Autobiografische Eintragungen 1 bis 6

1.
Die dreißig Skinheads näherten sich Mahlsdorf mit Eisenstangen, Gaspistolen, Leuchtspurmunition und herausgebrochenen Zaunlatten.

Ich spähte aus dem Fenster meines Gründerzeitmuseums in den Garten. An den Wäscheleinen schaukelten Monde aus Papier im Wind. Die rund achtzig noch verbliebenen Gäste feierten ein unbeschwert-harmonisches Frühlingsfest: Die Tina-Turner-Dublette hatte sich schon abgeschminkt, auch die Bauchtänzerin wippte nicht mehr vor den Gästen, sondern stand mit ihnen an der Cocktailbar. Würstchen wurden gegrillt, Schwule und Lesben tanzten, und der Mond schien wie auf einer Kitschpostkarte durch die Bäume des Parks.
Schnell noch das Licht ausmachen und mal draußen gucken, dachte ich. Den ganzen Abend hatten meine Mitarbeiterin Beate und ich an diesem Maitag 1991 Gäste von nah und fern im Halbstundentakt durchs Museum geführt.
Die letzte Lampe kaum gelöscht, hörte ich jenes Geräusch, klirrend hell, gegen das ich seit nunmehr vierundfünfzig Jahren allergisch bin: zersplitterndes Glas. Ein junger Mann stürmte, blaß wie eine Leiche, ins Museum. »Du mußt die Polizei rufen!«
Die Neonazis droschen mit den Latten wahllos auf die Gäste ein. Alles ging wahnsinnig schnell. Meiner zweiten Mitarbeiterin Silvia schoß ein besonders Mutiger aus nächster Nähe mit der Leuchtpistole ins Gesicht, knapp neben das Auge. Bei einer jungen Frau aus München verfehlte das Geschoß sein Ziel nicht: Ihre Netzhaut wurde schwer verletzt. Einer Achtzehnjährigen schmetterten sie eine Zaunlatte auf den Schädel.
Geschrei und Stöhnen mischten sich in das krachende Bersten der Info-Stände, die die Ostberliner Schwulengruppe aufgebaut hatte, und der Musikanlage, auf die der rohe Haufen martialisch einschlug.
Die Bomberjacken stürmten die Tanzfläche. Dort stand, einem Leuchtturm gleich, ein Transvestit, im ausladenden Fummel und mit großem, rotem Schwingerhut. Sie wollten auf ihn einprügeln, zögerten aber feige, denn er hatte sich inzwischen ebenfalls mit einer Zaunlatte bewaffnet, war von gleißendem Scheinwerferlicht umhüllt und brüllte die Meute an: »Warum seid ihr so brutal?« Das wiederholte er zweimal, und plötzlich blieben sie stehen, blickten sich verwirrt an. Jemand rief: »Die Bullen kommen«, und die Jungnazis stoben auf und davon wie eine Herde in Panik geratenes Vieh. Mit ihrer Munition schossen sie noch auf den benachbarten Lumpenhof, tausend Tonnen Altpapier gingen in Flammen auf. Schreie, Durcheinanderlaufen, die Feuerwehr rückte an mit fünfzig Mann, löschte, fuhr die Verletzten ins Krankenhaus - es war ein einziges Chaos.
Mit einer eisernen Hacke in der Hand lief ich aus dem Haus. Silvia und Beate kamen mir entgegen und berichteten, es sei alles vorbei. Sie hielten mich fest und bugsierten mich wieder ins Haus. Sie wußten, wenn mir jemand unter die Hände gekommen wäre, hätte ich zugeschlagen, ohne Rücksicht auf Verluste.
Eine Stunde später ging ich mit der Taschenlampe in den Garten, sah die zerschlagenen Stände, die Flaschenscherben, den zerstörten Plattenspieler und die zertrümmerte Musikbox. Ich fegte die Scherben der Kellertürscheiben vom Parkweg und dachte: Wie sich die Bilder gleichen!

Ich fuhr mit der Straßenbahn durch Mahlsdorf-Süd Richtung Köpenick und sah aus dem Fenster: Der Lebensmittelladen Egona war ebenso zerschlagen wie das jüdische Seifengeschäft Wasservogel, auch das jüdische Kaufhaus Cohn in Köpenick hatte keine Fensterscheiben mehr. Die Straßenbahn hielt in der Altstadt, direkt gegenüber einem Textilgeschäft. Die junge Inhaberin, tränenüberströmt, fegte die Reste ihrer Habe zusammen. Drei SA-Männer standen breitbeinig neben ihr: »Du olle Judensau, jetzt lernste endlich mal arbeiten.« Ich war so wütend, krallte meine Hand um eine Haltestange in der Bahn. Sie traten die Frau mit ihren schweren Stiefeln in die Hüfte, sie fiel in die Glasscherben. Die Straßenbahn fuhr weiter. Als ich von der Schule zurückkam, waren alle Geschäfte mit Brettern vernagelt. Es war der Morgen des 10. November 1938.
Zu Hause erzählte unser Dienstmädchen, wie die Nazis in den anderen jüdischen Geschäften gewütet hatten: »Herr Brauner«, sagte sie mit vor Empörung zitternder Stimme zu meinem Großonkel, »Sie machen sich ja keine Vorstellung, wie bei Tietz, bei Wertheim und Brandmann die Geschäfte zerschlagen wurden. Bei Brandmann haben sie alle Standuhren durch die Schaufensterscheiben auf die Straße geworfen. Und die SA-Männer sind mit Stiefeln in die Glaskästen und haben die Gewichte, die schweren Gewichte, auf die Zifferblätter geworfen und sich die Taschen gefüllt mit Gold und Juwelen. Das ist ja ein Verbrechen!«
Konnte das wahr sein? Die in ganz Berlin bekannte Firma Brandmann, deren Werbung ich im Radio immer mit Wonne gehört hatte, zerstört? Bim, bam! tönte es aus dem Radio, und dann folgte die Werbung für die Brandmann-Standuhren in der Münzstraße. Wie oft gingen mein Großonkel und ich an den Auslagen vorbei, und was war ich beglückt, die schönen Uhren im Schaufenster zu sehen.
Unwillkürlich begann mein Großonkel zu flüstern: »Emmi, behalten Sie das alles für sich, wir müssen vorsichtig sein. Wer weiß, was noch alles kommt.« Ja, das war weise gesprochen von meinem Großonkel, dem ich so vieles verdanke.
In Mahlsdorf, einem verträumten Dörfchen am Ostrand Berlins, hatte ich zehn Jahre zuvor, am Sonntag, dem 18. März 1928, das Licht der Welt erblickt. Ich, Lothar Berfelde.

