Autobiografische Eintragungen 20 bis Schluss

20.

Sie haben doch einen großen Freundeskreis. Wir möchten, daß Sie uns die Namen Ihrer Besucher aufschreiben.« Die beiden Herren der Firma Horch & Guck - fast immer tauchten sie im Duo auf- trugen ihr Begehr mit freundlich-listigen Mienen vor. Ich lächelte freundlich: »Ach, da sind so viele Menschen, die mir am Schürzenbändel hängen, bestimmt mehr als hundert. Die meisten kenne ich nur mit dem Vornamen, und Adressen habe ich erst recht nicht.« - »Wieso denn das?« fragten die beiden im Chor. »Gott, wissen Sie, das kommt aus der Nazizeit, da war das schon so - aus Sicherheitsgründen.«
Maliziös schauten sie sich an und versuchten eine andere Tour. »Könnten Sie nicht unauffällig die Autonummern Ihrer Besucher notieren?« Und nach einer kurzen Pause: »Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich ein Auto?« - »Nein, bloß ein Fahrrad.« - »Wollen Sie sich denn nicht ein Auto kaufen?« Ich dachte, Nachtigall, ich hör' dir trapsen. Wollten sie mir etwa eines anbieten - im Austausch gegen kleine Lageberichte? »Nein, zum Autofahren bin ich viel zu langsam. Meine Reaktionsfähigkeit reicht gerade fürs Radfahren aus, ein Auto würde ich nur vor den nächsten Baum setzen.« Schleimigscherzhaftes Lachen der beiden Stasi-Gestalten.

Der SED-Staat lehnte Homosexualität bis weit in die achtziger Jahre rigoros ab. Man tat so, als gäbe es uns nicht. Bars waren geschlossen oder wurden observiert, inserieren durften wir nicht - selbst zu Kaisers Zeiten war man in dieser Beziehung aufgeschlossener -, und so blieben nur die Klappen und Parks oder der Rückzug ins Private, um jemanden kennenzulernen.
Feierten wir im Museum ein Fest, war die Staatssicherheit mit von der Partie. Ein Freund zog mich bei einer dieser Feiern verschwörerisch in die Küche, steckte mir einen Zettel zu: »Der Mann mit dem dunklen Bärtchen, der unter dem Filmplakat sitzt, ist bei der Stasi.« Na, er wird nicht der einzige sein, dachte ich. Von dem lass' ich mir jedenfalls unsere Feier nicht vermiesen. Damit war die Sache für mich erledigt.
»Vor fünf Jahren begannen wir mit unserer Arbeit«, hieß es im »Mahlsdorfer Homo-Info«. Die »Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin«, eine der ersten schwul-lesbischen Initiativen in der DDR, feierte im Januar 1978 Geburtstag.
Was wir nicht ahnten, als wir in der Mulackritze der Grammophonmusik lauschten, war, daß es das letzte Jubiläum werden sollte.
Doch der Reihe nach. 1974 war es, glaube ich, als in der Ost-Berliner Stadtbibliothek erstmals ein wissenschaftlicher Vortrag über Homosexualität gehalten wurde. Nachdenklich stieg ich anschließend die Treppen hinunter. Als ich aus der Tür trat, drang Stimmengewirr an mein Ohr. Auf der Straße führten Männer und Frauen, sich pantomimisch ereifernd, das Wort: Wie leben wir denn eigentlich? Versammlungsverbot, keine Inseriermöglichkeiten. Ich stand zunächst abseits und verfolgte die Diskussion. Dann ging ich auf sie zu und bot an: »Ja, Kinder, wenn ihr Räume für ein Beisammensein sucht, könnt ihr zu mir nach Mahlsdorf kommen. Miete braucht ihr nicht zu zahlen, nur ein bißchen was für Licht und Heizung.«
So fingen die Diskussions- und Kennenlerntreffen im Museum an, hinter denen die Staatssicherheit schlimmste konspirative Auswüchse witterte.

Wir drängten uns in der Mulackritze. Bis zu fünfzig Personen saßen auf der Theke, auf dem Fußboden oder quetschten sich auf die Fensterbank. Die danebenliegenden Kellerräume baute ich zu Tanzsaal und Vortragszimmern um - Jour fixe. Lesbische Mütter, schwule Väter, einfache Arbeiterinnen und Arbeiter, Schauspieler, Ingenieure, Ärzte: alles traf sich in der Mulackritze.

Wer nicht diskutieren wollte, amüsierte sich im Tanzsaal. Wir waren wie eine Familie, besonders für diejenigen, die keine mehr hatten, weil sie verstoßen worden waren von den Ihrigen. Feierten die Geächteten ihren Geburtstag bei uns, vergossen die, die sensibel waren, oft bittere Tränen: Wir nahmen sie tröstend in den Arm.
Doch nicht immer gab es ein Happy-End. Ein engelhaftes Kind, achtzehn oder neunzehn, Sylvia war ihr Name, erschien plötzlich nicht mehr zu unseren Treffen. Wo ist sie nur? rätselten wir. Bis jemand die schmerzliche Wahrheit herausfand: Sylvia hatte sich das Leben genommen. Von ihrer Mutter lange schon vertrieben und zur persona non grata erklärt, sah sie keinen anderen Ausweg aus ihrer Einsamkeit. Leicht zerstörbar sind die Zärtlichen.
Ich rief die Mutter an, wollte kondolieren, ihre Stimme hören, vielleicht auch nur - auf etwas Gutes hoffend - einen leisen Funken Verständnis für die »verderbte« Tochter heraushören. Doch die Erzeugerin schnauzte nur: »Sind Sie auch so eine?« Ich hängte ein. Keine schlimmere Krankheit als die menschliche Dummheit und Intoleranz.

Den Schwulen und Lesben ein Kommunikationszentrum geben und offen unsere Homosexualität leben war unser Ziel nach Rosa von Praunheims »Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt«. Einige Mitglieder unserer Interessengemeinschaft hatten den Film im »Westfernsehen« gesehen, und er sorgte für ein neues Selbstverständnis der Schwulen und Lesben in der DDR. Doch viele hatten nicht das Beharrungsvermögen, sondern suchten den Weg gen Westen.
Kann man Abschied nehmen, sich auf Bahnhöfen in den Armen liegen, so hat dies etwas Tröstliches, auch wenn es vielleicht eine Trennung für immer ist. Das schauerlich Seltsame war, daß die, die ausreisten oder abgeschoben wurden, eines Tages einfach weg waren. Gestern noch hatte man mit ihnen gesprochen, aber keine Verschwörermiene verriet etwas von dem, durfte etwas von dem verraten, was in ihrem Inneren arbeitete. Freunden Lebewohl sagen - nicht einmal dies war möglich.
Wirklich schlimm erging es den weiblichen Männern, die um keinen Preis in die Armee wollten. Ich kannte einige, die, weil sie nicht mehr ein noch aus wußten, die radikalste Lösung wählten: Sie drehten den Gashahn auf.

