Die Stiftung Theodor-Heuss-Preis

Die Stiftung Theodor-Heuss-Preis

a) Zur Gründung des Theodor-Heuss-Preises[52]

Die Männer der Paulskirche und alle Vorkämpfer für eine parlamentarische Demokratie haben einst für die liberale Verfassung kämpfen müssen. Ihnen haben wir zu verdanken, daß die staatsrechtlichen Forderungen des Liberalismus erfüllt sind. Aber auch nur diese! Die Konsequenzen daraus für eine demokratische Lebensweise haben wir noch kaum zu ziehen begonnen. Noch gibt es viel zu viele Menschen, die meinen, Demokratie sei eben eine Staatsform und sonst nichts. Wieder andere mißverstehen die demokratischen Möglichkeiten als eine gute Gelegenheit, die persönlichen Vorteile durchzusetzen. Beide Denkweisen haben sich im schlechten Sinne des Wortes »eingebürgert«. Das hat Friedrich Naumann vorausgesehen, als er 1919 kurz vor seinem Tode zu Theodor Heuss sagte, daß auch die schönste Musterverfassung nichts nütze, wenn es keine Achtung des einzelnen Menschen gäbe. Das Ziel für den zweiten Bauabschnitt muß also heißen: nicht immer danach fragen, was diese Demokratie für uns tun kann, sondern immer nur danach fragen, was wir für diese Demokratie tun können! - Das sind Worte Präsident Kennedys, und das ist es, was Theodor Heuss exemplarisch vorgelebt hat. Versuchen wir doch auch, die Realitäten und Vorzüge dieser Zeit für die demokratischen Ideale nutzbar zu machen, und versuchen wir andererseits, die demokratischen Ideale auf die Realitäten anzuwenden. Das gilt vor allem für die Wechselwirkung zwischen Schule und Erziehung einerseits und Staat und Gemeinschaft andererseits. Das gilt aber auch für viele andere Bereiche unseres modernen wirtschaftlichen und sozialen Lebens. Man kann das nicht aus Büchern lernen, man muß es erfahren, erleben, erleiden. - Erst dann werden wir das erreichen, was die Angelsachsen den »democratic way of life« nennen. Theodor Heuss war um diesen »democratic way of life« sehr besorgt, in seiner Sprache nannte er es »demokratische Gesinnung«, und ich erinnere mich noch gut eines Gespräches, das ich anläßlich eines Fernsehinterviews zum 10. Jahrestag des Bonner Grundgesetzes mit ihm hatte. Er benutzte diese Gelegenheit, um sehr ernsthaft festzustellen, daß eine Verfassung keine Gesinnungen produzieren könne, daß es aber auf eben diese Gesinnungen ankomme! An dieser Stelle wollen wir einsetzen und mit Hilfe einer großherzigen privaten Spende den Grundstock zu einem Theodor-Heuss-Preis legen. Dieser Preis soll in regelmäßigen Zeitabständen verliehen werden für Beispiele und Vorbilder demokratischen Verhaltens und freiheitlicher Gestaltung des Zusammenlebens. Wir denken dabei besonders an Schulen und Klassengemeinschaften, die wir damit ermutigen wollen, viel mehr als bisher demokratische Formen des Zusammenlebens, Erlebens und Verhaltens zu üben, um auf diese Weise schon in jungen Bürgern den Grund für demokratische Verantwortung