Einleitung

Ich bin oft mit der Frage konfrontiert worden: "Wie kannst du als Italienerin hier in Deutschland leben?". Das ist eine Frage, hinter der ich Anerkennung und vielleicht Liebe für die italienische Frauenbewegung spüre, denn diese Frage kommt immer in Zusammenhang mit Gesprächen über die dortige Frauenbewegung. Ich war mir immer unsicher über die Antwort, die ich geben wollte; bis 1980 eine italienische Freundin nach Berlin kam und mir das Buch Ihre Mutter ist übrigens Malerin brachte. Sie erzählte, die Lesben in Italien seien nunmehr erwacht und dieses sei das Buch einer Lesbengruppe aus Rom. Seitdem wußte ich die Antwort auf jene schwierige Frage. In Berlin konnte ich schon seit 1973 als Lesbe leben, in Rom wäre ich höchstens eine Feministin gewesen. Zu diesem Zeitpunkt begann ich, mir viele Gedanken über die Situation der italienischen Lesben zu machen. Wenige, aber klare Zeichen, daß die Lesben schon seit dem Anfang der 70er Jahre versucht hatten "rauszukommen", hatte es schon gegeben, aber das blieben vereinzelte Aktivitäten. Mit Hilfe von Rosetta, eine der drei Autorinnen dieses Buches, habe ich versucht, die Gründe und die Erklärung dieser Situation, die im krassen Widerspruch zu der Stärke der dortigen Frauenbewegung steht, zu finden.

Zuerst einige Daten:

