Autobiografische Eintragungen 16 - 19

16.

Seit 1963 steht das Prunkstück meiner Sammlung im Keller meines Mahlsdorfer Gutshauses, die »trockenste Kneipe« Berlins. Ich fuhr in die Mulackstraße im Scheunenviertel, um aus der »Mulackritze« Möbel zu erwerben. Daß ich in eine der berühmtesten Kneipen des alten Berlins gerufen worden war, ahnte ich noch nicht, als ich durch die schmalen Rinnsale der Straßen ging, die trotz ihrer abgetakelten Hausfronten, trotz der winzigen Ladenlokale und trotz der großen abgeblätterten Stellen Putz einen für mich wohltuenden Kontrast darstellten zur Monstrosität des nahen Alexanderplatzes.

Im Scheunenviertel kriegte man immer schon schneller eins in die Fresse als im übrigen Berlin. Kaschemmen, Kneipen und Kramläden, Huren, Luden, Trödler und kleine Ganoven bestimmten hier seit der Jahrhundertwende das Bild. Viel früher standen in dieser Gegend die Scheunen der Berliner Ackerbürger, daher der Name des Kiezes. Als ein Kurfürst entschied, daß die Scheunen gefälligst vor die Tore der Stadt gehörten, entstand hier das Scheunenfeld, ein Gassengeviert aus siebenundzwanzig Speichern. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts mußten die Scheunen Wohnbauten weichen, engen verwinkelten Häusern, gelegen in winzigen Gassen.
Wie in kaum einem anderen Stadtteil hatten die jeweiligen Machthaber versucht, diesem Ur-Berliner Viertel ihren Stempel aufzudrücken - vergebens. Schon Kaiser Wilhelm II. wollte das Quartier komplett abreißen lassen, so sehr waren die engen Gassen mit ihren winzigen Höfen und den miserablen Wohnungen und Kellerverliesen auf den Hund gekommen. Vollgepackt mit Menschen tobte sich im Gassengewirr Leben in Reinkultur aus. Huren und ihre »Beschützer« schlürften in den Kneipen - fast alle ohne Konzession - ihre Bouillon gemeinsam mit Bürgern und Arbeitern aus der Nachbarschaft.

Nach dem Ersten Weltkrieg tobte hier jemand anderes: Der sozialdemokratische »Bluthund« Gustav Noske hatte nach dem sogenannten »Spartakusaufstand« die Bewohner des Kiezes zum Abschuß freigegeben. Oberst Reinhard, Befehlshaber der Berliner Truppen mit dem sinnigen Spitznamen »Schlächter von Berlin«, trug die Offensive zur Rückeroberung der Straßen um den Alexanderplatz vor. Den Schießbefehl Noskes - »Jede Person, die mit Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen.« - erweiterte der forsche Oberst noch: »Ferner sind aus Häusern, aus welchen auf die Truppen geschossen wurde, sämtliche Bewohner, ganz gleich, ob sie ihre Unschuld beteuern oder nicht, auf die Straße zu stellen und in ihrer Abwesenheit die Häuser nach Waffen zu durchsuchen; verdächtige Persönlichkeiten, bei denen tatsächlich Waffen gefunden werden, sind zu erschießen.« In den engen Gassen des Scheunenviertels wurden die probaten Mittel aus der Feldschlacht des Ersten Weltkrieges eingesetzt: von Flammenwerfern über Tanks bis zu schweren Haubitzen. Man kann sich vorstellen, was das für den überfüllten Kiez bedeutete. Vor den Szenen, die sich aufgrund dieses wahnsinnigen Befehles im März 1919 in den Straßen um den Alexanderplatz abspielten, zieht man auch heute noch am besten einen Vorhang.
Aber das Scheunenviertel behauptete sich, und auch die Bestrebungen in der Weimarer Republik, Licht und Luft ins Scheunenviertel zu bringen - was letztlich seine Zerstörung bewirkt hätte - blieben auf halbem Wege stecken.
Ost-Juden kamen ins Scheunenviertel. Das Leben, das fast ausschließlich auf der Straße stattfand, veränderte sich. Zur Unter- und Halbwelt gesellten sich fliegende jüdische Händler mit langen gedrehten Schläfenlocken, Kopfbedeckungen und ausladenden Kaftanen, die, Kleider über dem Arm, durch die Menge strichen, bald hier, bald dort Anpreisungen flüsternd.
Neben den Parolen für Liebknecht und Luxemburg tauchten in den zwanziger Jahren immer mehr »Heil Hitler«-Schmierereien auf. Nach der »Machtergreifung« versuchten die Braunen ihrem Märtyrer, dem Sturmführer und Zuhälter Horst Wessel, mit einem Horst Wessel-Haus, einer Horst-Wessel-Straße und einem Horst Wessel-Theater ein Denkmal zu setzen.
Am Abend des 14. Januar 1930 hatte sich die Witwe, bei der Wessel wohnte, gegenüber einer KPD-Bereitschaft über ihren Untermieter beschwert. Er habe eine Hure, die für ihn laufe, bei sich einquartiert, weigere sich aber, zusätzliche Miete zu bezahlen. Das Rollkommando mit »Ali« Höhler aus der Mulackstraße an der Spitze zog los, um dem braunen Laiendichter eine Abreibung zu verpassen. Es kam zu einem Handgemenge, in dessen Verlauf Höhler, Zuhälter und Mitglied des Ringvereins »Immertreu«, Wessel erschoß. Als dieser einen Monat später seinen Verletzungen erlag, erklärte der Gauleiter von Berlin, Joseph Goebbels, den Dreiundzwanzigjährigen zum Erlöser. Dessen Lied »Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen« wurde zur zweiten deutschen Nationalhymne im Dritten Reich, Ali Höhler - zu sechs Jahren für seine Tat verurteilt -an die SA ausgeliefert und von den Braunhemden viehisch umgebracht.

»15 Gastwirtschaft 15« stand in großen Stucklettern quer über die Hausfront der Mulackstraße 15, als ich der Kneipe 1960 meinen ersten Besuch abstattete. Die letzte Wirtin des Lokals kam mir entgegengeschlurft. Das früher ungebändigte schwarze, fast afrikanische Haar ergraut, dünn und splissig, schaute sie mich durch ihre dicken Brillengläser an und begrüßte mich: Minna Mahlich, verhärmt und von ihrem Schicksal gezeichnet, und wären nicht ihre dunklen, klaren Augen gewesen, unverhohlen neugierig und sprühend von Leben, ich hätte sie für eine Trümmerfrau gehalten.
Ich kaufte eine Standuhr, Tische und Stühle, eine Kredenz und ein Büffet. Die Geschichte des Hauses interessierte mich, und Minna Mahlich legte los. 1770 erbaut, war es bis 1952 eine Gastwirtschaft gewesen. In den zwanziger Jahren hatte »Sodkes Schankwirtschaft«, so der offizielle Name, viele illustre Gäste: Henny Porten drehte hier 1920 den Film: »Das Mädchen aus der Ackerstraße«, einen Milieufilm aus dem alten Berliner Scheunenviertel. 1929 wurde dann auch in den Stuben gedreht: »Mutter Krausens Fahrt ins Glück«, ein Film über das Schicksal einer armen Berliner Proletarierfamilie unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg.
Künstler, Schauspieler und Literaten zischten in den Zwanzigern hier ihre Molle, denn die Mulackritze war ein sogenannter »doller Laden«. Zwischen den Ganoven, Strichern und Nutten bewegte sich alles, was im Bohemien-Berlin von sich reden machte: Fritzi Massary, die Grande Dame der Berliner Bühnen, Claire Waldoff, Max Pallenberg, Bertolt Brecht, der auch nach dem Krieg Gast im Lokal war, Hubert von Meyerinck, Gustaf Gründgens, Paul Wegener, Wilhelm Bendow, Siegfried Breuer und die göttliche Dietrich, damals noch eine pummelige, unbekannte Schauspielerin.
Hier verkehrte die in den zwanziger Jahren bekannte Sängerin Isa Vermehren, die, nur weil sie lesbisch war, von den Nazis inhaftiert und in das Frauen-KZ Ravensbrück verschleppt wurde. Glücklicherweise kam sie 1945 frei und trat wieder in der Kneipe auf, mit Schifferklavier und Knabenstimme ihre Couplets singend. Sie lebt noch heute, die steinalte Dame hat inzwischen die hektische Atmosphäre zugunsten eines abgeschiedenen Klosters aufgegeben.
Heinrich Zille zeichnete sein Berliner »Milljöh«, das er im Scheunenviertel gefunden hatte, in der Mulackritze. Seine kleine Tochter wippte währenddessen auf dem Schoß irgendeiner Hure oder eines Zuhälters. Jahrzehnte später besuchte sie erneut die Mulackritze, diesmal im Keller meines Gründerzeitmuseums. Hochbetagt, aber rüstig stand Margarete Köhler-Zille vor der Theke, ihre Hände streiften das Thekenblech, und glänzenden Auges erzählte sie mir, daß sie an heißen Tagen, während ihr Vater in der Ecke am Tisch saß und zeichnete, ihre Nase an der Rille des Blechs gekühlt habe.
Schon zu Kaisers Zeiten verkehrte der berühmte jüdische Sexualforscher Magnus Hirschfeld in der Mulackritze. Denn bereits unter Wilhelm II. war die Kneipe ein Dorado für Schwule, Lesben und Transvestiten. Zeitweilig tagte dort die »Dienstagsgesellschaft« für Frauen in Männerkleidern und die »Donnerstagsgesellschaft« für Männer in Frauenkleidung ebenso wie die Spar- und Ringvereine »Immertreu« und »Felsenfest«. Bis zu acht Huren liefen für den Laden und hatten oben in der Dachkammer ihre »Arbeitsmöglichkeiten«.
Bei handfesten Keilereien flogen Stühle und Biergläser durchs Lokal. Der besonders brutale »reisende Arthur«, mit Händen wie Klosettdeckel, schoß 1907 die blutjunge Ida Krüger nieder, weil sie ihren Animierverdienst nicht mit ihm teilen wollte. Dank ihrer dicken Korsage überlebte sie.
Der Spar- und Ringverein »Immertreu« wechselte in den zwanziger Jahren die Kneipe, zog von der Mulackritze in eine Kaschemme in die Breslauer Straße 1. Einmal begossen sie, in Frack und Zylinder, die Beerdigung eines Vereinsbruders. Damals wurde unter der Frankfurter Allee die U-Bahn gebaut. Die Zimmerleute vom Bau gingen nach Feierabend in eben jene Kneipe, wo die Sparvereinsleute saßen. Die Immertreuen, durchaus nicht zimperlich, wenn es ans Austeilen ging, waren sehr empfindsam, wenn sie sich in ihrer Ehre angegriffen fühlten.
Als ein besonders forscher Zimmermann den Chapeau claque, einen zusammenklappbaren Zylinder, eines würdig Trauernden mit der Faust brachial bearbeitete und das gute Stück verbeult auf dem Haupt des Immertreuen lag, folgte eine veritable Holzerei. Ging zunächst das gesamte Kneipenmobiliar zu Bruch - der Pianospieler rückte das Klavier von der Wand ab, um sich dahinter vor den umherfliegenden Gläsern, Flaschen, Stühlen, Tischbeinen und später ganzen Tischen zu schützen -, verlagerte sich die Keilerei mehr und mehr auf die Straße, als die »Blauen« kamen, die gesamte Breslauer Straße abriegelten und sich frisch ins Getümmel stürzten. Niemand konnte mehr Freund und Feind auseinanderhalten, zumal auch Bewohner der angrenzenden Häuser die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, mal wieder richtig Bambule zu machen. Selbst die Huren ließen sich nicht lange bitten und schmissen aus den oberen Stockwerken, wo sie sich ihre kleinen Liebeskammern eingerichtet hatten, Blumentöpfe hinunter, auf daß das muntere Treiben nur ja nicht abflaue. Als keine Töpfe mehr aufzutreiben waren, verfielen die Damen auf eine neue, würzigere Idee: Sie leerten ihre gefüllten Nachttöpfe über den Köpfen der Randalierer. Bis in die sechziger Jahre sprachen die Leute von dieser Straßenschlacht als der imposantesten, die Berlin je gesehen hat.

