Bote und fliegender Teppich für die College-Liga. Er brachte die Truppe, die >Wie das Wahlrecht gewonnen wurde< spielte, zu ihrem Bestimmungsort. Er holte Rednerinnen aus dem Osten von der Fähre der Bay ab, brachte den Nachschub an Rednerinnen für öffentliche Versammlungen von Saal zu Saal, Dekorationsmaterial in die Theater und lud Unmengen von Blumen und Ballons für kleine und große Feste auf, brachte Rednerinnen zu entlegenen Fabriken, damit sie in der Mittagspause zu den Arbeitern sprechen konnten, transportierte Holz und Flaggen für den Festwagen zum Tag der Arbeit, fuhr am Wahltag Arbeiter zur Wahl, brachte den Beobachtern in den Wahllokalen Essen, fuhr mehrmals die Woche zwischen Berkeley und San Francisco hin und her... und dann zu einer der 24-stündigen Kampagnenfahrten ins Land hinein.«[13]
Und in der Morgendämmerung des Wahlvortages transportierte der Blue Liner, aufgeputzt mit Girlanden aus Herbstblumen und »Wahlrecht für Frauen«-Schildern, die berühmte Sängerin Nordica zum Union Square in San Francisco, wo sie vor einem den großen Platz überflutenden Publikum reden und die amerikanische Nationalhymne singen sollte. Weitere Rednerinnen standen an den vier Ecken des Platzes, um zu denjenigen, die Nordica möglicherweise nicht hören konnten, zu sprechen, so groß war die Menge, und sie hatten bis ein Uhr nachts zu tun, als Nordica schon lange nach Hause gegangen war.
Obwohl die Unterstützung einer einzelstaatlichen Kampagne durch die NAWSA nicht ungewöhnlich war, erreichte die Unterstützung, die den kalifornischen Frauen aus dem ganzen Land zuteil wurde, ein bisher nie gekanntes Ausmaß: Nie zuvor war die schwesterliche Solidarität so stark gewesen, und nie war sie aus so weiter Ferne gekommen. Eintausend Dollar trafen von der soeben gegründeten Frauenwahlrechtspartei aus New York ein. Illinois schickte zwei der besten Rednerinnen, Catharine Waugh McCul-loch und Helen Todd, und bezahlte deren Reisekosten. Gail Laughlin kam aus Colorado, Jeanette Rankin aus Montana und Helen Hoy Greely aus New York.
Bis zur letzten Woche der Kampagne wurden diese und viele andere Rednerinnen von den großen Städten ferngehalten. Letztlich sollte sich die endlose Kette von Versammlungen in kleinen Städten, Dörfern und Privatwohnungen und die Organisation von kleinen Gruppen dort, wo vorher kein Anzeichen für das Interesse am Frauenwahlrecht sichtbar gewesen war, als ausschlaggebend erweisen.
Nie waren Ursache und Wirkung klarer. Diese Strategie war von dem Wissen bestimmt worden, daß die Alkohol-Industrie wie bereits 1896 auch nicht davor zurückschrecken würde, die Stimmen von San Francisco und Oakland zu kaufen. Der gesamte politische Apparat der dortigen Stimmungsmacher und Barkeeper lief auf Hochtouren, und beinahe hätte er gewonnen:
»Ich bin sicher, daß wir Stimmen verloren, wo immer wir ein Wahllokal unkontrolliert ließen - auf diese Weise haben wir in den kalifornischen Großstädten vielleicht Tausende verloren. In meinem eigenen Wahllokal hatte ich mit äußerster Wachsamkeit darauf zu achten, daß der Ansager >Ja< zu unserem Zusatz ausrief und nicht >Nein<, was er leicht tun konnte... und die Eintragungen der beiden Auszähler zu kontrollieren, daß sie eine Stimme für uns in der »Ja«-Spalte und nicht in der »Nein«-Spalte eintrugen... Der gesamte Wahlausschuß des Wahllokals war auffallend feindselig. Wir waren im Dienst von 5 Uhr 30 bis 23 Uhr 30 und beobachteten, wie unsere Stimmen auf Zählbögen eingetragen wurden.«[14]
Am Morgen nach dem Wahltag, als erst die städtischen Stimmen ausgezählt worden waren, wurden erschöpfte Wahlrechtsaktivistinnen geweckt mit Meldungen über die Niederlage, die in den Zeitungen überall im Land verbreitet wurden. Die ländlichen Stimmen waren noch nicht eingegangen und ließen einen Hoffnungsschimmer zu. Dazu kam die Nachricht, daß die Auszählungen in vielen Landkreisen manipuliert wurden, und in diese Gegenden schickte man Verstärkung zur Kontrolle der Auszählung; in San Francisco und Oakland beobachteten tagelang Freiwillige und Polizeibeamte die Keller, in denen die Stimmzettel deponiert waren, um jeglichen Versuch zu vereiteln, die Stimmen auf die für die Niederlage der Wahlrechtssache benötigte Höhe »anwachsen« zu lassen.