Im April 1978 wollten die homosexuellen Frauen ein Lesbentreffen bei mir veranstalten. Sie verschickten Einladungen in die ganze DDR, was der Staatssicherheit nicht verborgen blieb. Die Deutsche Post tat schon immer etwas mehr, als Briefe nur zu befördern. Zuweilen nahm sie den Empfängern gleich die Arbeit der Lektüre ab.
Einen Tag vor dem Treffen klingelten zwei Polizisten an meiner Tür. Der eine, ganz Nieselprim, hatte eine gleichmütige Amtsmiene aufgesetzt, während der andere mich, belustigt über meinen Aufzug, aus hochmütig-spöttischen Augenwinkeln musterte. Nieselprim kam gleich zur Sache und faselte etwas von einer verbotenen Veranstaltung. »Ich lade mir nur Gäste ein.« - »Was sind das für Gäste?« -»Schwule Mädchen wie ich. Was soll diese Fragerei?«
Hatte ich öffentlich ein Plakat aufgehängt: »Lesben der DDR treffen sich zu Schwof und Diskussion im Mahlsdorfer Gründerzeitmuseum«? Nein, hatte ich nicht. Doch das beeindruckte ihn nicht im mindesten. »Sie kennen das Recht der Deutschen Demokratischen Republik schlecht«, belehrte er mich. Träfen sich mehr als sechs Menschen, und sei es zum Geburtstag von Onkel Otto, sei dies eine Veranstaltung, welche die Polizei genehmigen müsse. Ich sollte ein Schild an die Tür hängen: »Wegen Wasserrohrbruchs fällt die Veranstaltung aus.« Ich weigerte mich.
Bei den Organisatorinnen herrschte helle Aufregung. Die Polizei hatte bereits einige verhört, vor allem interessierte sie sich dafür, ob Frauen aus West-Berlin eingeladen seien. Die Was-sollen-wir-nur-tun?-Stimmung aber hielt nicht lange an. Während Schwule wahrscheinlich wie aufgeregte Hühner hin- und hergelaufen wären, hatten die Lesben einen Plan geschmiedet, der von einem Generalstab hätte ausgeheckt sein können.
Da von den Gästen keiner mehr informiert werden konnte, trommelten sie kurzerhand alle Berliner Gruppenmitglieder zusammen, stellten sich am nächsten Tag an die Bahnhöfe, fingen die ahnungslosen Frauen ab und dirigierten sie zu einem geheimen Treffpunkt. Natürlich konnten nicht alle abgepaßt werden, einige klopften doch an meine Tür. Aber schon wenige Minuten später fuhren unsere Lesben mit quietschenden Reifen vor, sackten die verblüfften Frauen ein, und ab ging's zum Geheimort. Das Treffen fand statt.
Ein paar Tage darauf erhielt ich ein Schreiben vom Stadtrat für Kultur: »Hiermit werden Herrn Lothar Berfelde jegliche Art von Versammlungen und Veranstaltungen im Gründerzeitmuseum untersagt.«
Das richtete sich nicht nur gegen die Schwulen- und Lesbentreffen. Den Arbeiterbrigaden von Berliner Betrieben, die einen Besuch im Gründerzeitmuseum inzwischen in ihr kulturelles Programm aufgenommen hatten, verbot man, nach der Museumsführung zum gemütlichen Teil überzugehen: Der Besuch in der Mulackritze war ersatzlos gestrichen.

21.

Die Querelen mit den staatlichen Stellen um mein Museum dauerten an, obwohl die achtziger Jahre so vielversprechend begonnen hatten. Zwei Damen von der Kommunalen Wohnungsverwaltung waren ganz begeistert: »Herr Berfelde, Sie haben ein Museum aus diesem Haus gemacht! Wir hätten es abgerissen. Und auch heute könnten wir nichts damit anfangen. Wollen Sie dieses Haus nicht kaufen?« - »Von was denn?« Sie boten es mir zum Nulltarif an. Ich war hocherfreut, hätte aber aus den Verzögerungen und Fährnissen der sechziger und siebziger Jahre lernen sollen. Vollmundigen Ankündigungen folgte - nichts.
Der angekündigte Bauschätzer kam nie. Der Magistrat, Sektor Volkseigentum, blieb ausweichend und hielt mich hin. Einmal hieß es, man verkaufe keine Gutshäuser. »Mein lieber Herr«, sagte ich zu dem Sachbearbeiter, »dieses Haus hat den Titel >Gutshaus< schon 1920 verloren. Ich weiß nicht, ob Sie mir eine alte Dorfschule oder einen Kindergarten verkaufen, aber ein Gutshaus verkaufen Sie mir auf alle Fälle nicht. Fakt ist, daß Sie mir eine Abrißruine überschreiben würden, die ich wieder in Schuß gebracht habe.« Der Sachbearbeiter schaute mich aus seinen schräggestellten Augen an, als käme ich von einem anderen Stern.
Zwei Jahre später fanden sich erneut Abgesandte der Kommunalen Wohnungsverwaltung ein, diesmal mitsamt dem Chef. Ich sollte noch einmal einen Kaufantrag ausfüllen wie 1982 schon. Kurz danach ließ man verlauten, ich sei nur eine einzelne Person und nicht befugt, so viele Zimmer  allein zu bewohnen. Was für ein Mumpitz! Fast alle Zimmer gehören zum Museum; sogar meine Schlafstube, in der ein bemalter porzellanener Nachttopf unter dem Bett steht, können die Besucher besichtigen.

Die Staatssicherheit fühlte mir weiter auf den Zahn. Ob dieses biestige Lieschen sich dazu hinreißen läßt, Möbel in den Westen zu verkaufen? mag sie sich gefragt haben.
Schon in den frühen achtziger Jahren hatten Besucher aus dem Ausland den Weg nach Mahlsdorf gefunden, vor allem Franzosen und Engländer. Ich war immer wieder von neuem erstaunt, wieviel internationales Publikum bei mir aufkreuzte. Ich wußte ja nicht, wo überall in der Welt Artikel über das Museum erschienen waren, in welchen Büchern oder Nachschlagewerken über Museen, Trödler und Sammler Mahlsdorf erwähnt war. Das niederländische Fernsehen erschien aus Amsterdam, und es dauerte nicht lange, bis ganze Schulgruppen mit Bussen aus Holland kamen.
Das hatte natürlich auch die Staatssicherheit mitgekriegt, und sie stellte mir eine Falle: Eines Tages stöckelte eine »Amerikanerin«, sehr blondiert, sehr agil, die Lippen dünn wie Draht und mit einem aggressiven Rot bemalt, die Freitreppe herauf. Ihren riesigen Schlitten mit US-Nummer hatte sie in Sichtweite geparkt. Die Blondine - sie sah wirklich so amerikanisch aus wie ein in der Stasi-Zentrale gebasteltes Kunstprodukt - rauschte von einem Zimmer ins andere und wurde immer euphorischer. »What cost, ich kaufen und zahlen in Dollar, what cost, what cost?« juchzte sie in manieriertem Slang. »Meine Dame«, hub ich an. Doch sie ließ mich nicht zu Wort kommen und fing an zu feilschen, als wäre sie auf einem orientalischen Basar. Nur mit dem Unterschied, daß sie alle Preise zu zahlen bereit schien. Sie gerierte sich wie eine Kokotte von Rockefeller. Irgendwann wurde es mir zu bunt, und ich unterbrach ihre barocke Wortschwemme. »Ob Sie viel Geld haben oder wenig, ist mir egal, aber dies ist kein Trödelmarkt, sondern ein Museum, und ich habe nichts zu verkaufen. Watching only!« - »Oh«, sagte sie mit schlecht gespielter Enttäuschung, ich solle nichts überstürzen, sondern es mir überlegen. »Schade, schade, schade.« Sie kam kein zweites Mal.
Hätte ich anders reagiert, ich bin sicher, ich hätte das Schicksal meines Freundes Alfred Kirchner geteilt.

Zum Museum gehört ein Grundstück, das ich bepflanzt hatte wie einen alten Gutsgarten. Ländlich, dörflich, mutete er an wie ein kleines Wäldchen. Ein Idyll - bis 1987.
Daß der Sachverstand nicht unbedingt über die Flure der sozialistischen Planbürokratie huscht, war mir schon aufgegangen. Aber was das Gartenamt Hellersdorf im Berliner Jubeljahr anläßlich der 750-Jahr-Feier veranstaltete, besaß eine neue Qualität. Großes hatte man im Sinn. Die werktätigen Massen strömten herbei und leisteten ganze Arbeit: »Im Zuge der Rekonstruktion«, so nannte es das Gartenamt, wurde aus dem Mahlsdorfer Gutspark eine sozialistische Grünanlage.
Man sägte einhundertzweiundfünfzig Bäume ab und verwandelte den Garten in eine Wüste. Jeden Holunder- und Fliederstrauch ebneten die Männer mit den wildgewordenen Maschinen ein. Gleich darauf kofferten sie fünfzig Zentimeter Boden aus und kippten als Ersatz den minderwertigen Aushub von den Ahrensfelder Neubauten drauf. Das Unternehmen war so fachmännisch geplant, daß noch heute bei jedem Regen die Hauswand durch das ablaufende Wasser Feuchtigkeit zieht. Möbel im Keller fangen an sich aufzulösen. Das Haus verkommt.