und politische Einsicht zu legen. Von Einzelinitiativen abgesehen, hat hier unsere offizielle Pädagogik so gut wie ganz versagt. Unser Schulwesen und -leben scheint unbeweglicher denn je. Vielleicht trägt unser Wettbewerb dazu bei, anspornende Impulse zu geben. Aber nicht nur Schulen und Klassen, sondern auch Jugend-, Studenten- oder Frauenorganisationen oder Institutionen und Gemeinschaften aller Art sollen sich an diesem Wettbewerb beteiligen können. Wichtig und entscheidend sind allein Beispiele für mitmenschliches Verhalten und Verantwortung, die Übung in demokratischen Spielregeln und die Einsicht in politische Zusammenhänge. Wenn wir uns daran erinnern, daß Theodor Heuss zeit seines Lebens der praktischen politischen Erziehung großen Wert beigelegt hat, und wenn wir uns erinnern, daß seine Frau Elly Heuss-Knapp bereits als zwanzigjährige junge Lehrerin in Straßburg frisch und munter damit begann, ihren Schülerinnen »Staatsbürgerkunde« zu erteilen und mit ihnen darüber zu diskutieren, wenn man in dem Büchlein blättert, das sie später in Berlin in den zwanziger Jahren zur Staatsbürgerkunde für junge Mädchen geschrieben und selber gelehrt hat, dann dürfen wir ganz sicher sein, daß die Verwendung dieser Spende voll und ganz im Sinne von Elly und Theodor Heuss ist. Es geht auch uns um die politische Lebensregel dieser beiden Menschen: nicht von der Demokratie leben zu wollen und nicht neben ihr, sondern für sie. Wir wissen nur zu gut, daß sich die Zeit mit überstürzender Eile wandelt. Mensch und Ereignisse sind im Handumdrehen vergessen. Es gibt kaum ein Entrinnen. Deshalb wollen wir alles daransetzen, der Persönlichkeit und dem Wirken von Theodor Heuss ein lebendiges Denkmal zu setzen in den Herzen derjenigen, die er selber so sehr ins Herz geschlossen hatte: in der Jugend! Möge der Theodor-Heuss-Preis, der auch dem Andenken seiner bedeutenden Frau dienen soll, dazu beitragen, daß eine neue Generation den demokratischen Staat mit demokratischem Leben erfüllt, so wie es uns Theodor Heuss in unvergeßlicher Weise vorgelebt hat. Denn an ihm, unserem ersten Bundespräsidenten, hat sich die Hoffnung Ludwig Uhlands erfüllt, daß über Deutschland ein Haupt leuchten solle, das mit einem vollen Tropfen demokratischen Öls gesalbt sei! Hundert Jahre hat es gedauert, hundert Jahre der politischen Irrungen und Wirrungen, aber Theodor Heuss war dieses Oberhaupt! Und es leuchtete! Nicht in schimmernder Wehr, nicht im Glanz gekrönter Häupter, sondern es leuchtete im Sinne Uhlands des Demokraten, des Patrioten, des Mannes des Geistes und des Rechtes. Es leuchtete nicht im trügerischen Glanz eingebildeten Gottesgnadentums, wohl aber demütig auf die Gnade Gottes hoffend. Es leuchtete im Geiste aller freiheitsliebenden Menschen, wie es sie zu allen Zeiten gegeben und in aller Zukunft geben wird: Theodor Heuss war der erste demokratische Diener seines Volkes!