Das Frauenwahlrechtsreferendum wurde in Kalifornien mit 3587 Stimmen gewonnen, eine durchschnittliche Mehrheit von einer einzigen Stimme in jedem Wahlkreis des Staates. Die Wahlrechtskämpferinnen jubelten - und erschauderten bei dem Gedanken an die knappe Mehrheit. Die politischen Besserwisser sahen sich vor die Tatsache gestellt, daß das Frauenwahlrecht plötzlich, wie es ihnenfschien, aus dem Bereich der Spekulation in den der praktischen Politik übergewechselt war. Mit dem Sieg in Kalifornien konnten die Frauen jetzt in sechs Staaten des Westens wählen und stellten insgesamt 37 Wahlmänner für die Präsidentenwahl. Im folgenden Jahr wurden sechs Staaten von Referendumskampagnen überflutet. Was bislang nur eine von vielen sozialreformerischen Strömungen gewesen war, wurde jetzt zu einer ernst zu nehmenden politischen Kraft.
Es brauchte einige Zeit, bevor die Saat aufging und neues Leben in die NAWSA-Führung kam - um genau zu sein, die zehn Jahre vom Tod Miss Anthonys bis 1916. Die NAWSA-Führung hatte sich aus den erfolgreichen Kampagnen in Washington und Kalifornien herausgehalten. Auf der Jahresversammlung von 1910 kam es zum offenen Bruch, wobei gegen Dr. Shaw schwere Vorwürfe erhoben wurden und alte Kämpferinnen wie Harriet Taylor Upton, Rachel Forster Avery und Florence Kelley aus dem NAWSA-Vorstand austraten. Der Rückzug dieser Frauen war nicht lediglich Zeichen persönlicher Konflikte, sondern einer sich vertiefenden Krise, Folge des Mangels einer klaren politischen Linie, die den immer zahlreicher werdenden tatendurstigen Suffragetten eine Richtung und stärkeren Antrieb verschafft hätte.
Während der darauffolgenden fünf Jahre bis 1916 erfolgten auf jeder nationalen Konferenz größere personelle Umbesetzungen. Frauen mit höchst unterschiedlichen Ansichten - die reiche Sozialistin Jessie Ashley, die Soziologin Sophonisba Breckenridge, Jane Adams (die bei der Gründung der Fortschrittspartei 1912 eine führende Rolle spielte) und Damen der vornehmen Gesellschaft wie Katherine Dexter McCormick und Harriet Laidlaw -lösten einander ab bei dem Versuch, eine beständige Führung aufzubauen. Ein solcher Versuch war unter Dr. Shaws ehrgeiziger und schwankender Führung von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Während dieser Zeit war Carrie Chapman Catt teilweise völlig von der amerikanischen Bühne verschwunden, spielte aber 1912 bei der sich langsam entwickelnden Kampagne für ein Frauenwahlrechtsreferendum in New York eine aktive Rolle. Während der schärfsten Auseinandersetzungen in den Jahren 1910-1911 befand sie sich im Auftrag des Weltbunds für Frauenstimmrecht auf einer Weltreise, und schrieb, wie sich später erweisen sollte, mit seltenem Scharfblick an eine Freundin:
»Ich glaube nicht, daß es zu einem Bruch kommen wird. Wenn die Meinungen über persönliche Angelegenheiten auseinandergehen, bleibt man besser bei der Organisation und verändert sie. Über die Taktik scheinen keine großen Meinungsverschiedenheiten zu bestehen. Ich freue mich, daß es in der NAWSA Streit gibt; das läßt auf Lebendigkeit und Wachsamkeit schließen. Noch vor wenigen Jahren hätte nichts die Wahlrechts-Konferenz aus ihrer Friedhofsruhe aufscheuchen können ... es geht etwas vor sich, und ich bin froh darüber. Ich darf wohl sagen, die NAWSA ist morsch, aber gib einem Kalb einen Strick, und es hängt sich auf. Warte nur ab, bis es tot ist. Die Nachfolger werden dann das Feld, den guten Willen und den Besitz erben, nicht aber den Ärger und den Groll. Geduld ... die NAWSA wird entweder sterben oder wieder zu sich kommen. Laß ihr Zeit.«[15]