Insgesamt blieb Gewaltkriminalität aber die Ausnahme. In der Regel wurde jemand, der sich Unbotmäßiges geleistet hatte, »hinten ohne« über einen Kneipentisch gelegt, und alles hatte seinen Spaß, mal ordentlich draufzuhauen.
Oben in der Dachkammer praktizierte man auf Wunsch »Liebe und Hiebe«, SM-Sex, mit Peitsche oder Rohrstock auf entsprechenden Böcken. Hier konnte, in Abwandlung des geflügelten Wortes Friedrichs des Großen, jeder nach seiner sexuellen Facon selig werden, und diese Freizügigkeit reizte offensichtlich den wackeren Forscher Magnus Hirschfeld.
Die Szenerie der Mulackritze bot dem Mann, der mit seinen klugen, wohlwollenden Augen und seinem hängenden Schnurrbart aussah wie ein hilfsbereiter Großvater, genügend Studienmaterial für seine aufklärerischen Bücher.
Ich verdanke Magnus Hirschfeld sehr viel, obwohl ich ihn nie persönlich kennenlernte. Seine Bücher gaben mir die Gewißheit, daß ich als Transvestit nicht allein auf der Welt war. Hirschfeld war der Erfinder des vielleicht falschen, aber zumindest epochemachenden Terminus vom »dritten Geschlecht«, als das er die Homosexuellen bezeichnete. Der Experte der Sexualpathologie und Sachverständige in vielen Prozessen hatte es sich zur Aufgabe gemacht, mittels seiner Forschungen den Beweis anzutreten, daß das, was von weiten Teilen der Gesellschaft als »pervers und entartet« angesehen wurde, nicht dazu verdammt werden dürfe, in Kerker gesperrt zu werden, daß es nicht kriminell, sondern vielleicht krank, vielleicht auch nur »anders als die anderen« sei. Sein Lebenswerk war, wie immer man heute zu seinen Thesen stehen mag, vom Geist großer Humanität erfüllt, und neben Forschergeist gründete sich sein Schaffen auf die tiefe Sympathie für alles Menschliche. Unnötig zu betonen, daß die Nazis ihn für ein »altes Schwein« hielten und seine Bücher auf dem Scheiterhaufen loderten -und nicht nur sie: Auch eine Puppe, die Hirschfelds Züge trug, flammte an jenem Maiabend des Jahres 1933 auf dem Bücherscheiterhaufen in Berlin auf. Goebbels und seine Schergen ließen keinen Zweifel daran, was Hirschfeld geschehen wäre, hätte er sich nicht gerade auf Weltreise befunden, als die Nazi-Barbarei einsetzte. So konnte er bis an sein natürliches Lebensende im Jahre 1935 noch zwei Jahre an den Stränden des Mittelmeeres entlang flanieren.

Das Lokal war unter seinem vorletzten Wirt Fritz Brandt, dem die Mulackritze von 1921 bis 1945 gehörte, bis zuletzt eine Schwulen-, Lesben- und Transvestitenkneipe geblieben. Tauchten während der Nazizeit Leute auf, die man nicht kannte und die verdächtig nach Spitzeln aussahen, legte Fritz Brandt eine Nazi-Platte aufs Grammophon, so daß alle gewarnt waren und sich nicht verplapperten.
Fritz Brandt hatte Mut und Courage. Ohne Bildung zwar, aber von schöner menschlicher Gesinnung. Da er verheiratet war, hätte er in der Nazizeit die Nutten, Schwulen und Transvestiten rausschmeißen und aus der Mulackritze ein »anständiges« Lokal machen können. Aber nein, Opportunismus war seine Sache nicht. Sein Herz gehörte den Huren, den Schwulen, den Lesben und den Transvestiten. Im Kiez hielt man zusammen. Und nicht nur das: Ein letztes Häuflein Transvestiten, die, wollten sie überleben, nur untertauchen konnten, fütterte er im Krieg persönlich durch. Polizeilich nicht mehr gemeldet, kamen sie an keine Lebensmittelkarten mehr heran, und so servierte der Mulackritzenwirt ihnen im Hinterzimmer Stammessen, meist Kohlrübeneintopf, die im Krieg nur fünf Groschen kosteten. Nach Ladenschluß verdienten sich die Transvestiten als Küchenmädel oder Putze Geld bei diesem kleinen Helden, dem niemand ein Denkmal setzte. So blieben sie nicht nur am Leben, sondern bewahrten sich auch ihre Menschenwürde.
Dieses »abartige« Tun, nämlich den nach Lesart der Braunhemden »menschlichen Abschaum« vor dem Zugriff zu verbergen, war lebensgefährlich für Fritz Brandt, und es geheim zu halten, nicht einfach, denn vor allem in den letzten Kriegsjahren veranstaltete die SS oft Razzien im Scheunenviertel. Selbst die Ruinen und Luftschutzkellerdurchbrüche suchte sie mit Hunden ab, nach sogenannten »Wehrkraftzersetzern« und Deserteuren fahndend.
Da außer dem Bierlager kein weiterer Kellerraum in der Mulackstraße 15 existierte, konnte man von den Nebenhäusern aus nicht in das Lokal eindringen. So reichte es, die Straße unter Beobachtung zu halten. Für den Fall der Fälle hatte Fritz Brandt Vorsorge getroffen und jemanden engagiert. Rückte SS an, stieß der Späher auf seinem Schlüssel einen gellenden Pfiff aus. Dann rafften die Transen die Röcke, stiegen auf den Müllkasten, huschten über die Mauer, erklommen das Schuppendach, und von da war es nur noch ein Katzensprung über ein weiteres Stallgebäude bis zum Garnisonsfriedhof. Dort befand sich ein Mausoleum, in dem sich die Frauen im Männerkörper, die nie eine Waffe in die Hand genommen hätten, verstecken konnten. Und so überlebten viele, die ohne den couragierten Wirt ein Rauch gewesen wären im Wind von Auschwitz: die schöne Vera, zerbrechlich wie eine Glasblume, oder Ruth mit dem braunen, glänzenden Haar, den kirschfarbenen Lippen und dunklen Sherry-Augen.