b) Vierzehn Jahre später[53]

Drei Überlegungen halte ich - nicht nur für die weitere Arbeit unserer Stiftung - sondern als elementare Bedingungen für unsere weitere demokratische Entwicklung für wichtig.

  1. Wir sollten uns um die speziell unserer deutschen Demokratie inhärenten Entwicklungsschwächen nicht herum mogeln, sondern möglichst nüchtern darauf zugehen und versuchen, sie in unser (selbst)kritisches Demokratieverständnis einzubeziehen. Mit häufig gehörten, nach Apologetik oder Selbstlob klingenden Feststellungen wie »hohe Wahlbeteiligungen«, »stabile Parteienkonstellation« oder »freiheitlichster Staat unserer Geschichte« allein ist es bestimmt nicht getan. Solche Feststellungen sind zwar zutreffend, sie tendieren aber häufig zum Abwürgen unliebsamer Kritik oder zu mangelnder Bereitschaft zu differenzierterer Betrachtungsweise. Mir persönlich klingen sie auch unerlaubt vordergründig. Bei kritischen jungen Zuhörern erzeugen sie meistens bestenfalls ein müdes Lächeln, oft emotionsgeladene Opposition. Der Dialog bricht ab, noch ehe er eigentlich begonnen hat. Sollten wir nicht statt dessen der jungen Generation reinen Wein einschenken und die Bedingungen offen legen, unter denen wir nach 1945 angefangen haben? Sollten wir nicht (auch uns selber) offener über unsere Bemühungen, Erfahrungen und positiven wie negativen Ergebnisse Rechenschaft ablegen? Dabei stellt sich dann gleich die Frage nach unserer eigenen Einstellung. Trauen wir eigentlich selber dem »freiheitlichsten Staat« unserer Geschichte? Trauen wir ihm Belastungsproben zu? Oder empfinden wir ihn nicht oft selber allzu ängstlich als eine »Schönwetter-Demokratie«, die hinter einer ansehnlichen Fassade die Vergangenheit nicht ausräumt, die Gegenwart zerredet und mit beidem die Zukunft verstellt? Sollten wir nicht auch in Schönwetterzeiten mehr als alles andere den Herausforderungscharakter der Demokratie deutlich machen und uns und anderen Mut machen, zu den Möglichkeiten der selbst verantworteten Freiheit beizutragen? Wenn wir davon selbst überzeugt sind, könnten wir damit die junge Generation anstecken.
  2. Wir sollten das allerdings sehr nüchtern tun. Die ständige Überhöhung und Idealisierung der Demokratie tut ihr nicht gut. Dies löst Enttäuschung aus und schließlich Ablehnung. Demokratie ist nun einmal kein perfektes Ordnungssystem. Sie bietet nicht mehr an als die zeitlich begrenzte Herrschaft der Mehrheit und Spielregeln zur Konfliktlösung, Korrektur und Veränderung. Es kommt allein auf die Menschen an und wie sie mit ihr umgehen. Demokratie und ihre Verfassung sind ein »Angebot«, wie Gustav Heinemann bei der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises einmal sagte, und kein fertiges Paradies. Gerade das Unfertige, Verbesserungsfähige, Mögliche erzeugt aber die Schwungkraft der Demokratie. »Sie ist immer auf dem Weg zu sich selbst«, sie ist niemals fertig, sie ist immer verbesserungsbedürftig, aber auch verbesserungswürdig, so hat Bundespräsident Walter Scheel die junge Generation zugleich ernüchtert, aber auch zu kritischer Sympathie und Mitarbeit ermutigt.
  3. Schließlich ergibt sich aus den Erfahrungen des letzten Jahrzehnts, daß das Spektrum demokratischer Möglichkeiten in einer freiheitlichen Gesellschaft sehr viel breiter ist, als es durch ihre politischen Parteien abgedeckt wird, und ich füge hinzu - im Hinblick auf ihre (legitimen) Machtansprüche auch nicht in Beschlag genommen werden sollte. Ich glaube, das ist eine wichtige Erfahrung unserer demokratischen Entwicklung: Bürgerinitiativen und andere politisch aktive neue Gruppierungen sind nicht nur - nicht einmal zum Teil - entstanden, »weil Parteien oder Bürokratien versagt haben«, sondern weil wir dabei sind, ganz neue Möglichkeiten freiheitlicher Initiativen und Mitarbeit zu entdecken und zu nutzen. Und das ist gut so. Das Spektrum der Möglichkeiten der Mitarbeit, aber auch der Verantwortung (!) hat sich beträchtlich erweitert - und das ist durchaus ein politischer, ein ernst zu nehmender Prozeß. Rivalitäten und Auseinandersetzungen zwischen politischen Parteien und Bürgerinitiativen sind für mich vor allem ein Beweis für unser offenkundig lebendiger werdendes Demokratieverständnis. Ich halte diese Konkurrenz für eine heilsame Herausforderung und eine Absage an jeden Totalitätsanspruch von Parteien auf das »Politische«. Ob dieser Prozeß schließlich auch unsere Parteienlandschaft verändert, bleibt abzuwarten. Ich bin überzeugt: Wenn sich zur neu erwachten Freude an Initiativen auch die in jedem freiheitlichen Zusammenleben unverzichtbare Verantwortung gesellt und wenn sich die junge Generation in diese Entwicklung einbezogen fühlt und selber einbezieht in die Mühsal und die Chancen demokratischer Prozesse, dann braucht uns weder um das nächste Jahrzehnt unserer Demokratiewerdung noch um die Kontinuität ihrer Entwicklung bange zu sein. Zu guter Letzt werden daraus auch neue Formen der Gemeinsamkeit entstehen.

c) Nach zwanzig Jahren[54]