Trotz aller Unstimmigkeiten fanden einige vielversprechende Veränderungen statt. Ab 1910 verfügte die NAWSA über ein funktionsfähiges Hauptquartier in New York, das zunächst dank der Schenkung von Mrs. O. H. P. Belmont und später von anderen Wohltäterinnen finanziert wurde. Die Kämpfe, die Arbeiterinnen führten, hatten ihre Auswirkungen: Den Frauen in der Industrie gewidmete Vereinstreffen waren an der Tagesordnung, und Margaret Dreier Robbins, Leonora O'Reilly, Rose Schneiderman sowie andere gehörten inzwischen dazu, obwohl sie in Wahlrechtsräten nie die
Führungsspitze erreichten. Als Miss Schneiderman bei einer Versammlung in der Cooper Union eine Rede hielt, um den von einem Senator des Staates New York geäußerten Befürchtungen entgegenzutreten, Frauen würden ihre Weiblichkeit verlieren, gäbe man ihnen das Wahlrecht, klärte sie nicht nur die Parlamentarier, sondern auch die ihr zuhörenden Frauen aller Klassen auf:
»Unsere Frauen arbeiten in den Gießereien, ausgezogen bis aufs Hemd, wenn Sie erlauben, und zwar wegen der Hitze. Aber darüber, daß diese Frauen den Charme verlieren, sagt der Senator nichts. Sie müssen ihren Charme und ihr Feingefühl hintanstellen und in den Gießereien arbeiten. Natürlich wissen Sie, daß sie nur deshalb in den Gießereien angestellt werden, weil sie billiger und länger arbeiten als Männer. In Wäschereien stehen Frauen zum Beispiel 13 oder 14 Stunden lang in fürchterlichem Dampf und schrecklicher Hitze, die Hände in heißer Stärke. Mit Sicherheit werden diese Frauen kein bißchen mehr von ihrer Schönheit und ihrem Charme dadurch verlieren, daß sie einmal im Jahr einen Wahlzettel in eine Wahlurne werfen, als dadurch, daß sie das ganze Jahr lang in Gießereien und Wäschereien stehen. Es gibt keinen härteren Kampf als den ums Brot, das kann ich Ihnen sagen.«[16] Wie sehr die Gemeinsamkeit von Frauen aller Klassen zunahm, wurde deutlich bei den Umzügen, die zu einem festen Bestandteil des New Yorker Frühlings geworden waren. Die Reaktion der Zuschauer hatte sich allmählich von Feindseligkeit und Belustigung zu wohlwollendem Interesse und sogar Respekt gewandelt; das bezeugt der Bericht eines auswärtigen Korrespondenten 1912 an seine Zeitung:
»Frauen, die die Fifth Avenue gewöhnlich durch die polierten Fenster ihrer Limousinen betrachten, schritten Seite an Seite mit bleichen mageren Frauen aus den schwülen Schwitzbuden der East Side. Mrs. O.H.P. Belmont lief nur wenige Schritte vor Rebecca Goldstein, die in einer Hemdennäherei an der Nähmaschine sitzt. Während des ganzen Umzugs entlang der Fifth Avenue, vom Washington Square, wo er begann, bis zur 57. Straße, wo er sich auflöste, schlössen sich Tausende New Yorker Männer und Frauen an. Sie versperrten jede Kreuzung der Marschroute. Viele waren zu Gelächter und Spott aufgelegt - aber niemand traute sich. Beim Anblick dieser beeindruckenden Kolonne von Frauen in Fünferreihen mitten auf der Straße erstarb jeder Gedanke an Lächerlichkeit. Sie waren typische, frauliche amerikanische Frauen... Ärztinnen, Rechtsanwältinnen, fabelhaft aussehend in ihren akademischen Roben; Architektinnen, Künstlerinnen, Schauspielerinnen und Bildhauerinnen; Kellnerinnen, Dienstbotinnen; ein Riesenbataillon Fabrikarbeiterinnen; Frauen aus den sieben Wahlrechtsstaaten der Union; eine große Delegation aus New Jersey; noch eine aus Connecticut... sie alle marschierten mit einer Stärke und Zielstrebigkeit, die die Menge am Straßenrand in Erstaunen versetzte.«[17]
