Autobiografische Eintragungen 7 bis 11

7.

1942 mußte ich in die HJ eintreten, mein Vater hatte den Aufnahmeantrag gestellt. Mit viel Brimborium sollte uns in der bombastischen Aula der Schule in Berlin-Bummelsburg der sogenannte »Münchner Ausweis« überreicht werden, der meinige und der meines Freundes waren aber offensichtlich auf dem Weg von der »Hauptstadt der Bewegung« nach Berlin verschüttgegangen. Ich nahm an den Diensten nur selten teil, und so bekam meine Mutter ein Schreiben, in dem man sie aufforderte, dafür Sorge zu tragen, daß ich die Dienste nicht schwänze. Anderenfalls würde man mich der Polizei vorführen. Ich mußte mich melden und kam in Mahlsdorf in die Pflicht-HJ, die wir alle »Zwangs-HJ« nannten. Vor dem alten Gutshaus versammelten sich die schwarzen Schafe aus Mahlsdorf-Nord, -Süd und -Mitte. Wir bekamen Achselstücke an unsere Uniform geheftet, die mich zwar nicht interessierten, die aber Anlaß für ein merkwürdiges Erlebnis waren: Eines Tages traten wir in Reih und Glied an, der Bannführer fixierte jeden von uns eindringlich, vor mir blieb er stehen. »Na, du stehst ja da wie die fromme Helene, in welchem Fähnlein bist du überhaupt?« schnaubte er mich an. Fähnlein? Fähnlein? dachte ich, flattert da was im Wind? Der Bannführer wurde abgelenkt, mein Nachbar flüsterte mir zu: »Das steht doch auf deinen Achselstücken.« Ach Gott, dachte ich, schielte auf meine rechte Schulter, sah eine 18, einen Strich und eine 124. In diesem Moment drehte sich der Bannführer wieder um und schrie: »Na, wird's bald«, und ich retournierte schneidig, die Hände an der Hosennaht: »18 bis 124«. Darauf er mit hochrotem Kopf: »Dat kann ick mir wohl aussuchen, wat?« Und ich, man durfte nie »ja« sagen, brüllte prompt »Jawoll« zurück. »Jawoll« - das war in dem Moment natürlich der größte Witz, und die anderen Jungs grölten los. Der Bannführer kriegte die Meute kaum noch in den Griff, zeterte: »Sprechverbot! Das ist ein Befehl.«
Er kommandierte uns ins Haus. Ich hörte sein Gefasel nur verschwommen, denn, drinnen angelangt, galt meine Aufmerksamkeit den Türen mit ihren wunderbaren Gesimsen und den Fenstern mit den schlichten Messinggriffen. Nein, war das entzückend hier! Ich wollte, nachdem ich mich geistig von den Herrlichkeiten wieder gelöst hatte, nur noch eins: raus, weg von diesen Uniformen und dem brüllenden Affen.

Das ganze Ausmaß des Nazi-Grauens erahnte ich zum ersten Mal in den Spätsommertagen des Jahres 1942. Auf dem Weg von der Schule zu Biers bog ich von der Adalbertstraße rechts in die Köpenicker Straße ein und bemerkte einen Menschenzug: Männer und Frauen, alte wie junge, die Mütter mit Kindern auf dem Arm. Ein jeder trug ein kleines Köfferchen oder eine Tasche mit seiner Habe an der Hand.
In Sechserreihen wurde die Menge, von Uniformierten umringt, zur Schillingbrücke in Richtung Schlesischer Bahnhof, dem heutigen Hauptbahnhof, getrieben. Sie schleppte sich dahin, bedrängt von widerlichen Kommandos und Knüppeln, mit denen die Schurken auf die Geschundenen einschlugen. Ob das Kriegsgefangene sind? fragte ich mich. Doch dann sah ich die gelben Judensterne auf ihren Mänteln und Jacken. Wie ein Leichenzug trotteten sie über die Schillingbrücke, und als ich benommen beim Trödlerladen eintraf, erblickte ich Biers in der Ladentür. Viele Nachbarn waren ebenfalls aus ihren Läden getreten und gafften den Bedauernswerten hinterher.
Bier bedeutete uns hineinzugehen: »Die werden wohl nun in die Zwangsarbeitslager gebracht. Mit dem Zug vom Schlesischen Bahnhof aus.« Und ich dachte an D-Zug-Abteile, aber nicht an Viehwaggons, in denen sie in Wahrheit transportiert wurden. Irgend jemand müsse die brachliegenden Felder bestellen in Polen, meinte Bier. So war es den Deutschen in den Wochenschauen erklärt worden.
»Ja, aber was ist mit den alten Leuten, die können doch nicht mehr arbeiten«, warf ich ein. »Das begreife ich auch nicht.« Herr Bier wurde nachdenklich. Frau Bier stand während unserer Unterhaltung in Kittelschürze an ihrem Stammplatz neben dem Ofen, und mit einem Mal hob sie den rechten Zeigefinger, ihre Augen glitzerten: »Und ich sage euch, sie bringen alle um!« Max Bier, an seinem Schreibtisch vor seinen Papieren sitzend, schaute ungläubig: »Aber Muttchen, die können doch nicht Tausende von Menschen umbringen!«
Diese einfache Frau, die nie mehr als eine Volksschule besucht hatte, begriff instinktiv, was vor sich ging. Doch wir nahmen sie nicht recht ernst. Sie war ja mit den Jahren etwas wunderlich geworden, legte, wenn ein Geräusch im Trödelkeller zu hören war, den Finger auf die  Lippen: »Jetzt lassen sie wieder das Horchgerät durch den Kamin herunter.« Sie litt langsam an Verfolgungswahn.
Um sechs Uhr abends ging ich wie gewöhnlich zum Schlesischen Bahnhof, um von dort nach Mahlsdorf zu fahren. Auf dem Bahnsteig angekommen, sah ich auf dem nebenliegenden Fernbahngleis einen Güterzug, dessen Lokomotive außerhalb der Bahnhofshalle abfahrbereit in Richtung Osten stand. Die Lüftungsschieber der Viehwaggons waren mit Maschendraht vernagelt. In den Wagen hörte ich Stöhnen und Kinderweinen. Wollte man etwa so die Menschen nach Polen schaffen?
   
8.

So viele Dinge passierten damals, die ich zwar nicht begriff, doch die mir ungeheuerlich vorkamen. Doch da ich die große Katastrophe, die im Gange war, nicht bis ins letzte durchschaute, durchschauen konnte, belastete mich mehr die kleine, die sich zur gleichen Zeit bei uns zu Hause immer mehr zuspitzte.
Schon mit zwölf Jahren war mir klar, daß das Leben meiner Mutter und damit das meiner kleinen Geschwister bedroht war. Zu allem Unglück sollte ich Ende 1940 in das Kinderlandverschickungslager nach Zawisna - die Nazis hatten es kurzerhand in »Grenzwiese« umgetauft, weil ihnen der polnische Name nicht paßte - gebracht werden, in das meine ganze Schulklasse zu reisen aufgefordert war. Ich fürchtete, mein Vater könne meiner Mutter in meiner Abwesenheit etwas antun. Dem ungewissen Schicksal wollte ich in den Arm fallen. Am 5. Dezember 1940 tapste ich spätabends zum Schrank meines Großonkels und holte seinen sechsschüssigen französischen Revolver hervor. Das kalte Eisen war mir ein Greuel, aber damit wollte ich es tun: die Pein für unsere Familie ein für allemal beenden. Ich schlich in den Garten, mein Vater kam, ich legte an und drückte ab - doch nichts geschah. Ich wußte nicht, daß ich den Sicherungshebel hätte lösen müssen. Mein Vater aber bemerkte von alledem nichts. Einen Tag später nahm ich Abschied.
Mit dem Schulfreund von Grenzwiese aus ins benachbarte Praszka. Kalt. Auf Karren und Pferdewagen ziehen die abgerissenen Menschen ihre letzte Habe, Stühle, Kisten und Taschen, schleppen sich in den Ortsteil, der hinter dem Zollhaus liegt. Die Holzpfähle, säuberlich in den Boden gerammt, stehen schon. Wie Telegraphenmaste. Beim nächsten Besuch gespannter Maschendraht drumherum. Die Juden eingepfercht ins Getto.
Was für ein schönes Gebäude! Die Synagoge, getüncht in verwaschenem Hellblau, gegliedert mit vier Pilastern, flach aus der Wand heraustretenden Wandpfeilern mit Kapitellen oben, einer Basis unten. Zwischen den Pilastern die Eingangstür des Flachbaus, links und rechts schmale hohe Fenster mit Sprossenteilung. Über der Synagoge ein Gesims, darüber, über die ganze Breite ausgeführt, ein Tympanon, in der Mitte der Davidstern. Sonnenstrahlen gehen von ihm aus, er ist vergoldet. Das Kind schaut mit großen Augen. Tage später: alte zerlumpte Frauen und junge, kaum zu unterscheiden, mit schwarzen Kopftüchern, Steine klopfend. Pferdefuhrwerke rollen heran. Mit Stangen bewaffnet brechen sie die Steine aus der Synagoge. Was passiert hier? Fassungsloses Nichtverstehen. Wieder Tage später: Nur noch die linke Gebäudehälfte steht. Die Juden, angetrieben von unsichtbaren Peinigern, schleifen ihr eigenes Gotteshaus mit roboterhaften Bewegungen. Traurige Wut, Lethargie - und die Kinderfrage: Wieso müssen sie das abreißen? Was ist das für eine Niedertracht?

Als ich im September 1941 aus der Kinderlandverschickung zurückkam, war die Situation zwischen meinen Eltern weiter eskaliert. Eines Abends schlug er sie so heftig, daß ihr Nasenbein brach.
Normalerweise hätte sich meine Mutter im Krieg nie evakuieren lassen - vor den Bombenangriffen hatte sie keine Angst -, aber sie ergriff die Gelegenheit, durch Evakuierung vor ihm zu flüchten. So fuhren meine Mutter, meine neunjährige Schwester, mein sechsjähriger Bruder und ich erleichtert am 10. August 1943 in das kleine Städtchen Bischofsburg in Ostpreußen - wir flohen nicht vor den Bomben, sondern vor dem Mann beziehungsweise Vater, der diesen Namen nicht mehr verdiente. Als wir angekommen waren, schluchzte meine Mutter: »Egal, wie der Krieg ausgeht, ich werde nie wieder zu ihm zurückkehren.« Es war eine Ironie des Schicksals: Ausgerechnet dieser entsetzliche Krieg brachte uns zum ersten Mal so etwas wie Freiheit.

Uns war ein Quartier in der schönsten und größten Konditorei des Ortes zugewiesen worden. Mit der Gastgeberfamilie verstanden wir uns auf Anhieb gut, in meiner Freizeit durfte ich ab und zu in der Konditorei aushelfen. So mancher Landser streichelte mir über das Hinterteil; einer kniff mich und zwinkerte mir zu, als ich leicht gebückt am Tisch die Rechnung schrieb. Was die sich nur dachten? Sahen sie in mir den Jungen in kurzen blauen Cordhosen oder das Mädchen mit Schürze?

Von Bischofsburg aus besuchte ich meine Nenntante Luise, die in der Nähe einen Gutshof leitete. In einem Barockschrank entdeckte ich ihre alten Kleider, die sie 1895 zuletzt getragen hatte, fünfzehnjährig. Danach trug sie nur noch Männersachen: Stiefel, Reithosen, rechtsgeknöpfte Jacken, dazu einen Rasierpinselhut und einen grünen Lodenmantel - sie sah aus wie ihr eigener Gutsinspektor, breitschultrig und schmalhüftig, wie sie war. In der Landwirtschaft natürlich eine praktische Garderobe, aber sie hatte noch einen anderen Grund, den ich damals nicht ahnte: Meine Tante war lesbisch.
In einem alten Bordürenkleid mit zugehakter Taille vor dem Spiegel stehend, fand ich mich wunderschön. Plötzlich ging die Türe auf, und ich befürchtete ein Donnerwetter, als ich im Spiegel meine Tante hereinkommen sah, denn sie war eine sehr resolute Person. Statt dessen kam sie leise lächelnd von hinten auf mich zu, faßte mich um die Taille, drehte mich um, schaute mich von oben bis unten an und schmunzelte: »Hübsch siehst du aus! Sag mal, ziehst du sowas gerne an?« Nachdem ich verschämt genickt hatte, erklärte meine Tante: »Weißt du, mit uns beiden hat die Natur sich einen Scherz erlaubt. Du hättest ein Mädchen werden müssen und ich ein Mann.« Dann trat sie mit ihren Stiefeln kräftig auf, die Sporen klirrten, und damit war alles erledigt.
Das Leben geht ja mitunter seltsame Wege. Man wird zum Beispiel mit der Nase auf Dinge gestoßen, ohne zu ahnen, warum. Es war ein regnerischer Tag, als ich mich in der großen Bibliothek meiner Tante umsah und ihre vielen Bücher bewunderte. Ich griff wahllos ins Regal, erwischte ein Buch mit grauem Einband und schlug es auf. Es hieß »Die Transvestiten« und war verfaßt von einem gewissen Magnus Hirschfeld. Transvestiten? Was ist denn das? Wohl nichts für mich, dachte ich. Ich wollte das Buch schon wieder an seinen Platz zurückstellen, aber die nächste Seite blätterte sich wie von selbst um, und ich las die Widmung an meine Tante mit dem Zusatz »in Verehrung zugeeignet vom Verfasser Dr. Magnus Hirschfeld, Berlin 1910«. Jetzt interessierte mich das Buch, und ich begann zu lesen: über den erotischen Verkleidungstrieb; von Männern, die sich gern bunte Sommerkleider anziehen, und von Frauen, die Hosen und Jacketts tragen. Ich kroch förmlich in das Buch hinein. Meine Tante trat ein, wieder fühlte ich mich ertappt, und als sie fragte, was ich denn läse, druckste ich rum: »Es heißt >Die Transvestiten<, und es ist mir zufällig in die Hände gefallen.« - »Das lies dir mal gut durch«, überraschte sie mich erneut, »denn das geht uns beide an.«