Der Theodor-Heuss-Preis - und das unterscheidet ihn von allen anderen politischen Preisen sowie die ihm ebenbürtigen Heuss-Medaillen (die vorwiegend auf gesellschaftspolitisches Engagement abzielen) werden ausdrücklich nicht für bereits abgeschlossene große Lebensleistungen verliehen. Sie dienen vielmehr der Ermutigung des einzelnen Mitbürgers oder von Gruppen für ein bestimmtes Engagement, für ein bestimmtes Beispiel demokratischer Gesinnung, für eine hervorragende Initiative - und sie sollen zur Nachahmung anstiften.
Getreu diesem Grundsatz ist unsere Auszeichnung also kein Bambi für politische Popularität, sondern oft eher umgekehrt ein Preis für Mut zur Unpopularität, zur Unbequemlichkeit, zur Risikobereitschaft, zum rechten Gebrauch der Freiheit. Ein Preis für öffentliche Gesinnung und für politische Bildung!
Kurzum: Die Stiftung Theodor-Heuss-Preis vergibt keine Lorbeeren, weder nachträglich noch auf Vorschuß. Sie möchte sozusagen demokratisches Wachstum fördern, das unserer Überzeugung nach die gleiche öffentliche Aufmerksamkeit verdiente wie unser Wirtschaftswachstum.
Die Bandbreite unserer Auswahl ist groß gewesen. Sie reicht:

  • vom Kampf gegen Vorurteile dort, wo diese am tiefsten sitzen - beim Umgang mit dem Fremden und Andersartigen, seien es ausländische Arbeitnehmer, Amerikaner, Juden, Sinti, Minderheiten...
  • bis zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen im Umweltschutz, bei der Drogenbekämpfung, bei der Erhaltung von Kulturdenkmälern, in der Gemeinwesenarbeit und des Strafvollzugs
  • von Friedensinitiativen (zum erstenmal bereits 1969) dort, wo sie am konkretesten sind - in der Pädagogik, in der Jugendarbeit, in der eigenen Nachbarschaft
  • bis zur vertrauensbildenden Zusammenarbeit in Europa, für Europa und in Ländern der Dritten Welt.