»Ist noch etwas von der Gaststube zu sehen?« fragte ich Minna Mahlich. Alte Gastwirtschaftseinrichtungen, das Fluidum aus dem Duft Tausender von Zigaretten, vermischt mit Bratengeruch und Bierdunst, hatten mich schon immer fasziniert. Dies alles prägte die Gastwirtschaft, zusammen mit der Musik, die aus dem alten Grammophon plärrte. »Ja, die Gaststube kannste sehen, die is noch da.« Sie holte den Schlüssel und, die Gaststube war ohne elektrisches Licht, einen alten emaillierten Leuchter. Spinnweben hingen von der Decke bis zur Theke. Vor ihr stapelten sich Preßkohlen: Die Kneipe war inzwischen zum Kohlenlager degradiert. In der Mitte stand ein Hauklotz, um ihn gespaltenes Holz, aber die alten Flaschen und Gläser reihten sich fein säuberlich in den Regalen hinter dem Tresen, selbst das Grammophon stand noch auf dem Schanktisch, und der Regulator hing an der Wand. Das »Tanzen verboten«-Schild, das Fritz Brandt angebracht hatte, um Musiksteuer zu sparen, hing ebenso wie die Hurenverbotstafel: »Protistuierten ist der Eintritt in dieses Lokal verboten.« Fritz Brandt hatte die Orthographie nicht ganz beherrscht. Darunter kam der Nachsatz und eigentliche Witz: »laut Polizeiverordnung«. Damit wußten die Mädchen, daß der Wirt nichts dagegen hatte. Ein weiteres Schild verbot das »Klammern«, eigentlich »Klaverjas«, ein jüdisches Kartenspiel. Neben dem Trichtergrammophon stand der alte Hungerturm, die Bulettenvitrine, in der aufgestapelt war, was das Magenknurren vertrieb, Soleier, Rollmöpse und und und. Ein Pfefferkuchenherz aus Gips, ein Reklameschild, deutete daraufhin, daß die Kneipe Vollkonzession besaß: Hier konnten die Gäste sogar Kuchen mampfen. Ich betrachtete die aufgehängten Bilder und Bierreklameschilder und jubelte: »Die ganze Einrichtung ist ja komplett Neorenaissance, schätzungsweise 1890.« -»Det haste jeraten, jenau 1890 sind de Möbel jemacht.«
Diese echte Berliner Gastwirtin mit Witz und Humor hatte sich ihre Kodderschnauze weder von den Nazis noch von den SED-Genossen rauben lassen. Minna Mahlich war eine geborene Levinthal. Nur weil ihr Mann Alfred, ein sogenannter Arier, ihr die Treue hielt, hatte sie das Nazi-Reich überlebt.
Die nationalsozialistischen Behörden, Gestapo und Polizei hatten ihn ohne Ende schikaniert: »Lassen Sie sich endlich von Ihrer ollen Stinkjüdin scheiden, und heiraten Sie ein arisches Mädchen«, knurrten sie ihn an. Er aber hatte die Unerschrockenheit zu sagen: »Wissen Sie, das müssen Sie schon mir überlassen. Ich habe meiner Frau am Altar die Treue geschworen, und die werde ich halten.« Ein wahrhaft christlich gesonnener Mann mit Mumm.
Bevor der Krieg anfing, servierten die Mahlichs gemeinsam in der Mulackritze. Nach der sogenannten »Reichskristallnacht« 1938 war es Minna Mahlich verboten, im Lokal zu arbeiten, und sie hatte Glück, daß ihr Mann den Krieg überlebte. Wäre er gefallen, hätte man sie sofort in ein KZ verschleppt. Kurz nach Kriegsende starb Fritz Brandt, Minna Mahlich pflegte ihn bis zuletzt, so gut es ihr möglich war. Im Krieg war sie zu Zwangsarbeit abkommandiert, mußte auf dem Lehrter Güterbahnhof Zementsäcke, Kohlen und zentnerschwere Kartoffelsäcke schleppen. Sommers wie winters, bei Tag und bei Nacht. Besonders gemein und niederträchtig war, daß die jüdischen Frauen während der Arbeit keine Mäntel tragen durften, selbst bei starkem Frost nicht.
Aber Minna Mahlich hielt durch, und 1945 übernahm sie mit ihrem Mann die Kneipe. Es dauerte nicht lange, und die alten Gäste waren wieder da: Film-, Rundfunk- und Theaterleute, Schwule, Lesben, Transvestiten und Huren. Es durfte wieder getanzt werden zu Grammophon oder Pianola. Doch die Ruhe vor der Behördenwillkür war trügerisch und sollte nicht lange währen. Noch bevor der Staat DDR gegründet war, fingen neue Querelen an. Eines Tages, die übliche Kundschaft hockte in der Kneipe, erschien ein Vertreter des Bezirksamts Mitte und erklärte mit krächzender Stimme: »Frau Mahlich, wenn Sie die Nutten, Lesben und Schwulen nicht rausschmeißen, entziehen wir Ihnen die Schankkonzession und machen den Laden dicht.« Minna Mahlich, hinter ihrer Theke stehend, brauste auf: »Dat müßt ihr jerade mir sagen, mir, als Opfer des Nationalsozialismus. Ick denke, die Zeiten sin vorbei.«
Die Zeiten waren zwar vorbei, doch die neuen Herren hatten ihre eigenen Ansichten von Sitte und Anstand. Sie strichen ihr zunächst die »Opfer des Faschismus«-Rente, mehr als vierhundert Mark monatlich, und entzogen ihr am 26. Februar 1946 die Schankerlaubnis. Erst nach Widerspruch und Einschaltung der russischen Kommandantur bekam Minna Mahlich Anfang März Bescheid, die Schliessungsverfügung sei aufgehoben. Aber das Wirtschaftsamt gab sich damit nicht zufrieden, bearbeitete offensichtlich die russische Kommandantur, und mit Datum vom 23. März 1946 flatterte erneut ein Schreiben vom Bezirksamt Mitte in die Mulackritze. In kaum verhülltem Triumph wurde dort verkündet, daß der russische Kommandant inzwischen die Schließungsverfügung bestätigt habe.
Nur durch einen Zufall wurde dieser Bescheid später aufgehoben. Das Ost-Berliner »Antifaschistische Widerstandskomitee« hatte Minna Mahlichs Bruder zu einer Tagung eingeladen. Dr. Max Levinthal aus Brüssel war Mitbegründer der dortigen Resistance. Als er sich beim Magistrat für seine Schwester einsetzte, fürchtete man dort, peinlich berührt, das antifaschistische Renommee könne Schaden nehmen. Minna Mahlich erhielt erneut die Schankkonzession, die Rente freilich bekam sie erst wieder ab Zustellung des Bescheides ausbezahlt und nicht rückwirkend, wie es rechtens gewesen wäre. Auch versäumte man nicht, ihr für die wiedererteilte Schankerlaubnis eine Verwaltungsgebühr von einhundert Reichsmark aufzubrummen.
Ein paar Jahre herrschte Ruhe, aber dann folgte ein Lehrstück aus dem stalinistisch-bürokratischen Gruselkabinett. Die Volkspolizei wurde auf das Lokal angesetzt, und schnell war das Verdikt gesprochen: »Da Sie auf Grund polizeilicher Ermittlungen nicht mehr die persönliche Zuverlässigkeit, die zur Führung eines Gaststättenbetriebes erforderlich ist, besitzen«, sehe man sich veranlaßt, die Gewerbeerlaubnis mit sofortiger Wirkung zu widerrufen, hieß es in einem Brief vom 10. Oktober 1951. Da die Gewerbeerlaubnis vom Polizeipräsidenten entzogen worden sei, könnten keine Rechtsmittel eingelegt werden, endete das Schreiben höhnisch.
Was mit »persönlicher Zuverlässigkeit« gemeint war, lag auf der Hand: Huren, Schwule und Lesben in seinem Lokal zu dulden war nach Lesart des SED-Staates ein derartig unsozialistisches und unsittliches Treiben, daß sofort eingeschritten werden mußte: Gefahr im Verzuge. Der Mulackritze folgten einunddreißig weitere Kneipen der Spandauer Vorstadt. Praktisch über Nacht wurde der Kneipenkultur im Scheunenviertel der Garaus gemacht.
Der Magistrat hatte den Kiez stubenrein gemacht, damit seine Ruhe und war's zufrieden. Lediglich das Haus Mulackstraße 15 bekam eine zehnjährige Gnadenfrist.
Im zweiten Akt war man weniger gnädig. »Zur Erfüllung der mit dem Aufbau Berlins verbundenen Aufgaben wird Ihr im Aufbaugebiet von Berlin gelegenes Grundstück benötigt«, hieß es lapidar in einem Schreiben vom 24. Oktober 1961. »Aufbau«, das war im Wortgebrauch der Plattmachersozialisten die Verschandelung des Scheunenviertels mit Plattenbauten. Selbstverständlich hielt man die entsprechenden Paragraphen bereit, die im Dekretstil die Enteignung für rechtens erklärten. Die Abteilung Finanzen des Rates des Stadtbezirks Mitte nahm zunächst »in Anspruch« - nämlich das Haus -, danach »teilte man mit« — nämlich die Entschädigungssumme, die Mahlichs aufgrund des »Entschädigungsgesetzes vom 25. April 1960, das für Groß-Berlin übernommen« worden sei, zustehe: siebentausendsiebenhundert Mark. Für ein Haus, das fast zweihundert Jahre alt und dessen Bausubstanz tadellos in Ordnung war.
Der Vorhang zum dritten Akt hob sich im darauffolgenden Schreiben, in dem man Mahlichs mitteilte, daß sie ein Konto bei der Sparkasse der Stadt Berlin einzurichten hätten, auf das die Entschädigungssumme überwiesen werde. Über den Witzbetrag konnten Minna und Alfred Mahlich nicht in Gänze sofort verfügen - gestattet war ihnen lediglich, das Geld in Kleckerraten abzuheben.
Im Dezember 1963 schloß sich der Vorhang endgültig für das denkmalgeschützte Haus, in dem die letzte Zillekneipe Berlins beherbergt war: Es wurde abgerissen. Und bis heute, 1992, steht nur ein Eisenzaun, so breit wie das alte Häuschen, an seiner Stelle.

Als ich 1960 das erste Mal unten in der Gaststube stand und hellbegeistert von der wunderbaren Theke schwärmte, schaute sie mich mit ihren klugen Augen an und fragte mich nach meinem Namen. Ich antwortete: »Berfelde.« -»Na, du Quatschkopp«, lachte sie fröhlich, »ick will deinen Vornamen wissen.« - »Lothar.« Da guckte sie mich verschmitzt an: »Na, Lothar, du bist doch ooch am 17. 5. geboren«, eine Anspielung auf den damals noch gültigen Homosexuellen-Paragraphen 175. Das kam so spontan, daß mein Gesicht wohl die Farbe wechselte, sie aber lachte: »Brauchst jar nischt rot zu werden, gloob mir, ihr wart mir immer de liebsten Gäste, da jabs nie Randale.«
Auch männliche Stricher waren gern gesehene Gäste in der Mulackritze. Aus der Stein- oder der Linienstraße kommend, wo sie auf und ab liefen, wärmten sie sich zwischen Dirnen und »normalen« Gästen auf. Manchmal brachten sie ihre Freier gleich mit und ließen sich einladen.
Oben in der Kneipe lag die Giebelstube, im 18. Jahrhundert Soldatenstube, später Fremden- beziehungsweise Dienstmädchenzimmer. Als ich bei der Besichtigung des Hauses die schmale Treppe nach oben stieg und in die Giebelstube trat, sichtete ich einfache Fenster mit schmiedeeisernen Wirbeln. Das ist ja hübsch, dachte ich. Die alten Mullgardinen waren verstaubt und verschlissen, tote Fliegen lagen auf den Fensterbrettern, hier hatte jahrelang keiner mehr saubergemacht.
Zwei Betten standen links und rechts vom Fenster, darunter ein kleiner Tisch, links von der Tür ein kleiner Kanonenofen, daneben noch eine Chaiselongue. Minna Mahlich klärte mich rasch und unverblümt, wie es ihre Art war, über die letzte Funktion dieses pittoresken Stübchens auf: »Det war die Hurenstube. Immer in Betrieb. Unten dat Geschäftliche besprochen, schnell hoch, aufn halbes Stündchen, manche haben det ooch in zehn Minuten jemacht. Die beeden Betten waren belegt, meistens gleichzeitig. Jenauso die Chaise. Wat denkst denn du, da steht in der Ecke der Paravent, der läßt sich uffklappen, dann konnten die sich gegenseitig nicht mehr bejaffen. Die auf der Chaiselongue konnten allerdings alle beede sehen.« Minna Mahlich erzählte, bis ich rote Ohren bekam.