Schon in den ersten Kriegsjahren hatte ich mir Frauensachen angeschafft. Bei Haushaltsauflösungen entdeckte ich häufig Kleider, Röcke, Blusen, auf die stürzte ich mich und kaufte alles, was mir gefiel und paßte - von Blusen und Röcken bis zu Hüftgürteln und Unterwäsche. Mit meinem ersten Freund, Christian, teilte ich den Hang zu Frauenkleidung. Christian war als Kind schon Transvestit und sah sehr mädchenhaft aus. Wir gingen oft gemeinsam zum Baden und hatten unsere ersten erotischen Erlebnisse. Ein Herz und eine Seele, bildeten wir ein frühjugendliches Liebespaar. Waren wir bei ihm, zogen wir uns immer die Kleider und Röcke seiner Mutter an und bewunderten uns gegenseitig. Eines Tages kamen wir auf die Idee, uns die Haare einzudrehen, die Täschchen unter den Arm zu klemmen und in Friedrichshagen über die Friedrichstraße, die heutige Bölschestraße, zu spazieren.
An eines hatten wir nicht gedacht: Im Krieg war es Jugendlichen unter einundzwanzig verboten, nach neun Uhr abends ohne elterliche Begleitung auf die Straße zu gehen. Es war aber bereits halb zehn, als wir, frohgemut und kichernd, untergehakt aufbrachen. Zwei Männer in Zivil kamen uns entgegen, ich wollte in einem Hauseingang warten, bis sie vorbei waren, aber Christian, übermütig geworden, hatte keine Lust, sich zu verstecken. Schon standen sie vor uns: »Na, ihr beiden Hübschen!« Eine HJ-Streife. Wir sollten unsere Namen nennen, sie hielten uns wohl für ein paar Mädels auf Drall, Halbwüchsige, die »was abschleppen« wollten.
Ehe wir uns versahen, hatten sie uns am Wickel und schleppten uns zum nahegelegenen Polizeirevier. Dort sperrte man uns kurzerhand in eine Zelle, weil wir uns geweigert hatten, unsere Namen preiszugeben. Sie drohten, uns einen Monat lang einzusperren oder uns mit dem Rohrstock »ein bißchen einzuheizen«. Uns wurde mulmig, Christian kullerten schon die Tränen, und so nannten wir unsere Namen. Da stutzten die Polizisten: »Nanu, ihr Schwindelliesen könnt doch nicht Lothar und Christian heißen, das sind doch Jungsnamen.« Ich druckste herum: »Naja, sie nennen mich immer alle Lottchen.« - »Aha, so ist das.« - »Und mich immer Christine«, ergänzte Christian. Nun fragten sie nach unseren vollen Namen, und nach unserer Antwort waren die Beamten völlig konsterniert. Aber nur kurz: Geschwind griff ein Diensthabender Christian unter den Rock, verabreichte ihm eine Backpfeife und rief entrüstet: »Das ist tatsächlich ein Bengel!« Die Prüfung fiel natürlich bei mir nicht anders aus, das Geschrei war groß. Christians Mutter wurde herbeitelephoniert und angebrüllt. Käme das noch einmal vor, würde man uns melden. Diesmal blieb es bei einer Tracht Prügel, die uns die Beamten verabreichten. Sie dachten sicherlich, da haben sich diese beiden Bengels einen kleinen Spaß erlaubt. Hätten sie den tieferen Hintergrund geahnt, dann hätten sie uns wohl als »abartig« der Gestapo gemeldet.

Hosen waren mir immer ein Graus, ich versöhnte mich erst ein bißchen mit ihnen, als immer mehr Frauen - vor allem nach dem Krieg - Hosen trugen. Meinen ersten Anzug zur Einsegnung wollte ich partout nicht anziehen. Und obwohl meine Mutter und mein Großonkel mir zuredeten, »du kannst doch nicht in kurzen Hosen gehen«, ließ ich mich nicht erweichen. Dann riß unserer Haushälterin der Geduldsfaden, und sie bestimmte: »Der wird jetzt angezogen.« Als ich mich weiterhin standhaft weigerte, lief sie wütend ins Bad, holte den Ausklopfer, und ehe ich mich versah, hatte sie mich übers Knie gelegt und versohlte mir den Hintern. Den Tränen nahe, mußte ich mich der Gewalt beugen. »Viel lieber würde ich ein schwarzes Kleid tragen«, stieß ich mit tränenerstickter Stimme hervor. Sie musterte mich Häuflein Elend in weißem Hemd, Fliege und Anzug und mußte zugeben: »Ja, das würde dir auch besser stehen.«
Im Krieg erhielt man Kleidung nur noch auf Punktkarte: Beim Kauf von Mantel, Jacke, Hose oder Strümpfen, egal ob Herren- oder Damenkleidung, schnitten die Verkäufer die Punkte der Karte ab. Ich brauchte einen neuen Mantel und fuhr mit meinem Großonkel zu Leineweber. Auf dem Weg mahnte er: »Er muß dir aber gefallen, denn wenn die Punkte abgeschnitten sind, ist alles gelaufen.« Das Verkaufsfräulein kam, ich zog einen Mantel an, einen mit Gürtel, den ich bis zum Geht-nicht-mehr zugezogen hatte. Resultat: Falten, wohin man schaute. »Ja, Kindchen«, sagte die Verkäuferin gouvernantenhaft, »das muß locker hängen, so siehst du ja aus wie ein abgebundenes Würstchen, das geht nicht.« - »Der gefällt mir aber nicht«, entgegnete ich mit einem Blick in den Spiegel, »der ist ja gar nicht tailliert und hängt so.« Jungenmäntel seien nicht tailliert, meinte sie pikiert, nur Mädchenmäntel. Also ging ich mit meinem Großonkel in die Mädchenabteilung, wo das Verkaufspersonal natürlich erst mal glotzte. »Ja«, meinte mein Großonkel nüchtern, »Sie haben recht gehört. Sehen Sie doch mal nach, ob Sie nicht einen passenden Mantel für ihn haben.« Sie nahmen meine Taille Maß, eins, zwei, drei, von der Stange einen Mantel geholt, ich mich vor den Spiegel gestellt und gewußt: Das ist der Mantel, den ich will. Tailliert, glockig fallend, so mußte er sein. Und selbst die Verkäuferin entlockte sich ein: »Ja, siehst hübsch aus.« Kurzum, der Mantel wurde gekauft, die Punkte abgeschnitten, nur beim Rausgehen wandte sich mein Onkel mir noch mal zu: »Hoffentlich merkt dein Alter nichts, sonst setzt es eine fürchterliche Tracht Prügel.« Er merkte es nicht, war wohl blind für alles, was nicht in seine Weltanschauung paßte, und hat, so glaube ich, es nie begriffen, daß ich ein Mädchen in einem Jungenkörper war.
Das muß ich natürlich für all diejenigen, die mit dieser Aussage wenig oder gar nichts anfangen können, ein bißchen erklären. Vom Wesen her fühle ich mich als Frau, was aber nicht heißt, daß ich mich meiner männlichen Geschlechtsteile geniere. Nein, ich bin kein Transsexueller. Würde ich allerdings dazu verurteilt, einen Bart zu tragen, wäre mir das unerträglich. Schon in der Schule dachte ich: Sicher, du bist wohl ein Junge, aber eigentlich bist du doch eher ein Mädchen. Was das alles für mein weiteres Leben bedeutete, das ahnte ich natürlich nicht, so sehr war ich in meiner Mädchenrolle drin.

Doch zurück zu meiner Tante: Auf dem Gut arbeiteten mehrere Stalljungen, und einer hatte es mir besonders angetan. Trotz männlicher Figur, breitschultrig mit schmalen Hüften, besaß Günther weibliche Züge. Er brachte mir bei, auf den Pferden des Hofes zu reiten. Da Hochsommer war und ich keine passenden Sachen hatte, ritt ich in kurzer Hose mit ihm aus. Diese war denkbar ungeeignet - ich ritt mir nicht nur die Schenkel, sondern auch den Hintern wund. Zurück auf dem Hof, goß er in seiner Stube kaltes Wasser in eine Emailleschüssel: »So, nun zieh mal deine Hosen aus.« Das war mir peinlich, und ich fragte zögernd: »Hosen aus?« - »Ja«, kam es mir entgegen, »dann kannst du dich mit deinem Hintern in die Schüssel setzen, das kühlt.« Sehr verschämt tat ich, wie mir geheißen, und das Bad linderte meinen Schmerz doch beträchtlich. Mein Galan ließ es sich nicht nehmen, mich eigenhändig abzutrocknen, was mich heftig erotisierte. Wir küßten uns, faßten uns heißblütig an und standen in der Mitte des nichtverriegelten Zimmers. Es kam, wie es kommen mußte: Die Tür ging auf, herein trat meine Tante, die vom Stalljungen ein Pferd gesattelt haben wollte. Aber statt ungehalten zu sein, da er sich doch im Dienst sehr privaten Vergnügungen hingab, entschuldigte sie sich: »Ach, Verzeihung, das hab' ich nicht gewußt. Laßt euch nur Zeit.« Die Tür fiel ins Schloß. Viel Zeit ließen wir uns indes nicht, dazu waren wir zu erregt. Mit Günther, den ich ungemein mochte, verbrachte ich von nun an jede freie Minute.
Meine Tante war nicht nur verständnisvoll, was Sexualität anbelangte, sondern auch ein sehr politischer Mensch. Sie berichtete mir von den Greueln im Warschauer Getto und ließ sich weitsichtig über die Weltlage aus: »Ich sage dir«, dabei saß sie vor mir auf dem Sofa, und ihr Gesicht versteinerte, »diese Verbrecher, die uns regieren, werden bald ihr Ende finden, denn viele Hunde sind des Hasen Tod. Aber auch wir werden darunter leiden, in spätestens zwei Jahren ist hier nichts mehr, dann sind wir arme Flüchtlinge auf der Landstraße, und, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, werden nie wieder in diese Gegend zurückkehren können.«
Mit fünfzehn Jahren waren ein Haus und Möbel für mich unverrückbare Dinge. Nicht im Traum hielt ich es für möglich, daß man ihrer verlustig gehen konnte. Ihre Worte irritierten mich, und ich fragte beunruhigt: »Und was passiert dann?« - »Ja«, erwiderte meine Tante lakonisch, »anstecken, Fäßchen Benzin ins Treppenhaus, dann fackelt die Bude ab. Fünf Jahre später ist alles eine Ruine, und aus den Fenstern wachsen Bäume.« Diese Antwort konnte mich, den Sammler, selbstverständlich nicht zufriedenstellen. »Und die Möbel?« fragte ich entgeistert.
»Das ist tote Materie, der tut's nicht weh, wenn sie verbrennt. Das Vieh müssen wir retten, das ist das einzig Wichtige.« Ich war anderer Meinung, und in meinem Kopf rumorte es. Auch die schönen Dinge wollte ich retten, die im Haus meiner Tante standen. Ohne ihr Wissen beauftragte ich einen Spediteur und ließ ausrechnen, was es kosten würde, alle Möbel in eine Scheune in der Nähe Berlins zu transportieren, die leer stand. Als meine Tante die ersten Eintragungen in der Transportliste las, die ich eiligst zusammengestellt hatte, - eine Kommode, ein Trumeauspiegel, ein Salonvertikow, eine Standuhr - überflog sie die nächsten Seiten, auf denen natürlich ebenfalls Gründerzeitliches aufgelistet war, und schaute mich mit amüsiertem Blick an: »Na, sag mal, Herzchen, du räumst mir ja mein ganzes Haus aus. Wo sollen wir denn sitzen? Auf dem Melkschemel vielleicht?« Sie lachte aus vollem Halse. Als ich versicherte, den Transport selbst zu bezahlen, schien meine Entschlossenheit sie zu beeindrucken, und tatsächlich, die Rettung fand statt - von ihrem Geld.

Das war im September 1943. Heute bin ich froh über meine »Verrücktheit«, denn dank ihr sind der Salon, die Stuckspiegel, Kronleuchter, Phonographen, Uhren, Trichtergrammophone und Walzen über den Umweg der Scheune in Motzenseebad und des Schlosses Friedrichsfelde in mein heutiges Gründerzeitmuseum gekommen. Die kostbaren Barockschränke im Haus meiner Tante ließ ich stehen - sie besaßen weder Säulen noch Kugeln, noch Muschelaufsätze. Sicher waren sie viel wertvoller als der ganze Gründerzeitkram, aber das interessierte mich nicht. Ich ging nach meinem Gefühl.

Meiner Tante war nicht verborgen geblieben, wie bedrückt ich nach Bischofsburg gekommen war. Nach und nach erzählte ich von dem tyrannischen Despoten zu Hause. Sie packte die Wut: »Wenn dein Vater noch einmal deine Mutter schlägt, dann stürz einen Stuhl um, reiß ein Bein heraus, und schlag so lange auf ihn ein, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gibt - verspreche mir das! Er darf nicht am Leben bleiben, sonst bringt er euch alle um.« Sie faßte die Reitgerte fester, mit der sie am Vormittag noch wilde Pferde gezähmt hatte, die die Stallburschen sich nicht zuzureiten trauten, und ich schwöre, wenn mein Vater im Zimmer gewesen wäre, sie hätte ihn totgeprügelt.
Gut und Böse - diese beiden Prinzipien verkörperten meine Mutter und mein Vater. Eins lernte ich damals: Ein Menschenleben, wie lange es auch währt, ist kurz. Vollkommen kann niemand sein, aber man muß den Mut haben, für die Gerechtigkeit zu kämpfen, unter welchen Umständen auch immer, und mit allen Mitteln, auch unter Einsatz des eigenen Lebens, um Unrecht und Gefahr von anderen abzuwenden.