Rückblickend waren unsere Trefferquoten ungewöhnlich hoch Das gilt keineswegs nur für das frühzeitige Aufspüren späterer Bundespräsidenten, das gilt vor allem für das rechtzeitige Herausstellen von Problemen und Verantwortlichkeiten, bevor sie noch in die kritischen Schlagzeilen gerieten (Beispiele: Arbeitslosigkeit als gesellschaftspolitisches Problem, Ausländerfragen, Frieden und Entwicklung, Erhaltung der Schöpfung). Und wenn Sie in der Ihnen zugedachten kleinen Jubiläumsschrift nachblättern und den Kreis der von uns in zwanzig Jahren ausgezeichneten Personen, Gruppen, Organisationen und Initiativen überblicken, dann werden Sie feststellen, daß sich in dem sehr unterschiedlichen Engagement unserer Preisträger tatsächlich so etwas wie ein freies und tapferes Menschentum als tägliche Erfahrung verwirklicht hat und daraus am Ende so etwas wie eine lebendige, vielfältige und hoffentlich auch weiter wirkende Chronik liberaler Bürgergesinnung entstanden ist: ein Stück politischer Kultur zum Anfassen, zum Weitermachen und zum Nachmachen! Ein Befund scheint mir dabei besonders beachtenswert: Diese Chronik erbringt den Beweis, daß es in unserer Demokratie trotz vieler tiefer Gräben und scheinbar unüberbrückbarer politischer und weltanschaulicher Gegensätze durchaus verbindende und verbindliche Herausforderungen gibt-, die gemeinsames Engagement und gemeinsame Lösungen auch in Form von Kompromissen möglich machen und die in der Öffentlichkeit auch über Parteigrenzen hinweg gemeinsame Anerkennung finden. So können scheinbare Außenseiter des demokratischen Spektrums zu seiner Stütze werden. Hier ist so etwas wie eine demokratische Tradition im Entstehen begriffen, die Theodor Heuss für sehr wichtig gehalten hat und von der er schon 1920 gesagt hat, daß wir sie schaffen müßten, nachdem wir unsere Demokratie nicht erkämpft hätten. Noch ist das allerdings ein sehr zartes Pflänzchen mit schwachen Wurzeln - dieser Ansatz zu einer demokratischen Tradition und Kultur (öffentliche Gesinnung plus politische Bildung!). Darüber dürfen wir uns auch bei aller Festtagsfreude keinen Illusionen hingeben: Auch politische Kultur kann nicht krampfhaft herbeigeredet werden. Sie gedeiht - wie eine natürliche Kulturlandschaft langsam durch behutsame, sorgfältige und regelmäßige Pflege und indem man sie vor Zerstörung oder Verwilderung bewahrt. Politischer Umweltschutz ist genauso wichtig wie ökologischer!
Nehmen wir das aktuelle Beispiel des Streites um den richtigen Weg zur Erhaltung des Friedens und der Freiheit. Wir wissen nur zu gut, daß dieser Streit mit der Bundestagsentscheidung vom 22. November nicht zu Ende ist und auch weiterhin eine Bewährungsprobe unserer immer noch und immer wieder gefährdeten freiheitlichen Demokratie bleiben wird. Diese Bewährungsprobe wird weder durch politisches Muskelspiel der Mehrheit bestanden noch durch gut gemeintes Klopfen auf die Schultern der Minderheit. Hier müssen durch immer neue Anläufe und Anstrengungen bestehende und neu entstehende Konflikte ausgetragen und ertragen werden. Auch das erfordert den Mut zur kleinen Utopie wie er in diesem scheinbar unlösbaren Konflikt von unseren Preisträgern des Jahres 1982 den Verfassern der EKD-Denkschrift »Frieden wahren, fördern und erneuern« - so vorbildlich bewiesen wurde. Paul Noacks Analyse ist sehr zutreffend, wenn er dazu schrieb: »Wieder ist die Bundesrepublik an einem Punkt angelangt, an dem ihre großen Debatten über Grundfragen ihres Selbstverständnisses mit dem Ausbruch eines Irrationalismus enden könnten. Dem versucht die Stiftung Theodor-Heuss-Preis entgegenzuwirken, indem sie mit ihrer Auswahl die Konsensfähigkeit unseres ständig gefährdeten Staatswesens dokumentieren möchte. Wir setzten auf dieses Beispiel der Kompromißfähigkeit in scheinbar kompromißunfähiger Zeit und bei einem scheinbar kompromißunfähigen Problem. Hier zeichnen wir ein Wagnis aus, ein scheinbar unrettbar konsensunfähiges Thema überhaupt aufgegriffen zu haben.« Mit der Zuerkennung des 20. Theodor-Heuss-Preises an Richard von Weizsäcker verbinden wir gerade in Richtung politischer Kulturpflege große Hoffnungen und Erwartungen. Er hat die Gabe und die Kraft der demokratischen und zwischenmenschlichen Glaubwürdigkeit! Und beides brauchen wir! Es ist nicht gut, wenn die Träume eines großen Teils unserer jungen Bürger nur noch Alpträume sind und wenn unsere demokratische Kultur nur noch eine Art Sonntagsfirnis über auseinander driftende Subkulturen würde: Datenschutz und Ausländerfragen, Volkszählung und Waldsterben - vor allem aber unsere innere Friedensunfähigkeit -, dies alles sind Bewährungsproben für unsere nach wie vor traditions und kulturarme Demokratie... Die Zukunft unserer Demokratie geht uns alle an, das ist sicher das wichtigste und bleibende Vermächtnis von Theodor Heuss, an das wir am Vorabend seines 100. Geburtstages, aber auch darüber hinaus, dankbar erinnern wollen.

d) Mut zum Erinnern - Kraft zur Versöhnung: Nach zweiundzwanzig Jahren[55]