»Laßt mir doch zur Erinnerung wenigstens die eine Pappel stehen«, flehte ich. Sie überragte das Haus. Aber mit diesen Affen war nicht zu reden. Eine Viertelstunde später kreischte die Motorsäge, und der herrliche Baum fiel um. Die schweren Maschinen fuhren sieben Igel tot. Rehe, Perlhühner, Fasane und seltene Vögel wie Eulen verschwanden für immer.
Die Hellersdorfer Behörde verkündete stolz, sie habe einen Biedermeiergarten geschaffen - einen Gartentyp, den man in der Kunstgeschichte vergeblich suchen wird.

22.

1988 wurde ich »reisemündig« - mit sechzig, wie jede Bürgerin der DDR. Allerdings war ich nicht berentet worden, weil der SED-Staat eingesehen hatte, daß ich ein Frauenzimmer bin, sondern weil eine Ärztin mir Erwerbsunfähigkeit attestiert hatte.
Mir fällt mein erstes Grenzerlebnis ein: »Kommen Sie mal rein«, sagte der Grenzbeamte. Wegen der Kälte trug ich an diesem Tag eine lange Hose und einen Mantel. »Machen Sie Ihren Mantel auf. Was haben Sie in den Innentaschen?« - »Der Mantel hat keine Innentaschen, das ist ein Damenmantel.« - »Drehn Sie sich mal um, und heben Sie den Mantel hoch. Was haben Sie in den Gesäßtaschen?« -»Die Hose hat keine Gesäßtaschen, das ist eine Damenhose.« - »Und was haben Sie in den Vordertaschen?« -»Diese Hose hat auch keine Vordertaschen.«
Der Uniformierte mit dem feuchten Mondgesicht sah jetzt so dämlich drein, daß ich innerlich triumphierte: Das geschieht dir recht, du Kanaille. Klarer Fall: Er filzte jeden Zentimeter meiner Handtasche. »Was sind das für Fotos?«
»Das sind Bilder von der Inneneinrichtung meines Gründerzeitmuseums in Mahlsdorf.« Als er das Bild entdeckte,
auf dem ich im Kleid und mit Perücke an der Kredenz stehe, fragte er: »Sind Sie das etwa?« - »Ja, und die Kredenz wie das ganze Museum können Sie sich jeden Sonntag bei freiem Eintritt anschauen.« Gekommen ist er nicht.

Im Frühjahr 1988 fuhr ich eine Woche vor der Eröffnung der dortigen Gründerzeitsammlung zur Kulturstiftung Schloß Britz in West-Berlin. Die beiden Kollegen vom Berlin-Museum, mit der Zusammenstellung der Sammlung beauftragt, hatten mich 1984 aufgesucht, »zum Spionieren«, wie sie scherzten. »Ja«, erwiderte ich, darüber begeistert, daß die Gründerzeit ein zweites Museum in Berlin bekommen sollte, »spioniert mal schön, ich werd' euch schon erzählen, wie sich eine Hausfrau 1880 eingerichtet hat.«
»Schön, daß Sie da sind, denn wir haben noch Fragen«, begrüßten mich die Museumsfachleute, als ich ins Schloß Britz kam. Sie wiesen auf zwei bronzene Kerzenleuchter.
»Passen die stilistisch in die Zeit?« - »Wunderbar, das ist Neorenaissance, 1880, mit Voluten, eingerollten Schnörkeln. Ja, die sind richtig hier, so etwas hatte man damals.« - »Wenn man nur wüßte, wer sie fabriziert hat?« fragten sie ratlos. Sie hatten die guten Stücke in einem Antiquitätenladen erstanden, in dem niemand Auskunft geben konnte. »Kein Problem«, erläuterte ich, »Stobwasser & Co., Berliner Bronce und Zinkgußwarenfabrikation in Berlin C in der Wallstraße.«
Eine Standuhr, Neorenaissance mit Säulen und Balustrade, befand sich in der Ecke. »Aha«, freute ich mich, ganz in meinem Element, »Firma Gustav Becker, Uhrenfabrik, Freiburg in Schlesien. Die ist um 1900 hergestellt worden, Nußbaum, furniert, und Erle. Nur die Zeiger sind ergänzt, das sind Jugendstilzeiger, und der Aufsatz fehlt.« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, tastete das Gesims ab, und siehe da, ich erfühlte die Dübellöcher, auf denen früher der Aufsatz steckte. Beide lachten, holten sich Zettel und schrieben meine Angaben auf. In dieser Beziehung bin ich ein wandelnder Möbelkatalog, aber wehe, es fragt mich jemand, was ich gestern zu Mittag hatte.

23.

Kurz nach diesem Erlebnis erschienen, während ich gerade die Freitreppe und den Abtreter saubermachte, zwei »Herren« im Gleichschritt. Grußlos zückten beide ihre Ausweise: »Ist das hier das Privatmuseum?« - »Ja.« - »Wir suchen den Bürger Berfelde, sind Sie das etwa?« Ich stand auf der Treppe wie eine Putzfrau, in Schürze und mit Kopftuch, den Handfeger und die Kehrschaufel in den Händen, und antwortete: »Ja, das bin ich. Alles habe ich von Kindesbeinen an gesammelt, und seit dem 1. August 1960 ist das Museum bei freiem Eintritt für jedermann zugänglich.« Der mit Trenchcoat donnerte: »Sie sind für uns eine unerwünschte Person, merken Sie sich das.« - »Das ist nett, daß ich das jetzt weiß, meine Herren«, erwiderte ich und knickste. Wichtigtuerisch schenkten sie sich einen längeren Blick. Dann machten sie abrupt kehrt, marschierten wie Zinnsoldaten die Treppe hinunter und verschwanden ohne Gruß. Das war der letzte Stasi-Besuch bei mir. Man wollte mich noch einmal erschrecken, damit ich vielleicht bei meiner nächsten »Auslandsreise« gleich in West-Berlin bliebe. Meine Mitarbeiterinnen hätte man an die Luft gesetzt, der Möbelwagen der Kunstschieber wäre vorgefahren, und man hätte alles aufgeladen.
Diese Stasi-Fritzen führten sich auf wie Graf Koks von der Gasanstalt, erinnerten in ihrem selbstgefälligen Auftreten aber an zwei Bauchrednerpuppen. Wir haben die Macht, und du bist eine Null, wollten sie mir zu verstehen geben. Ihr aufgeplusterter Mummenschanz belustigte mich allerdings geradezu.

»30 Jahre DDR - 30 Jahre Staatszirkus«, stand 1979 auf den Winterquartierhallen des Staatszirkus in Hoppegarten. Die beflissene Borniertheit der Mitarbeiter in den Propagandaabteilungen des SED-Staates sorgte bisweilen für unfreiwillige Komik. »Alle heraus zum 1. Mai!« Diese Losung war von einer gutmütigen, aber offensichtlich ebenso einfältigen Kolonne auf einer Friedhofsmauer angebracht worden.
Die Leitsprüche zum alljährlichen höchsten Feiertag 1. Mai hingen noch Mitte des Monats und die Losungen zum Gründungstag am 7. Oktober noch Anfang November. So als mißtraute selbst die Staatsführung der Langlebigkeit ihres Gebildes.