2.
Die Berfeldes entstammen märkischem Uradel und sind erstmals 1285 in einer Chronik erwähnt. Damals gründeten sie das Dorf Berfelde, heute Beerfelde, bei Fürstenwalde. Mehrfach wandelte sich im Laufe der Jahrhunderte die Schreibweise unseres Namens, von Berfelde über Beerfelde und Bärfelde bis Baerfelde, Berfeldt und Beerfeldt. Das Familienwappen aber, ein in der Mitte geteilter Schild mit einem Stern auf blauem und einem auf silbernem Grund, blieb unverändert.
Meine Linie entstand aus einer Mesalliance: Ein Vorfahr, Offizier in der preußischen Armee, hatte Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ein Fischermädchen geehelicht, was in der damaligen Zeit äußerst unstandesgemäß war. Als »verdunkelter« Adel führten wir zwar weiter unser Wappen, verloren aber das »von«.
Nachfahren derer von Beerfelde, des adligen Zweiges, mit dem ich nur noch über viele Ecken verwandt bin, besaßen bis 1907 das Schloß- und Rittergut Zuchen bei Zanow, in der Nähe von Köslin in Pommern.
Das Oberhaupt dieser Familie, Bertha von Beerfelde, Mutter von neun Kindern, hatte in ihrem Leben einen steinigen Acker zu pflügen. Ihr Mann, Rittmeister Rudolf von Beerfelde, stürzte - er war Schwedter Dragoner - bei einem Manöver und wurde von seinem Pferd erdrückt. Nach einem Brand 1905, dem Viehsterben und den Mißernten im darauffolgenden Jahr entschloß sich Bertha von Beerfelde, das Gut zu verkaufen und den Erlös unter ihren neun Kindern aufzuteilen. Der Käufer, der Mühlenbesitzer aus Zanow, brachte das Geld in bar mit. Zweieinhalb Millionen Goldmark, und im Ballsaal des Schlosses nahmen Mutter und Kinder sowie Käufer und Geldbote Platz. Auch der Förster war geladen und hatte seine schußbereite Flinte geschultert, falls irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugehen sollte.
Jedes der neun Kinder bekam zweihundertfünfzigtausend Goldmark vor sich auf den Tisch gelegt, vom Rendanten abgezählt, desgleichen die Mutter. Danach erhob sie sich und ermahnte ihre Kinder: »Nun seid sparsam, und wuchert mit eurem Pfunde!«
Einer ihrer Söhne, mein entfernter Onkel Hans-Georg von Beerfelde, Hauptmann im Alexanderregiment und preußischer Offizier, war zunächst glühender Nationalist und für seinen Kaiser begeistert in den Ersten Weltkrieg gezogen. Couragiert und wahrheitsliebend bis zum Fanatismus, ging ihm aber nach wenigen Jahren ein Licht auf, als nämlich die neuen Herren, der »Held von Tannenberg« Hindenburg und der eigentlich die Hebel der Macht bedienende Erste Generalquartiermeister Ludendorff, die Führung übernahmen in diesem immer aussichtsloser werdenden Krieg.
»An einem Frontabschnitt, wo es ein erfahrener Soldat schwer hat, zu kämpfen, ist es nicht ratsam, Schüler und Studenten einzusetzen, die nur drei Wochen Ausbildung haben.« Der Kaiser prüfte meinen Onkel aus kalten Augenfalten und verzog seine Mundwinkel; grimmig schaute er den an, der es in der Lagebesprechung mit dem stellvertretenden Generalstab gewagt hatte, Kritik zu üben.
Nach der Schlacht von Langemarck, bei der ein Teil der Blüte der deutschen Jugend hingemäht worden war - Berichten von Zeitzeugen zufolge hallten die grauenhaften Schreie der Jungen nach Vater und Mutter vom Schlachtfeld wider -, ließ sich Hauptmann Beerfelde bei seinem obersten Kriegsherrn melden. Den Vorzimmerdienst versah an jenem Tage Oberst Graf von Plüskow, der ihn ängstlich begrüßte: »Majestät ist nicht bei guter Stimmung. Ich hoffe, Sie haben ihm nichts Unangenehmes zu melden.« -»Nur die Wahrheit«, entgegnete mein Onkel vielsagend. Er bekam Zutritt, seine Majestät saß hinter einem mit Bronzebeschlägen verzierten Schreibtisch, breitete die Hände aus und fragte: »Na, mein lieber Beerfelde, was hat Er mir denn zu sagen?«
Mein Onkel war durchaus nicht geneigt, dem Leitspruch beim Umgang mit dem Kaiser- »Majestät braucht Sonne« -zu folgen: »Majestät, das ist kein Krieg mehr, das ist Mord!« Der Kaiser wurde puterrot, so etwas hatte noch niemand gewagt, ihm ins Gesicht zu sagen: »Beerfelde, wie kann Er denn als preußischer Offizier so etwas äußern?« Aber mein Onkel ließ sich nicht einschüchtern, der Wortwechsel wurde so scharfzüngig und das Gebrüll zwischen Kaiser und Hauptmann so laut, daß Plüskow, vor der Türe stehend, ganz weiß wurde.
Mein Onkel riß sich die Offiziersepauletten von der Litewka und warf sie Wilhelm II. vor die Füße: »Damit bin ich den letzten Tag Offizier gewesen.« - »Das ist Desertion«, schnaubte der Kaiser. Mein Onkel ließ ihn einfach stehen, stürzte hinaus und warf krachend die Tür ins Schloß. Der meinem Onkel stets wohlwollend gesinnte Plüskow schaute ihn in einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid an: »Ich muß Sie nun verhaften lassen, Desertion bedeutet Kriegsgericht und Todesurteil.«
»Der alte Herr tat mir aufrichtig leid in diesem Moment«, erzählte mir mein Onkel später, als hätte er noch immer nicht begriffen, in welcher Gefahr er sich damals befand.
Einige Wochen nach dem Wortgefecht zwischen Kaiser und Hauptmann erschien Plüskow in der Militärstrafanstalt in der Lehrter Straße in Berlin und teilte meinem inhaftierten Onkel mit, der Kaiser sei bereit, alles zu vergessen, wenn er, Beerfelde, sich offiziell entschuldige. Wilhelm II. wollte den Vorfall nicht dramatisieren und einen seiner besten Offiziere verlieren. »Wenn sich jemand zu entschuldigen hat, dann ist es der Kaiser und nicht ich«, bekam er zur Antwort. »Was ich gesagt habe, ist die Wahrheit, und zu der stehe ich. Und dafür gehe ich auch in den Tod.«
Beerfelde nutzte die Haftzeit, um eine Broschüre zu verfassen, die unter dem Titel »Michel, wach auf!« für einen Skandal sorgte. Gestützt auf Informationen des Fürsten Lichnowsky, des früheren deutschen Botschafters in London, deckte er die Fälschungen des deutschen Weißbuches von 1914 auf, das die Ursachen des Ersten Weltkrieges in einem für Deutschland viel zu günstigen Licht darstellte. Das Deutsche Reich, eingekreist von seinen Feinden, sei in den Krieg gedrängt worden.
Einzig die Novemberrevolution 1918 verhinderte, daß mein Onkel dem Kriegsgericht vorgeführt wurde. Arbeiter stürmten das Militärgefängnis und trugen Beerfelde auf ihren Schultern aus dem Gefängnistor. Er wurde Mitglied im Revolutionskomitee und hielt schwungvolle Reden im Zirkus Busch, wo Friedrich Ebert, mehr widerwillig denn begeistert, von den Arbeitern und Soldaten zum Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten gekürt wurde.
Großgewachsen und mit durchdringenden Augen unter buschigen Brauen, besaß mein Onkel die Ausstrahlungskraft eines Gurus. Wie allen Verkündigern haftete ihm etwas Fanatisches an. Er ging sogar so weit, ohne jede Rücksprache den Kriegsminister Scheuch verhaften zu lassen. Beerfelde vertrat die These, daß ein Kriegsminister unnütz sei, da der Krieg vorbei war. Wegen dieser Eigenmächtigkeit wurde er aus dem Revolutionskomitee ausgeschlossen - eine deutsche Revolution hatte in geordneten Bahnen zu verlaufen.
Mein Onkel zog sich in seinen Keller zurück, wo er eine Postkarte mit dem Gedicht »Vater Unser der Revolution« entwarf und druckte. Die erste Karte schickte er dem abgedankten Kaiser nach Schloß Amerongen in Holland. Eine Antwort erhielt er freilich nicht.
Redakteur, Setzer und Drucker in einer Person, produzierte er seine eigene revolutionäre Zeitung mit dem Titel »Die Rote Fackel«. Mit dem Fahrrad brachte er sie zu den Zeitungshändlerinnen, die den Verkaufspreis von fünf Pfennigen in die eigene Tasche stecken durften. Die Quintessenz seiner Zeitungsbotschaft lautete: Christus war der erste Kommunist. Mein Onkel war der Ansicht, daß man die sozialistische Idee versöhnen sollte mit dem Christentum.
Damit setzte er sich in jenen Zeiten zwischen alle Stühle, verscherzte es sich, obwohl gläubiger Christ, mit der Amtskirche, der sein »rotes« Gedankengut suspekt war, aber auch mit den Sozialisten, die ihn für zu frömmelnd hielten.
Beim Adel hieß er nur noch »der rote Beerfelde« oder »der rote Hauptmann«. Gleichgesinnte Freunde hatte er in Helmut von Gerlach und dem Schriftsteller Ludwig Renn, der eigentlich Freiherr Arnold Vieth von Golßenau hieß und mit seinem Buch »Adel im Untergang« seinem blaublütigen Stand eine schroffe Absage erteilt hatte.
Als die Nazis die Macht usurpierten und abzusehen war, daß Deutschland remilitarisiert würde, schrieb mein Onkel, immer mehr naiver Weltverbesserer, an den »Führer«: »Wenn Sie die Wehrpflicht wieder einführen lassen, begehen Sie ein Verbrechen am deutschen Volk nach diesem furchtbaren Krieg.« Die Antwort aus Berlin ließ nicht lange auf sich warten. Sollte er seine »blödsinnigen Schreibereien« nicht einstellen, werde man ihn liquidieren, drohten die Nazis, verklausuliert, aber deutlich.
Eines Morgens im Jahre 1935 drang die Gestapo in sein Haus in Lindau am Bodensee ein, man verschleppte ihn nach München zur Vernehmung. SS-Leute schlugen und prügelten ihn, bis er das Bewußtsein verlor. Er erwachte in einer Baracke im KZ Dachau. Seine Entlassung nach vier Jahren Haft verdankte er vielleicht nur seiner internationalen Bekanntheit und der Tatsache, daß die Nazis ihn für einen im Endeffekt harmlosen Verrückten hielten.
Nach dem Krieg gründete er, inzwischen radikaler Pazifist, das »Büro für Frieden, Freundschaft und Völkerverständigung« und schrieb Briefe an Roosevelt, Truman, Churchill, de Gaulle und Stalin.

Als ich Onkel Hans-Georg in der Nachkriegszeit kennenlernte, spürte ich sofort unsere Seelenverwandtschaft. Seine Courage und Wahrheitsliebe imponierten mir, als er mir seine Lebensgeschichte erzählte. Von seiner aufbrausenden Art - einmal drohte er mir mit dem Krückstock, weil ich fünf Minuten zu spät gekommen war - habe ich allerdings nichts mitbekommen, zumindest fast nichts. Im Wesen eiferte ich seinem Bruder Curt nach, der mit zartweiblichen Zügen ein Abbild seiner Mutter war. Er war Offizier - und Junggeselle.

3.

Meine Mutter war die gute Fee in meinem Leben. Eine warmherzige, gebildete Frau mit Prinzipien. Verstieß man dagegen, wurde es ihr zu bunt, und sie haute mit der flachen Hand auf den Tisch. Nie ging sie während der Nazizeit zu den Abstimmungen und Wahlen, deren Ergebnisse von vornherein feststanden. Das war keineswegs ungefährlich, aber darum scherte sie sich nicht. Unser geistig-seelisches Verhältnis war sehr innig, von dem Tag, an dem sie mir die erste Gutenachtgeschichte vorlas, bis zu ihrem Tod im Jahre 1991. Meine Mutter hatte das, was heute vielen Menschen abgeht: angeborenes Taktgefühl. Dieses Verhalten nahm ich mit jeder Pore auf. Wenn ich recht überlege, bin ich ihr völliges Abbild. »Weißt du, Mutti«, erklärte ich ihr, als ich zwanzig war, »eigentlich bin ich deine älteste Tochter.« Zunächst lachte sie: »Ach, red’ nicht so einen Stuß.« Später las ich ihr Passagen aus einem Buch von Dr. Magnus Hirschfeld vor, dem berühmten Gelehrten, der in den zwanziger Jahren das erste sexualwissenschaftliche Institut in Berlin gründete. Als ihr klar war, daß ich mich vom Wesen her als Frau fühlte, sagte sie: »Weißt du, das alles ist für mich als richtige Frau schwer nachzuempfinden. Aber wenn du damit glücklich bist, dann ist das die Hauptsache.«