In unserem Zimmer in Bischofsburg hatte ich mir einige alte Photographien meines Großonkels über mein Bett gehängt. Ein Jahr zuvor war er verstorben. Am 23. Dezember 1943, seinem achtzigsten Geburtstag, stand ich an unserem Fenster und blickte in den Hof. Es schneite in dicken Flocken. Da gewahrte ich einen Mann mit Hut, Mantel und Koffer, der im Schneegestöber um die Hausecke bog. Mit Entsetzen erkannte ich ihn, es war mein Vater. Schnell hatte ich mich der »unmännlichen« Hausschürze entledigt. Gebannt starrte ich auf die Tür, als mein Vater hereinstürmte. Grußlos schaute er sich im Zimmer um, und als sein Blick auf die Bilder meines Großonkels in Stuckrahmen fiel, befahl er mir, sie sofort abzuhängen.
Er hatte Weihnachtsurlaub und logierte im Städtchen im Hotel »Deutsches Haus«. Wir verlebten mit unserer Gastgeberfamilie ein trügerisch-harmonisches Weihnachtsfest. In diesen Tagen fand im Hotel eine Aussprache zwischen meinen Eltern statt. Meine Mutter, die in Bischofsburg einen Anwalt konsultiert hatte, erklärte kategorisch, sie wolle sich scheiden lassen. Er bedrohte sie, und sie kehrte völlig verstört aus dem Hotel zurück.
Als meine Tante davon erfuhr, bestellte sie meinen Vater aufs Gut. Dort stritten sie sich bis aufs Blut, der Diener trat ein, blieb wie angewurzelt stehen mit seinem Messingtablett, auf dem ein gerade eingetroffener Brief lag, denn in diesem Moment zog mein Vater seinen Dienstrevolver. »Noch ein Wort, und ich schieße.« Worauf Tante Luise ihrerseits einen sechsschüssigen Trommelrevolver zückte: Der Sicherungsflügel knackte, und sie drohte: »Bei drei bist du draußen, du Strolch, sonst knallt's. Ich zähle.« Mit soviel Courage hatte mein Vater nicht gerechnet und zog sich fluchend zurück. Die Flügeltür hatte er gerade hinter sich geschlossen, als mein Tante »drei« zählte und schoß. Die Kugel durchschlug das Holz und blieb in der gegenüberliegenden Tür stecken. »Schade, daß ich nicht getroffen habe« war meine Tante noch Jahre später ergrimmt.

Diese unglaublich starke Frau war mir immer ein guter Freund. Ihre Lebensgefährtin hatten die Nazis im sogenannten Euthanasieprogramm umgebracht. »Sie ist verschollen«, seufzte sie, als ich nach ihrer Freundin fragte. Sie hielt mich sicher für zu sensibel, wollte mir wahrscheinlich auch nicht »zu viel« erzählen, weil sie - wie ich später von ihr erfuhr - Kontakt zu polnischen Widerständlern hatte.
Im Januar 1945 führte sie einen Flüchtlingstreck mit Pferden und Wagen von Ostpreußen nach Berlin an. Der Gauleiter von Ostpreußen, »der Oberverbrecher«, wie meine Tante ihn zu nennen pflegte, hatte Befehl gegeben, jeden Treck aufzuhalten und alle Flüchtlinge hinzurichten. In einem Dorf versuchte der örtliche Nazi-Chef den Treck zu stoppen: »Wenn Sie den Flüchtlingstreck anführen, muß ich Sie erschießen«, brüllte er meine Tante an. »Zum Erschießen gehören zwei: einer, der erschießt, und einer, der sich erschießen läßt. Ich gehöre nicht zu letzteren«, erwiderte meine Tante ruhig und entschlossen. Der Nazi fühlte sich verulkt, und selbst als meine Tante den Revolver, den sie unter ihrem Pelz trug, zückte, nahm er sie nicht ernst. Er öffnete den Riemen seiner Pistolentasche, meine Tante drückte ab. »Nehmt ihm die Waffen ab, und schmeißt ihn über den Zaun in den tiefen Schnee. Nächsten Frühling werden die Polen dort einen verfaulten Nazi finden«, erklärte sie den entsetzt blickenden Flüchtlingen. Die Pferde wieder angespannt, ging es weiter nach Berlin.
Nach dem Krieg fungierte sie als Mittelsmann der polnischen Exilregierung in London, fuhr in die Schweiz und nach England, um ihre Auftraggeber zu treffen. Alles war sehr geheimnisvoll. Nach 1945 lebte sie kurze Zeit in West-Berlin, und wenn ich sie auf ihre Verbindungen ansprach, lachte sie und tippte mit dem Finger auf meine Nase: »Ach, Fräuleinchen, kümmere dich mal um deine Möbel, von Politik verstehst du sowieso nichts. Ich möchte auch nicht, daß du in Gefahr gerätst, du wohnst ja im sowjetischen Sektor.«
Einmal bummelten wir gemeinsam über den Ku'damm. Meine Tante interessierte sich zwar überhaupt nicht für schöne Kleider, ich aber um so mehr. Vor einem Geschäft, »Die gute Linie«, blieb ich stehen, und da lag er im Fenster: ein wunderschöner schwarzer Rock, Seide oder Taft, und ich, in Frauenbluse, kurzer Cordsamthose, Kuiestrümpfen und Damensandaletten, seufzte: »Ach, guck doch mal, der schöne Rock.« - »Na, wenn du ihn haben willst, kauf ich ihn dir«, bot mir meine Tante an. Ich jubelte innerlich, wir betraten den Laden, ein Verkaufsfräulein kam uns entgegen, aber auf unser Begehren ernteten wir irritierte Blicke. Meine Tante tat, als sei unser Wunsch nichts Außergewöhnliches. Die Bedienung fingerte das Prachtstück aus dem Schaufenster, und meine Tante ermunterte sie: »Ja, wollen Sie ihn nicht mal anhalten?« Die Verkäuferin nickte mir freundlich zu, offenbar hatte es bei ihr geklickt. Sie legte mir den Rock an die Taille und meinte, er müsse passen. Ich in die Kabine, Rock an, er saß, als wäre er für mich geschneidert worden. Ich drehte mich vor dem großen Spiegel im Verkaufsraum, und meine Tante war ganz begeistert: »Den kaufen wir, behalt ihn gleich an.« Wie wir dann, untergehakt, den Ku'damm weiter Richtung Halensee tippelten, hielten uns wohl alle für Großvater und Enkelin.
Meine Tante erzählte mir, daß sie sich eigentlich schon mit sechs Jahren, als sie zum ersten Mal auf einem Pferd saß, wie ein Junge gefühlt habe. Sie offenbarte sich ihrem Vater, der seiner erstaunten Gattin lapidar mitteilte, daß Luise eigentlich Luis heißen müsse. So wurde sie später tatsächlich von vielen genannt, bekam aber auch noch einen anderen Spitznamen: der Administrator.
Nach dem Mauerbau war es mir nicht mehr möglich, sie zu sehen: Sie lebte inzwischen in England. In Kontakt blieben wir über einen britischen Kurier, einen unscheinbaren freundlichen Mann Ende Sechzig, der mir in einem Aktenköfferchen ihre Briefe überbrachte, die ich - da meine Tante das Öffnen der Briefe an der Sektorengrenze fürchtete - in seinem Beisein auf der Rückseite der Originale beantwortete. Sie bestärkte mich aus der Ferne: »Mach weiter so, und laß dich nicht beirren.« Ich habe sie nie wieder gesehen, und 1976 starb sie, sechsundneunzigjährig.

9.

Im Dritten Reich oder was 1944 von ihm noch übrig war, nahm die Katastophe ihren Lauf. Die meisten deutschen Städte lagen in Trümmern, und meine Mutter bekam einen Brief, in dem sie aufgefordert wurde, in unserem Haus Räume für Ausgebombte zur Verfügung zu stellen. So fuhr ich Ende Januar 1944 von Bischofsburg zurück nach Mahlsdorf, um die Möbel umzurücken und den Einzug der Fremden vorzubereiten, mißtrauisch beäugt von meinem Vater, der noch im Haus lebte. Es herrschte Untergangsstimmung in Berlin: Niemand wußte, ob er am nächsten Tage noch ein Dach über dem Kopf haben und am Leben bleiben würde.
An einem Februarabend, spät in der Nacht, alle Fenster waren der Fliegerangriffe wegen verdunkelt, stellte mein Vater mich zur Rede: Wie ich zu ihm und meiner Mutter stünde beziehungsweise zu wem ich halten würde? Und zum ersten Mal hatte ich in diesem Augenblick den Mut, ihm die Stirn zu bieten, und sagte ihm alle seine über die Jahre hinweg begangenen Grausamkeiten ins Gesicht. Er schlug mich zu Boden. Dann holte er seinen Dienstrevolver und schob einen Ladestreifen ein. »Du hast eine Stunde Bedenkzeit. Es gibt nur eine Entscheidung, ich oder deine Mutter«, setzte er mich unter Druck. Andernfalls würde er mich »totschlagen wie einen räudigen Hund und in die Jauchegrube werfen« und anschließend nach Ostpreußen fahren, um meine Mutter und meine Geschwister »über den Haufen zu schießen«. Diese Worte höre ich wie heute, und noch immer läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich an diesen Abend zurückdenke:
Er schließt mich im ehemaligen Schlafzimmer meines Großonkels ein und zieht den Schlüssel ab. Ich sitze zitternd im Nachthemd auf der Bettkante, und die Uhr im Nebenzimmer, wo mein Vater auf der Couch liegt, schlägt - dreißig Minuten sind vorbei. Angst vor dem eigenen Tod habe ich nicht. Aber er wird auch Mutti umbringen. Nur ich kann es noch verhindern. Doch ich habe keine Waffe. Weil das Hausmädchen am nächsten Tag die Küche aufräumen will, die nach einem Bombenangriff von Glassplittern übersät ist, hat sie die Küchengeräte fein säuberlich auf dem Boden des Großonkel-Zimmers ausgebreitet. Ich sehe das massive Kuchenrührholz. Es liegt schwer in der Hand. Damit will ich mich verteidigen, wenn mein Vater in einer halben Stunde kommt. Aber nach ein paar Minuten weiß ich, daß ich mit dem Stück Holz nicht viel werde ausrichten können gegen den Vater, der mit seinem Dienstrevolver immer im Keller übt. Mir fällt der Zweitschlüssel fürs Zimmer ein. Mein Großonkel ist ein sorgfältiger Mann gewesen. Für jeden Raum im Haus gibt es einen Zweitschlüssel. Ich weiß, wo er ist, gehe zur Frisierkommode und ziehe die rechte Schublade auf. Er blinkt mir entgegen. Leise drehe ich den Schlüssel im Türschloß herum. Schwach dringt das Mondlicht herein, bescheint den Stuhl neben der Couch, auf der ich die Silhouette meines Vaters wahrnehme. Ich schleiche zum Stuhl, auf dem die Waffe liegt, schiebe ihn vorsichtig zur Seite. Der dicke Teppich schluckt jedes Geräusch. Den Revolver lasse ich liegen. Ich kann ja doch nicht mit ihm umgehen. Die Wanduhr schlägt mit Westminster-Gong zur vollen Stunde. Mein Vater streckt die Hand aus, will das kalte Eisen an sich nehmen, er greift ins Leere. Ich schlage zu. Einmal, zweimal, dreimal...