Da ich alles, was zum Lokal gehörte, beisammenhalten wollte, inspizierte ich das ganze Haus bis in den letzten Winkel. In einer der oberen Seitenkammern, mit kleinen Türen neben den Bettstellen, standen verschlissene Koffer und ein alter Holzbock. »Det is der Prügelbock, hier war doch ooch S/M-Betrieb. In dem schwarzen Koffer sin die Zuchtruten drin, hol ihn mal raus.« - »Den Koffer würd' ich gerne mitnehmen«, sagte ich schüchtern. Da guckte sie mich an: »Sei doch ehrlich, den Inhalt doch ooch. Det kannste dir allet mitnehmen, samt dem Prügelbock. Haste eigentlich schon mal mit soner Peitsche wat druffgekriegt?« fragte sie, wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern nahm die lange, kräftige Hundepeitsche raus. »Doch, doch, hab' ich schon«, stammelte ich. »Na denn, leg dir mal rüber übern Bock.« Minna Mahlich nahm Maß, ein Pfiff ging durch die Luft, es knallte auf meinen kurzen Lederhosen, als wäre ein Schuß losgegangen. »Na siehste, kannste allet noch jebrauchen«, lachte Minna Mahlich.
Ich war in eine Schwulenkneipe geraten, in der alles meiner Mentalität entsprach. Da gab es SM-Betrieb für Frauen mit Frauen, für Männer mit Männern, und natürlich für die Huren, die sich gegen Penunze den Hintern versohlen ließen oder aber, bei devoten Liebhabern, den aktiven Part übernahmen.

Während Mahlichs und ich die Lokalmöbel aufluden, spazierte auf der anderen Seite der Straße eine elegante Dame, langer taillierter Mantel, extravaganter Hut. An drei roten Leinen führte sie drei Pekinesenhündchen spazieren, die wie durcheinandergeratene Wollknäuel anmuteten. Mit einem Mal schrie Minna Mahlich quer über die Straße: »Na Vera, du Aas, du kennst wohl ooch keenen Menschen mehr?« Da drehte die Dame sich um, und die drei Hündchen kugelten ausgelassen über die Straße.
»Ach, das ist ja schade, daß das hier raus kommt«, flötete die zarte Person. »Det jeht allet nach Mahlsdorf«, sagte Minna, »er hier«, sie zeigte auf mich, »hat da ’n Museum.« - »Ach, da komm' ich auch mal hin.« Die Dame verschwand, und ich rätselte noch: der elegante Mantel, die hübschen Ohrringe und die Hündchen - sollte die mal in dieser Gegend für den Laden gelaufen sein?
»Die Dame isn Kerl«, sagte Minna trocken, als sie meine fragenden Augen sah. »Die schöne Vera«, fuhr sie fort, »is jahrelang für meinen Laden geloofen, schon seit dem fuffzehnten Lebensjahr. Verachen hatte immer zahlende Freier, hat det Jeld nie versoffen, und ihr Geschmeide, da täusch dich man nich, is allet echt. Sie war ne männliche Edelhure.«
Bis in die sechziger und siebziger Jahre wollte der SED-Staat die Schwulen loswerden, und so stand Vera eines Tages mit ihren Pekinesen am Grenzübergang Friedrichstraße, um in eine andere Welt zu ziehen, nach West-Berlin. Ihr gesamter Bekannten- und Freundeskreis stand in der Abfertigungshalle Spalier und brach in Ovationen aus. Sie schlugen Topfdeckel aneinander, manche bliesen auf dem Kamm: »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus«. Vera reichte einem Zöllner ihre Papiere, der sie aber nicht passieren lassen wollte. »Sie sind eine Frau, aber hier im Ausweis steht ein Männername. Wenn Sie ein Mann sind und Frauenkleider tragen, lassen wir Sie nicht durch.« Daraufhin darlingte Vera: »Auch wenn dir sowas sicher noch nie begegnet ist: Schätzchen, daran mußt du dich gewöhnen!« Der Zöllner, völlig verunsichert, holte einen Offizier, der mit Hundeführer und einer ganzen Meute Schäferhunde auftauchte. Sie forderten die Juhu-schreienden Tunten auf, die Halle zu räumen, wohl aus Angst, die Schwulen könnten die Barrieren umkippen. Belämmert ließen sie Vera schließlich durch.
Als ich »Auslandsreisen« in den Westteil der Stadt unternehmen konnte, wollte ich sie wiedersehen, doch ich kam zu spät. Spektakulär, grotesk, schauerlich und doch irgendwie alltäglich, fast so, wie viele Episoden ihres Lebens, war ihr Tod. Gerade den Haushalt gemacht, in Kleid und Kittelschürze, war Vera mit dem Mülleimer in der Hand die Treppe hinuntergestürzt und brach sich das Genick. Bis zuletzt war sie im Kleid gelaufen. Als Frau hatte sie gelebt, als Frau wurde sie begraben. Und viele liefen hinter ihrem Sarg her, fast so viele wie bei der Beerdigung von Elli aus der Bierbar.

Doch zurück zu Minna Mahlich, diesem Berliner Original. Schrillte im Gründerzeitmuseum die Hausglocke unmöglich, also mindestens fünfzehnmal, oder haute jemand zusätzlich einen Krückstock gegen die Eingangstür, wußte ich immer, wer davorstand: Minna. »Lottchen, mach uff, die Mählichen is da.« Manchmal nahm sie sonntags mittags an den Führungen teil, neben fünfundzwanzig anderen, und wenn wir die letzte Station, die Mulackritze, erreichten, stand sie oft auf, schnaufte Richtung Theke, fuhr mit dem Finger über das Blech und wieherte: »Lottchen, du Sau, hast wieder dat Thekenblech nich jeputzt.« - »Meine Herrschaften: historischer Moment. Das ist die letzte Wirtin der Mulackritze: Minna Mahlich«, rief ich in die erstaunte Besuchermenge, und alle klatschten.

Am 5. April 1971, wenige Jahre vor ihrem Tod, hatte Minna Mahlich ihren letzten Auftritt in der Mulackritze. Es war ihr siebzigster Geburtstag, ich hatte die Presse eingeladen, und auch ein Team des Berliner Rundfunks war gekommen, um Minna Mahlich zu interviewen.
Die Rundfunkleute fühlten sich, während das Tonband unschuldig seine Kreise drehte, zunehmend unwohler; die Gesichtsfarbe der Redakteure changierte von fleckigem Violett bis zu Aschgrau. Denn was sie nicht bedacht hatten: Minna Mahlich, rundlich hinter ihrer alten Theke die Szenerie beherrschend, erzählte die Geschichten aus dem Milieu genauso drastisch und ungeschminkt, wie sie geschehen waren. Unter anderem von der hübschen jungen Blondine, deren Liebhaber ihr im Séparée der Mulackritze den Rock hochgehoben hatte. »Und was wurde da sichtbar?« fragte Minna Mahlich, die damals auf dem Weg zur Küche einen Blick auf die von Blondine und Kunde besetzte Holzbank geworfen hatte, in die pikiert schweigende Journalistenrunde. Sie streckte ihre beiden Zeigefinger in einem Abstand von zwanzig Zentimetern in die Luft und prustete los: »Son Schwanz zwischen den Strapsen.« Entgeistert schauten sich die Rundfunkleute an. Natürlich konnte ein solcher Satz im real existierenden Sozialismus nicht gesendet werden, und als der Beitrag über den Äther ging, waren Minna Mahlichs deftige, dem Leben abgeguckte Schilderungen so zurechtgeschnipselt, daß auch Pastorentöchter ihre Freude daran haben konnten. Ach, was war man doch spießig anständig im »Sozialismus« - hier wurde Sex »altdeutsch« betrieben.