Schon als kleiner Junge bewunderte ich ihre schönen Kleider. Ging sie aus, trug sie oft ihr ultramarinblaues Abendkleid, und ich stellte mir vor, wie schön sie während einer Abendgesellschaft, unter einem prächtigen Kronleuchter stehend, wirkte. Sie schminkte sich nicht, puderte sich höchstens die Nase, alles an ihr war bürgerlich bescheiden und solide, wie das schlichte Collier, das sie zu besonderen Anlässen anlegte.
1902 war sie als Gretchen Gaupp in Markgröningen in der Nähe von Ludwigsburg in eine Kaufmannsfamilie hineingeboren worden. Ihr Vater starb, als sie acht Wochen alt war, und so zog ihre Mutter mit ihr zu ihrem Bruder, Josef Brauner, nach Cannstatt bei Stuttgart. Er war Automobilingenieur bei Gottlieb Daimler. Unter dem technischen Leiter Wilhelm Maybach zeichnete und konstruierte mein Großonkel 1899 einen Motor, ein Chassis und eine Karosserie, die, zusammenmontiert, den heute berühmten Namen der Tochter des Konsuls Jellinek bekamen: Mercedes.
Zu ihrer Taufe wurde meine Mutter 1902 in einem Daimler-Automobil gefahren, was in einer Kleinstadt wie Markgröningen natürlich riesiges Aufsehen erregte. Die Leute konnten sich einfach eine Kutsche ohne Pferde nicht vorstellen. Als sie das motorisierte Ungetüm über die Hauptstraße von Markgröningen knattern sahen, flüchteten nicht wenige in die Seitengassen und schrien: »Der Teufel kommt, der Teufel kommt auf einem Fuhrwerk.«
Später besuchte meine Mutter das Lyzeum, sie genoß, wie man so schön sagt, die Ausbildung einer höheren Tochter. 1923 kam sie nach Mahlsdorf und lebte mit meiner Großmutter, meinem Großonkel und dessen Schwester in einem Haushalt.
Sie hatte die Idee, auf eigenen Füßen zu stehen, was damals für eine sozial abgesicherte Frau - mein Großonkel war durchaus wohlhabend - ein Novum war. Nur arme Mädchen gingen arbeiten. Meine Mutter wollte Stenographie lernen und dann bei einem Rechtsanwalt als Sekretärin anfangen. Als sie in der Kanzlei eines Anwalts stand, um sich vorzustellen, fragte er sie: »Fräulein Gaupp, warum wollen Sie eigentlich einem mittellosen Mädchen die Stelle wegnehmen? Sie haben es doch gar nicht nötig zu arbeiten.« Und meine Mutter stimmte ihm zu, nachdem sie darüber nachgedacht hatte: »Ja, warum soll hier nicht ein Mädchen arbeiten, das den Lohn mehr braucht als ich?« Heute faßt man sich an den Kopf, aber so waren damals die Zeiten.

Mein Großonkel stammte aus Lettowitz bei Brunn. Seine Familie hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Spitzen- und Gardinenmanufaktur. Sein Vater war Strumpfwirkermeister und hatte sich darauf spezialisiert, Spitzen und Vorhänge zu fertigen. Dies alles, die Industrialisierung war noch nicht weit vorangeschritten, mit hölzernen Maschinen. Das Geschäft florierte, er konnte nach England reisen und stählerne Maschinen kaufen, die er auf einem doppelten Raddampfer über den Kanal transportierte. Doch 1866 fand alles ein jähes Ende, ein Feuer hatte die Fabrik zerstört, und eine Versicherung gegen derlei Unbilden war damals unbekannt. Die Familie verschlug es zunächst nach Wien, nach dem Tod seines Vaters versorgte mein Großonkel seine drei Schwestern, übersiedelte später nach Deutschland und kam 1895 zu Daimler. 1908 ging er nach Berlin und begann, bei Bergmann Elektromobile zu entwickeln.
Von konservativer Erscheinung, seine böhmische Herkunft konnte er nicht verbergen, hatte er mit Nationalismus, vor allem in seiner pervertiertesten Form: dem Nazismus, nichts im Sinn. Humanistisch gebildet, er sprach Griechisch, Lateinisch und Französisch, war er überdies ein exzellenter Mathematiker. Und obwohl er völlig neuartige Automobile konstruierte und vom Fortschritt überzeugt war, blieb er in Denken, Fühlen und Aussehen immer ein Mann des 19. Jahrhunderts. Ich sehe ihn noch vor mir in seinem bereits damals altmodischen Nadelstreifenanzug, mit Weste, goldener Taschenuhr an der Kette, Krawatte mit Nadel, Manschetten und Kragenknopf, Bürstenhaarschnitt und seinem Kneifer, durch den er mich mit seinen gütigen blaugrauen Augen versonnen anblickte.
Spätestens mit fünfundzwanzig mußte eine Frau damals unter der Haube sein, mit dreißig galt man schon als »alte Schachtel«. 1927 beschloß mein Großonkel, eine Heiratsanzeige für meine Mutter aufzugeben.
Als vollkommen argloser Mensch war er völlig ungeeignet, den »Richtigen« für meine Mutter auszusuchen. Einen jungen Ingenieur auf seine Tauglichkeit im Konstruktionsbüro hin zu prüfen, hätte er spielend fertiggebracht. Aber um einen Ehekandidaten charakterlich einzuschätzen, dazu wußte er zu wenig vom Bösen. In jedem Menschen sah er zunächst das Gute - eine Gefahr, der auch ich hin und wieder erliege. »Doch die Verhältnisse, die sind nicht so«, wie Brecht seinen Peachum in der Dreigroschenoper singen läßt.
Verschiedene »Bewerber« meldeten sich auf die Annonce, und mein Onkel traf seine Wahl, freilich keine gute.
Nach der Heirat bezogen meine Eltern die obere Etage des Landhauses. Es war eine sehr unglückliche Ehe, denn mein Vater hatte eine Reitpeitschen-Natur und war ein brutaler Militarist. Schon nach einem halben Jahr wollte meine Mutter sich scheiden lassen. Mein Vater hätte sie deswegen fast über den Haufen geschossen.
Schauerliches trug sich zu: Meine Mutter traute sich nicht, meinem Vater ihre Trennungsabsichten ins Gesicht zu sagen, sie befürchtete - zu Recht - weitere Mißhandlungen. So schrieb mein Großonkel mit Datum vom 2. November 1927 meinem Vater einen Brief, in dem er ihm höflich, aber bestimmt mitteilte, daß meine Mutter sich scheiden lassen wolle und er das Haus zu räumen habe.
Als mein Vater abends nach dem Dienst den Brief gelesen hatte, meine Mutter hielt sich währenddessen wohlweislich in den Räumen meines Großonkels auf, stürmte mein Vater die Treppe herunter, brüllte herum, warf meinem Großonkel den Brief vor die Füße und raste wieder nach oben, die Entreetür so zuknallend, daß die Kathedralscheibe zersprang. Wenige Augenblicke später stürzte er erneut herunter, diesmal mit seinem Revolver, meine Mutter stand in der Küche, und er schrie: »Wenn du dich scheiden läßt, drücke ich ab.« Man kann es eigentlich kaum glauben, aber er legte tatsächlich mit der Waffe auf sie an, und wäre mein Großonkel nicht gewesen, der seinen Arm hochriß, gäbe es mich wohl nicht. Noch heute steckt das Projektil in der Decke meines Geburtshauses.

4.

Schon als Kleinkind empfand ich meinen Vater als Unhold, obwohl ich in meinem Kinderbettchen noch nicht wußte, wie gewalttätig er mit meiner Mutter umging. Aber auch ein Kleinkind besitzt gewisse Instinkte, und ich erinnere mich, daß ich einmal irgendeiner Nichtigkeit wegen furchtbare Prügel von ihm bezog und er währenddessen im Kasernenhofton herumschrie. Ich weinte, bekam doppelt Prügel, und er brüllte: »Ein Junge weint nicht.« Das war mein Vater, Max Berfelde.
Geboren 1888 in Frankfurt an der Oder als Sohn eines Fischermeisters, runde hundert Jahre nach jener unschicklichen Verbindung mit dem Fischermädchen, entstammte er der Lossower Linie unseres Geschlechts. Im Ersten Weltkrieg eiferte er dem adligen Familienzweig nach - der Sommerfelder Linie, der mein entfernter Onkel Hans-Georg von Beerfelde angehörte - und wurde Soldat. Nach Kriegsende arbeitete er als kaufmännischer Angestellter in einer renommierten Firma des Stickstoffsyndikats. Dort ereignete sich 1930 ein Vorfall, der das cholerische Wesen meines Vaters beleuchtet: Er legte sich mit einem überaus freundlichen Mitarbeiter an - so charakterisierte meine Mutter ihn jedenfalls -, griff ihn bei den Schultern und drückte ihn durch die großen Glasscheiben des Firmengebäudes. Ein Teil der Fensterhalterung stürzte mit den Splittern hinab und zerschellte auf dem Trottoir. Der Kitt konnte die schwere obere Scheibe nicht halten, sie rutschte runter und klemmte den Unglückseligen ein. Die Firma lag im vierten Stock, und er hing mit dreiviertel seines Körpers aus dem Fenster. Die Feuerwehr rückte an, breitete ein Sprungtuch aus, während andere versuchten, den Eingeklemmten zu befreien, was auch gelang. Mein Vater wurde streng verwarnt und in eine andere Abteilung versetzt.
Er schien ein Mann ohne Geschichte zu sein. Nicht einmal Spuren existierten von seinen engsten Verwandten, keine Photos, keine Briefe, keine Aufzeichnungen. Ein Mann ohne Vergangenheit oder einer, der die Vergangenheit verdrängt hatte, weil sie an seiner Seele nagte. Ein einziges Mal, in einem Anflug von Vertrautheit,  erzählte er mir an der Milchrampe in Motzen von seinen Eltern. Seine Mutter war offenbar ein Teufel in Menschengestalt gewesen. Einem Fischerlehrjungen rannte sie wegen einer vermeintlichen Verfehlung nach, die Axt wie eine Rachegöttin hoch in der Hand. Das vierzehnjährige Bengelchen sprang vor Schreck in die Oder. Sie konnte nicht schwimmen, stand auf der letzten Planke, vor Wut außer sich mit den Füßen aufs Holz stampfend, und warf dem Jungen die Axt hinterher. Nur knapp verfehlte sie ihr Ziel. Ihr Mann, Fischermeister Wilhelm Berfelde, war hingegen ein ruhiger und bedächtiger Zeitgenosse. Hing der Haussegen schief, fuhr er mit seinem Kahn hinaus und fand in der Natur seinen Frieden.
Mein Vater zog als einfacher Soldat in den Ersten Weltkrieg, sein Ehrgeiz ließ ihn von einer militärischen Laufbahn als Unteroffizier träumen. Doch als der Krieg zu Ende ging, war er noch immer einfacher Soldat, und ich nehme an, daß hier der Bruch in seinem Leben liegt. Da er auf dem Exerzierplatz nicht kommandieren konnte, verlegte er ihn in unser Haus. Wir waren seine Rekruten, die er nach Herzenslust schinden konnte. Sein Ton war ausnahmslos dem Kommiß entlehnt: »Hier befehle ich«, und seine engstehenden Augen - ihre Farbe weiß ich nicht mehr, denn ich mochte ihn nie anschauen - flackerten wie in einem Anflug von Wahnsinn.
Bereits als kleiner Junge fragte ich mich verzweifelt, wie ich meiner Mutter nur beistehen konnte. Als Kind weiß man ja nicht, daß man später kräftiger wird und selbst etwas tun kann.
Die Geräusche, die vom ersten Stock in die untere Etage drangen, gruben sich mir unauslöschlich ein: sein kläffendes Gebrüll, das Poltern umgestoßener Eichenstühle, wenn mein Vater meine Mutter durchs Zimmer stieß, ein dumpfes Klatschen, wenn er ihrer habhaft geworden war und sie schlug.
Denke ich an meine Kindheit zurück, so wundert es mich manches Mal, daß ich nicht völlig verblödet bin, so oft wie mein Vater mir mit seinen Pranken zusetzte.
Schon Ende der zwanziger Jahre hatte er sich den Nationalsozialisten angeschlossen und bezeichnete sich stolz als »alten Kämpfer«. Nach der »Machtergreifung« der Nazis brachte er es bis zum politischen Leiter in Mahlsdorf- bis wahrscheinlich selbst den Nazis sein unbeherrscht-cholerisches Verhalten zuviel wurde und sie ihn ablösten.
Seine Manie, mich zu einem »jungen Kämpfer« zu erziehen, mußte ich von frühester Jugend an erdulden. Diese reichte bis zu absurden Korrekturen meines Äußeren: Kringelten sich beispielsweise durch den Regen meine Haare zu kleinen Löckchen, befahl er mir, den Kopf ins kalte Wasser zu stecken und die Haare glattzukämmen. Sie mußten kurz und gescheitelt sein: Militärschnitt.
Ich aber war kein »junger Kämpfer«, fühlte mich nicht einmal als Junge. Nein, ich war ein Mädchen. Ich entsinne mich einer großen Soiree mit Damen und Herren des gehobenen Standes. Die vornehmen Frauen hatten sich prächtig herausgeputzt, mit Colliers, Ketten und Armbändern behängt. Ich saß auf dem Schoß einer weitläufigen Verwandten, Tante Anni nannte ich sie immer, und bewunderte ihre Kleidung und ihr Geschmeide. Ich bin ein kleines Mädchen, sagte ich mir, und später werde ich genauso aussehen und mich genauso bewegen wie diese Frauen.
Bei meinen Mitschülerinnen interessierten mich eigentlich nur die Kleider. Spielte ich zusammen mit ihnen und ihren Puppenstuben oder sie bei mir mit meinen Puppenmöbeln, dachte ich immer: Mein Gott, was hat die für ein süßes Miederchen an, was für einen hübschen glockigen Rock. Oder die Bordüren!
Jungen interessierten mich erotisch mehr - bei ihnen schaute ich gerne auf die Figur oder registrierte sofort, wenn jemand süß aussah -, bei Mädchen hingegen achtete ich immer darauf, was für Schuhe sie trugen, welche Strümpfe, wie ihre Kleider geschnitten waren. Und immer wieder sagte ich mir: Na, zu blöd, warum kann ich nicht so etwas tragen, so ein Trachtenmiederchen, schwarz und grün abgesetzt, vorne zum Schnüren mit Bänderchen und mit kleinen Messingspitzen dran?
Wurden zu Hause die Familienalben mit Photos herausgeholt, auf denen die Ahnen in stolzer Pose an der Galerie lehnten oder an den Blumentischen aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, blickte ich automatisch auf die drapierten Damen und vor allem auf ihre stramm taillierten Kleider. In so etwas wollte ich herumlaufen. Später habe ich mir diesen Wunsch erfüllt.