Es war keine Tat im Affekt, konnte es nicht sein, sondern eine mit Vorsatz. Es gab keine andere Wahl, das wußte ich. Als die Kriminalpolizei kam, war ich innerlich befreit, weil ich wußte, daß der Unhold meiner Mutter nichts mehr antun konnte. Die Tötung war eine Art Vorbeugenotwehr, und dazu stehe ich, auch wenn es keine gesetzliche Regelung für den Tatbestand gibt, eines anderen Menschen Leben vorbeugend zu retten. Die brutalen Mißhandlungen, die er an mir begangen hatte, konnten niemals auslösendes Moment für meine Tat sein. Ich hegte weder Haß noch Rachegefühle gegen ihn, aber dem Angriff auf das Leben meiner Mutter und das meiner Schwester und meines Bruders mußte ich zuvorkommen.
Die Kriminalpolizei suchte nach einem Motiv, fand aber keines, und das Gericht überließ die Arbeit einem Psychiater. Von der Jugendstrafanstalt in Tegel fuhr Kriminalrat Ernst Unger, ein warmherziger Mann mit großen nachdenklichen Augen, mit mir in die Universitäts-Nervenklinik nach Tübingen. Dort sollte mich Dr. Dr. Robert Ritter untersuchen, ein unnahbarer, kühl und geschäftsmäßig auftretender Mann und zugleich die Zentralfigur rassistischer »Zigeunerforschung« im Dritten Reich. »Lotharchen, daß du mir ja nichts von Juden erzählst, denn Dr. Ritter ist ein Nazi«, warnte mich der mitfühlende Kriminalrat Unger. Er war in Sorge, fürchtete, ich könnte mich verplappern.
Ritter, einer der schillerndsten Schreibtischtäter im nationalsozialistischen Staat, kam 1935 auf die Idee, erbbiologische Untersuchungen an »Zigeunerbastarden« vorzunehmen, und binnen kürzester Zeit entwickelte er sich mit seinen kruden Forschungen, sehr zur Freude des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, zum Experten auf diesem Gebiet. Schon im November 1936 avancierte er zum Direktor des »Rassenhygiene-Instituts« in Berlin-Dahlem. Seine Mitarbeiter und er hatten die Aufgabe, alle »Zigeuner« des Reiches nicht nur zu erfassen, sondern sie auch rassisch zu begutachten und zu selektieren. Höchst vage, wie alle NS-Forschung, die die Überlegenheit der nordisch-arischen Rasse »wissenschaftlich« zu untermauern suchte, verfolgte er Stammbäume zurück, um »reinrassige Zigeuner«, die überleben sollten, von »Zigeunerbastarden« zu scheiden, die per se »asozial« seien und folglich den Juden in die Gaskammern zu folgen hätten. Nicht daß Ritter ein Freund von »reinrassigen Zigeunern« gewesen wäre: Diese sollten, wie Tiere in einem Gehege, in Reservaten zusammengeschlossen und weiteren »wissenschaftlichen« Untersuchungen zugeführt werden. Wie ernsthaft Ritter seine »wissenschaftlichen« Untersuchungen nahm, macht das Protokoll einer der wohl makabersten Sitzungen des Reichssicherheitshauptamtes im Winter 1941/42 deutlich: Unschlüssig, wie die »Ausmerzung« der »Zigeunerbastarde« zu bewerkstelligen sei, diskutierten die anwesenden Herren deren Ersäufung im Mittelmeer. Dem widersprach Ritter mit dem Hinweis, daß die von ihm vorgenommene anthropologische Untersuchung und Erfassung erst zu zwei Dritteln abgeschlossen sei. Als die ihm zugebilligte Frist von einem Jahr abgelaufen war, befahl Himmler, alle »Zigeunermischlinge« nach Auschwitz-Birkenau zu verschleppen.
Als die »Endlösung der Zigeunerfrage« fast bewerkstelligt war, wandte sich Ritter einem neuen Forschungsgegenstand zu: dem straffällig gewordener oder »asozialer« Jugendlicher. Darunter fielen zum Beispiel die Hamburger »Swing-Jugendlichen«, die diese amerikanische Musik liebten und zu ihr tanzten, was insbesondere Himmler zur Weißglut brachte, der »brutales Durchgreifen« befahl. Mit der kriminalbiologischen Sichtung waren, bevor die Jugendlichen ins Jugend-KZ eingewiesen wurden, Robert Ritter und Eva Justin betraut, seine Assistentin.
Sei es, daß die Berichte über das Ehemartyrium meiner Mutter ihn beeinflußt hatten, seien es die vielen positiven Zeugenaussagen der Nachbarn, jedenfalls war Ritter bei unseren Gesprächen äußerst freundlich und führte mich in Begleitung seiner Assistentin in die Stadt, ins Kino und zum Tübinger Schloß. In der Universität ließ er mich vor Studenten einen kleinen Vortrag über den Edison-Phonographen halten. Das alles gehörte zu seiner Beobachtung und diente der Vorbereitung seines für das Gericht zu schreibenden Gutachtens. Noch im Wintersemester 1944/45 bot er in der Tübinger Universität eine Veranstaltung mit dem Titel an: »Übung über die charakterliche Artung jugendlicher Rechtsbrecher (mit gelegentlichen Vorführungen)«. Ich war, ohne es zu ahnen, eine dieser »Vorführungen«.
Eva Justin war bei den Roma und Sinti noch unter einem anderen Namen bekannt: Lolitschai. Das »rothaarige Mädchen«, so die Übersetzung aus der Sprache der Roma, spionierte in Zwangslagern herum und fragte dort bevorzugt kleine Kinder - scheinbar harmlos - nach deren Verwandten. Waren diese ausfindig gemacht, wurden sie ins Institut bestellt und erlebten eine sehr viel weniger harmlose Lolitschai. Konnte eines der unglücklichen Opfer bei den Stammbaumbefragungen nicht mit den Namen seiner Vorfahren dienen, kam schon mal die Antwort: »Wenn du nicht die Wahrheit sagst, kommst du ins KZ.«
Später, kurz vor Kriegsende, erschlich sich Eva Justin mit tatkräftiger Hilfe ihres Mentors eine Promotion, wobei sie in ihrer Arbeit »Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder und ihrer Nachkommen« ihre unter Ritter erzielten »Untersuchungsergebnisse« weidlich nutzte. Nie hätte ich gedacht, daß an einem Doktorhut Blut kleben kann, aber genauso war es.
Rund dreißigtausend deutsche Roma und Sinti wurden aufgrund der »wissenschaftlichen« Erkenntnisse Dr. Dr. Robert Ritters und Eva Justins ums Leben gebracht.
Alle diese Menschen haben einen Ort auf dieser Welt gehabt, wie armselig er auch gewesen sein mag. Es waren Tüchtige unter ihnen und weniger Tüchtige. Aber alle hatten etwas gemeinsam: Sie haben gelacht und geweint, gespielt und gearbeitet, gedacht und gefühlt. Ritter und Justin, die für den Tod von vielen von ihnen mitverantwortlich waren, haben nicht einen von eigener Hand getötet. Sie waren keine Mörder. Jeder Mörder hat ein Motiv, so niedrig es auch ist: Haß, Eifersucht, Habgier. Sie haben ihre Opfer wahrscheinlich nicht einmal gehaßt, waren keine Täter, sondern haben nur eine Tätigkeit ausgeübt. Sie vermaßen Köpfe, nahmen Blut ab, füllten fein säuberlich Tabellen und Formblätter aus, schrieben Gutachten, die letztlich Todesurteile waren.
Diese furchtbaren »Wissenschaftler« waren von einer Durchschnittlichkeit, die das Grausige ihrer Tat erst bemerkenswert macht, keine Teufel in Menschengestalt, sondern - im Falle Eva Justins - eine schöne, junge, rötlich-blonde Frau, mit schmalem Gesicht und halblangem Haar. Ich sehe sie noch vor mir im Schloßhof von Tübingen, mit ihrer Aktentasche in die Institute gehend. Im Sonnenlicht lief sie bis zum letzten Treppenturm und verschwand in einer Tür. Gab sie mir die Hand, wirkte sie freundlich und nett in ihrem Sommerkleid, bunt und weiß abgesetzt, den Blick freigebend auf ihre schönen Beine und ihre Sommerschuhe mit halbhohen Hacken. Nahm sie mich bei der Hand, ging etwas Gutes von ihr aus, so empfand ich es jedenfalls - da war sie, jene Banalität des Bösen, die wohl das Beunruhigendste an der ganzen Nazi-Barbarei ist. Daß es keiner Affekte und krimineller Energien bedarf, sondern lediglich beflissener Dienstwilligkeit, Gehorsams, Pflichtbewußtseins und der technischen Kapazität zur Verwirklichung des Massenmordes, das kann einem heute noch angst machen.
Nach Kriegsende stritt Ritter jede Mitverantwortung am Völkermord von Roma und Sinti ab, und wie so viele andere fand er nachsichtige Richter. Die Anklage gegen Ritter wurde 1950 vom Landgericht Frankfurt am Main fallengelassen. Die höhere Gerechtigkeit wollte es, daß Ritter ein Jahr später, mit fünfzig Jahren, starb, inzwischen in der Adenauer-Republik zum Regierungsrat befördert. Wer weiß, welche Karriere ihm beschieden gewesen wäre, hätte er noch zwei Jahrzehnte gelebt?

Drei Wochen verbrachte ich in der geschlossenen Abteilung der Universitätsklinik. Dort wimmelte es von Geisteskranken. Vielfach ältere Menschen, die in Umnachtung gefallen waren durch die grauenvolle Bombardierung oder weil sie alle Angehörigen im Krieg verloren hatten. Ich teilte das Zimmer mit einem Soldaten, dessen Gehirn von einer fortgeschrittenen Syphilis angegriffen war. Völlig debil, hielt er mich für eine französische Nutte und sprang mit mir um die Betten. Ich zog die Notglocke.
Einige Tage später war er verschwunden, und als ich einen Pfleger fragte, wo er geblieben sei, bekam ich im breitesten Schwäbisch zu hören: »Mariaberch, Kreis Reutlingen, da kommt er halt hiin, kriegt er a Spritz, is er hiin.« Diese württembergische Heilanstalt, in die sich Robert Ritter und Eva Justin kurz vor dem Zusammenbruch des Dritten Reiches absetzten, diente auch als »Euthanasiestation«. Ich fürchtete, nach Mariaberg gebracht zu werden, untersuchte man mich doch auf meinen Geisteszustand und punktierte mein Rückenmark.
Ich erinnere mich, daß Ritter mich fragte, ob ich schon mal Geschlechtsverkehr gehabt hätte. Ich schaute ihn verwundert an: Geschlechtsverkehr? Dieses Wort hatte ich noch nie gehört. Ja, ob ich denn nicht wisse, wie das sei zwischen Mann und Frau? Er suchte es mir, medizinisch verquast, zu erklären - »das männliche Glied ist der Verbindungsschlauch zur Frau«, das sei wie bei den Hühnern -, aber das interessierte mich nicht. Ich verspürte eher eine Abneigung gegen seine detaillierten Ausführungen. Sicher lag das auch daran, daß Sexualität bei uns zu Hause mit einem Tabu belegt war.
Wenn die Menschen hungrig oder durstig sind, sagen sie es, wenn sie geil sind, sagen sie es nicht. Obwohl es doch zum Leben gehört und man es nicht negieren kann. Als Kind wurde mir immer alles mies gemacht - das ist pfui, das darfst du nicht und so weiter. Ich weiß noch, wie ich einmal auf der Toilette wichste, vergessen hatte, die Tür zu verriegeln, das Dienstmädchen reinkam und entrüstet fragte: »Lothar, was machst du denn da?« Im Grunde genommen war die Frage überflüssig, denn es war sehr eindeutig, was ich »da« machte. Ein schlechtes Gewissen wegen nichts und wieder nichts machte die unsinnige Fragerei noch dazu.
Aber ich hatte ja auch andere Reaktionen kennengelernt, die meiner Tante etwa, als sie mich mit dem Stallburschen »in flagranti« überraschte. Was soll auch das ganze Moralisieren, was ist schließlich der Mensch? »Das höchstentwickelte Tier, ein Zweifüßler, weiter nichts«, pflegte meine Mutter zu sagen.

Ich verspürte keine Neigung, Robert Ritter von alledem zu erzählen, sondern wehrte Fragen nach meiner Sexualität ab.

Im Juni 1944 holte mich Kriminalrat Unger wieder aus Tübingen ab und fuhr mit mir zurück in die Jugendstrafanstalt Tegel. Ernst Unger nahm mich bei der Hand wie mein Großonkel früher. Das Schicksal hatte mir einen väterlichen Freund gesandt, wenn auch nur für kurze Zeit.
Als wir uns in den Tegeler Anstaltsmauern verabschiedeten, wußte ich, wieviel ich ihm zu verdanken hatte.
Im Januar 1945 sollte mein Prozeß stattfinden. Meine Mutter hatte einen Verteidiger engagiert. Als sie mich das erste Mal nach meiner Tat besuchte, sprachen wir beide kaum - wir schauten uns nur in die Augen und fühlten beide dasselbe: daß wir von einem Alptraum befreit waren.
Das Gefängnis, im vorigen Jahrhundert in Kreuzform gebaut, besaß vier Flügel, in deren Mitte sich die Zentrale befand. Ich saß in Zelle 75 ein, die hell und sauber war und den Blick nach Süden freigab. Eines Tages wurde ich verlegt ins Parterre in Zelle 13 - und bekam einen Riesenschreck: nicht weil ich abergläubisch, sondern weil das Innere der Zelle total verkommen und verdreckt war. Ich erbat mir vom Kalfaktor Eimer und Schrubber, ging ans Sauberscheuern und putzte die blinden Fenster. Nun hatte ich zwar ein propperes, kleines, gewölbtes Kämmerchen, aber diese Seite ging nach Norden, so daß kein Sonnenstrahl hereinfiel. Dies sollte ich indes nur wenige Tage bedauern, denn auf den Südhof fiel eine Bombe, Splitter flogen umher, und der Junge, der in Zelle 75 verlegt worden war, wurde tödlich am Kopf verletzt.
Die Tage, Wochen und Monate gingen eintönig dahin, und ich war um meine Mutter besorgt. Ich wußte kaum, wie es ihr ging. Briefe schreiben war nur selten erlaubt, überdies wurden sie zensiert. Ich überlegte hin und her, ob es wohl einen anderen Weg gegeben hätte, meine Mutter, meine Geschwister und mich vor meinem Vater zu retten, doch ich kam zu dem Schluß, daß ich das Richtige getan hatte, und so hoffte ich auf gerechte Richter. Wenige Tage vor der Verhandlung erschien ein Wehrmachtswerber, der mich - das Recht außer Kraft setzend und damit offenbarend, wie es um diesen Staat bestellt war - bei sofortiger Freilassung für die Wehrmacht anheuern wollte. Der Anstaltspfarrer Dr. Poelchau, ein mutiger, aufrechter Mann, sah das Formular anläßlich eines Besuches auf meinem Tisch liegen und warnte: »Bloß nichts unterschreiben, das ist ein Himmelfahrtskommando.« Das hätte er nicht zu sagen brauchen, ich hätte es sowieso nicht unterzeichnet.
Endlich, an einem verschneiten trüben Januartag des Jahres 1945, wurde meine Verhandlung vor dem Jugendgericht in Moabit eröffnet. Ihr Ablauf ist mir nur noch nebelhaft in Erinnerung - ich war einfach zu aufgeregt. Nachdem meine Mutter als Zeugin ihre Aussage gemacht hatte, resümierte der Vorsitzende Richter, ein alter, verständnisvoll wirkender Mann: »So ein furchtbares Eheleben, wie Sie es bei Ihrem Mann zu erdulden hatten, ist mir in meinen vielen Dienstjahren noch nicht begegnet. Ihr Junge tut mir aufrichtig leid.« Nach etlichen Verhandlungstagen, die Presse war ausgeschlossen, ging der Prozeß seinem Ende entgegen. Das Gericht hielt mir vor, daß ich doch vor meinem Vater hätte fliehen können, anstatt ihn zu erschlagen. Die richterliche Einlassung, ich hätte aus dem Fenster des im Hochparterre liegenden Zimmers springen können, setzte mich damals - und auch heute noch - in Erstaunen. Ja, wo sollte ich denn hinfliehen im vom Krieg zerstörten Deutschland, das überdies niemand so einfach verlassen konnte?
Mein Anwalt hatte Freispruch beantragt, das Gericht jedoch verurteilte mich zu vier Jahren Jugendgefängnis. Die Zeit der Untersuchungshaft wurde angerechnet und meiner Mutter anheimgestellt, nach einem halben Jahr ein Gnadengesuch einzureichen. Doch alles kam ganz anders.
Im Februar und im März wurden die Luftangriffe auf Berlin immer heftiger. Auch an meinem siebzehnten Geburtstag luden die alliierten Bomber wieder ihre Last über der Stadt ab. Die Tiefflieger flogen über die Anstaltsdächer, im Gefängnis herrschte bereits Endzeitstimmung. Wollte man vom Gefängnisgebäude in den Hof gehen, mußte man erst durch ein Meer von Glasscherben staksen, die ehemals die Fenster des Gefängnisses gebildet hatten. Am 22. April marschierte die Rote Armee auf Tegel, und aufgeregt schnatternd hechelten die Aufseher über die Gänge. Alle Insassen sollten nach Plötzensee in die dortige Haftanstalt verlegt werden, aber einer der Transporte war unterwegs von Bomben getroffen worden.
Die Russen standen schon in Tegel, eine weitere fahrbereite grüne Minna gab es nicht mehr. Der Aufseher brachte mich in die Zentrale. Dort saß auf seinem Platz hinter der großen Glocke, wie ein Kapitän auf seinem sinkenden Schiff, der Anstaltsleiter und telephonierte, während wenige Meter über dem Dach die Tiefflieger hinwegheulten, so daß wir den Luftzug förmlich spürten. Fünf, sechs Jungen lehnten mit mir an der Wand und warteten. Der Anstaltsleiter, meine Karteikarte in der Hand, sagte mit wegwerfender Handbewegung zu seinem Hauptwachtmeister: »Gute Führung. Entlassen.« In einem Nu verschwand er im Gang.