17.      Museum, Möbel, Männer. 1963 hatte ich einen Termin: Besichtigung einer Standuhr mit Säulen, Rosa-Luxemburg-Straße. Ich stieg am Alexanderplatz aus, und da begegnete er mir: sehr gutaussehend, groß, volles Haar, lange Sommerhosen, das Jackett lässig über dem Arm - ein maskuliner Adonis. Sein Alter war nicht genau auszumachen, wirkte er doch einerseits jung und elastisch, strahlte aber andererseits eine gewisse vertrauenerweckende Ruhe und feine Gelassenheit aus, wie gutmütige Menschen sie haben, die in Ehren ergraut sind. Er belegte mich mit einem Blick, der mir durch und durch ging. Ich hatte meine kurzen schwarzen Lederhosen an, Klapperlatschen, ging mit meinem Täschchen frohgemut aus dem S-Bahnhof und erstarrte. Ein Funke war übergesprungen, ich drehte mich nach ihm um, er drehte sich nach mir um und winkte mir zu. Ich war zwiegespalten: Soll ich die Uhr sausen lassen? Für eine Sekunde trugen die Jas und Neins ein Kämpfchen in mir aus, es siegte - die Standuhr. Was war ich enttäuscht, als die Standuhr in Nußbaum mit Säulen von 1890 sich als eine flämische à la Danziger Barock von 1910 entpuppte. An sie denke ich heute nicht mehr, wohl aber an jenen Mann. Das sind Augenblicke im Leben, über die man noch Jahre später sinniert, weil man glaubt, man habe etwas verpaßt. Ob man wirklich etwas verpaßt hat, weiß man nicht, aber man bildet es sich ein.
Ungefähr zur selben Zeit lernte ich Tutti, die eigentlich Peter heißt, kennen. Sie arbeitete als Tierpfleger auf dem Gutshof neben meinem Museum. Sechstausend Schweine suhlten sich in den Ställen, manche hatte ich - obwohl als Nachtwächter angestellt - selbst abgeferkelt. Wenn ich Arbeit sah, erledigte ich sie. Das ist mein Naturell. Ich mag nicht rumsitzen. Und außerdem: Einfache Menschen überzeugt man am besten durch Arbeit. Irgendwann scherte sich auf dem Gutshof niemand mehr darum, wenn er mich mit Schürze und Kopftuch sah.
Die Person, deren zierlicher Körper so sehr mit dem Adlerprofil, dem ausgeprägten Adamsapfel und dem gespaltenen Kinn der Durchsetzungsfähigen kontrastierte, erregte meine Aufmerksamkeit. Das rotblonde, kleine Wesen schien viel zu zart für die schwere Arbeit als Tierpfleger. Ich ahnte, daß wir gleich veranlagt waren. Als Mädels gekleidet - sie im resedagrünen Kleid, ich im blauen, die blonden Perücken aus dem Schrank gekramt, die Augenbrauen nachgezogen und in die Pumps geschlüpft - staksten Tutti und ich zum Bahnhof und fuhren nach Berlin-Mitte.
»Hallo Mäuschens«, begrüßten uns die Arbeiter des Gutshofes, denen wir unterwegs begegneten, uns unter der Maskerade nicht erkennend - obwohl wir uns doch jeden Tag über den Weg liefen. »Mutti und Tochter gehen aus«, riefen uns die Arbeiter hinterher. Tutti war, weil viel kleiner, überzeugt, daß nur sie mit der »Tochter« gemeint sein konnte, und schaute mich triumphierend an. Die mitfahrenden Zuggäste rätselten und, nachdem sie uns eingehend gemustert hatten, grummelten: »Dat sind wohl doch Weiber.«
Reaktionen auf mein Dasein zwischen allen Schubladen. Kaufte ich ein in weinrotem Damenmantel, Kopftuch und Damenschuhen, wurde ich manchmal scheel angesehen, die Verkäuferinnen steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten. Dann watschelte eine nach hinten und quäkte: »Kommt mal alle nach vorne, Luzi mit dem roten Mantel ist wieder da und holt ihren Käse und ihre Buttermilch.«
Ich nahm's ihnen nicht übel, denn es war nicht böse gemeint, sie waren nur neugierig. Ich verabschiedete mich freundlich, und nach kurzer Zeit war ich keine Rummelattraktion mehr für sie. Auch heute fällt es den meisten gar nicht auf, daß ich nicht die ältere Dame bin, für die sie mich halten. Andere waren sich nicht ganz sicher. Aber sie bedienten mich. Kreuzte ich allerdings in unweiblichen Klamotten auf, kam es vor, daß die Verkäuferinnen sich scheckig lachten. Ich wußte nie so recht, was sie in so heitere Stimmung versetzte. Der Henkelkorb? Meine sanfte Stimme? Meine weiblichen Bewegungen? Instinktiv hatten sie richtig reagiert. Männlich angehauchte Kleidung paßt einfach nicht zu mir, ich fühle mich unsicher. Im Kleid oder taillierten Damenmantel stimmt alles. Die Leute merken, wenn jemand eins ist mit sich.
Aber zurück zu Tutti und unseren Ausflügen und Parties. Sie bewohnte eine Sechs-Zimmer-Flucht in einem roten, langgestreckten Backsteingebäude aus dem frühen 19. Jahrhundert, das »Der rote Ochse« genannt wurde.
Aus der Unmenge von Haushaltsauflösungen hatte ich Tutti Schlafzimmer-, Eßzimmer-, Herrenzimmer-, Salon- und Tanzsaalmöbel besorgt, die sie mit weiblicher Hand perfekt arrangierte.
In Tuttis Holzdielen-Tanzsaal, den ein großes flämisches Buffetunterteil zierte und in dem zwei Schrankgrammophone aus den Zwanzigern für Stimmung sorgten, konnten viele DDR-Transvestiten zum ersten Mal ihre Andersartigkeit ausleben. Wir amüsierten uns wie »Bolle auf dem Milchwagen«.
Hier versammelte sich eine bunt-herbe Mischung Leben, wobei die Herben vor allem unter den lesbischen Frauen zu finden waren. Mit Anzug und angeklebtem Bart erschien die Inhaberin eines Hundefrisiersalons aus Köpenick mit ihrer Freundin. Diese fand Gefallen an einer anderen Bartträgerin und wurde von ihrer resoluten Freundin verdroschen. Tutti wollte eingreifen. »Noch ein Wort, dann kriegste von mir eine gescheuert«, warnte die Pudelpflegedame, die Hände in die Hüften stemmend, sich wie ein Kofferfisch mit Luft aufpumpend, und ich dachte: Vorsicht! Tutti hingegen, ohne meine weiblichen Antennen ausgestattet, hatte eine große Klappe, kriegte einen Schlag auf die Brust und purzelte in ihrem resedagrünen Kleid hinter das Sofa. Die Beine in der Höh, rutschte ihr Kleid hoch, ebenso der Unterrock. »Mensch, Tutti, hast du schmale Schenkel«, krakeelte eine Lesbe, während die Frauenkeilerei sich auf die Veranda verlagerte.
Alles lachte, und - Mann schlägt sich, Frau verträgt sich - nach kurzer Zeit saßen die Hundesalondame und ihre Freundin wieder glücklich lächelnd nebeneinander.

Mit der Rauflustigen trat ich später als Kleindarstellerin in dem DEFA-Streifen »Fleur Lafontaine« auf. Während sie mit falschem Bart als Haudegen durch die Zwanziger-Jahre-Kulisse stiefelte, spielte ich eine zerbrechliche Schöne im schwarzen Taftkleid.
Überhaupt der Film! 1942 kam ich erstmals mit ihm in Berührung. »Theater- & Filmverleih Willy Porte« stand auf dem Schild an dem Haus in der Lange Straße 24, als ich, von eben jenem Herrn Porte eingeladen, seinem Requisitenfundus einen Besuch abstattete. Bei ihm roch es förmlich nach Filmwelt.
Fabriketagen voll mit Biedermeierzimmern, Salons, Herren- und Schlafzimmern, Koch- und Nachttöpfen - es fehlte an nichts. In den Ateliers wurden nur die Kulissen gebaut: Porte lieferte das gewünschte Interieur. Komplette Einrichtungen von Konditoreien und Kneipen warteten hier auf ihren Einsatz in Ufa-Filmen.
Porte benötigte Phonographenwalzen für die nächste Produktion. Zum ersten Mal erhielt ich Verleihhonorar.
1959 spazierte ich eines Tages durch Tempelhof. In Alt-Tempelhof entdeckte ich an einem Bauernhaus das alte Schild von Willy Porte. Ich spähte durch die Fenster der Stallungen, die als Requisitenlager dienten. »Nanu, wir kennen uns doch«, sagte Porte, der, inzwischen weißhaarig, in seinem kleinen Büro schwer auf seinem Stuhl saß und mich mit blanken Knopfaugen freundlich musterte. Ich reparierte ihm kurzerhand einen Musikautomaten, der keinen Ton mehr von sich gab und dringend benötigt wurde. Er bezahlte mit Westgeld, damals von ungeheurem Wert für jemand aus dem Osten.

Zu Beginn der sechziger Jahre tauchten die ersten Requisiteure aus Babelsberg und Adlershof im Museum auf und fragten nach Grammophonen, Platten, Gaslampen.
Die Regisseure wußten meine Kenntnisse zu schätzen: Wurden Gründerzeitfilme gedreht, engagierten sie mich als Berater. Möbelwagenweise expedierte ich Gründerzeitstücke nach Babelsberg, wenn der DEFA-Fundus nichts hergab. Ich richtete den Regisseuren stilgerechte Dekorationen ein. Mitte der Sechziger stand erneut ein Filmprojekt an, ein Regisseur besuchte mich und beschloß strahlend: »Hier steht doch schon eine komplette Gastwirtschaft, was sollen wir die nach Babelsberg schleppen? Wir drehen hier.«
Der Chefrequisiteur lud mich nach Babelsberg ein, ich durfte den Fundus der DEFA besichtigen und war entzückt über die Sofaabteilung, die vielen verschiedenartigen Tische und Stühle, das Lager mit den Kronleuchtern. Ein Glücksgefühl durchströmte mich: Der Fundus besaß das Flair eines riesigen Trödlerladens. Die zusammengewürfelten Möbel schauten mich an und erzählten Geschichten: von den Menschen, die sie gebaut hatten, und von jenen, bei denen sie früher als stumme Gäste Jahrzehnte verbracht hatten. Ich schnüffelte an Salonschränken und Büffets. Genauso schnuppere ich in alten Kellern, in denen Verstaubtes, über Generationen Gesammeltes oder Vergessenes in Ruhe altert. Moder ist für mich, was für andere Chanel No. 5 ist.

Die Filmleute waren zwar begeistert von meinen stilechten Kulissen, aber sie behandelten die Möbel aus ihrem Fundus nicht so, wie es ihnen zukam. Auf einem wunderschönen Flügel schoben sie eine Beethovenbüste so oft hin und her, daß er eine Schmarre davontrug. Sie holten braune Fußbodenfarbe und besserten ihn - husch, husch - aus, statt das gute Stück furnieren zu lassen. Ein anderes Mal jagten sie Zehn-Zoll-Schrauben durch ein Büffet. Mir blutete das Herz.
»Kinder, die ganze Füllung des Büffets ist falsch eingeschraubt«, mahnte ich sie, erntete aber nur genervte Blicke. So setzte ich mich selbst hin und verpaßte der Anrichte wieder ihr rechtes Antlitz.
In dem Film »Die unwürdige Greisin«, der zum Teil in meinem Museum gedreht wurde, spielte Hanne Hiob, Bertolt Brechts Tochter, die Hauptrolle. Für die Pausen hatte ich ihr ein Zimmer bereitet, in dem sie sich ausruhen konnte. Einmal fanden jedoch auch in diesem Raum Dreharbeiten statt. Wohin mit ihr? Ich selbst hatte, da das ganze Haus Requisitenkammer und Drehort zugleich war, mich mit der Messingbettstelle in der Toilette einquartiert. Kurzentschlossen bot ich Hanne Hiob mein Bett an. Sie nahm, unkompliziert und bescheiden dankend, mit dem Abort vorlieb.
Was ich an Honoraren verdiente, steckte ich in »mein« Haus, schaffte Kalk, Steine und Zement heran, bezahlte Handwerker und kaufte neue Möbel. In den ersten Jahren schuftete ich wie ein Pferd, und was meine bloßen Hände bis heute erarbeitet haben, entspricht einem Wert von dreihunderttausend Mark. 1972 drückte mir der DDR-Staat die erste - und freilich auch letzte - Anerkennung für meine Arbeit aus: Das Haus wurde unter Denkmalschutz gestellt.