5.

Mit fünf oder sechs spielte ich lieber mit altem Kram als mit richtigem Spielzeug. Sicher, ich hatte von meiner Mutter Puppenmöbel bekommen, mit denen ich gern herumhantierte, und auch die Blecheisenbahn, die mein Großonkel mir geschenkt hatte, machte mir Freude. Aber viel schöner fand ich es, alte Uhren, Petroleumlampen, Bilder oder Leuchter meines Großonkels sauberzumachen und anzuschauen.
Mit einem Schulfreund streifte ich durch Mahlsdorf. Wo heute die neue Schule steht, türmte sich damals ein ungemein ergiebiger Müllhaufen mit all dem Hausrat, der in den Augen der Leute unmodern geworden war. Eines Tages kam ich freudestrahlend nach Hause, hatte ich doch eine unbeschädigte Telleruhr ergattert. Sie sah aus wie ein blauweiß bemalter Porzellanteller mit römischem Zifferblatt. Dahinter befand sich ein einfaches Blechgehäuse mit einem Unruhwerk. Das wußte ich damals natürlich nicht, meine Uhrmacherkenntnisse waren gleich null. Aber als ich daran herumwerkelte, tickte sie plötzlich wieder.
Meine Sammelleidenschaft erwachte wie von selbst, niemand hatte mich dazu angehalten. Meine Mutter tolerierte sie, dachte sicher, wenn das Kind Spaß dran hat, warum nicht. Mein Großonkel fand sie sogar gut, hoffte wahrscheinlich, ich träte als Konstrukteur eines Tages in seine Fußstapfen. Aber bald merkte er natürlich, daß sich mein Interesse mehr häuslichen Dingen zuwendete. Eines Tages, als ich wie so oft direkt nach der Schule begann, Möbel zu reinigen und Staub zu wischen, bemerkte er: »Nun bist du ja schon wieder beim Staubwischen.« - »Ja«, erwiderte ich, »das ist auch nötig, damit alles sauber wird.« Mein Großonkel schaute mich nachdenklich an, doch dann hellten sich seine Züge auf: »Ja, Kind, du hättest 1900 als Mädchen leben müssen, dann hätte ich dich als Dienstmädel engagiert. Du wärst 'ne Perle gewesen!« Er lachte übers ganze Gesicht, und ich glaube, daß er schon früh gemerkt hat, daß dieser Knabe eigentlich ein Mädel war.