In den Jahren 1971-74 versuchen Maria Silvia Spolato und Laura di Nola mit ihren Veröffentlichungen und Büchern, die Lesben über die Notwendigkeit des Coming Out zu überzeugen. Maria Silvia veröffentlicht 1972 das Buch Die homosexuelle Befreiungsbewegung, eine Sammlung von Dokumenten aus der internationalen Homosexuellenbewegung. Laura gibt 1974 die Lesbenzeitschrift FUORI DONNA und 1976 eine Lyrik-Anthologie heraus.
1974. Eine Gruppe von Lesben eröffnet in Rom Il Giraluna, das erste Frauenlokal, in das anders als in den traditionellen Subs Männer keinen Zutritt haben, so daß sich Lesben dort ungestört treffen und kennenlernen können. In den traditionellen Lesbenlokalen, die oft Eintritt kosten und viel teurer als die deutschen waren und sind, kann frau auch heutzutage noch Männer vorfinden. Bis heute fehlen allerdings detaillierte Informationen über das Subleben in italienischen Städten.
Il Giraluna muß nach kurzer Zeit unter dem Druck mafioser Machenschaften geschlossen werden.
1975. Fufi Sonnino schreibt und komponiert Lieder über die lesbische Liebe. Ihre erste Schallplatte kommt heraus.
1976-77-78. Vereinzelte Gruppen in verschiedenen Städten organisieren sich. Sie heißen Collettivi Donne Omosessuali, Brigate Saffo, Fuori Donna, Rifiutare (Verweigern), Artemide. Nach zwei Jahren Selbsterfahrung geben die Artemide-Frauen Ihre Mutter ist übrigens Malerin heraus.
Zanzibar, ein Frauenlokal, wird in Rom von zwei Lesben eröffnet. Seine Geschichte ist nicht weniger abenteuerlich als die des Giraluna, denn wegen angeblichen Drogenverkehrs wird es polizeilich durchsucht und geschlossen, gegen mehrere Frauen wird prozessiert, sie gewannen jedoch den Prozeß. Im Gegensatz zu Il Giraluna gelingt es diesmal den Männern nicht, einen Treffpunkt lesbischer und nicht-lesbischer Frauen aus dem Wege zu räumen. Zanzibar existiert noch heute und hat zusammen mit dem Governo Vecchio, einem alten Palast, der 1977 von Frauen besetzt wurde, eine große Bedeutung für die Frauen- und Lesbenbewegung in Italien.
1979. Zum ersten Mal bei der 8. März-Demo in Rom (das Datum hat eine große Bedeutung in Italien, denn vor der autonomen Frauenbewegung war dies immer der Tag gewesen, an dem politische Ziele und Forderungen der Frauen an die Öffentlichkeit gebracht wurden) sind die Lesben mit einem eigenen Block anwesend.
Seit diesem Tag bilden sich überall viele neue Lesbengruppen. Hier möchte ich nur einige nennen: Phoenix (Mailand), Segreteria italiana ILIS (Turin), Tiaso (Bologna), Linea lesbica fiorentina (Firenze), Collegamento lesbiche italiane, Identità lesbica, Vivere lesbica (Roma), Lilli e La Luna (Napoli). Frau fängt an, das Wort Lesbica zu benutzen, mit vielen Diskussionen über dessen Herkunft und Bedeutung, neue Inhalte und Werte, die frau diesem Begriff verleihen will. Während bis dahin die Diskussion über die Zugehörigkeit zur Schwulen- oder zur Frauenbewegung geprägt war, schrieben die Lesben am 24.3.79 in Quotidiano Donna: "Wir wollen nicht nur gegen die allgemeine Unterdrückung der Frau kämpfen, sondern gegen die besondere, doppelte Unterdrückung der lesbischen Frau". Damit entscheiden sie sich für sich selbst.
Die Lesben, die Sub-, Traditions-, Bewegungslesben, die in der italienischen Frauenbewegung als Frauen mitgearbeitet, als Lesben jedoch geschwiegen hatten, fangen nun an, zu ihrem Lesbischsein zu stehen.
Die feministische Presse (Effe, die allererste Frauenzeitung, und die anderen, die nach und nach kamen: Quotidiano Donna, Sotto soppa, Memoria, Differenze, usw.) und Noi Donne (die Zeitschrift der Frauenvereinigung Unione donne italiane, eine linke Frauenorganisation, auf die ich später etwas ausführlicher eingehen werde), nehmen das Vorhandensein von Lesben wahr und bringen Artikel, Reportagen und spezielle Seiten über Lesben. Auch schreiben viele Leserinnen an die Redaktion und schildern ihre Situation als lesbische Frauen. Einige Lesben wollen ihre Grenzen ausprobieren: In Agrigento (Sizilien) küssen sich zwei Lesben in einem Park, das kostet sie Verhaftung und Knast. Immer mehr Treffen und Versammlungen finden statt. Ende Dezember 81 findet die erste größte nationale Tagung der italienischen Lesben in Rom statt. Ungefähr 400 Frauen nehmen daran teil. Drei Tage dauert das Treffen, und jeden Tag wird über ein Thema diskutiert, nämlich über Sexualität, Ängste, Identität. Die Gruppe Phoenix gibt ein Flugblatt heraus, in dem u.a. steht: "Die Beziehungen zwischen Frauen, die außerhalb der männlichen Kontrolle stattfinden, sind nicht nur persönliche Angelegenheiten von Lesben, sondern ein zentraler Punkt, der zentrale Punkt der Frauenbewegung".
Auszüge aus den Papieren der Tagung können die Auseinandersetzungen, die dort stattfanden, etwas erläutern:
"Wir haben viel über Solidarität, Zärtlichkeit, Liebe zwischen Frauen geredet, aber sehr wenig über die lesbische Liebe ... Wir haben für die Scheidung, Abtreibung, das Gesetz gegen sexuelle Gewalt gekämpft und haben gedacht, daß eine feministische Revolution das Bewußtsein von uns allen ändern würde, und dann würden auch wir Lesben in Freiheit leben können... Die Schizophrenie, in der in all diesen Jahren unsere Hetero-Genossinnen gelebt haben, ist irgendwann zu einem unerträglichen Zustand geworden ... sie zogen sich wieder zurück ... Wir Lesben wissen aber auch seit eh und je, was es bedeutet, das Vertraute für das Unbekannte zu verlassen, uns ist die Schizophrenie, als Frau mit einem Mann, der gleichzeitig dein Unterdrücker und dein Geliebter ist, erspart worden, aber wir kennen eine andere Schizophrenie, die des Doppellebens, d.h., in der Gesellschaft müssen wir als Heterofrauen auftreten, und nur im privaten Rahmen dürfen wir lesbisch sein ...