Meine erste kleine Filmrolle bekam ich in einem Streifen über das Leben Ludwig van Beethovens. Ich mimte einen Geigenbaumeister. In meinem zweiten Film, »Unterwegs nach Atlantis«, spielte ich eine Balldame - eine Rolle, an die ich zufällig geriet: Meine erste Szene war abgedreht, ich hatte, widerwillig, einen Offizier in Uniform verkörpert, als der Regieassistent wild mit den Händen fuchtelte und nervös auf und ab lief. Er schien in großen Nöten. Der Film spielte am Hof von Queen Victoria, und er brauchte für die nächste Einstellung ein Ehrenspalier von Hofschranzen, aber die für diese Szene engagierten Tänzerinnen aus dem Friedrichstadtpalast hatten ihn versetzt. Der Assistent war außer sich, doch als ihm eine Idee gekommen, entspannten sich seine Gesichtszüge. Er fixierte mich, voll Vorfreude grinsend: »Los, ab in die Maske und in die Garderobe!« Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, denn diese Rolle paßte mir wie maßgeschneidert: Ich spielte nicht die Hofdame der Queen, ich war die Hofdame.

Mit Tutti ging ich zu jener Zeit ab und an in die wenigen, noch verbliebenen Kneipen im Osten Berlins, in denen sich Schwule und Lesben trafen: in die Goldschmidt-Bar oder in die City-Klause in der Friedrichstraße. Wir versuchten das Beste aus den spießigen Verhältnissen zu machen. Aber - wir merkten es mehr als einmal, wenn wir im Fummel durch die Gegend liefen - wir waren als Transvestiten eine Minderheit innerhalb einer Minderheit.
Die Tunte neben mir in der City-Klause prahlte: »Hach, mein Selbstgestricktes« und meinte ein gehäkeltes Etwas - blutige Amateursarbeit -, das sie stolz in der Hand hielt und offensichtlich eine Tasche darstellen sollte. Irgendwann schaute sie mich aus ihrem fischigen Gesicht mit kleinen Augen böse an: »Verfatz dich, du blonde Zicke, du hast an diesem Tisch nichts zu suchen.« Na, du dämliches Luder hast es gerade nötig, dachte ich, nahm meine Tasche und strafte sie mit Nichtachtung. Von einem anderen Tisch riefen Bekannte: »Lottchen, unser Lottchen ist da, komm, hier ist Platz für dich.« Da guckte Miss Born-to-be-cheap saublöd aus der Wäsche.

18.        Ich erinnere mich an den ersten Besuch der Stasi in meinem Museum, noch in den sechziger Jahren. Den beiden Herren, nicht groß, nicht dick, mit stechendem Raubtierblick und Lederolmänteln, bot ich Stühle an. Auch ich setzte mich, mußte mich setzen, denn ich war einer Ohnmacht nahe und wäre im Stehen glatt umgefallen vor Aufregung. Obwohl ich mir keiner Schuld bewußt war.
Sie waren aber nicht zu mir gekommen, um mir mein Museum wegzunehmen, noch nicht. Der »Staatliche Kunsthandel« hatte seine gierigen Blicke auf die Musikapparate-und Schallplattensammlung, letztere über fünfzehntausend Stück, des mit mir befreundeten Sammlers Alfred Kirchner aus dem Scheunenviertel geworfen.
Für die »legale« Enteignung boten die DDR-Gesetze jede Handhabe, und bereits ab Ende der sechziger Jahre verschob der »Staatliche Kunsthandel« in der Frankfurter Allee zu Berlin gegen Devisen alles, was nicht niet- und nagelfest war. Möbel, Gemälde, Uhren, Teppiche, Glaswaren, Porzellan, Museums- und Kirchengut, alles wurde verscheuert, um die wirtschaftliche Pleite der DDR aufzuhalten. Später dehnten sich die Raubzüge sogar auf Pflastersteine, Kutschen, Lokomotiven und alte Automobile aus, und hätte man alte Häuser abtragen und wieder aufbauen können, so manches barocke Gutshaus stünde heute in den USA. Lastzug- und containerweise ging zwanzig Jahre lang das Kulturerbe der DDR über die Grenze.
Alfred Kirchner, seit seinem sechsten Lebensjahr begeisterter Sammler von Musikautomaten, Grammophonen, Spieldosen und Schallplatten, war einer der liebenswertesten Menschen, die mir je begegnet sind.
Den kurzen Körper fast immer in Bewegung, als wollte er Augenblicke der Ruhe gar nicht erst aufkommen lassen, war der quirlige Mann einer von der angenehmen Sorte Mensch, die, obwohl mit vielen Talenten gesegnet, nicht ständig etwas darstellen wollen. Auch auf sein äußeres Erscheinungsbild legte er nicht den mindesten Wert. Immer kam er in speckigen, abgetragenen Anzügen, meist mit großkarierten Hemden darunter, die unvermeidliche Leder-oder Stoffmütze schräg auf dem Kopf. Der Schein bedeutete ihm nichts, so als habe er beim Fechten ums Dasein längst alle menschlichen Eitelkeiten abzulegen gelernt, falls er jemals von diesen heimgesucht worden war.
Alfred Kirchner war ein musikalisches Genie, ein Klaviervirtuose. Er spielte jedes nur denkbare Musikstück von der Klassik bis zum Gassenhauer, wenn man ihn nur darum bat. Ich entsinne mich eines Tanzballs. Er brillierte mit der »Ungarischen Rhapsodie« von Liszt und der »Wilhelm Teil-Ouvertüre« von Rossini. Völlig unvermittelt wünschte sich ein junger Mann: »Adelheid, schenk mir einen Gartenzwerg«, ein noch immer bekanntes Stück einfach gestrickten deutschen Liedguts. Alfred guckte an die Decke, schnupperte mit seiner spitzen Nase, als wollte er die Töne aus der Luft ansaugen, die Noten sammelten sich in seinem Kopf, und schon legte er los mit der »Zwergen-Melodie«.
Ein anderes Mal hatte ich zu einer Feier in den Gartensaal meines Museums eingeladen. Eine große Besucherschar war gekommen, auch Alfred. Margarete, meine treue Helferin, - zusammen klopften wir in zwanzig Jahren bestimmt zehntausend Steine für das Haus - schob eine Notenrolle in das deutsche Pianola-Piano am linken Fenster und rief: »Und jetzt, meine Damen und Herren: >Die Waldeslust<.« Währenddessen hatte Alfred still und heimlich am amerikanischen Piano der Firma Steck, New York, Platz genommen, das am rechten Fenster stand. Kaum erklang der erste Ton aus dem automatischen Pianola, begleitete Alfred von Hand. Es war ein wunderbares Konzert zwischen mechanischem und manuellem Piano, denn da Klaviere wegen der Holzart verschieden klingen, ergaben sich feine Nuancen in den Tönen. Das amerikanische Pianoia klang härter als das deutsche, und das Publikum lauschte verzückt. Als der letzte Ton verhallt war, applaudierte es lang und heftig.

Alfred war in die Fänge der Stasi geraten, weil er Einzelteile aus seiner Sammlung an Westbürger verkauft hatte. Nicht um sich zu bereichern, sondern um andere Stücke erwerben zu können. Ein Gericht verurteilte ihn als »Devisenschieber« zu einer hohen Haft- und Geldstrafe. Da er letztere nicht zahlen konnte - wovon auch, als kleiner Rentner? -, räumte man vor seinen Augen seine Wohnung aus. Und wie! Während Stasi-Mitarbeiter die Wäsche aus dem Vertikow rissen und auf den Boden warfen, warteten die Möbelpacker des »Staatlichen Kunsthandels« bereits vor der Tür. Spieldosen, Uhren, Musikautomaten, mit Liebe und Leidenschaft zusammengetragen, verschwanden im unersättlichen Rachen der Hehler. Nur die kärgliche Bettstelle ließ man ihm. Der Lebenswille Alfred Kirchners war gebrochen, er vegetierte noch einige Jahre in einem evangelischen Pflegeheim in Weißensee, dann starb er. Als ich ihn das letzte Mal besuchte, war er ein Greis mit spärlichem, zerzaustem grauen Haar, und seine Augen konnten sich nicht einmal mehr zu der Arbeit aufraffen, einen Blick zu tun.
Die beiden Stasi-Mitarbeiter in meinem Museum trieben zur Eile. Der eine, prüfende Blicke abwechselnd auf eine Liste und auf Ausstellungsgegenstände werfend, wies mit seinem dürren Zeigefinger auf einzelne Grammophone, Spieldosen und Musikautomaten. Vor Jahren hatte Alfred Kirchner sie dem Museum geschenkt. Entgegen dem Willen des Stifters, der die Sammelstücke für die Öffentlichkeit zugänglich aufbewahrt wissen wollte, räumten die wahren Devisenschieber alles, was auf ihren Listen verzeichnet war, in den, praktischerweise, gleich mitgebrachten Möbelwagen. »K & A« stand ab 1973 auf den eleganten Lastwagen, was ich nie als das Kürzel für »Kunst & Antiquitäten« gedeutet habe, sondern für »Klau & Ausverkauf«.