Mein Interesse an Möbeln war geweckt, auch wenn ich die verschiedenen Stilrichtungen noch nicht auseinanderhalten konnte. Aber für Gründerzeitmöbel entwickelte ich schnell einen sechsten Sinn. Säulen, gedrechselte Füße, hier noch ein Holzkügelchen und da noch eins - ich war hin und weg! Damals war eine gute Zeit zum Sammeln von Gründerzeitmöbeln. Den Leuten waren »Staubfänger« wie Muschelaufsätze und verzierte Türmchen lästig geworden. Man richtete sich, wenn man das nötige Kleingeld hatte, neu, »modern« ein, zerhackte die alten Möbel und warf die Kleinteile in den Ofen. Die weniger Betuchten nahmen zumindest die Aufsätze ab und brachten sie auf die Halde.
Für mich war das die Gelegenheit, und mit klopfendem Herzen sortierte ich den Müll. Hatte ich etwas Schönes entdeckt, mußte ich nur noch meine Mutter rumkriegen: »Ach Muttichen, bitte.« Dann nickte sie mir zu: »Na gut, schaff es schon rauf zu deinem ganzen Kram.« Und ich brachte freudestrahlend das jeweilige Prunkstück hoch auf den Boden, wo ich meine Schatzkammer eingerichtet hatte.
Ich klingelte bei unseren Nachbarn und selbst bei Leuten, die ich gar nicht kannte. »Haben Sie nicht ein altes Grammophon, einen alten Trichter?« Schon als Kind war mir klar: Zu einem Grammophon gehört ein Trichter. Deshalb interessierten mich neumodische Geräte nie. Und so ist es noch heute: Musik muß für mich, auch wenn das verrückt klingt, aus einem Trichter kommen!
Bei einer Uhr, einem Haus, einem Möbel suche ich immer nach dem Angesicht. Lieblos gestalteten Gegenständen vermag ich nichts abzugewinnen.
Mein Begehren verwunderte zwar viele, bei denen ich klingelte, aber oft bekam ich etwas - mehr als einmal wurde ich allerdings rausgeschmissen, Die Leute dachten wohl, ich wolle sie auf den Arm nehmen mit meinen immer gleichen Fragen nach alten Dingen.
Mit Vorliebe sammelte ich »Kramagen«, wie mein Großonkel sie nannte, hauptsächlich alte Schlüssel, die zu keinem Schloß mehr paßten. Überhaupt Schlüsselbunde: Die waren für mich etwas Herrliches! Ich polierte sie und steckte sie in die Vordertasche meiner Schürze. Die damals sehr modischen Knabenschürzen mit Bänderchen waren kreuzweise über dem Rücken an Knöpfen festgemacht und sahen eigentlich aus wie Mädchenschürzen. Deshalb mochte ich sie auch so gern leiden.
Die Schürzenmanie ist bis heute geblieben. Als ich grösser war, gab es keine Schürzen mehr für Jungs, und so nahm mich mein Großonkel an der Hand und erklärte ganz selbstverständlich: »Naja, müssen wir eben eine Mädchenschürze kaufen.«
Mein Vater hatte wohl eigene Vorstellungen, wie ein »echter« Junge aussehen sollte, und ich verstieß irgendwie dagegen: zu hübsch, zu zierlich, meine Gesichtszüge sensibel, und eine mädchenhafte Zartheit verlieh mir einen weichen Ausdruck.
Ich zog die Schulkleider meiner Mutter an, Kleider aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Fein säuberlich geordnet und gepackt lagen sie in Truhen auf dem Hausboden. Als ich mich vor dem Spiegel drehte und wendete, war mein Entzücken groß. Das meines Vaters freilich nicht. Als er mich in diesem unmännlichen Aufzug sah, ging er mit der Reitpeitsche auf mich los, riß mir die Kleider vom Leib und brüllte: »Du bist kein Mädchen, du sollst einmal Soldat werden.« Sieben oder acht war ich damals.
Mit unschöner Regelmäßigkeit verging sich mein Vater mit der Gerte an mir. Einmal wurde es selbst der Haushälterin zu viel, und sie versuchte, ihn zu beschwichtigen: Das Kleideranziehen sei doch nur ein Spiel. Daraufhin wütete er: »Und wenn ich den Jungen totschlage! Diese Macht habe ich, schließlich bin ich der Erziehungsberechtigte.« Die Haushälterin widersprach, er schlug auch sie.
Ich zog um in das Erdgeschoß des Mahlsdorfer Hauses zu meinem Großonkel. Ich stattete mein Kinderzimmer so aus wie eine Hausfrau die gute Stube um 1890: ein hübsches Jugendstilvertikow, eine Waschtoilette, einen Kleiderschrank, eine zierliche Kommode, den unvermeidlichen Regulator und einen Trumeauspiegel mit Säulen. In der Etagere, einem kleinen, von gedrechselten Säulen getragenen Regal, standen meine Bücher, auf dem Tisch lag eine rote Plüschtischdecke, darauf eine Visitenkartenschale aus versilbertem Messingblech, und auf einem weiteren Tischchen stand eine pompöse Salonpetroleumlampe. Einen Kronleuchter kaufte ich beim Trödler, eine elektrifizierte Gaskrone aus Messing mit Alabasterkugeln - mein kleines Reich.
Der Trumeauspiegel stand früher in den Haushalten zwischen den Fenstern. Ein Spiegel, der links und rechts gerillte Lisainen besaß, mit Konsolen oder Säulen. Oben auf dem Gesims thronte, der Neorenaissance-Mode gemäß, ein Muschelaufsatz, links und rechts auf Pfosten gedrehte Holzkugeln. Der Spiegelrahmen mit dem Unterteil stand auf einer Konsole, ebenfalls mit gedrechselten Säulen.
Nicht jeder nannte am Ende des 19. Jahrhunderts schon eine Standuhr sein eigen, und so mußte eine Wanduhr herhalten, ein Regulator, meist ein langer Glaskasten mit Säulen an den Seiten. Über dem Gesims steckte ein Aufsatz mit gedrechselten Holzkugeln oder einem gegipsten Adler, mit Politur auf Nußbaum gefärbt. Unten befand sich ein geschwungenes Konsol mit hängenden Kugeln als Abschluß und in ihrem Innern ein weiß emailliertes Zifferblatt mit römischen Zahlen samt Messingpendel.
Solche Uhren sammelte ich als Kind. Im Laufe der Jahre wurden es dreihundertsechsundachtzig.
Im geräumigen Haus meines Großonkels nahm meine Sammlung mit den Jahren immer mehr Platz ein. Ich füllte Keller, Boden und sogar den angrenzenden Stall mit meinen Schätzen. Mit meinem Großonkel als Verbündetem gelang es mir, meine Leidenschaft weitgehend vor meinem Vater zu verbergen. Boden, Keller und Stall betrat er nie, da die Räume meinem Großonkel vorbehalten waren. »Das wollen wir alles vor ihm verstecken«, raunte dieser mir mehr als einmal verschwörerisch zu.
Zwar konnte ich nachmittags meist nach Herzenslust in alten Dingen stöbern, aber am Vormittag mußte ich wie alle anderen in die Schule. Und - ach - da war nun doch vieles nicht nach meinem Geschmack. Natürlich gab es Probleme mit Mitschülern. Viele, die auf forsch und kernig machten, verachteten mich goldblondes Lockenköpfchen. Ich wurde verhauen, nur weil ich Haarspangen trug. »Siehst ja aus wie ein Mädchen«, hänselten sie. Ich war verwundert: Ich hatte ihnen doch gar nichts getan. Warum wollten sie mir Böses? Erst später spürte ich die Wand, die unsichtbar zwischen mir und vielen Menschen steht.
Noch viel ärger war der allwöchentliche Sportunterricht. Der interessierte mich überhaupt nicht! Ob wir nun Fußball spielten, in der Sandgrube weitsprangen oder an Stangen hochkletterten - alles Nonsens in meinen Augen. »Ach Gott«, sagte der energische, aber verständnisvolle Sportlehrer, »wenn ich dich so sehe! Wie die Jungfer, die zum Balle geht, schaust du aus, deine Beine kriegst du nicht auseinander, und über den großen Bock da willst du doch bestimmt nicht springen.« Er hatte es erfaßt.
In einer anderen Stunde spielten wir Fußball auf einem Sportplatz. Natürlich war es nicht das runde Leder, das mich faszinierte - mein Gott, war das albern, das Hin- und Herschießen des Balles, das Gerenne, die unruhigen und hastigen Bewegungen -, sondern ein alter Eisenbahnwagen, etwa von 1870, am Rande des Spielfeldes. In diesem Gepäckwagen ohne Räder zogen wir uns um. Als ich mich in ihm umsah, befand ich mich im Geiste schon auf großer Fahrt, stellte mir den Dampf vor und die Lokomotive, die diesen Wagen früher gezogen hatte. Doch dann scheuchte uns der Sportlehrer raus, und wir mußten diesem Ball nachjagen. Klar kriegten alle mit, daß ich ständig in die verkehrte Richtung schoß und nicht wußte, worum es ging. Ist doch ganz egal, dachte ich, wo der Ball reingeht, Hauptsache, er geht irgendwo rein. Der Sportlehrer guckte indigniert, schnippte mit dem Finger, um mich zu sich zu rufen, und fragte: »Macht dir das Fußballspielen eigentlich Spaß?« - »Nee«, antwortete ich, »ich säße viel lieber in dem schönen Eisenbahnwagen.« Und, tatsächlich, der hübsche Mann mit der Trillerpfeife zeigte Gespür und ließ mich meiner Wege gehen.
Vom Sport suspendiert sein hieß indes im Zeugnis »mangelhaft«, und so hatte mein Vater zweimal im Jahr einen weiteren Grund, mich zu mißhandeln. Dabei blieb es nicht, sondern er versuchte zudem, mir meine Unsportlichkeit mit den ihm gemäßen Erziehungsmethoden auszutreiben. Ostern 1937 oder 1938 wollte er mir im Motzenseebad Schwimmen beibringen. Die Luft schneidig kalt in diesem Jahr, dazu pfiff mir der Wind um die Ohren, also überhaupt keine Witterung, um in einem See zu baden. Wenige Meter von uns entfernt hatte sich ein Mann in seinem Zelt einquartiert. Mein Vater brüllte mich an: »Ausziehen!« Als ich noch Turnhemd und -hose anbehalten wollte, erhob sich seine Stimme erneut: »Alles ausziehen!« So stand ich nackt da, zitternd, und mein Vater baute sich vor mir auf und fragte tückisch: »Frierst du?« Kaum hatte ich »ja« gesagt, kriegte ich links und rechts Maulschellen, daß mir Blut aus Nase und Mund lief. Er schnitt eine Rute ab und vermöbelte mich unter lautem Fluchen. Die Leinwand des Biwaks raschelte, sein Bewohner trat entschlossenen Schrittes heraus und mahnte mit fester Stimme: »Schlagen Sie den Jungen nicht so.« Mein Vater geriet in Rage: »Ich mache mit ihm, was ich will, und wenn ich ihn ersäufe. Das geht Sie gar nichts an!« Mich frierend am Ufer zurücklassend, schwamm er hinaus auf den See. Mein Beschützer rief mich in sein windgeschütztes Lager, und ich wärmte mich auf.
Am Motzener Tonsee befanden sich zwei Strände. Am südlichen Ufer verlustierte sich der Deutsche Bund für Freikörperkultur, ein Mittelstandsverein von Ärzten und Kaufleuten, während am nördlichen Ufer der kommunistische Priegnitzverein schwamm, der noch immer bestand, obwohl die Nazis schon das Sagen hatten. Zum Vereinsgelände gehörte nicht nur ein Flachstrand, sondern auch ein Sprungturm von vier Meter Höhe. Mein Vater zitierte mich herauf und herrschte mich an: »Heute wird schwimmen gelernt, und das sofort.« Oben angelangt, schaute ich angstvoll ins Wasser, weil ich gar nicht schwimmen konnte - auch wenn mein Vater, die Peitsche in der Hand, mit mir zu Hause Trockenübungen veranstaltet hatte. Mir wurde plötzlich ganz anders. Ich spürte einen Tritt, stürzte hinab ins Wasser, hörte noch sein brüllendes »Schwimmen!« und verlor das Bewußtsein. Gerettet wurde ich nicht etwa von meinem Vater, sondern von einem Rettungsschwimmer, der am nördlichen Ufer stand. Er zog mich aus dem Wasser, schleppte mich ans Ufer, während mein Vater ungerührt die Szenerie betrachtete. Als mein Retter mich wieder zum Leben erweckt hatte, wandte er sich an meinen Vater. Das sei ein Mordversuch. »Das ist mir völlig egal«, kläffte mein Vater. Wenn ich unten bliebe, dann bliebe ich eben unten. Wäre dieser Rettungsschwimmer nicht gewesen, dann wäre ich »eben unten« geblieben.