Man sollte sich davor hüten, die DDR-Diktatur mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen; man kann durchaus Vergleiche ziehen - und es gibt ja auch Parallelen -, so sie der Erkenntnis dienen. Aber eines bleibt gewiß: Die fabrikmäßige Tötung von Millionen Menschen durch Deutsche während der Jahre 1933 bis 1945 bleibt eine gräßliche Einzigartigkeit, gegen die irgend etwas aufzurechnen sich von vornherein verbietet.
Meine Hochachtung und Sympathie gilt all denen, die die sozialistische Idee durchsetzen wollten, aber scheiterten,
scheitern mußten - der Unzulänglichkeit der Menschen wegen. Die Idee bleibt eine gute. Auch wenn sie diskreditiert ist durch den realen Sozialismus.
Die Agonie dieses Sozialismus, der keiner war, wurde mir erstmals 1961 bewußt, als die Mauer gebaut wurde: Ein Staat, der seine Bürger einsperren muß, um zu überleben, kann nicht auf Dauer bestehen. Sein Niedergang wurde mir besonders deutlich, als 1983 die Abteilung Kultur des Bezirks Marzahn mit einem bizarren Anliegen anrief: Ausgerechnet ich sollte die Möbel begutachten, die die sogenannten »Ausreisenden« mit in den Westen nehmen wollten. Die Museen der DDR, deren Mitarbeiter gewöhnlich mit dieser heiklen Aufgabe betraut wurden, kamen aufgrund der vielen Ausreisewilligen mit ihren Expertisen nicht mehr nach.
Wenn die »Ausreisenden« - ich nannte sie, auch im Beisein von Offiziellen, schon aus Daffke immer »Auswanderer«, denn Reisende kommen wieder zurück, was diese Menschen durchaus nicht vorhatten - etwas von ihrem Hausstand mitführen wollten, mußten sie bis zu Schlüpfer und Waschlappen alles genauestens auflisten und diese Liste in fünf- oder siebenfacher Ausfertigung einreichen, je nach dem Grad der Schikane in den Bezirken. Damit bedeutete man ihnen ein letztes Mal, wer hier die Macht hatte und was für ein Dreck sie doch waren.
Mit meinem neuen Job begab ich mich auf gefährliches Terrain. Ich ging mit Vorsatz an die Arbeit, allerdings mit einem, der den Sinn und Zweck der Übung - nämlich alles »abzufischen«, was an wertvollen Antiquitäten in den Haushalten der Ausreisenden schlummerte - ins Gegenteil verkehren sollte.
Wenn dieser Staat täglich Kulturgut exportiert, überlegte ich, dann sollen die Leute, die auswandern, weil sie hier schikaniert werden, doch, verdammt noch mal, das Recht haben, ihr persönliches Hab und Gut mitzunehmen.
Die erste Begutachtung fand in Kaulsdorf bei einem Musiker statt. Zu meinem Schreck bemerkte ich dort einen Bauernschrank aus dem Jahre 1820 und daneben eine Truhe aus Eiche mit der geschmiedeten Jahreszahl 1786. Was tun?
»Wie ist das einzuschätzen«? fragte ich, auf Truhe und Schrank weisend, die Mitarbeiterin der Abteilung Kultur. »Na, ist doch ganz logisch«, plapperte sie munter drauflos, »Kategorie I, II oder III.« - »Was ist denn Kategorie I, II oder III?« Konsternierte Miene. »Ach«, sagte sie mit hilflosem Lächeln, »den Auftrag, Sie zur Begutachtung zu begleiten, habe ich gerade erst bekommen, das weiß ich auch nicht.« Ein harmloses Häschen, ungetrübt von jedem Sachverstand. Wenn das so geht in diesem Staat, dann dauert es nicht mehr lange bis zum Zusammenbruch, dachte ich und war zufrieden. Um die Kategorienfrage zu klären, rief ich im Märkischen Museum an. Meiner Kollegin, der »Möbeltante« des Hauses, beschrieb ich Schrank und Truhe.
»Kategorie I ist internationales Kulturgut, das nicht ausgeführt werden darf, zum Beispiel ein Rembrandt oder ein Rubens. Aber die hat ja auch keiner«, erklärte sie mit pfiffigem Unterton. Kategorie II beinhalte nationales Kulturgut, das bis zu Arbeiten von Gegenwartskünstlern der DDR reiche. Dies könne ausgeführt werden, allerdings nur mit Genehmigung des Ministeriums für Kultur, während Kategorie III lokales Kulturgut darstelle, womit Stücke aus dem Industriezeitalter, der Gründerzeit und dem Jugendstil gemeint seien, wenn es nicht gerade besonders ausgefallene Stücke seien wie etwa ein Schreibtisch von van de Velde. Bauernschrank und Truhe stufte ich, da in DDR-Museen zuhauf vorhanden, in Kategorie III ein.

Die Zahl derer, die diesem Staat unter allen Umständen den Rücken zu kehren bereit waren, stieg ab Mitte der achtziger Jahre so stark an, daß ich in allen Bezirken Ost-Berlins tätig wurde. Eines Tages stand ich in der Wohnung eines Mannes, die vollgestopft war mit Antiquitäten: Zinnteller, Leuchter, Gemälde. Ich drückte ein Auge zu und stufte sie in Kategorie III ein. In dem Zuhause eines etwas verschreckt blickenden Mannes jedoch war das Zukneifen beider Augen vonnöten.
Doch zunächst stierte ich entsetzt auf die kostbare mittelalterliche Kriegskasse, eine Eisentruhe aus dem 16. Jahrhundert, die er sein eigen nannte und die von einem Museumsspezialisten tadellos restauriert worden war. Dieses Stück hätte ich am liebsten innen wie außen verkommen und verdreckt gesehen, um es durchgehen zu lassen. »Wer hat dieses Stück restauriert?« fragte ich, und als mir der Besitzer das Museum für deutsche Geschichte nannte, setzte ich mich geschockt auf einen Stuhl. »Ach du Scheiße«, rutschte es mir raus.
Nun setzte ein konspirativ geführtes Gespräch ein. Man konnte schließlich nie genau wissen, wen man vor sich hatte. »Sie wollen diese Truhe mitnehmen?« - »Ja.« -»Ganz bestimmt?« - »Ja.« - »Sie hängen an dieser Truhe?« - »Ja, sonst hätte ich sie nicht restaurieren lassen.« -»Welcher Restaurator hat die Arbeit gemacht?« - Er nannte den Namen, und ich fragte ihn: »Kennen Sie den Mann genauer?« - »Ja.« - »Kennen Sie diesen Mann sehr genau?« - »Ja.« - »Ist er zuverlässig?« - »Ja, hundertprozentig.«

Wir setzten alles auf eine Karte, und ich schrieb auf die Bewertungsliste: »Eine Eisenkiste mit mehreren Schlössern, um 1900.« Und weiter: »Die hier in diesen Listen aufgeführten Positionen sind Kategorie III, also lokales Kulturgut, und unterliegen nicht dem Kulturgutschutzgesetz der DDR. Gegen Ausfuhr kein Einwand.« Ich drückte den Stempel ins Farbkissen, Patsch, Stempel drauf, »Museum zu Mahlsdorf«, und dann meine Unterschrift, schön leserlich. Die Kiste ging durch.
Ein andermal rief mich eine Familie aus Hamburg an, mit denen ich das verschwörerische Telephonat abgesprochen hatte: »Alle bei uns sind gesund, die Reise war schön.« Das hieß: Alles war gutgegangen, die Möbel hatten die Ausfuhr und den Transport heil überstanden.

Da viele Auswanderer nicht darüber informiert waren, daß bis zum letzten Hemd alles genehmigungspflichtig war, wenn sie es über die Grenze mitnehmen wollten, und der Zoll die Arglosen gnadenlos zurückwies, wenn Papiere fehlten, klingelte es mehrmals nachts um elf bei mir, und hilfesuchende Augenpaare schauten mich an. Kein Problem, ich schrieb manchmal sogar die Listen selbst, wenn die Kujonierten keine Ahnung hatten.
Eines Tages begrüßte mich der Beauftragte eines Rechtsanwalts überschwenglich mit »Hach, Lottchen«, als wäre er mit mir im Bett gewesen - ich konnte mich aber überhaupt nicht an ihn erinnern. Mißtrauisch fand ich mich in der Wohnung ein, in der ich begutachten sollte: Antiquitäten, so weit das Auge reichte. Die angeblichen Besitzer standen, täppisch dreinschauend, neben einem Gemälde aus der Biedermeierzeit, und ich war argwöhnisch bis in die Haarspitzen. Im Raum befanden sich noch einige andere undefinierbare Personen, die mir gar nicht erst vorgestellt wurden. Ich sah keinen Bezug zwischen dem angeblichen Ehepaar, das so unscheinbar war, daß es schon wieder auffiel, und den lieblos auf einem Tisch aufgetürmten Antiquitäten: Sie waren so arrangiert, als hätte man sie nur für diesen Zweck in das Haus geschleppt. Unter den Argusaugen der Umstehenden begutachtete ich preußisch korrekt und verabschiedete mich, als wäre nichts gewesen.
Bald darauf erschien der alerte Beauftragte erneut bei mir: mit einer Auswahl historischer Tischglocken, zum Teil orientalischer, zum Teil ostasiatischer Herkunft, zum Teil aus dem europäischen Mittelalter. Ihr unglaublich hoher Wert war augenscheinlich, und ich dachte, sie könnten nur Teil einer enteigneten oder geraubten Privatsammlung sein, wenn nicht gar Museumsbesitz. Angeblich gehörten sie einem Privatmann.
Der Beauftragte wollte von mir exakte Wertangaben hören. »Ich kann dazu nichts sagen«, erklärte ich, »Sie sollten sie in einem speziellen Museum schätzen lassen.« Ich müsse doch ungefähre Preise nennen können, bohrte er weiter. »Ob ich nun fünf, fünfzig, fünfhundert oder fünftausend Mark sage, eins ist so gelogen wie das andere, da ich es eben nicht weiß.« Mißgelaunt zog er ab und kam nie wieder.
Ab 1988 setzten die Stadtbezirke von einem auf den anderen Tag neue Bewerter ein. Auch wenn bereits Bewertungen vorgenommen worden waren und die Besitzer auf gepackten Koffern und Kisten saßen, mußten sie alles wieder auspacken und es erneut begutachten lassen. Gerieten sie an einen Schikaneur, konnten die Menschen häufig ihren Ausreisetermin nicht einhalten, den die Staatssicherheit festgelegt hatte. In einem solchen Fall mußten sie alles zurücklassen. Wie oft hatte ich mit meiner Mitarbeiterin Beate überstürzt verlassene Wohnungen aufsuchen müssen, deren Bewohner es nicht mehr geschafft hatten, das Formale zu erledigen. Und ich dachte an die Zeit, in der ich mit Max Bier die Wohnungen jüdischer Menschen betrat, die alles hatten stehen- und liegen lassen müssen. Gut, die Menschen in der DDR waren nicht in Lager deportiert worden, sondern befanden sich auf dem Weg in die Freiheit, aber allein die abgestandene Luft, die Möbel, zum Teil in Kartons verpackt, zum Teil noch an ihrem Platz - das alles weckte Erinnerungen, die bei mir Übelkeit auslösten.