Im August 1973 erschien, mitsamt Gefolge, der Geschäftsführer der wenige Monate zuvor gegründeten »Kunst & Antiquitäten GmbH/Internationale Gesellschaft für den Export und Import von Kunstgegenständen«, Horst Schuster. Ein korrekt gekleideter Stehkragenneureich, der mir mit pompöser Geste und gewichtiger Miene seine Visitenkarte überreichte wie jemand, der dieser Insignie von Geltung und Einfluß bedarf, weil er zumindest ahnt, daß seine Talente mittelmäßiger Natur sind und nur die Verhältnisse ihn nach oben gespült haben. Er machte mir ein phantastisches Angebot: Der sterile Geschäftsmann wollte mein Museum komplett für den Kunsthandel kaufen. Steuerfreie zweihunderttausend Mark bot er mir, dazu eine leitende Stellung in dem Kunsthandelszentrum, zu dem er das Gutshaus umbauen wollte. Ausländische Kunden sollten hier durchgeschleust werden, in den großen Zimmern Kulturgut sichtend, danach diskret im Büro das Geschäftliche regelnd. Im Park, so Schusters minuziöse Pläne, sollten als Lager Barracken errichtet werden. Mein Museum war auserkoren, die Funktion einzunehmen, die später Mühlenbeck bei Oranienburg innehatte: feinster Antiquitätensalon und Zentrale der »Kunst & Antiquitäten GmbH«, einer der zwölf Außenhandelsbetriebe in Schalck-Golodkowskis Imperium »Kommerzielle Koordinierung«.
»Wissen Sie, für mich leben diese Dinge. Ich habe nicht gesammelt, damit ich später ein Geschäft mit ihnen mache, sondern weil ich sie hübsch fand.« Diese Haltung war den Herren, die ihr Angebot offensichtlich für äußerst kulant hielten, nicht begreiflich zu machen. Mißmutig zogen sie ab, nicht ohne mir zu bedeuten, daß sie auch anders könnten. Es lag etwas in der Luft, um so mehr, als ein Museumsfachmann - sein Erstaunen mühsam unterdrückend, als ich ihn durch meine Bäume führte - das Urteil abgab, meine Stücke stellten die bedeutendste Historismussammlung in ganz Europa dar.
Im November erhielt ich prompt eine Vorladung vom Magistrat, Abteilung Finanzen. Der Referatsleiter teilte mir barsch mit, daß ich ab sofort vermögenssteuerpflichtig sei. Kurzerhand hatte man die Hausratversicherungssumme als Vermögenswert zugrundegelegt und forderte von mir zehntausend Mark Steuernachzahlung. Wovon ich diese astronomische Summe - ich lebte von meinen spärlichen DEFA-Einnahmen und den freiwilligen Spenden der Museumsbesucher - bezahlen sollte, sagte mir der Finanzbürokrat auch: Verkaufen. Natürlich an die »Kunst & Antiquitäten GmbH«.
Die Steuerfahndung entwickelte sich beim kulturellen Ausverkauf der DDR zur willfährigen Komplizin des Kunsthandels und machte sich ab den siebziger Jahren immer mehr anheischig, »renitente« Sammler zur Räson und um ihr Hab und Gut zu bringen. Da Privatbesitz in der DDR von den Offiziellen argwöhnisch betrachtet wurde, waren Sammler von vornherein verdächtig. Der SED-Staat sah lediglich den, in Geld ausgedrückt, »schwindelerregenden« Wert der Objekte, nicht aber, daß es den meisten Sammlern nicht darum ging, mit ihrer Leidenschaft Geld zu verdienen. Sie fanden im Betrachten der Gegenstände ihre höchste Erfüllung. Oft verliehen sie ihre Kunstwerke an Museen, damit interessierte Besucher auch in den Genuß kamen, sie anzuschauen, oder vererbten ihre Schätze einer Einrichtung, bei der sie ihr Lebenswerk in guten Händen wußten. Die Ausplünderung der Sammler lief nach immer gleichem Schema ab: Die Gutachter der »Kunst- & Antiquitäten GmbH« besichtigten die Sammlungen, registrierten einen drastischen Wertzuwachs - der für die Liebhaber alter Stücke völlig irreal war, konnten sie doch, im Gegensatz zur GmbH, ihr Gut nicht ins westliche Ausland verkaufen - und schickten ihre Expertisen dem Finanzamt. Aufgrund dieser Mondzahlen errechnete das Finanzamt seinerseits einen enormen Handelsgewinn, der zu versteuern war - auch wenn beispielsweise die begutachteten Barockschränke jahrzehntelang nicht verrückt worden waren. Die Schuldner konnten nicht zahlen, weil sie nie mit ihrer Sammlung Geld verdient hatten, und schon stand der Lastwagen der »Kunst & Antiquitäten GmbH« vor ihrer Tür.
Was sich unter dem Deckmäntelchen ziviler Steuergesetzgebung verbarg, war nichts anderes als entschädigungslose Enteignung. Und oft waren die Vorbereitungen zur »Verwertung« längst abgeschlossen, bevor die eigentlichen Ermittlungsergebnisse feststanden.

19.         Am 1. Februar 1974 kam es bei der Abteilung Kultur/Denkmalpflege des Magistrats zu einer Verhandlung, von der das Schicksal meines Museums abhing. Dort führte jener Mann das große Wort, mit dem ich schon im Märkischen Museum schlechte Erfahrungen gemacht hatte: Manfred Maurer. Nur der Staat könne mein Haus als Museum führen, außerdem sei nach Gesetzblatt 11/47 vom 10. August 1972, Kulturrecht, ein Museum in privater Hand gar nicht erlaubt. In »unserem Staat«, so Maurer weiter, sei ich als Museumsleiter nicht geeignet, da ich weder die politische noch die kulturpolitische Befähigung dazu aufzubringen in der Lage sei.
Die Herrschaften wollten nicht wahrhaben, daß ohne meiner beiden Hände Arbeit hier Brachland wäre, daß nichts entstanden wäre, wenn ich kein weibliches Wesen im männlichen Körper wäre. Weil ich als Kind mit Puppenmöbeln spielte, weil ich heute noch Putzfrau bin, weil mir Gründerzeit Spaß macht und weil ich immer einen Haushalt um mich haben wollte: deshalb steht dieses Museum.

Die Genossen hatten gut gearbeitet. Sie legten mir ein Revers vor: Alles sollte ich an den Staat verkaufen. Wie ein Wirtschaftsjurist am nächsten Tag feststellte, wäre ich nicht nur meine gesamte Sammlung - inklusive meiner Bettstelle - losgeworden, sondern hätte außerdem viertausendfünfhundertzweiundachtzig Mark Steuern nachzahlen müssen. Ich verweigerte die sofortige Unterschrift, die Maurer mit schnarrender Stimme von mir verlangte, und besorgte mir die genannten Paragraphen. Ein mühevolles Unterfangen, das Wochen in Anspruch nahm, denn in der DDR kam man nicht so einfach an Gesetzestexte heran: Die Bürger wurden schon dadurch um ihre Rechte gebracht, daß man es ihnen unmöglich machte, Kenntnis dieser Rechte zu erlangen. Als ich die Seite mit dem Text des Gesetzblattes 11/47 aufschlug, war mein Erstaunen groß: Die Verordnung betraf nicht das Recht, ein Museum zu führen, sondern behandelte ein Gesetz über - die Fischerei. Man hatte mich bewußt in die Irre geführt.

Soll dies das Ende meines Lebenswerkes sein, meines Lebenszweckes? fragte ich mich am Abend des 1. Februar. Der Boden war mir entzogen, ich fühlte mich wie ein Baum, dem man die Wurzeln gekappt hat. Ich verbrachte eine schlaflose Nacht, saß auf der Bettkante, lief kopflos durch die Räume, holte Axt und Säge aus dem Keller und war fest entschlossen, alle Möbel zu zerhacken, aus dem Fenster zu schaufeln und mit dem Fuhrwerk zu meiner Mutter zu schaffen. Als Brennholz hätte wenigstens sie noch etwas davon gehabt. Aber ich brachte es nicht übers Herz.
Am nächsten Morgen schaute mich meine Mitarbeiterin entgeistert an: »Wie siehst denn du aus?« Ich dachte, mein Haar sei nicht gekämmt, aber wieso sollte es unordentlich sein, ich hatte doch gar nicht im Bett gelegen? Ich ging zum Spiegel - mein Haar war über Nacht weiß geworden. Die äußerliche Veränderung, Abbild meines inneren Zustandes, tangierte mich nicht: Sie lag so fern wie die Steine auf dem Mond, wichtig war einzig das Museum.

Wo nichts ist, hat der Magistrat sein Unrecht verloren und kann auch die Stasi nichts holen, schoß es mir durch den Kopf. Der grelle Entschluß war gefaßt: Du verschenkst alles an die Besucher, und die feinen Herren vom Kunsthandel finden eine leere Bude vor. Daß man mich vielleicht wegen Sabotage in den Knast stecken könnte, war mir einerlei.
Aus den Kammern und vom Boden, meinem Depot, schleppte ich alles in die Ausstellungsräume. Sechsundachtzig Petroleumlampen stellte ich im neogotischen Eßzimmer auf den Ausziehtisch. Im Neorenaissance-Wohnzimmer breitete ich auf einem großen Zwanzig-Personen-Tisch vierundsechzig Kaminuhren aus, daneben Stutzuhren, Jahresuhren aus Messing und Bronze. Elegante, feuervergoldet aus einem Schloß, neben billigen aus einer Arbeiterfamilie mit Unruhwerk und einem aus Zinkguß gepreßten, aufgeschraubten Adler.
Weiter in den Zimmern verteilt: die größte zusammenhängende Sammlung von Edison-Phonographenwalzen der Welt, fünfzehntausend Stück; dreiunddreißig Standuhren, dreihundertsechsundachtzig Regulatoren; achtzehn Klaviere und Büffets, die Nähmaschinensammlung, der Kostümfundus, die Schreibmaschinensammlung, die Musikmaschinensammlung; Porzellan, Besteck, Glas; dreizehntausend Schallplatten, mehr als dreitausend Pianola-Notenrollen und die dazugehörigen Instrumente; die Stuhlsammlung, Schlafzimmer-, Eßzimmer-, Herrenzimmer- und Salonstühle, Ofenbänke, Kneipen-, Küchen- und Kinderstühle, insgesamt mehr als sechzig Stück - alles ging dahin. Ebenso die Tischsammlung. Im Laufe der Jahrzehnte hatte ich dreiundzwanzig komplette Zimmereinrichtungen gesammelt.