Mein Großonkel war nicht nur mein Beschützer und Mentor, in ihm sah ich meinen wirklichen Vater. Mein Klassenlehrer, Studienassessor Dr. Berger, mit Naziparteiabzeichen am Revers, wollte aus uns kernige Jungs machen, »zäh wie Leder, schnell wie Windhunde, hart wie Kruppstahl«. Da war natürlich so ein Mädchenknabe wie ich nicht gefragt, mit Lockenkopf, Samthöschen und Bubikragenblüschen. Ich war nicht bereit, eine Pimpfenuniform anzuziehen, und so brüllte mich Dr. Berger an einem Mittwoch - dem HJ-Tag - an: »HJ ist Pflicht!« Worauf mir rausrutschte: »Wohl eher Zwang.« Er schwang seinen Rohrstock und versohlte mich. Mein Großonkel, diese Seele von Mensch, begleitete mich am nächsten Tag in die Schule und stieß meinem Klassenlehrer ordentlich Bescheid. Nie hatte ich meinen Großonkel brüllen hören, aber an diesem Tag schallte seine Stimme durch den gesamten Korridor.
Der Oberstudiendirektor, ein würdevoller Herr alter Schule, der mit den Nazis nichts gemein hatte, riet meinem Großonkel, mich auf eine Privatschule zu geben. Da sei der Zwang zur Hitlerjugend nicht so ausgeprägt.
Ich wechselte auf »Dr. Georg Kimpel's Höhere Privat-Schule für Knaben«, Dresdener Straße 90, dritter Hinterhof, in der Luisenstadt. Schon dieser Name gefiel mir, da ich die preußische Königin Luise sehr verehrte. »Bitte stark klingeln« stand auf dem Emailleschild am Eingang der Schule, an der Stuckfassade hing an einem schmiedeeisernen Konsol die Blechfahne mit dem aufgemalten Gründungsdatum 1848. Die Schule, noch wie zu Kaisers Zeiten, war für mich ein Eldorado: Im Lehrerzimmer tickte der Gewichtsregulator, an der Decke hing ein elektrifizierter Gaskronleuchter mit weißem Schirm und grünen Perlen, alle Möbel stammten aus der Zeit um 1890. Die ganze Schule atmete noch die alte Beständigkeit. Das Bild vom sonst allgegenwärtigen »Führer« suchte man hier vergebens.
Im Zimmer des Direktors saßen mein Großonkel und ich Dr. Kimpel gegenüber, und nachdem die Aufnahmeformalitäten erledigt waren, fragte der Direktor, ob ich in der HJ oder beim Jungvolk sei. Mein Onkel machte ein faltenreiches Gesicht und sagte nur: »Ja, das ist es ja gerade.« Trotz dieser doch eher nichtssagenden Einlassung schien Dr. Kimpel ihn genau verstanden zu haben. »Wissen Sie«, er hob abwehrend beide Hände, »mein Lehrerkollegium und ich schätzen es überhaupt nicht, wenn die Jungs in der HJ sind. Sehen Sie mal, dann haben sie mittwochs einen aufgabenfreien Nachmittag und lernen nichts.« So konnte man es natürlich auch sagen.
Ohne zu wissen, was da eigentlich vor sich ging, ekelten mich die Nazis schon als kleiner Junge. Zum ersten Mal hautnah erlebte ich die braune Pest und ihre Boten im Frühjahr 1933: Mein Großonkel ging mit mir einkaufen. Vor einem Geschäft der jüdischen Lebensmittelkette Egona in Mahlsdorf-Süd hatten sich zwei Braunhemden mit herrischen Visagen aufgepflanzt und versuchten die Kunden davon abzuhalten, den Laden zu betreten.
Mein Großonkel, die altmodische Pariser Reisetasche, die er immer zum Einkaufen benutzte, an der einen Hand, mich an der anderen, forderte, und das werde ich nie vergessen: »Bitte geben Sie mir den Weg frei!« - »Warum kaufen Sie bei Juden?« - »Wissen Sie, wo ich einkaufe, das müssen Sie schon mir überlassen.« Die beiden Uniformierten schauten sich kurz an und - ließen uns tatsächlich passieren. Wir gingen hinein, ich fühlte, daß Gefahr in der Luft lag. Zwar hatten die Verkaufsfräuleins alle ihr weißes Häubchen mit dem roten Schriftzug »Egona« auf dem Kopf, trugen wie immer ihre Schürzen, aber den wenigen Kunden war sichtlich unwohl in ihrer Haut. Nervös blickten sie in Richtung Eingang, niemand sprach. Als mein Großonkel und ich draußen waren, an den SA-Männern vorbei, fragte ich ihn: »Wer sind denn diese bösen Männer, die davor stehen?« Und die Antwort meines Großonkels ließ nicht lange auf sich warten: »Das sind die Nazis, alles Verbrecher.«
Was ist denn das für ein Blödsinn, diese vielen Hakenkreuzfahnen und der ganze Quatsch? fragte ich mich. Auf der staatlichen Schule hieß es: Uniform anziehen, Aufmärsche machen, wenn der »Führer« sprach oder Goebbels zusammen mit einem ausländischen Gast dem Pariser Platz die Ehre seines Besuches erwies. Die Schule geschlossen, und wir hinmarschiert. Ich entsinne mich eines brühheißen Tages, Ende der dreißiger Jahre, als Benito Mussolini oder - ich konnte diese uniformierten Clowns nie auseinanderhalten, sie interessierten mich einfach nicht - sein Schwiegersohn, der italienische Außenminister Graf Ciano, gerade in Berlin war und wir in unserer Pimpfenuniform vor dem Hotel Adlon am Pariser Platz antreten mußten.
Der auf stramm getrimmten deutschen Jugend wurde vor Hitze ganz schlecht, kein schattenspendender Baum und Strauch weit und breit, und die Rufe nach Sanitätern schallten durch die Reihen. Ich legte mir einen Fahrplan auf den Kopf, um keinen Hitzschlag zu bekommen - es dauerte Stunden, ehe der Kerl ankam in seiner Limousine -, und ich dachte an Zuhause und daß ich doch eigentlich lieber Staub wischen würde.
Ein anderes Mal mußten wir uns am »Tag der Wehrmacht« Unter den Linden postieren und den vorbeimarschierenden Soldaten zujubeln. Die Untiere von Panzern mit ihren monströsen Ketten rasselten vorbei, die stahlbehelmten kindlichen Gesichter der Soldaten lugten aus den Öffnungen hervor, eine Bombe stand in Originalgröße auf einem Wagen, und ich sprang zurück hinter die Laternenreihe, betrachtete mir die - wahrscheinlich herbeizitierten - Claqueure von Partei und Staat, und glaubte zu ersticken. Um Gottes willen, wenn das alles losgelassen wird! Was passiert hier überhaupt? - diese unbewußte Ahnung von Gefahr war das einzige, was ich fühlte, während alles um mich herum im Taumel versank.
Wenn ich in den Zeitungen die Bilder der Nazigrößen sah, erschien mir das immer grotesk. Entweder Männer wie ein Peitschenknall, gewalttätig, oder der Byzantinismus schon an den Augen ablesbar. Die gedunsene Glätte im Gesicht Himmlers, den man auf den ersten Blick für einen kleinbürgerlichen Dorfschulmeister hätte halten können; der erbarmungslos einfältige Außenminister und frühere Sektvertreter von Ribbentrop, dessen verkniffene Haltung sorgenvolle Anteilnahme am Staatsgeschick demonstrieren sollte, dessen Operettenhaftigkeit aber keinem aufmerksamen Beobachter seiner Physiognomie entgehen konnte. Durch und durch waren sie mir zuwider, zu genau glaubte ich, diesen Typus zu kennen. Mein Vater wirkte auf mich wie die Miniaturausgabe eines ministrablen Nazis, und so übertrug sich meine ganze Abscheu gegen ihn instinktiv auf jene Herren, die Deutschland regierten. Sprach Goebbels durch den Volksempfänger, mochte das ganze deutsche Volk in Hysterie versinken, für mich blieb es gemeines Gebell.
»Große Politik« ist etwas Abstraktes; lautlos schleicht sie heran, langsam die Gewohnheiten, den Alltag verändernd -in der Regel bemerkt man erst nach Jahren, welche Folgen sie zeitigt. Und mochten aberwitzige Gestalten in der Wilhelmstraße herrschen, was konnte das schon für Mahlsdorf bedeuten, wo die Lindenalleen noch den Geist der Kaiserzeit atmeten? Aber auch hier breitete sich der braune Spuk aus. Es waren die kleinen Geschichten des Alltags, die mir als Zwölfjährigem zeigten, wie sehr das deutsche Volk seinem »Führer« verfallen war.
1940 räumte die örtliche Nazi-Prominenz in der Mahlsdorfer Schule am Königsweg Tische und Stühle beiseite: »Metallspende zu Führers Geburtstag« am 20. April. Die Mahlsdorfer brachten Hausrat aus Messing, Bronze, Kupfer, Zink und Eisen, darunter wahre Kunst, auf daß der »Führer« noch mehr Kanonen und Bomben bauen könne. Da ich als leidenschaftlicher Liebhaber von Trichtergrammophonen und Uhren schon als Kind zu retten suchte, was nur irgend zu retten war, sah ich mit Entsetzen einen Mann mit einem großen, tadellosen Grammophontrichter geradewegs zur Sammelstelle schlurfen. Die Leute standen dort an, Bronzefiguren, Messingleuchter, Metallvasen und Uhrwerke an die Brust gedrückt oder unter den Arm geklemmt, und jeder bekam, wenn er etwas ablieferte, eine vorgedruckte Urkunde. Darauf wurde der Name des edlen Spenders eingetragen. Auf einem der langen Tische stand eine alte Jahresuhr, ein Prunkstück. Nein, so etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen! Unter der Glashaube, zwischen den Messingsäulen, bewegte sich das Drehpendel mit den blanken Kugeln hin und her.
Selbst unter jenen, die von der Notwendigkeit ihres Tuns überzeugt waren, regte sich Unverständnis: »Um diese Uhr ist es doch eigentlich schade«, bedauerte jemand. Aber der aufsichtführende Nazi erzählte mit begeistertem Unterton, diese Uhr habe eine alte Frau am frühen Morgen spontan vorbeigebracht. Sie wolle sie dem »Führer« für den Krieg opfern, nachdem sie am Abend zuvor die flammende Rede von Dr. Joseph Goebbels zur Metallspende gehört habe. Für den »Führer« sei schließlich nichts zu schade, fügte er hinzu. Wort für Wort hatte sich mir eingeprägt, und mit meinem zwölfjährigen Kinderverstand dachte ich: Die sind doch alle irrsinnig! Ich wollte nichts mehr sehen und lief hinaus. Als ich wenige Tage später an der Schule vorbeikam, sah ich den braunen Mob die Kunstgegenstände mit Mistforken auf bereitstehende Lkw laden. Mit schweren Stiefeln und Vorschlaghämmern hatten sie zuvor alles brutal zertrampelt und zertrümmert.
Im Krieg sammelten Schulkinder, »Jungvolk« und der »Bund Deutscher Mädel« fortlaufend Metall und Spinnstoffe. Eines Morgens blickte ich auf dem Weg zur Schule von der Straßenbahn aus auf den Sammelplatz: Etwas Verschnörkeltes ragte aus dem aufgetürmten Eisen heraus. Auf dem Rückweg untersuchte ich den Schrotthaufen genauer. Der verzierte Fuß gehörte zu einem eisernen Blumentisch. Die Platte fehlte. Mühsam zerrte ich das Gestell heraus und stieg so schnell wie möglich von dem Haufen hinunter, denn es war bei schwerster Strafe verboten, den angeblich kriegswichtigen Schrott zu entwenden. Ich nahm den Tisch natürlich trotzdem mit, fand zu Hause eine passende Platte und freute mich, wieder etwas vorm Einschmelzen gerettet zu haben. Noch heute steht der Tisch bei mir in Mahlsdorf im Museum.