10.

Eine halbe Stunde später stand ich vor dem Gefängnis auf der Straße und wunderte mich über die vielen Menschen, die, mit Handwagen voller Gepäck, Kinderwagen mit Federbetten und schreienden Kleinkindern auf dem Arm, in Richtung Stadtmitte zogen. Ich fragte eine Frau, wie ich zum Bahnhof Tegel käme. »Wat willste denn da?« kam es entgeistert zurück. »Ich will mit der S-Bahn nach Mahlsdorf fahren.« Schallendes Gelächter: »Nach Bahnhof Tegel? Da ist doch längst der Iwan, wat glaubse denn, warum wir flüchten?« Also, wie alle anderen, zu Fuß weiter. Auf der Müllerstraße im Wedding stürzten schon wieder Tiefflieger heran. Ich flüchtete in ein Haus, in dessen Keller ich Menschen vermutete, stieg die Treppe  hinab,  aber sah, als ich durch die Verschlage spähte, nur Gerumpel und - den wunderschönen Muschelaufsatz eines Kleiderschrankes. Noch komplett mit Kugeln an den Seiten, wahrscheinlich aus den neunziger Jahren. Mein Gott, ist das ein schöner Aufsatz, den müßte man retten, wahrscheinlich wird das Haus zerstört und der Muschelaufsatz mit, dachte ich. Draußen fauchten Bomben, das Haus dröhnte, der Beschuß wurde stärker- ich gebe zu, daß es eigentlich völlig absurd ist, in einer solchen Situation einen Muschelaufsatz zu bedauern, aber so bin ich nun mal. Mein Bestreben, zu bewahren, ist stärker als alles andere. Ich verließ den Keller, als es sich draußen etwas beruhigt hatte. Kurz danach nahten erneut Tiefflieger, und ich stolperte in den U-Bahn-Eingang Seestraße. Unten leuchteten die roten Schlußlichter eines Zuges, neben dem letzten Wagen stand der Zugabfertiger. Die Fahrkartenverkäuferin rief mir schon zu: »Lauf schnell, es ist der letzte Zug über Stadtmitte. Danach fährt nichts mehr.« Die U-Bahn schien nur auf mich gewartet zu haben, denn kaum war ich eingestiegen, fuhr sie ab. Mutterseelenallein saß ich in diesem Zug. Er hielt an jeder Station, aber niemand stieg mehr ein. Die Wagen waren sauber, hatten noch Glasscheiben, und die Messingsäulen und -Stangen blitzten wie Gold. Die Szenerie mutete gespenstisch an, und ich wußte nicht mal, wo aussteigen. So fuhr ich über Friedrichstraße und Französische Straße bis Stadtmitte, verließ den Wagen - um den Zug zu nehmen, der gerade auf dem gegenüberliegenden Gleis einfuhr und mich zurück zum Bahnhof Französische Straße beförderte. Dort kannte ich mich am besten aus, hatte ich mir inzwischen überlegt. Der Bahnhofsvorsteher löschte hinter mir die Lichter, als ich den U-Bahnhof verließ - auch diese Bahn war die letzte gewesen.
Oben angekommen, blieb ich entsetzt stehen: Nur noch Ruinen oder qualmende Trümmerhaufen kündeten von den ehemals schönen Häusern. Am Eckhaus Friedrichstraße hingen noch die Reklameschilder der Firma Loeser & Wolff. Ich rannte, so schnell ich konnte, die Französische Straße entlang in Richtung Kurstraße. Dort geriet ich unter Beschuß und flüchtete in die große, unverschlossene Eingangstür des Reichsbankgebäudes. Statt Schutz erwartete mich in der Vorhalle der nächste Schrecken: Eine Handvoll SS-Männer hatte sich dort versammelt, und kaum hatten sie mich bemerkt, legten sie ihre Karabiner auf mich an. »Halt, stehenbleiben, oder wir schießen!« befahl einer. Völlig verdattert machte ich einen Knicks und sagte: »Entschuldigen Sie bitte, ich wollte nur vor dem Beschuß Zuflucht suchen und gehe sofort wieder.« Ohne eine Antwort abzuwarten, machte ich mich blitzschnell aus dem Staube und kam, an Häuser- und Ruinenwänden Schutz suchend, bis in die Nähe des Stadtschlosses. Ein Trupp Soldaten marschierte über den Platz, als der Kriegslärm zu einem Inferno einschlagender Granaten anschwoll. Ich sprang in einen geschützten Türbogen. In meiner unmittelbaren Nähe schlugen Splitterbomben ein. In der linken Ecke kauernd - die schwere Pforte hatte ich in der kurzen Zeit nicht öffnen können -, hörte ich die Schreie der Sterbenden. Dann war alles still. Eben hatte ich die Soldaten noch im Gleichschritt gehen sehen, mit Tornistern, Brotbeuteln und Feldflaschen, jetzt lagen sie tot und zerfetzt auf dem Platz. Ihr Anblick war so entsetzlich, daß ich einer Ohnmacht nahe war.
Ich raste Richtung Königstraße, wo mich erneut Granaten empfingen. Völlig verzweifelt stürzte ich in den Eingang einer Antiquitätenhandlung an der Ecke Burgstraße, deren kaputte Ladentür halb offen stand. Das Geschäft war durch die Druckwellen der Bomben verwüstet, Möbelstücke umgestürzt, und von der Decke hingen Rohputz und Stroh herunter. In diesem Bild trauriger Zerstörung stand ein alter Mann von etwa siebzig Jahren neben einer hohen Barockstanduhr und starrte mich mit entsetzensgeweiteten Augen an. Er schien auf die nächste Bombe oder Granate und den damit verbundenen Tod nur zu warten. Das war kein Händler, kein Trödler um des Broterwerbs willen, das war ein Idealist und ein echter Herr: eine Erscheinung aus dem neunzehnten Jahrhundert, voller Würde und Noblesse, er hätte ein Rittergutsbesitzer sein können oder ein Offizier alter preußischer Schule. Kerzengerade wachte er neben seiner Standuhr. Groß, schlank, weißhaarig, der schwarze Anzug, den er sicher früher schon trug, als er noch im Laden bediente, voller Kalk. Seine Gesichtszüge waren zur Maske erstarrt, dennoch erahnte ich den gutherzigen, gebildeten Aristokraten in ihm.
Er sah mich und sah mich nicht, starrte durch mich hindurch. Die Fenster des Ladens waren zerstört, der Brandgeruch wehte von den gegenüber in Flammen stehenden Häusern herüber. Aber das schien ihn nicht zu kümmern. Er hätte in den Keller gehen können, aber nein, er harrte in seinem Laden aus, das war sein Geschäft. Ich fühlte mich als Eindringling in seinem Reich.
Anfangs hatte ich ihn gar nicht bemerkt, war auf die Uhr zugegangen, die ich so schön fand. Da erst nahm ich ihn wahr, regungslos, links neben der Uhr, als wäre er schon in anderen geistigen Sphären. Ich entschuldigte mich, daß ich so in sein Geschäft gestürzt war. Aber er antwortete nicht, und mir schien, das Grauen hätte ihn um den Verstand gebracht. Nach Kriegsende war dieses Haus völlig zerstört. Was mag aus dem alten Herrn geworden sein? Immer denke ich an ihn, wenn ich an dieser Ecke entlanggehe, wo heute Brachland ist.
Ich lief, nachdem ich mich mit einem Knicks verabschiedet hatte, Richtung Jannowitzbrücke. Das Maschinengewehrfeuer war inzwischen verstummt. So als hätte man mich als letzten rüberlassen wollen, setzten die Schüsse wieder ein, kaum daß ich die Brücke überquert hatte. Gerade erreichte ich die Ecke zur Köpenicker Straße, als unter furchtbarem Krachen die stählernen Bögen der Brücke einknickten wie gekochte Spaghetti, in die Tiefe stürzten und in der Spree versanken.
Ich wollte zu den Biers, aber der Trödelkeller war abgeschlossen, zu dumm, und ich lief gleich weiter in die Melchiorstraße, wo das Ehepaar wohnte. Frau Bier öffnete und beide drückten mir lange die Hände: Ich war zu lieben Menschen heimgekehrt und fühlte mich beschützt, trotzdem um uns der Krieg wütete. Biers bereiteten mir am Abend im Wohnzimmer auf dem Sofa ein Nachtlager, ich schlief im Mantel, denn die Fensterscheiben waren längst zerstört und nachts wurde es kühl. Sie ruhten auf dem Küchenboden. Am nächsten Morgen weckte mich der Kriegslärm. Wir frühstückten trockenes Brot mit Wasser. Das war die erste und letzte Nacht in diesem Wohnzimmer: Hinter der Holzwand war eine Hälfte des Hauses weggebombt, und wenn die Druckwelle der Bomben heranrollte, schwankte die Holzwand gefährlich. Ich hätte aus dem zweiten Stock hinunterstürzen können. Deshalb händigten mir Biers den Schlüssel zu ihrem Laden in der Köpenicker Straße aus. Ich mußte irgendwo untertauchen, im »Volkssturm« kämpften Kinder neben Greisen, und ich verspürte nicht die geringste Neigung, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Nach Mahlsdorf flüchten konnte ich nicht. Dort hätten sie mich an der nächsten Ecke weggefangen und an die Wand gestellt. Andererseits konnte ich nicht wochenlang im Trödelkeller hocken, ich hatte kaum noch etwas zu essen. Als ich das erste Mal meinen Keller verließ und mich auf die Straßen des im Endkampf zuckenden Berlins begab, wäre mir das fast zum Verhängnis geworden.