Optimismus lag in der Luft, denn in jenem Jahr liefen sechs Kampagnen für Referenden, in Arizona, Kansas, Oregon, Michigan, Ohio und Wisconsin; der Ausgang in den drei letzten mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte sollte die Industriestaaten des Ostens stark beeinflussen.[18]
Noch wochenlang nach der Wahl glaubten die Suffragetten, sie hätten vier Staaten dazugewonnen: Arizona, Kansas, Oregon - endlich! - und Michigan. Erst allmählich wurde klar, daß die abgegebenen Stimmen in Michigan derselben Behandlung unterzogen wurden, die die Frauen in Kalifornien 1911 gefürchtet hatten, aber verhindern konnten:
»Die ersten Eingänge zeigten einen günstigen Trend, und die Mehrheit für das Wahlrecht stieg stetig auf 8000. Aber viele weit verstreute Wahlbezirke hielten in geheimnisvoller Weise und ohne Erklärung die Ergebnisse zurück. Sie wurden nacheinander freigegeben und drückten die Mehrheit auf 5000 herunter, wo sie stehenzubleiben schien, und Michigan wurde der Welt als weiterer Staat mit dem Wahlrecht für Frauen vorgestellt. Dann siebten die zögernden Bezirke noch einmal ihre Stimmeingänge durch, zeigten jeder eine verdächtig hohe Mehrheit für die Gegenseite, bis die Mehrheit zugunsten des Wahlrechts leicht ins Gegenteil umschlug. Viele Wochen vergingen bei diesem Verfahren und die entnervten Suffragetten, die genau merkten, was vorging, standen diesem absichtlichen Wahlbetrug hilflos gegenüber.«[19]
Trotz heftiger Empörung in der Öffentlichkeit und trotz der Versuche von Seiten des Gouverneurs, eine ehrliche Auszählung sicherzustellen, wobei er sogar eine öffentliche Erklärung abgab, in der er die Brauereibesitzer der Komplizenschaft bei dem begangenen Betrug beschuldigte, zeigte das offizielle Ergebnis eine knappe Mehrheit von 760 Stimmen für die Gegner des Wahlrechtsgesetzes. Es wurde fast unmittelbar danach erneut vorgelegt und scheiterte wieder; Mrs. Catt wies auf den merkwürdigen Umstand hin, daß die Zunahme der Gesamtstimmen und die der Nein-Stimmen bis auf das Komma identisch waren: 16 747.[20] Die Ja-Stimmen rutschten gefährlich ab, und die Abstimmung ging mit fast 100 000 verloren. Verständlicherweise entmutigt durch derartig unverschämte Schuftereien, gaben die Suffragetten von Michigan für einige Jahre Referendumskampagnen in ihrem Staat auf. In Ohio und Wisconsin war die Niederlage viel größer als bei der ersten Abstimmung in Michigan - die Alkoholindustrie war zu stark und die Frauen zu schwach, als daß jene Art von dreistem Betrug wie in Michigan nötig gewesen wäre. In Ohio, wo die Abstimmung während einer im September anläßlich von Zusätzen zur Staatsverfassung abgehaltenen Sonderwahl stattfand, war die Alkoholindustrie so stark, daß sie sich offen damit brü-stete, sie sei verantwortlich für die Niederlage des Frauenwahlrechts. Ein Wahlrechtssieg im Territorium von Alaska, hoch im Norden, dessen erster gesetzgeberischer Akt nach der Einrichtung des Territorialstatus 1912 die Annahme eines Frauenwahlrechtsgesetzes gewesen war, konnte die Situation nicht wirklich verändern.[21] Eine objektive bundesweite Analyse des Geschehens in Sachen Wahlrecht zu Anfang des Jahres 1913 hätte etwa folgendes ergeben:
Die Siege in Washington und Kalifornien hatten gegen das Frauenwahlrecht eine Opposition hervorgerufen, die sich nicht mehr so leicht überrumpeln ließ. Frauen besaßen das volle Wahlrecht in neun Staaten, in denen sie insgesamt eine Wählerschaft von sechseinhalb Millionen stellten. Die drei 1912 dazugewonnenen Staaten stellten 18 Wahlmänner, das machte eine Gesamtzahl von 45 Wahlmännern in den Wahlrechtsstaaten, aber keiner der Staaten besaß entscheidenden politischen
Einfluß. Darüber hinaus wählten Frauen allerdings in weiteren 29 über das ganze Land verstreuten Staaten in Schul-, Steuer- oder Anleihe-Angelegenheiten oder auch bei Gemeinde-Wahlen.
Die Annahme war berechtigt, daß die Stärke der Opposition in direktem Verhältnis zur politischen Bedeutung des Staates ansteigen würde.
War unter solchen Umständen der »Weg« über die einzelnen Staaten zum Frauenwahlrecht wirklich der vorzuziehende und meist versprechende?[22]
Die immer zahlreicher werdenden Frauen, die an diesem Weg zweifelten, erhielten Rückendeckung durch die Erfahrung von 1913 in Illinois. Trotz breiter Unterstützung für das Wahlrecht lehnte es der Gouverneur hier rundheraus ab, die Wähler darüber abstimmen zu lassen; die Suffragetten setzten deshalb auf die Möglichkeit, ein Wahlrechtsgesetz - in diesem Fall das Stimmrecht bei der Wahl des Präsidenten der Vereinigten Staaten -durch das Parlament durchzusetzen. Sie gründeten ihre Argumente auf Artikel II, Abs. 2 der Bundesverfassung, in dem es heißt: »Jeder Staat soll in der von der gesetzgebenden Versammlung vorgeschriebenen Weise eine Zahl von Wahlmännern bestimmen, die der Summe von Senatoren und Abgeordneten gleich ist, die dem Staat im Kongreß zustehen.« In jenem Jahr war die Fortschrittspartei, die in der Nachfolge der alten populistischen Bewegung in einer Reihe von Staaten des Westens und Mittelwestens große Gewinne erzielt hatte, das Zünglein an der Waage des Parlaments von Illinois. Grace Wilbur Trout und Elizabeth K. Booth leiteten eine Kampagne, die sorgfältig bis in alle Einzelheiten organisiert war, um sicherzustellen, daß jeder als wohlgesonnen bekannte Abgeordnete bei der Abstimmung auch wirklich auf seinem Platz saß. Die Bewohner des settlement Hüll House arbeiteten unermüdlich, die Wahlbezirke im Land machten durch eine Flut von Telegrammen an ihre Abgeordneten von sich reden, und der erbitterte Widerstand der Bier- und Schnapsindustrie konnte zum ersten Mal erstickt werden. 29 Wahlmänner konnten der Kolonne der Wahlrechtsvertreterinnen hinzugefügt werden, das ergab 74 im ganzen Land.[23]
Aber so eindrucksvoll diese Zahlen auch sein mochten und so sehr auch die Tatsache ermutigte, daß das Frauenwahlrecht schließlich, wenn auch nur in beschränktem Umfang, östlich des Mississippi hatte Fuß fassen können - die günstigen Umstände, die dazu geführt hatten, ließen sich anderswo nicht unmittelbar wiederholen. Die Aussicht auf eine weitere Sackgasse richtete den Blick einer wachsenden Zahl von Suffragetten auf Washington, die Hauptstadt der Nation, wo ein neuer Einsatz für das Wahlrecht seinen Lauf nahm.