Wie hatte ich solche Unmengen im »Sozialismus« nur zusammentragen können? Nun, der Nachlässe waren mehr, als ich bergen konnte. Anfang der fünfziger Jahre beispielsweise lernte ich über einen Kollegen im Märkischen Museum die alte Frau Barnewitz kennen. Berta Barnewitz führte mich mit Grandezza durch ihre Wohnung und zeigte mir ihre alten Möbel, die 1892 vom Tischlermeister Julius Groschkus in Berlin gefertigt worden waren. In der Ecke eines fensterlosen Zwischenzimmers versteckte sich ein prächtiges Büffet mit Säulen und Schnitzereien, aber ohne Aufsatz.
Berta Barnewitz wies mit spitzen Fingern - »Der Kohlenkeller ist recht schmutzig!« - auf die Kellertür. Ich tastete mich mit einem Kerzenleuchter hinunter und entdeckte ein schwarzverstaubtes Etwas im hintersten Winkel: Auf dem Balustradenaufsatz fehlte nur eine gedrechselte Kugel. Ich wühlte solange in den Kohlen, bis ich sie fand. Berta Barnewitz war gar nicht begeistert, als ich den gesäuberten Aufsatz auf das Büffet steckte, und wiegte bedenklich ihr feines Haupt. Von eher kleinem Wuchs, wäre sie nicht in der Lage gewesen, das staubziehende Geschnörkel zu putzen. Ich versprach ihr, alle vier Wochen mit dem Staubwedel zu erscheinen. Als sie 1963 verschied, erwarb ich buchstäblich im letzten Augenblick vom Nachlaßverwalter ihre Möbel und brachte sie nach Mahlsdorf in mein Museum.
»Das Museum ist gestorben, greifen Sie zu!« erklärte ich den staunenden Besuchern einen Tag nach der Verhandlung beim Magistrat. Die Leute liefen in Scharen mit den ergatterten Kostbarkeiten hinaus und luden die sperrigeren Stücke auf Autoanhänger oder geliehene Möbelwagen.
Ein paar Monate später, dreiviertel meiner Sammlung war bereits fortgeschafft, machte sich eine junge Frau eifrig Notizen. Ich führte die Besucher durch das, was vom Museum übriggeblieben war, und dachte als erstes an einen weiteren Einschüchterungsversuch der Stasi. Aber mit ihrer Nietenhose und dem einfachen Pulli sah sie für jemanden aus der Normannenstraße viel zu bescheiden aus. »Es ist eine Schweinerei, was man mit Ihnen macht«, ereiferte sich die Frau mit dem offenen Gesicht nach meiner »Restführung« und reichte mir ihre Vistenkarte: Annekathrin Bürger, Schauspielerin. »Sie brauchen einen guten Juristen.« - »Frau Bürger, das ist lieb von Ihnen, aber kein Rechtsanwalt wird sich für meine alten Möbel in die Nesseln setzen.« - »Doch«, sagte sie, »einer wird es tun: Herr Kaul. Ich kenne ihn gut.«
Professor Dr. Karl-Friedrich Kaul, das internationale Aushängeschild der DDR-Jurisprudenz, soll sich mit meinem Museum befassen? Ich konnte an diesen Silberstreif am Horizont nicht glauben. Aber am nächsten Tag schrillte das Telefon. Eine beruhigende, aber überlegene Stimme meldete sich: »Hier ist Kaul, ich habe gehört, daß Sie Sorgen haben. Wann können Sie zu mir kommen? Heute? Morgen? Übermorgen?«
»Wenn Sie die Steuern nicht bezahlen können«, hatte der Abteilungsleiter Finanzen tückisch lächelnd zu mir gesagt, »dann werden die Gegenstände eingezogen. Und Sie wissen ja, wie wenig sie in der Pfandkammer in der Wilhelm-Pieck-Straße bringen.« Das Damoklesschwert der Pfändung hing an einem seidenen Faden über mir. Ich ging sofort zu Kaul.
Hinter dem großen, eichenen Schreibtisch thronte, die mächtigen Hände auf den Tisch gestützt wie ein jüdischer Patriarch, mit unbewegter Miene ein zunächst nachdenklich und versonnen wirkender älterer Mann. Doch während ich meine Geschichte erzählte, färbten sich seine Wangen rot. Kaum hatte ich geendet, strich er sich kurz durchs lichte Haar und rückte seine Brille zurecht. Dann knallte er die flache Hand vor Wut auf ein paar vor ihm liegende Akten, einige Schriftstücke flogen wie aufgeschreckte Tauben in hohem Bogen vom Tisch, und er polterte: »Wenn das durchkommt, bin ich den letzten Tag Jurist in diesem Staat gewesen.« Er klingelte nach seiner Sekretärin, und kaum stand sie in der Tür, rief er ihr mit hochrotem Kopf entgegen: »Zwei Briefe - einen an den Minister für Finanzen, einen an den Minister für Kultur.«
Ich hatte während dieses bizarr-impulsiven Schauspiels den Blick auf die sprossengeteilten Jugendstilfenster gerichtet und schöpfte zum ersten Mal Hoffnung. Wie ein Tiger in seinem Käfig durchmaß Kaul, während er diktierte, den Raum. Die altmodische Büroeinrichtung, das gemütliche Chaos - ach, fühlte ich mich plötzlich wohlig sicher!
»Haben Sie etwa schon Steuern gezahlt?« - »Ja, dreihundert Mark.« Er sprang wieder aus seinem Stuhl, auf den er sich zwischenzeitlich gesetzt hatte, seine rechte Hand schnellte hervor, der Zeigefinger richtete sich auf mich, und er rief aus: »Die kriegen Sie wieder!«
Seine betulich-altjüngferliche Sekretärin in ihrem beigefarbenen Kostüm war von seinen Gefühlsausbrüchen völlig überrascht, guckte abwechselnd auf Kaul und auf mich, als verfolge sie den Ballwechsel eines Tennisspiels.
Kaul erklärte, es werde seine Zeit brauchen. »Aber seien Sie unbesorgt, ich lasse die Steuern stornieren.«
Bis in den Juni 1976 zog sich alles hin, aber dann hatte ich es schwarz auf weiß: Ich war von der Vermögenssteuer befreit. Als ich Kaul bat, mir seine Honorarforderung zu nennen, winkte er großzügig ab: »Sie sind mir überhaupt nichts schuldig, im Gegenteil, ich wünsche Ihnen und Ihrem Museum weiterhin alles Gute.«
Überall - auch in der ehemaligen DDR - gab und gibt es angenehme und weniger angenehme, saubere und etwas dreckigere Leute, Halunken und Idioten, aber auch Anständige und Kluge. Fragwürdige Charaktere kommen allerorts vor. In entscheidenden Momenten hatte ich oft das Glück, Menschen zu treffen, die mir gut waren und nicht mit dem Unrechtsregime paktierten. Nur dem selbstlosen Anwalt Kaul, Gott hab ihn selig, und Annekathrin Bürger ist es zu verdanken, daß mein Museum weiterlebte und kein abgeräumter Trümmerhaufen ist.

Für viele Dinge hatte sich, selbst geschenkt, keiner der Besucher interessiert. Übrig blieben drei restaurierungsbedürftige Säulenbuffets, eins Jugendstil, eins Neorenaissance 1890, beide aus Nußbaum, und ein eichenes aus den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts; ein Jugendstilklavier und drei im Neorenaissancestil, die nach Gutachten eines Klavierbauers nur unter hohen Kosten restauriert werden konnten; ferner stark vom Wurm befallene Küchenschränke und beschädigte Stühle. Da diese Dinge für die Hausratversicherung bewertet waren, mußte ich sie zu Brennholz zerkleinern. Die Massivteile, Säulen und Gesimse, Schlösser und Beschläge, bewahrte ich als Ersatzteile auf.
Als 1976 das Museum gerettet war, bestand die Sammlung nur noch aus einem eichenen neogotischen Eßzimmer, Fabrikware aus der Zeit um 1900; einem Wohnzimmer mit Klavier im Neorenaissancestil von 1890, ebenfalls Fabrikware; einem Jagdzimmer, im Neorenaissancestil 1892 erbaut, mit handgeschnitzten Bildhauerarbeiten aus Spessarteichenholz; aus amerikanischem Nußbaumholz und im Neorenaissancestil gefertigt waren: ein Damensalon aus dem Jahre 1891, die Einrichtung des Gartensaals mit einem Speisezimmer von 1892, eine Schlafzimmereinrichtung aus dem Jahre 1880 aus Leipzig; dazu die komplette einfache Wohnzimmereinrichtung meines Großonkels von 1895 im Neorenaissancestil, aus dem gleichen Holz, hergestellt im badischen Karlsruhe; ferner einige Einzelmöbel, die aus Platzgründen im Flur standen, sowie Reste der Uhren-, Musikmaschinen- und Bildersammlung; außerdem eine komplette Kücheneinrichtung aus Berlin, 1890; und natürlich die Einrichtung der Mulackritze aus gestrichenem Kiefernholz, Neorenaissance, Berlin 1890, nebst dem dazugehörenden Vereinszimmer; eine private kleine Kücheneinrichtung einfacher Möbel aus der Zeit um 1875, die nicht der Öffentlichkeit zugänglich war, sowie zwei Kücheneinrichtungen von 1870 beziehungsweise 1900 für Filmzwecke; eine Schlafzimmereinrichtung, die ebenfalls als Requisit diente, hergestellt in Leipzig 1883, Neorenaissancestil, und aus amerikanischem Nußbaumholz.
Zu den wenigen geretteten Ersatzteilen für Uhren, Spieldosen, Phonographen, Grammophonen und Musikautomaten gesellten sich zu den einzelnen Zimmern passende Kronleuchter für Petroleum oder Kerzen sowie Öfen und Gardinen und mehr oder minder abgetretene Teppiche. Last not least die sechs Zentner schwere Granittafel zur Erinnerung an die Geburt des Prinzen August von Preußen am 19. September 1779 im Schloß Friedrichsfelde.

Es war reiner Zufall, daß dies alles erhalten blieb. Die Erbstücke meines Großonkels und die Einrichtung der Mulackritze von Minna Mählich hätte ich allerdings mit Zähnen und Klauen gegen jeden verteidigt, der ihnen zu nahe gekommen wäre.