                      

»Raum 6 - 34 Personen« stand auf der Wand des Luftschutzkellers in der Schule an der Manteuffelstraße 7 in Berlin SO 36. Dorthin flüchtete ich mich, als der Beschuß wieder einmal übermäßig stark geworden war. Was ich nicht wußte, war, daß Ende April 1945 die Feldpolizei, die sogenannten Kettenhunde, und SS-Streifen Jagd machten auf unbewaffnete alte Männer und junge Burschen, und zwar bevorzugt in öffentlichen Luftschutzkellern.
Auf mitgebrachten Hockern, Stühlen oder Bänken saßen dort Kinder, Frauen und Greise, zwischen sich ein Köffer-chen oder einen Rucksack mit den letzten Habseligkeiten. Mit einem halben Brot, eingewickelt in ein Handtuch, und einer alten Weckeruhr mit Glocke im Arm hatte ich einen Platz neben einigen älteren Frauen bekommen, die unverblümt ihre Meinung äußerten: Na, wie lange wollen die Verbrecher noch machen? Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Wenn doch bloß die Russen schon hier wären, daß der Spuk endlich ein Ende hätte! Eine andere Frau wollte Näheres erfahren haben: »Treptow soll in russischer Hand sein, und am Schlesischen Tor wird gekämpft. Am Schlesischen Bahnhof sind sie auch schon - was ist eigentlich mit der Schillingbrücke? Die Brommybrücke soll im Wasser liegen, und das Proviantamt in der Köpenicker Straße steht unter Beschuß.« Niemand jedoch wußte Genaueres.
Von draußen drang der Kanonen- und Bombendonner herein, plötzlich schwieg jeder still: Am Anfang des Ganges begann die Razzia auf wehrfähige Männer jeden Alters. Biers hatten mir berichtet, daß vor einigen Tagen alte Männer abgeführt und in der Manteuffelstraße erschossen oder aufgehängt worden waren - mit einem Pappschild um den Hals: »Ich bin zu feige, das Vaterland zu verteidigen.« Plötzlich bauten sich die Kettenhunde vor mir auf, rissen mich von meinem Stuhl und brüllten: »Warum trägst du keine Waffe?« Ich stammelte nur: »Was soll ich denn damit?« Das war natürlich das Verkehrteste, was ich sagen konnte.
Sie stießen mich den Gang entlang, zum hinteren Ausgang und auf den nahegelegenen Schulhof, der von Brandgeruch und Rauchschwaden erfüllt war. Einer der vier, die ihre Waffen auf mich gerichtet hatten, bellte: »Bei Fluchtversuch wird geschossen!« Sie trieben mich auf die halb eingestürzte Mauer zu, die den Schulhof vom dritten Hinterhof in der Köpenicker Straße 152 abtrennte. Dort befand sich die Likörfabrik Kirchner. Plötzlich fiel auf jener Seite ein Schuß, ein Frauenschrei gellte und verstummte abrupt. Über Mauertrümmer im Fabrikhof angelangt, erblickte ich eine am Boden liegende junge Frau, Blut sickerte aus ihrer Bluse. Ein Mann in Zivil zog ihr gerade den Rock über die Knie, einige Meter entfernt hantierte der Henker, ein SS-Mann, an seiner Waffe. Neben der toten Frau lagen einige Flaschen, die ihren Händen wohl entglitten waren. Eine war zerschlagen, und Rotwein lief an ihren Füßen vorbei auf den Trümmerschutt zu.
Die Frau hatte sich, wie so viele andere, aus dem Keller der Firma Kirchner, wo Rotwein lagerte, einige Flaschen stiebitzt, um sie gegen Brot einzutauschen - dies reichte für den SS-Mann, sie wegen »Plünderung« zu erschießen.
In den letzten Kriegstagen sah ich so viele Tote, aber diese junge Frau hat mich am meisten erschüttert - gemordet wegen ein paar Flaschen Wein. Entsetzen und Mitleid im Herzen und das Gefühl, nicht helfen zu können, ließen mich, ein paar Sekunden vielleicht, innehalten. Der SS-Mann hatte meine Bewacher etwas gefragt, das ich vor Aufregung nicht verstand, und einer von ihnen antwortete barsch: »Das Früchtchen ohne Waffe ist unser, das machen wir gleich im nächsten Hof ab.« Wollte er auch mich erschießen? Ich erhielt einen Tritt ins Hinterteil, verlor beinahe das Gleichgewicht und wäre auf die Flaschen neben der Toten gefallen, hätten die beiden hinter mir stehenden Kerle mich nicht an den Armen gepackt. Sie schubsten mich durch die Tordurchfahrt des Fabrikgebäudes bis in den nächsten Hof.
»Den Beutel weglegen!« befahlen sie. Ich aber hielt alles krampfhaft fest, besonders die Weckeruhr - wenn schon, dann wollte ich mit ihr zusammen sterben. Außerdem war es kein Beutel, es war ein Handtuch. Hätten sie gesagt: »Das Handtuch weglegen!«, wer weiß, vielleicht hätte ich es getan. Aber meinen schönen Wecker und meinen letzten Kanten Brot, alles eingewickelt in das saubere weiße Tuch, in den Schutt legen? Das widerstrebte mir, ordentliche Hausfrau, die ich damals schon war. Und als die Stimme erneut bedrohlich anhob: »Beutel weglegen!«, da war mir alles Wurscht, und ich dachte: Nun erst recht nicht.
Ich schaute zu Boden, weil ich nicht in die Gewehrläufe blicken wollte, und hatte den Gedanken an Rettung schon fast aufgegeben, als ich, wie aus dem Nichts aufgetaucht, plötzlich ein Paar Stiefel und Wehrmachtshosen mit Biesen vor mir sah. Mein Blick glitt langsam höher, ich bemerkte den Pleitegeier mit dem Hakenkreuz an der Brust, und -meine Angst ließ nach, als ich das Gesicht sah.
Gütige, müde Augen blickten mir aus einer kummerzerfurchten Miene entgegen. In dem grauhaarigen Mann sah ich nicht den Uniformierten, sondern den Menschen. Resolut und stark - trotz aller Sorgenfalten - erschien er mir, wie jemand, der sagt: Ich mache, was ich will. Der hatte Gefühl und Bildung, das war kein grobschlächtiger Mensch. Ganz im Gegensatz zu den vier SS-Häschern, die sich mit Gewehr im Anschlag ein paar Meter entfernt aufgepflanzt hatten. Sachte drückte der Offizier meine Schultern gegen die Wand. Nachdem er mich gemustert hatte, fragte er: »Sach mal, bist en Junge oder ’n Mädchen?«
Meine Haare hatten lange keinen Friseur mehr gesehen, ich trug Spangenschuhe zu meinen Kniestrümpfen, kurze Hosen und darüber einen taillierten Damenmantel, den mir meine Trödlersleute geschenkt hatten. Da ich quasi zum Tode verurteilt war, dachte ich: Naja, was soll's, als Junge ist man tot, wenn man erschossen wird, als Mädchen auch. Ich antwortete: »Ein Junge.«
Danach begann ein regelrechter Disput zwischen dem Offizier und meinen Peinigern, die sich offensichtlich ihre Beute von niemandem streitig machen lassen wollten. Der Offizier fragte nach meinem Alter, und ich antwortete: »Sechzehn.« Daß ich seit dem 18. März siebzehn war, hatte ich völlig vergessen. Dies rettete mir das Leben. Denn der Offizier drehte sich abrupt um, stampfte erregt auf und schrie die Streife an: »Wat, soweit sind wir noch nich, daß wir schon de Schulkinder erschießen, Schweinerei, verdammte!«

Plötzlich das Knattern von Flugzeugmotoren, das pfeifende Fallen der Bomben, im anderen Hof ein gebrülltes »Fliegerdeckung!«, aber es war zu spät: Eine Detonation folgte der anderen, die Hilferufe und das Stöhnen der Sterbenden drangen herüber, Staub und Qualmwolken waberten durch die Tordurchfahrt. Die beiden Kettenhunde und die SS-Banditen verschwanden im Dunst, der Offizier half mir hoch, und ich lehnte halb betäubt an der Wand. Er aber sprach mir gut zu, ich solle schnell vorlaufen und mich in einem Keller verstecken, nur nicht in einem öffentlichen Luftschutzkeller. »Die Iwans stehen schon in Treptow, noch drei, vier Tage, dann sind sie am Schlesischen Tor.« Sein beruhigendes Zureden wurde unterbrochen von fürchterlichen Explosionen, das Fabrikgebäude bekam einen Volltreffer ab. Das Dachgesims mitsamt dem obersten Stockwerk löste sich im Zeitlupentempo in einzelne Steintrümmer auf und stürzte auf den Hof. Der Offizier hatte noch »Weg!« geschrieen, war einen Moment später verschwunden, und ich, keine Sekunde zu früh, sprang durch die Tordurchfahrt und war wieder allein. Was wäre wohl aus mir geworden ohne diesen Offizier, der doch bestimmt genug mit sich selbst zu tun hatte, anstatt mir beizustehen, wo es doch auf ein Menschenleben mehr oder weniger gar nicht ankam? Nachdem der Staub sich verzogen hatte, hastete ich durch die Höfe zum Vorderhaus. Welch ein Kontrast: Die Scheiben zwar alle kaputt - die Druckwellen hatten selbst die Pappen aus den Fensterrahmen geschleudert -, aber die Häuser standen noch, und in den Bäumen auf dem Hof, die schon das erste zarte Frühlingsgrün trugen, zwitscherten die Spatzen, als gäbe es Krieg, Tod und Verderben nicht. Draußen aber, auf der Köpenicker Straße, sah es schlimm aus. Die gegenüberliegenden Häuser nur noch rauchende Trümmer, die ganze Straße mit ihnen übersät. Die Oberleitung der Straßenbahn lag, teilweise zerrissen, wie Spinnweben auf dem Damm.
Die Schillingbrücke zum Schlesischen Bahnhof lag unter Maschinengewehrfeuer. Über Trümmer rannte ich so schnell es irgend ging zu meiner Behausung in der Köpenicker Straße 148, in den Bier’schen Trödelkeller. Aber wie sah es hier aus! Die Holzplanken, mit denen ich die Schaufenster sorgfältig geschützt hatte, waren herausgeflogen. Flugs nagelte ich alles mit den zum Teil zersplitterten Brettern wieder zu. Währenddessen brannte das Eisenwaren-Geschäft gegenüber vollkommen aus, die Gluthitze kroch über die Straße. Ich eilte zur Wohnung der Biers in die Melchiorstraße, um alles zu berichten. Als ich geendet hatte, stieß Max Bier hervor: »Jetzt werden die Nazis von ihren Verbrechen eingeholt, aber wir werden mit in den Abgrund gerissen.« Wir hatten kaum noch zu essen und zu trinken.
Mit den letzten ergatterten Brotmarken reihte ich mich beim Bäcker in der Melchiorstraße in eine lange Schlange ein. Eine Straßenecke weiter fielen Bomben. Plötzlich erschien weinend die Bäckermeisterin in der Tür. Die Backstube hatte einen Volltreffer abbekommen, Bäckermeister und Geselle waren sofort tot. Wir sahen uns alle nur an, niemand sprach ein Wort. Dann schnarrten die Rolläden herunter: Eine Bäckerei existierte nicht mehr.
Ständig sprachen mich größere Hitlerjungen auf eine Waffe an, und da es, wie ich am eigenen Leib erfahren hatte, in den letzten Tagen der Nazi-Barbarei immer gefährlicher wurde, ohne Waffe durch das zerfallende Berlin zu irren, beschloß ich, mir im Polizeirevier in der Wrangelstraße 20 eine zu besorgen. Ich hätte natürlich nicht einen einzigen Schuß abgegeben, es sei denn auf die SS oder einen Nazi. Auch in der Wrangelstraße plünderten die halbverhungerten Berliner die Geschäfte, deren Fenster entglast und deren Verbretterungen als Brennholz längst weggetragen waren. Hungrig stieg ich durch das Schaufenster eines Lebensmittelgeschäftes, in dem es von Menschen wimmelte. Hoffend, vielleicht noch ein paar Knäckebrot-Scheiben zu finden, stolperte ich über herausgerissene Kästen: Mehl und Erbsen lagen, verdorben, auf dem Fußboden. Nichts, was ich hätte essen können.
Im Polizeirevier hing die Eingangstür halb offen und schief in den Angeln. Im ersten Stock klopfte ich an eine Tür, niemand antwortete. Ich trat ein, und am Tisch saß ein Mann, wohl der Revierleiter, vor sich einen Revolver. Auf die Frage nach einer Waffe deutete er wie geistesabwesend auf das nächste Zimmer. Mir war unheimlich zumute. Die Tür dieses Raums stand weit offen, Glassplitter übersäten Boden und Möbel. Alles befand sich in Auflösung - irgendwie beruhigte mich das.
Aus dem letzten Zimmer drangen Stimmen, die Tür war verschlossen, ich klopfte an. Ohne das »Herein« abzuwarten, betrat ich den Raum. Hier fläzten sich fünf Polizisten, einer prostete mir zu und setzte eine Flasche Schnaps an seinen Mund. Alle, bis auf einen, schienen angeheitert zu sein, zwei Flaschen kreisten. Auf meine Frage nach einer Waffe erscholl tosendes Gelächter: »Mädchen, du bist gut, aber zieh dir erst mal eine Uniform an, haha, letztes BDM-Aufgebot.« Einer murmelte etwas von »heroisch«, und ich fragte mich, ob alle schon verrückt seien. Der Nüchterne musterte mich vom Kopf bis zu den Waden, und die Sache begann mir peinvoll zu werden. Er deutete mit der Hand in eine Ecke hinter dem Mannschaftsspind: »Da stehen die Waffen, alle von 1914, aber Munition ist keine mehr da. Du kannst dir eine nehmen und so tun als ob, aber raten tu ich's dir nicht, es ist sowieso schon alles aus.« Das erleichterte mich, ich mußte lachen. Und prompt hieß es: »Mädchen, du bist aber drollig, bleib nochn bißchen bei uns, da wirds lustig, und hier hast du polizeilichen Schutz.« Der am meisten Angesäuselte schwankte auf mich zu, faßte mich um die Taille und gab mir einen Kuß. Der Fuselgeruch, die Uniform, das unter den hundert Meter weiter einschlagenden Geschossen erzitternde Haus - Weltuntergangsstimmung. Ohne Waffe verließ ich so schnell wie möglich das Zimmer, lief runter und raus aus dem Haus.
Zurück in der Köpenicker Straße - Chaos: Landser und sogar SS-Männer poltern durch die kaputte Ladentür die Holztreppe herunter in den Trödelkeller. Alles will Uniform und Waffen loswerden, fragt nach Zivilklamotten. Ich aber schicke sie weiter, denn mir ist klar, daß es mich das Leben kosten kann, wenn die Russen kommen und Uniformen und Waffen bei mir finden. Im Vorderraum des Trödlerladens steht ein Denkmal, das jenem Unter den Linden detailgetreu nachgebildet ist - der »Alte Fritz« auf seinem Pferd scheint sich über das freiwillige »Entmilitarisieren« doch sehr zu wundern.
Einen Tag später stürzte eine mir unbekannte Frau aus der Nachbarschaft durch die kaputte Ladentür, fiel mir um den Hals und rief: »Sie sind da, der Krieg ist aus! Sie kommen die Köpenicker Straße lang, das Proviantamt ist besetzt, die Manteuffel- und die Wrangelstraße sind schon voller Russen, endlich sind wir frei!« Dann hastete sie davon und ließ mich völlig verdutzt stehen. Doch nach einigen Minuten begriff ich: Das so sehnlich Erwartete war endlich eingetroffen. Die Nazigreuelpropaganda, daß die Russen uns alle töten würden, glaubte ich nicht. Allerdings war meine Angst nicht ganz gewichen, am Engelufer sollte noch immer SS wüten.
Am Tag, nachdem ich den Trödelkeller verlassen hatte, steckten versprengte Nazis das Haus mit Flammenwerfern in Brand. Im Hochparterre wohnte eine junge Frau. Bei meinem letzten Besuch beschwor ich sie: Im Keller sei sie sicherer, und wärmer sei es auch. Doch sie mochte nicht umziehen, hatte Angst, das Haus könnte einstürzen und sie im Keller begraben. Wie sie am Fenster ihrer Wohnung stand, ihr Kind auf dem Arm und hinter sich ein verstaubter Mahagonisekretär - das ist ein Bild, das ich niemals vergessen werde. Was wohl aus ihr geworden ist?
Der in einer Kellerkammer von Max Bier und mir sorgsam gehütete Schatz wertvoller jüdischer und hebräischer Bücher verbrannte unter den Flammenwerfern der SS-Schergen. Um sie der Nachwelt zu erhalten, hatten wir über Jahre auf die Werke geachtet - ein schweres Verbrechen damals. Und da man immer Kontrollen oder Hausdurchsuchungen befürchten mußte, hatte ich eine Papptafel mit der Aufschrift »Altpapier« auf dem Bücherhaufen angebracht. Aber alle Mühe war vergebens, vor der Feuersbrunst konnte ich sie nicht schützen.
Am Nachmittag des 26. April 1945 rasselten schwere russische Panzer Richtung Innenstadt, Fußtruppen folgten. Auch Pferdewagen bahnten sich mühsam den Weg durch die teilweise verschüttete Köpenicker Straße. Währenddessen rollten russische Soldaten in ihren erdfarbenen Uniformen Kabeltrommeln ab, und ich wunderte mich: Mein Gott, wollen die hier jetzt elektrischen Strom legen? Dann aber sah ich im Nebenhaus, wie einer der Soldaten ein Holzkästchen öffnete und horchte: Es waren Feldtelephone, die dort mit wahnsinniger Geschwindigkeit installiert wurden. Das Schießen verlagerte sich mehr und mehr in Richtung Jannowitzbrücke, und da ich neugierig war, stellte ich mich halb verdeckt in den Eingang des Trödlerladens. Immer mehr Soldaten zogen vorbei, manche riefen mir etwas zu und lachten. Ich verstand zwar nichts, lachte und winkte aber zurück. Als sich der Beschuß verstärkte, verzog ich mich nach hinten in die Küche.
Ein sowjetischer Kommissar kam mitsamt Dolmetscher und einigen Soldaten zu mir in den Keller und bedeutete mir, die Kampfzone zu verlassen, denn die SS könne sich noch in der Nähe verborgen halten und alles niedermachen.
Inzwischen zogen draußen viele Menschen mit Kinder-und Handwagen vorbei, ihre letzten Besitztümer mühsam aus dem Inferno rettend, Richtung Treptow. Ich schloß mich der schweigenden Menge an. Hinter der Manteuffel-straße wurde der Beschuß so stark, daß ich in dem großen Hausflur des Proviantamtes Schutz suchte. Dort drängten sich russische Frauen, die von den Nazis als Zwangsarbeiterinnen verschleppt worden und nun frei waren.
Auf dem Weg zum Hochbahnhof Schlesisches Tor versperrte ein beschädigter Straßenbahnwagen die Fahrbahn. Links von ihm hätte ich die Köpenicker Straße zwar passieren können, aber hier züngelten Flammen aus einem Haus. Ich schaute mich um - keiner weit und breit, ich war der letzte. Ich fürchtete, die Fassade könnte herabstürzen, aber wo sollte ich sonst durchkommen? Den Mantelkragen über meinen Kopf gezogen, rannte ich durch den Glutofen. Hinter dem Schlesischen Tor war die Treptower Chaussee, die heutige Puschkinallee, frei von Trümmern, und auf den Mauern, aus denen Gitterzäune emporragten, saßen Menschen. Wir hatten überlebt. In den Villen hinter dem Zaun waren die Stäbe der Roten Armee untergebracht. Es war ein eiliges Kommen und Gehen von Meldern, Offizieren und einfachen Soldaten. Auf dem Bürgersteig verteilten Rotarmisten dicke Kommißbrotscheiben, auch ich bekam eine. Das letzte Stück von meinem trockenen Kanten hatte ich längst verzehrt, in mein Tuch war nur noch der Wecker eingewickelt - ich konnte ihn zwar nicht verspeisen, wußte aber immer, wie spät es war. Ich setzte mich auf die Mauer, aß mein Kommißbrot und atmete durch.