Zwei Jahre vorher, 1977, hatte es eine Krise, ein Sich-Zurückziehen in der italienischen Frauenbewegung gegeben. Die Frauen hatten erfahren, daß sie mit ihren Kämpfen viele fortschrittliche Gesetze durchsetzen konnten, die in der Realität jedoch wenig Auswirkungen hatten. Die Gesetze trafen auf veraltete Sozialstrukturen; für Männer ist es jedoch oft ein Kinderspiel, sie zu umgehen: Denken wir nur an die Ärzte, die sich aus ethischen Gründen weigern können, eine Abtreibung auszuführen.
So konnte es nicht weitergehen, frau wollte sich wehren: Überall in den Frauengruppen und Frauenzentren wurde 1977 über die Art der Durchsetzung frauenpolitischer Interessen und über die Gewaltfrage diskutiert. Einige Frauen entschieden sich für das Untertauchen in den bewaffneten Kampf und gingen in Gruppen wie die Roten Brigaden usw., während die Mehrzahl der Frauen zum "Vertrauten" zurückkehrte. Die Lesben konnten sich jedoch mit keiner der beiden Lösungen identifizieren, denn beide machten den feministischen Kampf unmöglich, weil die Frauen wieder mit Männern zusammenarbeiteten. Die Lesben blieben also in der Frauenbewegung, und nach einer kurzen Zeit der Besinnung hatten sie zwei Jahre später ihr Coming-Out. In einem Kommentar Über die genannte Tagung vom Dezember 81 schrieb die engagierte Femminista storica (so heißen in Italien die Frauen, die die Frauenbewegung aufgebaut haben), Roberta Tatafiore: "Die Frauenbewegung ist tot, es lebe die Frauenbewegung!"
Ungefähr fünf Monate später, im Mai 82, hatte die traditionelle Frauenemanzipationsbewegung, die Unione Donne Italiane (UDI) ihren Kongreß, auf dem sie beschlossen, jegliche Abhängigkeit von der KPI, der sie fast 40 Jahre lang nahegestanden hatte, zu beenden. Und jetzt kamen auch die Lesben, die in der UDI waren, heraus.