6.

Nach dem Schulunterricht durchstreifte ich die Gegend um Kimpels Privatschule, und was gab es da nicht alles zu sehen! Trödlerladen reihte sich an Trödlerladen, und bald wußte ich genau, wo es die besten Trichtergrammophone gab, Edisonwalzen, Kommoden, Aufsätze und Vertikows. »Vertikow« kommt nicht etwa aus dem Französischen, sondern ist urberlinisch: Der Berliner Tischlermeister Otto Vertikow erbaute um 1850 den zierlichen Schrank, der in Millionenstückzahl produziert wurde und noch heute in vielen Haushalten steht, meist allerdings ohne den schönen Aufsatz. Einer der Trödelkeller unweit der Schillingbrücke wurde ab September 1941 mein zweites Zuhause.
»Möbel Ankauf - Verkauf« stand auf dem Schild an dem Altbau in der Köpenicker Straße 148, und darunter: »Inhaber Max Bier«. Ich stieg die Treppe hinunter, denn schon ein Blick ins Schaufenster hatte mich elektrisiert: Petroleumlampen, Bilderrahmen und Porzellanfigürchen. Die Glocke bimmelte, die Luft roch ein wenig dumpf, gemütliche Behaglichkeit verbreitend, nach alten Möbeln. Eine schlanke Frau mit schmalem Gesichtchen kam mir entgegen, ergraut und mit leicht verhärmten Zügen, und begrüßte mich. In der Ecke des Kellers stand ein Ofen und in der Mitte ein langer, ausgezogener Tisch, der sofort meine Aufmerksamkeit erregte: Aschenbecher, Bücher, Grammophonplatten, Teller und Tassen breiteten sich dort aus. Unter dem Tisch lagen alte Messingkronleuchter und Grammophone. Aus einem hinteren Raum, der Bilderkammer, wo Rahmen und Bilder lagerten, wie ich später erfuhr, kam mir Max Bier in seiner grünen Arbeitsschürze entgegen. Ich unterhielt mich mit den beiden, sie waren mir sofort sympathisch und ich ihnen offenbar auch. Von nun an kam ich fast jeden Tag. Dieses Ambiente aus Stühlen, Kommoden, Vertikows und dazwischen Bilder von Adligen in goldenen Rahmen - ach, es war herrlich!
Max Bier, ein gutmütiger, manchmal etwas polteriger Mann von einundsechzig Jahren, wirkte in seiner behäbigen Art wie ein Gastwirt, und tatsächlich, in Memel hatte er früher eine Wirtschaft unterhalten. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Biers vertrieben worden, hatten sich in Berlin niedergelassen und angefangen, mit Büromöbeln zu handeln, was sich aber in dieser ärmlichen Gegend nicht rentierte. So wechselten sie ins Trödlergewerbe, das ihnen eine ausreichende Existenzgrundlage bot.
Schnell merkten sie, daß ich von alten Dingen etwas verstand, und ich durfte mich im Laden nützlich machen, reparierte Uhren und Möbel und war glücklich, mir für das verdiente Geld alte Krüge, Lampen, Gaskronleuchter und bald sogar einen Edison-Phonographen mit über fünfhundert Walzen kaufen zu können.
»Das ist unser kleiner Levinsohn.« Frau Bier strich dem schlanken Jungen über den Kopf. Er streckte mir die Hand entgegen, und interessiert musterte ich mein Gegenüber. Mit seinen siebzehn Jahren war er kaum größer als ich. Er trug ein kariertes Hemd, darüber einen grauen Pullover und ein Jackett. Am auffälligsten waren seine dunklen, nachdenklichen und zugleich verschreckten Augen, aus denen er mich wie ein scheues Reh anschaute. Den Jungen mit der zurückhaltenden Art und dem zarten Gesicht schloß ich sofort ins Herz. Er war der Helfer von Max Bier, und er war Jude.
Eines Tages lamentierte Bier, gesundheitlich nicht der Robusteste: »Wir haben einen großen Nachlaß zu räumen, und der kleine Levinsohn und ich schaffen es nicht allein. Willst du uns nicht helfen?« Selbstredend wollte ich. So zogen wir drei von nun an gemeinsam los. Waren es kleinere Nachlässe, besorgten Levinsohn und ich den Transport zu zweit. Hier konnte ich mich entfalten, fühlte mich wohl, denn in dem Trödlerladen nahm man mich, wie ich war - Biers nannten mich immer »Lottchen«.
Eine kleine Kommode hatte es mir angetan. Acht Mark sollte sie kosten. Max Bier schaute auf die Einkaufsliste. »Na ja, sechs Mark hat sie gekostet, dafür sollst du sie haben, schließlich hast du beim Tragen geholfen.« Abends nach Hause, Schulmappe auf dem Rücken, Kommode vor dem Bauch. Alle zehn Meter mußte ich sie absetzen. Dann in die Straßenbahn nach Köpenick. Die Fahrer kannten mich schon, und wenn sie mich mit einem schweren Möbelstück kommen sahen, stiegen sie oft aus, um mir zu helfen. »Mensch, Junge, hast ja heute wieder Großumzug«, frotzelten sie, oder, mehr scherzhaft: »Det jrenzt ja schon an Kinderarbeit, wat du hier machst, det werd' ick mal melden.« Gemächlich schuckelte die Bahn nach Mahlsdorf-Süd. Mit diesen Touren legte ich den Grundstock zu meinem Gründerzeitmuseum.
Der kleine Levinsohn und ich wurden innige Freunde. Galt es einen Nachlaß aufzulösen, schoben und zogen wir den Plattenwagen mit den hochgetürmten Möbeln durch die Straßen, und bald kannte ich jeden Winkel von Berlin. Laufend kaufte ich alte Sachen sowie Bücher, die ich billig am Bücherwagen an der Schillingbrücke erstand. Schnell freundete ich mich mit dem Händler an und bekam Kataloge über Möbel und Architektur der Gründerzeit besonders billig. Beim »Trödel-Kaiser«, einem kleinen Trödlerladen am Stralauer Platz gegenüber der Kirche, ging ich ein und aus und erstand dort meine ersten alten Wandtelephone aus der Zeit um 1900 zum Preis von fünf Mark das Stück. Für mich damals viel Geld, das erst verdient sein wollte. Manchmal mußte ich aus meiner Sammlung wieder etwas verkaufen, teils aus Platzgründen, teils um Wichtigeres erstehen zu können.
Nach der Schule konnte ich nicht schnell genug in die Köpenicker Straße kommen, um zu arbeiten. Mit gesundem Appetit aß ich die Berliner Kartoffelpuffer mit Preiselbeer-Marmelade, die Frau Bier selbst buk. Dann fuhren wir los mit dem Plattenwagen, holten aus Vorder- und Hinterhäusern, aus Hochparterrewohnungen und Dachkammern Schränke, Kommoden und Büffets. Transportierte ich ein Klavier, bekam ich zehn Mark extra.
Levinsohn war bei Biers wie das Kind im Hause. Ohne Rücksicht auf die Nazi-Rassengesetze zu nehmen - kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, mit Juden familiär zu verkehren -, aßen wir gemeinsam in der Küche im hinteren Trakt des Souterrains. Hier war es selbstverständlich.
Am 14. November 1941 kam ich wie gewöhnlich zu Biers zum Mittagessen, aber irgend etwas war geschehen. Frau Bier schaute mich mit verweinten Augen an. Als ich fragte, was los sei, begann sie erneut zu schluchzen: Der kleine Levinsohn war um acht Uhr morgens nicht wie sonst zur Arbeit gekommen, und als Max Bier zu seiner Wohnung gegangen war, erfuhr er von den Nachbarn, daß die ganze Familie »abgeholt« worden war. Da saßen wir nun und rätselten über das Wohin und Warum. »Na ja«, sagte Max Bier, »wahrscheinlich fehlen in Polen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, und die Juden werden dorthin gebracht, um die Felder zu bestellen.« Ich schaute ihn fragend an. Mein Magen zog sich zusammen, mir wurde fast schlecht vor Sorge. Würde ich meinen jüdischen Freund je wiedersehen?
Jetzt erst fühlte ich, wie sehr ich mich in ihn verliebt hatte. Unbewußt hatte ich von Anfang an bemerkt, daß er unter den Zuständen litt und bedrückt war. Denn von seinem Wesen her war er eigentlich ein fröhlicher, aufgeschlossener Mensch. Aber ich spürte seine unausgesprochene Angst.
Die zwei Monate mit ihm vergingen viel zu schnell. Ich hing an seinen Lippen, war Feuer und Flamme, wenn ich mit ihm losziehen konnte. Er besaß eine ungeheuer erotische Ausstrahlung - zurückhaltende Jungs mit zartem Gemüt nahmen mich schon immer ein.
Gaben wir uns die Hand, so drückten wir sie immer einen Moment länger und inniger, als man es tut, wenn man sich guten Tag oder auf Wiedersehen sagt. Halt ihn fest, halt ihn fest, dachte ich unbewußt. Ich wollte ihn schützen vor dem, was ihm angst machte. Doch es ging nicht, es ging nicht, und immer noch schießen mir die Tränen in die Augen, wenn ich an ihn denke. Wäre ich doch nur ein bißchen älter gewesen! Ich hätte ihn irgendwo versteckt, hätte alles für ihn getan. Und ich hätte ihn durchgebracht, das weiß ich. Bis heute kann ich Helmut Wolfgang Levinsohn nicht vergessen, der - wie ich später aus einem Buch erfuhr, in dem seine Doportationsurkunde abgedruckt war -in Minsk mit so vielen anderen hingemordet wurde.
Meiner Liebe und meiner Zärtlichkeit werden immer all jene teilhaftig werden, die sich zu wehren haben gegen eine feindliche Umwelt, die wie ich Außenseiter sind. Immer werde ich für sie Partei ergreifen - für die Huren auf der Straße mit ihren Träumen, die frühreifen Stricher, die Schwulen, die Roma und Sinti und natürlich die Juden. Tief in mir lebt ein Gefühl für Gerechtigkeit, und, noch wichtiger, ich fühle mich diesen am Rande Stehenden wesensverwandt. Keiner sollte sich über den anderen erheben.