24.

Paßt mal uff, wir drehen hier einen Film mit dem Titel >Coming out<. Wer hat Lust mitzumachen?« Der Regisseur Heiner Carow suchte eines Abends im Jahr 1989 im »Burgfrieden«, einer Schwulenbar in Prenzlauer Berg, Kleindarsteller für den ersten - und letzten - emanzipierten Schwulenfilm der DDR. Ich sollte auch mitspielen, als Tresenfrau in eben jenem Lokal.
Kompliment an Heiner Carow für diesen wichtigen Film. Unendliche Schwierigkeiten hatten das Projekt jahrelang verzögert. Der ZK-Sekretär quälte sich mit spitzen Lippen das Ja-Wort geradezu ab - »Ihr müßt euch aber der Kritik stellen«, hatte er spießig-oberlehrerhaft verlauten lassen-, und selbst die völlig unbedarfte Margot Honecker als Volksbildungsministerin sollte noch ihren Senf dazugeben. Heiner Carow mußte sich mehr als Diplomat und Unterhändler betätigen denn als Filmregisseur. Dennoch erledigte er auch letztere Aufgabe mit Bravour.
Wir drehten fast ausschließlich nachts, waren die meisten Schauspieler doch durch diverse Engagements an Theatern gebunden. Die Dreharbeiten dauerten oft bis vier Uhr früh. Aber es lohnte sich. Nicht nur weil der Film wochenlang ausverkauft war und sogar den Silbernen Bären auf der Berlinale 1990 errang, sondern auch weil Carow mit viel Einfühlungsvermögen das schwule Leben in der DDR auf oft bedrückende Weise getroffen hatte. Der Plot des Filmes - einer der beiden Hauptdarsteller wird mit Blaulicht ins Krankenhaus gebracht, weil er versucht hat, seinem Leben ein Ende zu setzen - wühlte mich auf, erinnerte er mich doch an die Selbstmorde bei uns in der Schwulengruppe.

Angefummelt bis zu den Haarspitzen huschte ich am Tag der Premiere in das Ost-Berliner »Kino International«. Das Foyer voller Menschen. Doch an diesem Abend stand ein anderes Coming out im Vordergrund des Weltgeschehens. Während ich mich in Mahlsdorf ins Kleid warf, gab der Berliner SED-Chef Günther Schabowski jene Pressekonferenz, nach deren Ende Tausende Ost-Berliner zur Mauer liefen.
Schon kurz nach Filmende gab es Gerüchte, Getuschel. Die Mauer soll auf sein? »Kinder, macht keine Aprilscherze, heute ist der 9. November«, entgegnete ich.
Ich mochte es nicht glauben, obwohl ich schon Wochen vorher in Hoffnungsstimmung war: Dieser Staat war unter seiner altersstarrsinnigen Führung nicht zu Konzessionen bereit - aufmerksame Zeitgenossen hatten bei dem abstrus gespenstischen Spektakel zum vierzigsten Geburtstag der DDR längst den süßlichen Verwesungsgestank wahrgenommen -, und damit würde er seinen Untergang rasant beschleunigen.
»Verschließen Sie diese Tür vor Ihren Kindern«, hatte ich wenige Jahre vorher bei einer meiner Begutachtungen in einer mir fremden, leeren Wohnung einem Zöllner, einem einfachen Mann aus Mecklenburg, stolz auf seine zwei Sterne an den Schultern, geantwortet, als er mich fragte, warum nur alle in den Westen wollten. »Verschließen Sie diese Tür vor Ihren Kindern, und befehlen Sie: Durchgehen verboten! Was wird geschehen? Ihre Kinder werden diese Tür umlagern und versuchen, durchs Schlüsselloch zu gucken, und wenn sie groß genug sind, werden sie sich einen Dietrich anfertigen, um sie zu öffnen. Wenn sie alles gesehen hätten, wäre das Geheimnis gelüftet, und sie würden wieder zurückkehren.« Doch hinter solchen und ähnlichen Sätzen witterten die ebenso greisen wie begriffsstutzigen Funktionäre, stets hinter Gardinen in Volvos an ihrem Volk vorbeiflüchtend und im Wandlitzer Getto längst auf einem anderen Stern hausend, nur Aufruhr, Renitenz und Konterrevolution.
»Coming out« hatte einen Riesenerfolg, und nach der Premiere ging es in vollem Ornat und entsprechender Stimmung in den »Burgfrieden«. Plötzlich Geschnatter, Gehupe, Durcheinander. Die ganze Schönhauser Allee verstopft: Trabis auf dem Weg zum Ku'damm.
Das nie Dagewesene passierte: Jubelnd und wie von Fesseln gelöst, fielen sich die Kneipengäste um den Hals. Endlich frei! Ich freute mich für die jungen Menschen, neige allerdings nicht zu euphorischen Stimmungsausbrüchen, und so saß ich mit stillem Glücksgefühl an meinem Tisch.
Gerade hatte ich auf meine Gabel eine Portion Kartoffelsalat gehäuft, als ein Rundfunkteam durch die Tür polterte und mir ein Reporter sein Mikrophon, groß wie ein Tennisball, vor die Nase hielt: »Was halten Sie davon?« Ich war vor Schreck so durcheinander, daß ich zurückfragte: »Meinen Sie die vielen Automobile draußen, die in den Westen fahren?« - »Ja, natürlich.« - »Nun, die werden jetzt alle rüberfahren, sich den Ku'damm angucken und morgen früh wieder zurückkommen.«

25.