Noi Donne, die Zeitschrift der UDI, hatte schon vor dem Kongreß angefangen, sich mit der Frage des Separatismus zu beschäftigen. Um die Bedeutung dieses Schritts für die Lesben- und Frauenbewegung in Italien zu verstehen, muß ich kurz erklären, was die UDI für uns Frauen und Lesben in den 50er und 60er Jahren unter anderem bedeutete. Als einzige reine Frauenorganisation der Linken - in der Resistenza gegründet - die der KPI nahestand, war die UDI der Ort, wo sich die verkappte, unbewußte Lesbe, die mit den mackerhaften Strukturen in den gemischten Parteien und Organisationen der Linken nicht klarkam, einigermaßen wohlfühlen konnte. Die UDI kämpfte für die Gleichberechtigung der Frau und stellte Forderungen an die Regierung für bessere soziale Strukturen, die den Frauen eine Hilfe bei ihren traditionellen Aufgaben bieten sollten (Kindergärten, Rente für Hausfrauen usw.). Auch wichtige Gesetze, wie das für Lohngleichheit, das Recht, alle Berufe auszuüben, Mutterschaftsgesetz usw., setzte sie durch. Als die neue Frauenbewegung Anfang der 70er Jahre immer stärker wurde, orientierte sich die UDI immer mehr nach deren Zielen und Vorstellungen. In Italien, sagen manche Italiener, gibt es zwei Kirchen: die katholische und die KPI. Und beide, sagen wir Frauen, sind patriarchalisch und frauenfeindlich. Warum die Frauen und vor allem die Lesben so lange brauchten, die KPI und genauso die katholische Kirche als frauenfeindlich zu entlarven, ist nicht schwierig zu verstehen. Die KPI hat seit ihrer Gründung eine progressiv-demokratische, ja auch reformerische Rolle gespielt. Wir Frauen hatten uns entweder für die christlich-katholische oder die kommunistisch-reformistische Ideologie zu entscheiden. Diejenigen von uns, die sich besser mit der KPI identifizieren konnten, hatten es schwer, die subtile Unterdrückung der linken Männer zu erkennen. Neben diesen zwei "Kirchen" spielen in Italien noch zwei Institutionen eine wesentliche Rolle im Leben von Lesben: die Familie und die Gesellschaft. Da der Staat und die Wirtschaft sehr schlecht ihre Aufgaben erfüllen (es gibt keinen sozialen Schutz wie zum Beispiel Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Bafög usw., das heißt, keinen Vater-Staat, von dem frau abhängig ist, die Arbeitslosigkeit ist ein chronischer Zustand, die Frauenarbeitslosigkeit ist immer viel höher als die männliche) werden sie von der Familie und der Gesellschaft, Nachbarn, Freunden, Dorfgemeinschaften usw. teilweise ersetzt. Die Abhängigkeit von diesen zwei Institutionen ist viel größer und unterdrückender als die vom Staat und dem Arbeitgeber, denn wenn die Frauen zum Überleben auf die Eltern, Verwandten und Freunde angewiesen sind, werden viel mehr emotionale und unbewußte Mechanismen in Gang gesetzt, als zum Beispiel bei einer Angestellten in einer Behörde.
Wenn du eine Arbeit hast, kannst du hier in Deutschland oft "ein-" oder "aussteigen", wie du es gerade brauchst. Aber aus einer Gesellschaft, die dich als chronische Arbeitslose trägt (egal wie) kannst du nicht "aussteigen".
Hier wäre es gut, etwas über die wahren Lebensbedingungen in dem "Reiseland" Italien, in dem Land, wo "die Frauen so temperamentvoll sind" und wo "die Frauenbewegung so stark ist", zu erzählen. In den etwas euphorischen Beschreibungen, die oft über Italien zu lesen sind, werden die schlimmen Wohnverhältnisse der Menschen und die noch schlimmeren der Frauen verschwiegen. Eine eigene Wohnung zu haben, ist ein Luxus, den nur wenige Glückliche genießen. Die hohe Inflation frißt alle Ersparnisse, der Drogenkonsum hat sich nicht nur auf bestimmte Straßen und Plätze, Schulen und Orte, wo sich die No-Future-Generation trifft, ausgebreitet, sondern auch schon auf die Frauenbewegung. Im Governo Vecchio - dem römischen Frauenzentrum - drücken die Frauen inzwischen im Hof.
Aber hier ist nicht der Rahmen, eine solche Sozialproblematik näher zu betrachten. Ich möchte mit der erfreulichen Feststellung enden, daß die Lesbenbewegung in Italien endlich geboren ist.
Jetzt möchte ich kurz die drei "Interviewerinnen" und die italienische Verlegerin des Buches vorstellen:
Matilde Finocchi ist 44 Jahre alt, sie lebt in Rom und arbeitet als Verkäuferin in einem Juweliergeschäft.
Alice Valentini kommt aus einer Stadt aus Norditalien und ist Psychologin. Ihr Name ist ein Pseudonym, weil sie sich damit gegen die "Aggressionen, die wir Frauen oft gegenseitig aufeinander haben" schützen will.
Rosetta Froncillo kommt aus Kalabrien, sie ist 45 Jahre alt. Seit einigen Jahren lebt sie in Deutschland, sie unterrichtet Italienisch und schreibt.
Giovanna Tato, Verlegerin des Buches, ist Journalistin. Sie wird im letzten der Gespräche befragt. Sie hat einen Lesbenverlag gegründet, weil, wie sie selbst sagt, "es an der Zeit ist, daß Lesben selbst sprechen". Sie ist Mitbegründerin des C.L.I., des Collegamento Lesbische Italiane, eine monatliche Broschüre herausgibt, eine Art Rundbrief und Informationsdienst für Lesben.

Texttyp

Einleitung