Max Bier hatte ein Einschreiben der Oberfinanzdirektion mit der Taxliste eines sogenannten »Judennachlasses« erhalten. Die Liste enthielt den Preis eines jeden Möbelstückes aus diesem »Nachlaß«. Die Gesamtsumme mußte er an den Fiskus zahlen. Was war mit den rechtmäßigen Eigentümern? fragte ich mich.
Max Bier mußte die Wohnung fristgemäß räumen. Sie lag eine Treppe rechts im Hause Engelufer 18 und hatte einem Ehepaar gehört. Der Mann war Ingenieur gewesen, die Ehe kinderlos. Das Namensschild mit roter Farbe überstrichen, tränenförmig angetrocknet. Die Füllungen der Eingangstür mit »Juda verrecke« und einem Galgen beschmiert. Am Strick hing der Davidstern.
Nachts um halb zwei, so erfuhren wir von einer verschüchterten Nachbarin, die vor Angst kaum den Mund aufbekam, war die Gestapo erschienen, hatte brutal gegen die Wohnungstür geschlagen, und als die verängstigten Menschen nicht aufmachten, mit einer kurzen Brechstange die Tür aufgebrochen und die Sicherheitskette zerschlagen. Wie Räuber stürmten die Gestapoleute in die Wohnung und prügelten das Ehepaar aus ihren Betten. Fünfzig Mark, zwei Paar Stullen und so viel sie tragen konnten, durften sie mitnehmen, mehr nicht.
Diese Wohnung habe ich noch heute vor Augen. Als wir ankamen, war die Wohnungstür notdürftig repariert und versiegelt. Auf dem Küchentisch zwei halb ausgetrunkene Tassen Kaffee, daneben zwei angebissene Brötchen. Unmittelbar vor dem Teller die Lebensmittelkarten und ein Merkblatt für Juden, voller Verbote. Max Bier beugte sich über die Karten: »Zum Leben zuviel und zum Sterben zu wenig. Was hier geschieht, ist ein Verbrechen, an dem auch wir zugrundegehen werden. Nur halt deinen Mund, und erzähle nichts in der Schule, sonst holen sie uns alle ab und bringen uns ins KZ.« Da war es, zum ersten Mal, dieses ominöse Wort, das ich später noch oft hören sollte. Ich wußte damals nicht genau, was sich dahinter verbarg, ahnte aber, daß man eingesperrt würde und nicht wieder rauskäme.
In den Zimmern alles durcheinander geworfen, einige Schrankschubladen auf dem Fußboden ausgekippt - die Häscher hatten Wertsachen gesucht, gefunden und geraubt. Rechts zur Straße hin lag das Schlafzimmer: zwei Bettstellen und zwei Schränke aus hellem, geflammtem Birkenholz, Biedermeier. In dem einen Schrank Kleider, im anderen Wäsche. In der linken Ecke am Fenster stand ein Bücherschrank aus Mahagoniholz mit geschweiften Türen, aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Seine Schublade lag herausgerissen auf dem Teppich, neben ihr eine kleine verspiegelte Messingdose. Die Henkersknechte hatten sie wohl als wertlos erkannt und achtlos zu Boden geworfen. Der Puder hatte sich wie ein feiner Schleier auf dem Teppich und in der Schublade ausgebreitet.
Die Bücher waren aus dem Schrank herausgezerrt und lagen, in Stücke gerissen, auf dem Fußboden. Heine, Goethe, Schiller und Lessing - zerfleddert und zertrampelt. Offensichtlich hatten die braunen Kulturträger Goethe und Schiller für Juden gehalten, da Juden Bücher »arischer« Schriftsteller abzuliefern hatten. Einige unbeschädigte hebräische Werke rettete ich und lagerte sie in einer Kammer im Laden bei Biers. Zwei Einbände von bibliophilen Prachtausgaben aus der Zeit um 1890, die Buchblöcke waren zerrissen, nahm ich mir als trauriges Andenken mit nach Hause. Auch den Bücherschrank erwarb ich: einen stummen Ankläger gegen das bestialische Nazisystem, das erst jüdisches Eigentum raubte und dann dessen Besitzer umbrachte.
Schon im Herbst 1945 konnte mir niemand mehr im Hause am Engelufer über die jüdische Familie oder deren Verbleib Auskunft geben. Fort, getilgt, keiner Erinnerung mehr teilhaftig. Ich bewahrte den Schrank von 1946 bis 1948 im Schloß Friedrichsfelde auf, stellte ihn aus, erzählte seine Geschichte. Dann schaffte ich ihn in mein Geburtshaus und 1960 in mein Gründerzeitmuseum. Als ich erfuhr, daß wieder ein Jüdisches Museum in Berlin entstehen soll, spendete ich ihn im Juni 1986 der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße.
Es mag Einbildung sein, aber jedesmal, wenn ich ihn heute sehe, ist mir, als berge der Schubkasten noch immer den leisen Geruch des Puders, den die jüdische Frau vielleicht einen Tag, bevor die Nazi-Schergen einfielen, aufgelegt hatte.
Geht man heute von der Jannowitzbrücke über die Brückenstraße und biegt links in die Köpenicker Straße ein, wächst dort auf der rechten Seite ein einzelner Baum. Etwas zurückgesetzt ragen moderne Häuser empor. Dort standen, bis zur Ausbombung kurz vor Kriegsende, Mietshäuser aus dem vorigen Jahrhundert. In einem lebte die Familie Danziger. Die freundliche, junge Frau Danziger kam meist in der Dämmerung zu Biers in den Laden, obwohl »arische« Trödler von Juden nichts erwerben durften. Eines Tages gestand sie: »Wir müssen uns von einem Stück nach dem anderen trennen, um zu überleben.« Bald standen wir in ihrer Wohnung, Max Bier kaufte einen dreiteiligen Spiegelschrank von 1880, den ich noch heute nachzeichnen könnte. Während Max Bier und ich den Schrank auseinanderschraubten, saß in einem Ohrensessel der hochbetagte Großvater und sah stumm vor sich hin. Es tat mir weh, vor seinen Augen das Möbel hinauszutragen, das er vielleicht vor sechzig Jahren selbst erstanden hatte. Der alte Herr war indes schon einige Zeit blind und taub und bemerkte nicht mehr, was um ihn herum vor sich ging. Als wir das nächste Mal in die Wohnung kamen, war der Großvater bereits verstorben. »Wohl ihm, denn wer weiß, was uns noch bevorsteht.« Traurig sah uns Frau Danziger an. Wir brachten den Sessel fort, auf dem der alte Herr mit seinem Käppchen und dem schlohweißen Bart immer gesessen hatte.
Wenn ich von der Schule kam, schaute ich bei Biers immer als erstes in die Schaufenster und entdeckte wenige Tage später eine Photographie im Stuckrahmen, eine Mutter mit ihrem Töchterchen, aufgenommen im Jahre 1901. Auf der Glasscheibe war mit Kreide der Preis notiert: drei Mark. Frau Danziger hatte das letzte Stück, ihr letztes Andenken frühmorgens gebracht. Kurz darauf wurde die Familie deportiert und in einem der Vernichtungslager vergast.
Eines Tages kam ich später aus der Schule, ich hatte nachsitzen müssen, weil ich die Mathematik nicht begriff. Max Bier war bereits vorausgefahren, Frau Bier notierte mir die Adresse, »wieder ein Judennachlaß«, gab mir zehn Pfennige für die Straßenbahn, Stadtring Linie 1. In der Bahn las ich Namen und Adresse: Heymann, Prinzenstraße 99.
Das Haus war in den achtziger, neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut, die Fassade mit reichem Stuckdekor im Stil der Neorenaissance ausgestattet, ebenso das Treppenhaus, die Entreetüren waren mit hohen Gesimsen verziert. War es erste oder zweite Etage links? Das Messingschild »Heymann« hing noch, aber auch hier beschmierte rote Farbe die Tür. Die Damen Heymann, zwei unverheiratete Schwestern, waren zweiundachtzig und vierundachtzig. Nachts hatte die Gestapo sie zusammen mit anderen auf ein Lastauto gestoßen. Wohin? Nach Polen? Wo so viele Menschen beim Einmarsch der Nazis umgebracht worden waren? In die dortigen Arbeitslager? Aber was sollten zwei so alte Damen im Arbeitslager? Ich spielte mit der Idee, die Namensschilder an den Wohnungstüren auszutauschen oder alle Juden in einsamen Häusern zu verstecken, damit die Gestapo keinen finde. Aber Max Bier sprach von den vielen Spitzeln, den kleinen Hitlern, den Treppenterriern, damit meinte er die Hausobleute, die uns das Leben sauer machten.
Die Wohnung erschien mir wie ein Trauerhaus, die immer gleiche Routine - zusammentragen und verpacken - wie eine Entweihung. Ich hielt einen dunkelbraunen Gewichtsregulator in Händen. Der Sekundenzeiger fiel mir auf, weil ich die Verzierung in seiner Mitte noch nie an einem Regulator gesehen hatte: den Davidstern.
Etwa zwanzig Jahre später wurde ich zu einer Haushaltsauflösung in die Stralauer Allee gerufen. Bis auf eine Wanduhr war bereits alles verkauft. Ich besah sie mir genauer und erkannte die Heymannsche. Über den Trödlerladen von Max Bier mußte sie im Krieg in diese Wohnung gekommen sein.
»Dr. Wongtschowski - der Dank des Vaterlandes ist dir gewiß«, sagte Max Bier verbittert, als er die Auszeichnungen entdeckte, die der Arzt für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg erhalten hatte. Wir waren in die Köpenicker Straße 6 bestellt worden, Ecke Pfuelstraße. Dr. Wongtschowski war, laut Aussage von Hausbewohnern, zusammen mit seiner Frau »abgeholt« worden. Immer wieder hörte man dieses harmlose Wort: »abgeholt«. Leichtfertig kam es aus den Mündern der Nachbarn, so als seien Wongtschowskis von lieben Freunden zu einem kleinen Bummel abgeholt worden. Doch hier war »abgeholt« worden, um zu morden.
Die Praxis wirkte, als könnte jeden Moment der nächste Patient hereinkommen. Herrenschreibtisch mit Oberteil und Aufsatz aus der Zeit um 1895, ursprünglich Nußbaum, poliert, jetzt aber weiß gestrichen, ein weißer Medizin- und Instrumentenschrank, daneben eine Chaiselongue. Die metallenen Auszeichnungen des Offiziers der Kaiserlichen Armee lagen in einer Schublade des Schreibtischs. Das Verwundetenabzeichen und das Kriegsverdienstkreuz schienen die Gestapo nicht interessiert zu haben. Ich betrachtete das Kreuz, als Max Bier mir anbot: »Nimm es, und halte es in Ehren, als Andenken an Dr. Wongtschowski.« Auf dem Fußboden lagen zerrissene Urkunden und ein Poesiealbum, dessen Seiten zerfetzt waren. Der starke Leineneinband aber, mit silbernen Ornamenten und der Aufschrift »Poesie«, hatte standgehalten. Im Inneren des Einbands las ich zwei Inschriften: »Bianca Pniower 1891«, Dr. Wongtschowskis spätere Frau, und »Ruth Wongtschowski 1911«, seine Tochter.
1988 konnte ich nach siebenundzwanzig Jahren erstmals wieder in den Westteil Berlins kommen und ging in Erinnerung durch die Köpenicker Straße. Aber nichts mehr weist hin auf das, was hier geschah.