Ich hatte ein Coming out nie nötig. Ich habe mir nie einen Kopf gemacht über meine Existenz. Alles war selbstverständlich. »Ich kann doch gar nicht anders sein«, wußte ich, selbst als mich die Schulbengels eine »rotblonde Zicke« nannten und mir die Spange aus dem Haar rissen.
Genausowenig hatte ich nötig, mich groß auszustaffieren. Ich habe noch immer Konfektionsgröße vierundvierzig, schmale Schultern und ein stattliches Hinterteil, mit dem sich einiges ausfüllen läßt. Ich bevorzuge resedagrüne, himmel- und dunkelblaue Kleider und schwarze. Ich schminke mich nie, färbe meine Haare nicht, und mit auffälligem Schmuck sollen sich andere behängen. So wie ich bin, bin ich eben. Meistens trage ich Schürze und Kopftuch und bin zufrieden als Hausmagd.
Mein ganzer Stolz sind zwei Trachtenröcke, die mir Beate und Silvia, das lesbische Paar, das mit mir zusammen das Museum führt, zum 63. Geburtstag schenkten. Das letzte Kleidungsstück, das ich mir selbst zulegte, war ein dunkelblauer Damenmantel für den Winter. Mitte der siebziger Jahre hatte ich mich mit dem Stoff zu einem Damenschneider nach Köpenick begeben.
»Naja, eigentlich trägt man heute nur noch Hänger«, erklärte das alte Männlein, nachdem ich ihm meine altmodischen Schnittvorstellungen geschildert und den Stoffballen auf dem Tisch ausgebreitet hatte. »Sie sind noch ganz schön schlank für Ihr Alter, aber viel Busen haben Sie ja nicht mehr«, näselte er, mit dem Maßband an mir herumhantierend. Innerlich mußte ich lachen. »Soll ich den Busen ein bißchen wattieren?« fragte er verständnisvoll. - »Ja, ja, das können Sie gerne machen.«
Während der Anprobe gab ich Anweisungen: »Hier könnte er noch ein bißchen strammer sitzen.« - »Das ist ja dann richtig glockig.« - »Ja ja, glockig soll er sein.« - »Na, dann mach' ich die Abnäher noch ein bißchen schmaler.« Der Mantel hat noch heute einen Ehrenplatz in meiner Garderobe, und nur bei wichtigen Anlässen hole ich ihn aus dem Nußbaumschrank.

Es war immer gefährlich, als Transvestit durch die Gegend zu laufen. Ich bin froh, daß ich im Dritten Reich noch so jung war und verschont blieb.
Schon zu DDB-Zeiten paßte ich in kein Kästchen, und selbst heute noch bin ich für manche eine schräge Figur -immer ging ich meinen eigenen Weg, ein Wandel auf schmalem Grat, oft links und rechts der Abgrund. Das unendliche Heer der Anpassungswilligen sucht sich hinter den Verhältnissen zu verkriechen, hält sie mitunter für unausweichlich und schicksalhaft. Besser mißtraut man solch zweifelhaften Eingebungen, arbeitet man doch den Mächtigen in die Hände, die ihren mitunter anstößigen Machenschaften und Triumphen gerne die Aura des Unvermeidlichen geben wollen.
Sicher, nicht jedem ist es vergönnt, eigenständig zu leben, aber mit Beharrlichkeit und Zivilcourage läßt sich manches erreichen. Freilich nicht bei den Borniertesten.

Ohne mein Zutun bin ich zu einer Art Idolfigur der Schwulen und Lesben geworden. Das ist wie Sonnenstrahlen im Herbst, in denen ich mich wärme. Es tut gut zu wissen, daß man etwas lebt, was anderen Menschen ein wenig Kraft gibt.
Vor einem Jahr stand ich nach einer Demonstration gegen Gewalt an Schwulen am Brandenburger Tor. Ich war sehr angetan, daß man mich aufforderte zu reden, und, noch bevor ich etwas gesagt hatte, frenetischer Beifall aufbrauste. Ich war freudig überrascht über den herzlichen Empfang, den man mir bereitete; ich bin nicht so vermessen zu denken, ich sei wichtig.
Die Nase hochtragen? Das kann ich gar nicht. Wir sind doch alle nur Menschen, ob nun Kuhmagd oder Königin. Geben wir doch zu, daß wir alle gleich sind: Das bißchen Fleisch und Knochen, das ist doch nichts Besonderes.
Mein Traum: Keiner fragt mehr nach Konfession, Hautfarbe, Weltanschauung, sexueller Orientierung, Parteibuch, Geld und gesellschaftlicher Position. Juden und Christen, Heteros und Homos, Schwarze und Weiße sitzen an einem schönen runden Tisch im Freien und erzählen sich alte Geschichten. Und keiner kennt mehr Dünkel und plappert mehr nach, was an Biertischen gestammelt wurde. Keiner wundert sich mehr über den anderen.

Fünf Kerle - im Rudel sind sie ja mutig - schrien Anfang der siebziger Jahre von der anderen Straßenseite zu mir herüber, als ich gerade die Auslagen eines Damenkonfektionsgeschäfts betrachtete: »Schwule Sau, so was wie dich hätte man bei Hitler verbrannt. Dich müßte man in der Ostsee ersäufen.«
Ich nahm keine Notiz. Idioten gibt es überall. Und gegen die Gefahr, der ich vor 1945 ausgesetzt war, sind die meisten Diskriminierungen heute geradezu harmlos. Aber den Anfängen muß man wehren.

Es passiert mir aber auch viel Schönes. Im Juli gönnte ich mir Urlaub, zum zweiten Mal in meinem Leben. Schwule Freunde hatten mich nach Hamburg eingeladen. Ich spazierte über die Reeperbahn, schlürfte für zwei Mark in einer Imbißstube an der Großen Freiheit mit den Huren meine Erbsensuppe, flanierte weiter, und als ich vor einem Geschäft stehenblieb, bemerkte ich, wie mich ein älteres Ehepärchen plötzlich mit aufrichtigem Interesse musterte. Ich merkte ihnen an, daß sie gemeinsam zufrieden alt geworden waren. Die Frau zupfte mich vorsichtig am Arm, machte mir Komplimente und sagte: »Wir haben Sie im Fernsehen gesehen. Hätten Sie etwas dagegen, wenn mein Mann Sie und mich hier auf der Reeperbahn knipst?« - »Nein, dagegen habe ich nichts.« Knips. »Wir wünschen Ihnen noch viel Gutes in Ihrem Leben.« So etwas rührt mich.
Was wünsche ich mir noch? Nicht viel, ich bin ein rundum glücklicher Mensch. Früher dachte ich, vielleicht wäre ich zu spät geboren, hätte besser um die Jahrhundertwende gelebt. Doch nein: der preußische Militarismus - da wäre mir nur Capri geblieben. Wohin so viele strebten, um sich dem Militär zu entziehen. Und trotz aller Mißhelligkeiten und Intoleranz lebt es sich als Außenseiter heute sicher unbeschwerter als im wilhelminischen Zeitalter.

26.