Vor dem Bahnhof Treptow standen auf zwei Gleisen unzählige Straßenbahnwagen mit verpappten Fenstern. Als es dämmerte, wollte ich dort ein Plätzchen für die Nacht ergattern, ein völlig aussichtsloses Unterfangen: Alles war überfüllt, selbst auf den Trittbrettern hatten es sich obdachlose Berliner mehr oder minder bequem gemacht. So zog ich von dannen, auf der Suche nach Obdach, in Richtung Straßenbahnhof Treptow. Und tatsächlich: Auf dem menschenleeren Hof entdeckte ich einen Triebwagen, einen der guten alten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, mit Laternendach und innen mit Mahagoniholz getäfelt. Ich zog an den Leinen, und die Messingglocken tönten melodisch über den verwaisten Bahnhof. Ich rollte mich auf einem der Sitze ein und schlief den unbeschwerten Schlaf der Jugend - bis mich jemand am Arm berührte.
Ich erschrak, als ich in den Schein einer Taschenlampe blinzelte und die Waffen mehrerer Soldaten auf mich gerichtet sah. SS? Nein, es waren die mir inzwischen vertrauten erdfarbenen Uniformen. Was sie kauderwelschten, verstand ich zwar nicht, ahnte es aber und stand auf, um mich nach Waffen durchsuchen zu lassen. Mit gesenkten Gewehrläufen verließ das Kontrollkommando den Wagen. Munter geworden, räumte ich mein Nachtasyl.
Der Kriegslärm war verstummt, aber pausenlos rollten Lastwagen mit Soldaten und Nachschub in Richtung Stadt. Ein Soldat radelte, holprig und unsicher, an mir vorbei, warf sein Gefährt ein paar Meter weiter unzufrieden in den Staub und verschwand. Ich sah mir das Fahrrad genauer an. Nein, das würde er bestimmt nicht wieder holen wollen: Es hatte zwar zwei Räder, eine Lenkstange und einen Sattel, aber Reifen, Schutzbleche und Handbremse fehlten. Mit meinem Fund kehrte ich zurück zu meinem Straßenbahnwagen, um mich noch ein bißchen aufs Ohr zu legen. Um halb sechs war die Nacht endgültig zu Ende - Kanonendonner riß mich aus dem Schlaf. In der Nähe des Wagens drehte ich ein paar Proberunden mit meinem Fahrzeug, was recht gut ging. Eine Streife hielt mich an, musterte das Rad, ließ mich aber mit der Bemerkung »Nix gut« weitereiern. Aber wohin jetzt? Zurück zum Trödlerladen konnte ich nicht mehr, denn schon am Anfang der Schlesischen Straße war ein Schlagbaum errichtet; nur Militärfahrzeuge durften passieren. Ich machte kehrt, wackelte mit meinem Rad in Richtung Osten auf die Treptower Chaussee zu, denn ich wollte nach Hause, nach Mahlsdorf.
Zwischen Flüchtlingen und Nachschubtransporten der Roten Armee radelte ich nach Köpenick. Vorbei an den Resten der jüdischen Synagoge, die 1938 zerstört worden war, dachte ich: Endlich hat dieses bestialische Verbrechersystem ein Ende.
Am Giebel des jüdischen Altenheims an der Mahlsdorfer Straße blühte über den Säulen wieder der Davidstern. 1942 hatten die Nazis die jüdischen Bewohner »abgeholt«, deportiert und vergast. Die HJ okkupierte das Haus, und kurz danach hingen Ölgemälde, die den alten Juden geraubt worden waren, auf den Korridoren und in den Dienstzimmern der Hitlerjugendführer. Den Davidstern verdeckte das HJ-Emblem.
In den fünfziger Jahren wurde das Eingangsportal des Altenheims eingerüstet, der Davidstern entfernt und durch ein Zementquadrat ersetzt. Daß an diesem Haus eine Gedenktafel angebracht werden muß und natürlich der Davidstern am Giebel, ist - noch zu DDR-Zeiten - dem Rat des Stadtbezirks nicht eingefallen. Der Abteilung Volksbildung des Bezirksamts bis heute übrigens auch nicht.
Als ich mich von der Schlesischen Brücke am Morgen des 27. April 1945 aufmachte, zeigten die Zeiger meines alten Weckers sechs Uhr. Um zwölf Uhr mittags schritt ich durch die Gartentür meines Geburtshauses in Mahlsdorf- frei von Fliegeralarm, Bomben und Granaten konnte nun ein neues Leben beginnen.

11.