Kein Menschenkind blüht umsonst, aber die große Liebe habe ich in meinem Leben nicht gefunden. Ich sage es ohne Wehmut, auch wenn es sich so anhört. Die »totale« Liebe, »bis daß der Tod euch scheidet«, ist Unfug. In früheren Zeiten haben die Menschen miteinander gelebt, gearbeitet und hatten ihre Vergnügungen. Sicher waren auch Leidenschaften dabei. Liebe ist doch ein Teil vom Leben. Aber das Leben als Teil von der Liebe zu sehen, das habe ich nie mitgemacht. Jeder ahnt doch, wenn er es nicht sogar weiß, was aus einer »großen Liebe« wird, wenn man erst mal drei Jahre in beengten Verhältnissen in einem Plattenbau miteinander verbracht hat.
Ich hatte meine Leidenschaften, war mit drei Männern über zwanzig Jahre zusammen, zum Teil gleichzeitig. Sie haben mir geholfen, mich beraten, in schlimmen Zeiten gestützt, wir hatten erquickenden Sex, aber das alles verschlingende Gefühl war es nicht. Einen Menschen in jede Pore von mir zu lassen, dazu bin ich nicht bereit, und wahrscheinlich wäre das auch gar nicht gesund. Außerdem bin ich schon besetzt: Wenn ich heute ein neues Vertikow bekäme, könnten zehn willige Männer auf meiner Freitreppe rumturnen - ich würde sie nach Hause schicken. »Kinder, kommt morgen wieder, heute habe ich keine Zeit«, würde ich ihnen zurufen, »denn ich muß meinen neuen Schatz wienern und dann ein schönes Plätzchen für ihn finden.«
Während meiner ersten Liebesbeziehung dachte ich: Ach, ist das schön! Das müßte jetzt das ganze Leben halten. Als ich älter wurde, änderte sich das. Es ist falsch, sich zu fixieren, dem Traummann oder der Traumfrau nachzujagen. Der Mensch verändert sich, lernt dazu, der Horizont erweitert sich.
Mit meinen Männern erlebte ich nicht nur Sex, es war mehr. War es Liebe? Zärtlichkeit, Zuneigung, Vertrauen waren es in jedem Fall.
Ich habe es immer als Bereicherung empfunden, offen zu sein, Sex auch zu dritt zu haben. Und niemand war eifersüchtig. »Ich würde platzen vor Eifersucht«, gestand Tutti mir einmal. - »Wenn du deinen Freund gängelst, bringt das gar nichts«, erwiderte ich.
War Jochen oft mein Berater, nahmen Werner und Gerhard, meine beiden anderen Beziehungen, die mehr als zwanzig Jahre andauerten, die Rolle des Trösters ein.
Werner hatte eine ausgeprägte weibliche Ader, lief oft im Fummel rum. Kam ich in seine Wohnung, die er mit viel Nippes eingerichtet hatte, ein Vögelchen zwitscherte im Käfig, glaubte man, in der Stube eines älteren Fräuleins zu sein.
Dennoch war er der aktive Teil in unserer Beziehung, ihm gefiel meine weibliche Passivität. »Weißt du, du bist zwar wie ein Mädel, hast aber 'ne Figur wie ein hübscher Bengel«, schmeichelte er mir. Ich paßte mich seinen Wünschen an: Wenn er kurze Hosen will, soll er sie haben, dachte ich. Das führte natürlich zu skurrilen Situationen, etwa wenn ein Kleidungsstück nicht mit dem anderen harmonierte. Als wir einmal durch Potsdam schlenderten, riefen Jugendliche uns hinterher: »Guckt mal, eine Frau in kurzen Lederhosen!« Ich trug hochhackige Schuhe zu den »kurzen Schwarzen«.
Gern hätte ich mir mit einem meiner Freunde den Traum erfüllt, Tisch und Bett zu teilen. Das war aber nicht zu verwirklichen, wohl auch, weil mein Leben sich um so vieles unterschied von dem ihren. »Lottchen, unter diesen Verhältnissen zu dir zu ziehen, kein Licht, kein Bad, bügeln mit einem Eisen von 1890, das geht nicht, das kann ich nicht«, sagte Werner zu mir und fuhr zurück in seine Ost-Berliner Neubauwohnung. 1984 erlitt er einen Herzinfarkt und starb. Mit Gerhard, den ich wie Jochen auf einer Klappe kennengelernt hatte, dauerte die Freundschaft ebenfalls bis zu seinem Tode, im Jahre 1977. Er hatte seine Launen und Marotten, war ein Pünktlichkeitsfanatiker, aber auch ein warmherziger Mensch. Ein starker Mann, der gerne derb lachte. Ich schlug als Frau die Augen nieder und fühlte mich sicher und geborgen.

27.

An den Mauerfall knüpften sich viele Hoffnungen für uns DDR-Bürger: daß wir freie Menschen werden in einem freien Land, in einer wirklichen und wahrhaftigen Demokratie; daß die Widrigkeiten und die Misere, die wir vierzig Jahre lang hatten ertragen müssen, endgültig der Vergangenheit angehören.
Ich gab mich der Hoffnung hin, endlich rechtmäßiger Eigentümer des von mir geretteten Hauses zu werden. Und, tatsächlich, nach einigen bürokratischen Verzögerungen sollte es soweit sein: Einen Tag vor der Währungsunion fuhr ich mit der Dame vom Magistrat, Sektor Volkseigentum, Abteilung Finanzen, im Automobil zum Notar. Auf dem Weg erklärte sie beiläufig, daß zwar das Haus verkauft werde, nicht aber der Grund und Boden. Der sei noch nicht vermessen. Die Anpflanzungen des Gartenamtes sollte ich aber sehr wohl mitkaufen. Ebenso den Elektroanschluß zum Haus, von mir nicht nur schon bezahlt, sondern auch eigenhändig gelegt. Der Notar machte darauf aufmerksam, daß auch unvermessene Grundstücke verkauft werden könnten. Aber nein! Der Grund, auf dem das Haus stehe, werde nicht verkauft. Die verhandlungsbefähigte Dame vom Magistrat blieb störrisch.

Zumindest das Kapitel Hauskauf hielt ich für erledigt, hatte aber die Rechnung ohne die völlig überlasteten Grundbuchämter gemacht, die in jenen Tagen in Anträgen förmlich erstickten.
Drei Tage nach dem Überfall durch die Neonazis - von gerade mal zwei mutmaßlichen Tätern wurden in jener Nacht die Personalien aufgenommen, die Ermittlungen sind bis zum heutigen Tag im Sande verlaufen - gab es in Sachen Haus ein neuerliches Attentat: diesmal von Senatsvertretern der Stadt Berlin.
Schon am Montag nach dem Skinhead-Überfall rief ein Mitarbeiter des Museumsreferenten an: Na prima, dachten Beate, Silvia und ich, endlich ein Lichtblick, auch sie wollen uns helfen, ebenso wie die Abgesandten vom Senatsreferat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen und die vielen Freunde, die uns am Tag nach dem Überfall Mut zusprachen und uns unterstützten.
Der Museumsreferent der Senatsabteilung für Kultur kam nicht allein. Neben einem Mitarbeiter und dem mir wohlgesinnten Professor Bothe vom Berlin-Museum hatte er noch jemanden mitgebracht, auf dessen Mithilfe er offensichtlich nicht verzichten zu können glaubte. Dieser Mann hatte die Wende augenscheinlich ohne Makel überstanden, saß noch auf demselben Posten, nur hieß sein Arbeitgeber nicht mehr Magistrat, sondern Senat: Manfred Maurer.

Der Museumsreferent und seine Begleiter nahmen im Saal Platz, und er kam gleich zur Sache: »Also, wir wollen hier Tacheles reden: Ihnen gehört das Haus nicht.« Nach Auskunft seiner Rechtsabteilung sei der Kauf nicht bis zum Stichtag - dem der Wiedervereinigung - ins Grundbuch eingetragen worden. Er könne nichts dafür, den Einigungsvertrag habe er schließlich nicht unterzeichnet, und wenn ich damit nicht einverstanden sei, könne ich mir ja einen Anwalt nehmen und das Land Berlin auf Entschädigung verklagen.
Ich lief aus dem Saal, ließ die Besucher zurück. Höflichkeit und Etikette waren mir in diesem Moment egal - ich fühlte mich an das Jahr 1974 erinnert: Du wirst enteignet, hier geht nichts mehr, dachte ich. Meine Nerven lagen ohnehin bloß: Der Neonazi-Überfall steckte mir noch in den Knochen, und, viel wichtiger, der Mensch, der mir am meisten bedeutete, war wenige Wochen zuvor gestorben: meine Mutter.

Obwohl ich wußte, daß dies der Lauf der Natur ist, weil jede Blume irgendwann verblüht, fühlte ich Leere nach ihrem Tod, war tagelang gebrochen. Ein wenig tröstete es mich, daß sie so friedlich eingeschlafen war.
Bis zuletzt hatte sie alles selbst gemacht, harkte den Garten, versorgte ihren Haushalt. Am Abend vor ihrem Tod besuchte ich sie. Sie war guter Dinge und munter wie immer. Am Ostersonntag 1991 ging sie mit der Bemerkung, ihr sei nicht gut, in das Zimmer ihrer Tochter, setzte sich aufs Bett und legte sich hin. »Soll ich einen Arzt holen?« fragte meine Schwester besorgt. »Nein, nein, ist gleich wieder vorbei«, antwortete meine Mutter bescheiden. Innerhalb von zehn Minuten entschlief sie.
Nie hatten wir eine Auseinandersetzung gehabt, wir verstanden uns blind. Oft, wenn ich etwas aussprach, lachte sie: »Das wollte ich auch gerade sagen!« Als ich vierzig wurde, meinte meine Mutter: »So gerne ich dich um mich habe«, dabei setzte sie sich zu mir an den Tisch, »eigentlich bist du jetzt in einem Alter, in dem du heiraten könntest.« Meine Antwort ließ sie schmunzeln: »Ich bin meine eigene Frau.«

Innerlich völlig aufgewühlt, wollte ich in den Keller, wo Beate mit einer Bekannten saß. Ich schaffte es nur bis zur Hälfte der Treppe, meine Beine sackten mir fast weg, ich mußte mich am Geländer festhalten. »Wißt ihr, wer da ist?« rief ich zitternd: »Maurer.«
Mit Beate zurück in den Saal. Dort wiederholte der Museumsreferent den Sachverhalt, und mir wurde plötzlich schlecht. Kringel tanzten vor meinen Augen, und ich glaubte mich einer Ohnmacht nahe. Ich mußte mich im Nebenzimmer hinlegen. Professor Bothe machte der Runde zaghaft den Vorschlag, sich doch besser zu verabschieden, drang aber nicht durch.