Das Haus war voll mit Ausgebombten und Flüchtlingen, in jedem Zimmer lebten mindestens vier Menschen, und die Wäscheleinen spannten sich strahlenförmig von den Kronleuchtern zu den Wänden. Ich zog in den Keller. Anfang Mai beschlagnahmte ein Trupp der Roten Armee das Haus, und binnen einer Stunde waren alle Bewohner - nur das Notwendigste durften sie mitnehmen - an die Luft gesetzt. Ich schlüpfte in der Nähe in einer Dachkammer unter. Nun hatte ich zwar eine trockene Bleibe, aber nichts zu essen. Das Leben retteten mir - die Besatzer.
Schnell bekam ich Kontakt zu den Soldaten in unserem Haus, durfte zunächst den Garten wieder betreten und mich später sogar mit meinen Möbeln, die unversehrt im Keller standen, in zwei kleinen Räumen im Stall häuslich einrichten. Ich hatte wieder »Stube und Küche«.
Obwohl draußen die Sonne schien, ließen die Russen tagsüber in sämtlichen Zimmern die Kronleuchter brennen alle Radios waren auf Sender Moskau gestellt, und Väterchen Stalins Reden erschallten durchs Haus - die Sicherungen brannten durch. Ständig kamen die Offiziersburschen zu mir in den Stall gelaufen und gestikulierten wild mit den Händen: »Es arbeitet nicht, es arbeitet nicht!« Schwupp, sausten sie zurück ins Haus und ich hinterher. Die Sicherungen waren bald aufgebraucht, neue waren nirgendwo aufzutreiben, und so flickte ich mit dünnem Draht die alten.
»Es arbeitet nicht!« konnte aber auch etwas anderes heißen. Dann war das gußeiserne, innen emaillierte Trichtertoilettenbecken aus dem Jahre 1914 total verstopft und drohte überzulaufen. Gummisauger her, alles schnell behoben, der Bursche stand dabei und staunte nicht schlecht. Zum Dank lud er mich ins Eßzimmer ein, goß mir ein grosses Wasserglas mit Wodka voll und prostete mir zu.
Ich trinke überhaupt keinen Alkohol, habe seinen Geruch immer schon als unangenehm und stechend empfunden, wollte den gutmütigen Offiziersburschen aber nicht beleidigen. Als er sich umdrehte, goß ich den Inhalt des Glases durch das offenstehende Fenster in den Vorgarten - die Blumen mögen mir verzeihen.
Das leere Glas sehend, strahlte er von einem Ohr bis zum anderen, bleckte seine weißen Zähne, goß es erneut randvoll und rief: »Trinken, trinken!« Sicher meinte er es gut, nur mir wäre es schlecht bekommen. Und so wartete ich den Moment ab, in dem er mir etwas zu essen in eine alte »Prawda« einrollte - Genosse Stalin blickte ernst vom Titelblatt -, und tränkte erneut die Blumen mit dem Wodka.
Anfangs war es mir verboten, den Keller allein zu betreten: Die Soldaten fürchteten wohl, ich könnte das Haus in die Luft sprengen. Aber als alle Vertrauen zu mir gefaßt hatten, durfte ich wieder in die weißgekalkten Räume einziehen. Ganz in meinem Element, richtete ich mir meine kleine »Wohnung« ein, putzte die Fenster und hängte Gardinchen auf.
In dieser Zeit lebte ich von Brennesselsuppe, unreifen Beeren und Wasser, und hätten mir die Soldaten für meine Hilfe nicht ab und an etwas zugesteckt, wäre ich glatt verhungert. Ich war froh, wenn etwas »nicht arbeitete«.
Anfangs hatten die sowjetischen Soldaten noch Plünderungsrecht, Häuser und Wohnungen durften nicht abgeschlossen werden, und sie holten sich, was sie brauchten. Frauen und Mädchen taten gut daran, sich zu verstecken, wollten sie Vergewaltigungen aus dem Wege gehen. Waren nachts Russen im Anmarsch, schlugen die Anwohner Kochtopfdeckel aneinander, um Alarm zu schlagen. Verbunden mit dem Ruf »Kommandant, Kommandant!«, half das meist schon, und die Soldaten, oftmals betrunken, zogen weiter. Das metallische Geräusch verriet immer genau, in welcher Straße sich die Militärs gerade aufhielten. Ich will nichts beschönigen, es kam zu Exzessen russischer Soldaten, besonders Frauen und Mädchen gegenüber, aber letztlich hörte das alles sehr schnell auf, denn die drakonischen Strafen für Vergewaltigungen schreckten die meisten ab. Auch meine Mutter wurde von einem Rotarmisten bedrängt, ein Offizier zu Pferde ritt heran und wollte ihn auf der Stelle erschießen. Dank ihrer Fürbitte gelang es, den Offizier von seinem Vorhaben abzubringen, und der Soldat dankte meiner Mutter überschwenglich.
An einem sonnenheißen Tag im Juli 1945 waren sie zurückgekehrt, und wir lagen uns in den Armen: meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich. Was gab es nicht alles zu erzählen! Sie waren im Oktober 1944 mit dem letzten Zug aus Bischofsburg vor der herannahenden Roten Armee nach Kunersdorf im Erzgebirge evakuiert worden. Auf abenteuerlichen Wegen gelangten sie nach Kriegsende teils mit Güterzügen, teils mit Pferdefuhrwerken, teils zu Fuß bis nach Schöneweide. Dort stellten sie einen Teil des Gepäcks unter und machten sich mit einem kleinen Handwagen auf den Weg nach Mahlsdorf.
Einen Monat später traf unsere Hausbesatzung Abreisevorbereitungen. Besonders die roten Plüschdecken aus Kaisers Zeiten hatten es den Soldaten angetan. Die Rückenlehne des Offiziersautos dekorierten die Burschen mit der Decke aus dem Salon meines Großonkels, hinter die Seitenfenster hängten sie zurechtgeschnittene Gardinen, als sehnten sie sich nach ein bißchen Gemütlichkeit nach diesem schrecklichen Krieg. Auf dem Proviantlastwagen saß ein Bursche, zupfte die Saiten der Gitarre meiner Mutter, und mit alten Biergläsern voll Wodka prosteten sich die Soldaten zu. Melancholische Melodien singend und uns zuwinkend, fuhr die Kolonne von dannen in die Garnison nach Potsdam.
Der nächste Trupp ließ nicht lange auf sich warten. Ein deutsch sprechender Offizier, mit dem ich mich gerne unterhielt, erklärte mir: »Hitler nicht gut, Stalin auch nicht gut.« Sowohl die braune wie die rote Diktatur bezeichnete er als »Gewaltherrschaft«.
Im Sommer 1945 hingen viele rote Fahnen an Häusern und Gartenzäunen. So manches Fahnentuch hatte in der Mitte einen dunklen runden Fleck - die neuen Mitläufer hatten die Hakenkreuze abgetrennt. Aber es gab auch überzeugte Kommunisten, die bereits in der Weimarer Republik die Nazis bekämpft hatten. Sie hofften jetzt auf eine bessere Zeit.
Bald konnten wir wieder alle Räume unseres Hauses benutzen, aber das Leben blieb schwer. Meine Mutter litt an Hungerödemen und wog nur noch achtzig Pfund, meine Geschwister weinten vor Hunger. Eines Tages nahm mich meine Mutter völlig verzweifelt in der Küche beiseite: »Die letzten Schmucksachen haben wir gegen Lebensmittel eingetauscht, wir sind nicht mal in der Lage, die Strom- und Gasrechnung zu bezahlen, und das Haus können wir nicht anknabbern. Ich weiß mir keinen Rat mehr. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als den Gashahn aufzudrehen.« Ich mußte etwas unternehmen, schließlich war ich jetzt der Haupternährer der Familie.
Als die Straßenbahn wieder losbimmelte, fuhr ich in den Trödlerladen zu Biers, um zu arbeiten. Aber schon als sie durch die Köpenicker Straße quietschte, sah ich, daß das Haus mit dem Laden nur noch ein Trümmerhaufen war. Ich traf die traurige Frau Bier in ihrer Notwohnung, ihre Privatwohnung war ausgebombt. Zwei Wochen zuvor war ihr Mann Hungers gestorben. Wie oft denke ich an seine Worte, daß »auch wir zugrundegehen werden«.
Doch ich verzagte nicht. An die Bäume in Mahlsdorf heftete ich kleine Zettel und offerierte alte Schränke, Tische, Stühle, Bettstellen, Waschtoiletten, Trumeauspiegel, Wanduhren, Schallplatten, Grammophone und Küchengeräte, denn davon hatte ich genügend. Und tatsächlich: Die Leute kamen und kauften. Sie zahlten zwar nur wenig - ein Stuhl mit Lederbezug ging für fünf Mark weg, ein Vertikow für fünfundzwanzig, Trumeauspiegel und Bettstelle für fünfzig Mark -, aber schließlich besaß niemand viel Geld.
Die Idee war geboren, eine eigene Trödelhandlung zu eröffnen. Aber vor deren Verwirklichung hatten die Götter das Gewerbeamt gesetzt. Ich machte mich auf ins Rathaus Lichtenberg: mein erster Kontakt nach dem Krieg mit einer deutschen Behörde. Mein Antrag wurde abgelehnt mit der umwerfenden Begründung, Trödelhandel sei nicht mehr nötig. Die Ställe sind noch dieselben, nur die Schweine sind andere, dachte ich. Ich konnte nicht ahnen, daß es noch über vierzig Jahre so weitergehen sollte.
Das Arbeitsamt vermittelte mich ins Holzlager einer Bautischlerei. Da stand ich nun, völlig unzweckmäßig gekleidet in meinem taillierten Damenmantel und mit Schuhen, die bald auseinander zu fallen drohten, bei bitterer Kälte - inzwischen war es Winter geworden - und Schneefall, um einen großen Stapel harziger Bohlen vom Hof in das Lager zu schleppen. Nach kurzer Zeit bemerkte der Vorarbeiter meine blaugefrorenen Hände und Knie. Im Vorzimmer des Chefs, in dem ich mich erst mal aufwärmen konnte, hörte ich, wie er im Nebenzimmer mit dem Arbeitsamt telephonierte: »Wat habt ihr mir denn da für ne verhungerte Jungfer geschickt, die is ja jetz schon fix und alle von der Kälte, die braucht nen warmen Arbeitsplatz, am besten direkt am Ofen. Wat ick hier brauche, isn kräftiger Lagerarbeiter mit Lebensmittelkarte I und nich son Lieschen mit Lebensmittelkarte V für Hausfrauen. Also, ick schick se euch gleich wieder rüber. - Wat, det isn Junge? - Ihr braucht mir doch nischt zu erzählen, n oller Berliner wees doch Bescheid.« Offensichtlich doch nicht so ganz.
Ich wechselte in eine Mahlsdorfer Fahrradwerkstatt. Fritz Heppert, der Inhaber, schickte mich allerdings schon bald zu seiner Frau in die Küche: »Lottchen, du bist zu langsam für diese Arbeit. So kannst du kein Geld verdienen, geh lieber in die Küche, da paßt du besser hin.« Damit hatte er zweifelsohne recht, und seine Frau war mit ihrem neuen Dienstmädchen sehr zufrieden.

»Trumeau und alter Hausrat zu verkaufen.« Der an einem Baum in unserer Nachbarschaft befestigte Zettel interessierte mich, und ich fand mich unter der angegebenen Adresse in der Steinstraße 31 in Mahlsdorf-Süd ein. Die Fenster waren mit Jugendstilgittern versehen, in deren Mitte eingeschmiedet die Initialen FZ. Das gußeiserne Relief am Giebel des Hauses zeigte eine Lokomotive mit langem Schornstein. Wer hier wohl wohnen mag? dachte ich. Eine Marmortafel beantwortete meine Frage: »Franz Zimmermann, königlich-preußischer Lokomotivführer a.D.«.
Doch Franz Zimmermann lebte nicht mehr, sein Sohn und seine Schwiegertochter bewohnten jetzt die Villa und wollten sich von vielem trennen. Mehr aus Neigung denn aus Kunstverstand hatte Zimmermann im Laufe seines Lebens einiges angehäuft - von Nippes und Kitsch bis zu Raritäten und Kunstgegenständen. Ich sollte die Haushaltsauflösung übernehmen - natürlich eine hochinteressante Tätigkeit, aber keine lukrative, erwarb ich doch viele Stücke aus der Gründerzeit gleich selbst.
Das Haus und seine Bewohner hatten eine bewegte Geschichte hinter sich. Die hohen Fenster und Flügeltüren, noch heute vorhanden, stammten aus dem Berliner Palais Unter den Linden des Grafen Reedern. Der erste Besitzer der Mahlsdorfer Villa diente dem Adeligen als Haushofmeister und baute aus dem Schinkel-Bau vieles aus, als es 1907 abgerissen wurde, weil der Hotelier Adlon auf dem Grundstück sein berühmtes Hotel errichten wollte.
So gelangten neben den Fenstern und Flügeltüren auch vier Sandsteinfiguren, die die Dachbrüstung des Palais verschönerten, auf Umwegen nach Mahlsdorf. Der Haushofmeister stellte sie zur Zierde in seinen Vorgarten, ohne allerdings ihren Wert zu ahnen. Ein Sammler alter Plastiken, der die Figuren unbedingt erwerben wollte, zuckelte mit einer Kutsche so lange durch Mahlsdorf, bis er sie in jenem Vorgarten entdeckt hatte. Für die Figuren bezahlte er genau so viel, wie der Haushofmeister für den Bau seiner Villa hatte aufbringen müssen.

Der alte Zimmermann war Monarchist, verabscheute die Nazis und hatte auch für die russischen Besatzer nichts übrig. So holte er, als die Rotarmisten Mahlsdorf besetzten, seine alte königlich-preußische Soldatenuniform aus dem Schrank und stellte sich mit seinem - freilich ungeladenen - Gewehr auf die Eingangstreppe, um die ungebetenen Gäste zu empfangen: »Über diese Schwelle kommen die Russen nur über meine Leiche.« Beim Anblick des alten Herrn in seinem musealen Aufzug und mit seinem Uraltgewehr
- selbst das Bajonett hatte der Kaisertreue aufgepflanzt - konnten sich die Soldaten ein Lachen nicht verkneifen. Sie entwaffneten ihn und versprachen ihm, sein Haus nicht zu plündern. Und wirklich: alles blieb unangetastet. Lediglich zwei kleine Zwischenfälle ergrimmten den alten Lokomotivführer: Während der Hausdurchsuchung kackte ein Rotarmist in den Sockel der Eßzimmerstanduhr, während ein anderer, gleich daneben, in das Bowlengefäß pinkelte.
Das ganze Haus war ein einziges Museum, als ich es ein Jahr nach diesen unappetitlichen Zwischenfällen betrat: Die Frau des Lokomotivführers, eine gewesene Lehrerin, hatte die Sammelleidenschaft ihres Mannes voll und ganz geteilt.

1946 erfuhr ich, daß das Schloß in Friedrichsfelde abgerissen werden sollte. Die Russen waren gerade mit Sack und Pack abgezogen, und schon bemächtigten sich Vandalen des spätbarocken Schlosses, rissen, wie Geier und Hyänen aus einem toten Tier, Dielen, Dachbalken, Türen und einen Teil des Treppengeländers heraus - als Brennholz. Fast dreihundert Jahre alte Geschichte zählt nicht, wenn einem das Holz im Hier und Jetzt fehlt, um sich zu wärmen oder Mahlzeiten zu kochen.
Anders bei mir: Das schöne Schloß, das ich seit meiner Kindheit kenne, dessen Architektur mich so beeindruckt und dessen Festsaal es mir so angetan hat, soll abgerissen werden? Das schockierte mich. Was für eine Barbarei! dachte ich und ging zur Gutsverwaltung. Irgendwie mußte man diesen unsinnigen Beschluß doch noch kippen können.
Nein, es führe kein Weg am Abriß vorbei, die Gelder seien schon bewilligt, hieß es. Ich brauche wohl nicht zu betonen, wie schwer es gerade in Deutschland ist, Beschlüsse staatlicher Stellen rückgängig zu machen, zumal wenn bereits Geld bewilligt ist und der Amtsschimmel schon losgeritten ist. In der Regel schauen einen die Beamten an, als wollte man anarchisch ihre hehre Ordnung über den Haufen werfen. Mein Rettungsunterfangen, heute mit Sicherheit von vornherein zum Scheitern verurteilt, gelang 1946, in jener chaotischen Zeit, die jede Ordnung ad absurdum führte.
Im Nebenzimmer der Gutsverwaltung tippte eine alte weißhaarige Dame auf einer Schreibmaschine herum. Emmy Schneider, die frühere Sekretärin des Schloßbesitzers, Sigesmund von Treskow, fragte: »So, Sie wollen das Schloß übernehmen?« Dann wandte sie sich an den Verwalter: »Herr Schubert, geben wir ihm doch das Schloß. Wir könnten das Geld besser für den Bau der drei Silos auf dem Hof verwenden.« - »Welch famose Idee!« pflichtete er ihr bei. Herr Schubert musterte mich allerdings von oben bis unten mit reserviertem Grübeln, sein Blick fiel, leicht erstaunt, auf meine kurzen Hosen: »Haben Sie denn überhaupt Geld, um ein Schloß aufzubauen?«- »Nein«, antwortete ich, »Geld hab' ich überhaupt keins, aber zwei Hände.«