Als ich mich gesammelt hatte, hörte ich nebenan Gewisper und Stimmengesumm wie von einem Schwarm Mücken. Sitzt der Kerl etwa immer noch da? zürnte ich, stand im Nu wieder auf den Beinen, kramte in meinen Schränken, holte das Protokoll von 1974, wetzte in den Saal und polterte los: »Genosse Maurer«, sagte ich, »der Sie dieses Museum beseitigen wollten, schämen Sie sich nicht, sich an diesen Tisch zu setzen?« Meine Wut war ganz auf ihn gerichtet: »Soll ich Ihnen vorlesen, was Sie am 1. Februar 1974 über mich und dieses Museum gesagt haben?« Keine Reaktion, er guckte nur nach unten - klein und geduckt. Ein Mann von Charakter, freilich keines guten. Mit so dickem Fell, daß er ein Rückgrat offensichtlich nicht mehr benötigte. Ein Mitläufer.
Er hätte dem Museumsreferenten im Vorfeld erklären können, daß es vielleicht besser wäre, nicht mit nach Mahlsdorf zu fahren; seine Tage als Leiter des Märkischen Museums waren ohnehin gezählt.
Und selbst wenn er erst in diesem Moment ein Wort der Entschuldigung gefunden hätte, ich wäre der erste gewesen, der es angenommen hätte. Aber nein: Verstockt wie ein luftgetrockneter Fisch saß er auf seinem Stuhl.
Ich sah rot, die Sicherungen brannten mir durch, ich riß die Flügeltüre auf und schrie: »Raus, ihr Schweine!« Alle schauten sich betreten an, erhoben sich. Die Mappe mit dem Protokoll von 1974 in meiner Hand, war ich fest gewillt, sie Maurer um die Ohren zu hauen. Da faßten mich Beate und Silvia, die genau wissen, wenn bei mir der Topf überkocht, links und rechts an den Armen, so daß ich nicht mehr fuchteln konnte. Und je mehr ich fuchteln wollte, desto fester wurde ihr Griff.
Einzig Professor Bothe blieb zurück. Er hatte von den ganzen Auseinandersetzungen in der Vergangenheit und Maurers Ränken nichts gewußt. Bothe war betroffen, fühlte mit mir, war ein Mensch.

»Mich hält hier gar nichts mehr, es gibt tolerantere Länder, die sich freuen würden, wenn ich mit meinem Museum käme. Holland und Dänemark zum Beispiel«, erklärte ich einige Tage später öffentlich, und das tat seine Wirkung.
Das sind die verrückten Berfeldes: Mit Gewalt erreicht man bei mir gar nichts, mit Freundlichkeit - fast - alles. Der Senat zeigte Verhandlungsbereitschaft.

Wir leben von meinen sechshundertachtundfünfzig Mark Rente und dem, was die Besucher spenden. Ich brauche kein Direktorengehalt. Ich habe mein ganzes Leben bescheiden gelebt, eigentlich fast unter der Armutsgrenze. Hauptsache Pflaumenmus, weißer Käse, Kartoffelsalat und ab und zu Fisch. Mehr nicht. Ich habe meine Freude, und es ist mir viel größerer Lohn, wenn im Jahr rund sechstausend Besucher durch die Zimmer gehen und sagen: »Ist das schön!« Denn das ist es: spaßig, traurig und schön. Und ein bißchen humorig, ein bißchen anrührend und ein bißchen bildend.
Fünfundzwanzig Jahre habe ich in diesem Haus allein gelebt. Jetzt sind wir ein Dreierteam, eine Homokommune. Beate ist neun Jahre hier, ihre Frau Silvia - am 20. August 1992 haben sie sich von einem dänischen Pfarrer trauen lassen - fünf. Zu dritt werden wir dieses Museum weiterführen und erhalten. Daß das Museum in unserer Hand bleibt, hat uns der Senat inzwischen zugesichert.

Ich komme so langsam in ein Alter, in dem man sich ein wenig ausruhen möchte. Aber einige Pläne haben wir noch und hoffen, sie mit Unterstützung des Senats realisieren zu können: Das Dach und der Keller müssen saniert, die Hausfassade restauriert werden; aus dem Garten wollen wir ein kleines Freilichtmuseum machen und die Freitreppe zur Parkseite historisch getreu rekonstruieren.

28.

Es ist mir eine große Freude und Ehre, Ihnen im Namen des Herrn Bundespräsidenten in Anerkennung Ihrer um Volk und Staat erworbenen besonderen Verdienste das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland auszuhändigen. Bitte setzen Sie sich wegen der Terminabsprache mit meinem Vorzimmer in Verbindung.«
Der Brief des Kultursenators mit dem lakonischen Schlußsatz flatterte völlig unvermittelt Ende Juni 1992 ins Haus. Werde ich auf meine alten Tage also noch ausgezeichnet, sinnierte ich und mußte etwas schmunzeln, weil ich mir ein bißchen ulkig vorkam. Aber eine schöne Geste ist es. Das wäre zu DDR-Zeiten nie möglich gewesen.
»Sie arbeiten ja nicht« war mir am 1. Februar 1974 in der Verhandlung beim Magistrat ins Gesicht gesagt worden. »Ach, was ich mache, ist keine Arbeit?« - »Nein!« -»Na, dann kommen Sie mal eine Woche nach Mahlsdorf zum Putzen - von allem anderen ganz zu schweigen -, dann wissen Sie, was hier alles zu tun ist.« Die offizielle DDR hielt mich für »asozial«.

Als der Senator vorfuhr, stand ich in Schürze und mit mehreren Staubtüchern im Saal, um noch mal über die Stühle zu wischen.
Die Miene Ulrich Roloff-Momins, des Berliner Kultursenators, der zunächst die Hände in seinen Hosentaschen vergraben hatte und sich mit leicht herabgezogenen Mundwinkeln die Kronleuchter betrachtete, hellte sich zunehmend auf, und er war sehr interessiert, als ich ihn durch meine Sammlung geleitete. Etwas Freude machte ihm, das war mein Eindruck, meine Privatführung wohl auch. Im Damensalon nahm er mich liebenswürdig beiseite: »Ich hätte es viel schöner gefunden, wenn die Urkunde auf den Namen >Charlotte von Mahlsdorf< ausgestellt worden wäre.« In Bonn hatte man in das Schriftstück meinen bürgerlichen Namen eingetragen.
Der Senator fand anerkennende Worte des Dankes, ohne zu lobhudeln, und damit hatte er meinen Geschmack getroffen: eine einfache Ansprache, ohne Überschwang, aber von Herzen kommend.

Die Verleihung war lediglich die Ouvertüre zur Krönung meiner schwierigen Arbeit. Vier Tage später erhielt ich den langersehnten Brief vom Amtsgericht Schöneberg: Der Eintrag ins Grundbuch sei jetzt rechtskräftig. Seit dem 17. August 1992 bin ich Eigentümer des Hauses am Hultschiner Damm 333 in Berlin-Mahlsdorf.
Ich bin ein Optimist, glaube an das Gute, auch wenn es manches Mal lange dauerte, bis es eintrat. Das hat mich oft am Leben gehalten. Der Berliner Senat wird sich, da bin ich sicher, für unser Museum engagieren. Schließlich wird die Stadt irgendwann einmal alles erben, denn wir können nichts mitnehmen ins kühle Grab - das letzte Kleid hat keine Taschen. Die Stadt Berlin hat mit diesem Haus und dem Museum ein kleines goldenes Ei. Sie muß es nur ein bißchen putzen. Solange ich lebe, besorge ich das natürlich.
»Kinder, geht nicht verschlossen wie ein Koffer durch die Welt! Ihr müßt alles in euch aufnehmen: die Menschen, die Natur, die Häuser«, ermunterte uns mein guter Lehrer immer. Ich habe das beherzigt und im Geiste alles aufgenommen in diesen hundertzwanzig Jahren - denn eigentlich lebe ich ja seit der Gründerzeit.