Wie noch in jedem Jahr, hat die Theodor-Heuss-Stiftung Thematik und Auswahl ihrer Preisträger unter einer Fragestellung ausgeschrieben, die über das politische Tagesgeschehen hinausführt und für die Förderung unserer demokratischen Kultur bedeutsam ist. Für die Ausschreibung zu dieser Verleihung haben wir bereits im vorigen Sommer den Leitgedanken unseres Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (unseres 20. Preisträgers) aus seiner historischen Rede zum 8. Mai 1945 ausgewählt, weil er uns für unser demokratisches Grundverständnis als so wichtig erschien, daß wir ihn durch Beispiele konkretisieren wollten. Ich zitiere: »Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, daß es zu einem Teil des eigenen Innern wird... Gerade deshalb müssen wir verstehen, daß es Versöhnung ohne Erinnerung gar nicht geben kann... Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen. Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren... Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind mitverantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird. Wir Älteren schulden der Jugend nicht die Erfüllung von Träumen, sondern Aufrichtigkeit. Wir müssen ihnen helfen zu verstehen, warum es lebenswichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten...« Diese klassische Botschaft, die ja - nach den quälenden monatelangen Diskussionen über die Bedeutung des sperrigen Gedenktages des 8. Mai - auf uns alle klärend und befreiend gewirkt hat und die in der ganzen Welt große Beachtung und Zustimmung gefunden hat, sollte nach unserer Überzeugung nicht nur einen festen Platz in unseren Schulbüchern erhalten, sondern sie müßte auch Maßstäbe setzen für unser politisches Denken, Handeln und Verhalten - kurz: für unsere demokratische Kultur. Niemand konnte voraussehen, daß der hohe Anspruch der Botschaft Richard von Weizsäckers schon wenige Monate später im politischen Alltag auf dem Prüfstand der Bewährung stehen würde und daß die scheinbare Harmonie durch zumindest sehr missverständliche, antisemitische Äußerungen empfindlich gestört werden würde. Man mag sie als »Ausnahmen« bezeichnen (das laut - oder heimlich - zustimmende Echo ist es bestimmt nicht mehr) dennoch erlauben sie keine Bagatellisierung. Mit verbaler Distanzierung ist es nicht getan. Wir dürfen es uns nicht abermals zu leicht machen! Hier ist unsere Sensibilität gegenüber solchen sich zunächst unterschwellig freisetzenden Tendenzen gefordert! Wir dürfen die Wachsamkeit und den Protest nicht den unmittelbar Betroffenen überlassen. Von wieder auf brechendem Rassismus, in welchem Gewande auch immer, und seien es auch nur Stammtischparolen, müssen wir uns alle betroffen fühlen! Mit dem lapidaren Satz aus regierungsamtlichen Mund: »Das Deutsche Volk hat aus seiner Geschichte gelernt«, ist es nicht getan. Es war, es ist, und es bleibt eine »unerhört schwere Aufgabe«, uns all der Unmenschlichkeit zu erinnern und unsere Geschichte anzunehmen, wie Richard von Weizsäcker es zu Recht gefordert hat. Und dies gilt keineswegs nur für das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden, obgleich dieses ganz sicher am schwierigsten und schmerzempfindlichsten ist, wie wir immer wieder erfahren. Das gilt ebenso für unsere Einstellung und die Verhaltensweisen gegenüber allen Gegnern und Opfern nationalsozialistischer Verfolgung - seien es politische Widerstandskämpfer oder Emigranten, Polen oder Russen, ja auch Amerikaner oder Niederländer, oder auch jene fast total vergessenen Gruppen, die aus Rassendünkel sozial Verfolgten und Vernichteten, die Sinti und Roma, die Zwangssterilisierten und Homosexuellen. Die menschlich-allzu menschliche Mentalität: »Es muß endlich einmal Schluß sein! «, die sich, wie wir hörten, bereits Ende 1945 bemerkbar machte, hat eben leider zur Verdrängung und nicht zur Heilung geführt. Zur Heilung bedarf es auch weiterhin jener tapferen und geduldigen Aufarbeitung sowie der verständnis- und lernbereiten Auseinandersetzung, wie sie beispielhaft von unseren Preisträgern in den unterschiedlichsten Bereichen geleistet wird. Tendenzen zu einer endgültigen politischen und moralischen »Entsorgung« der Bundesrepublik (Habermas) von ihrer jüngsten Geschichte dürfen wir nicht zulassen! Statt dessen müssen wir geduldig und gewissenhaft die teils versäumte, teils verdrängte Aufarbeitung jenes »wüsten Geschehens« (Th. Heuss) weiter leisten, bevor wir wirklich zu einer neuen »Normalität« finden können. Hierfür lassen sich die Erfahrungen aus der Psychoanalyse durchaus vom einzelnen Menschen auf Gruppen und Völker übertragen: daß nämlich Verdrängen und Vergessen von Schuld und Angst, von Konflikten und Erfahrungen nur scheinbar wirklich davon befreit, daß das Verdrängte vielmehr unausweichlich und oft verstärkt mit verheerenden Folgen wieder zurückkehrt. Kommt das nun auf uns zu? Zum Beispiel mit den Denkkategorien der Fellners und Spees und dem Heer ihrer Sympathisanten? Mit ausländerfeindlichen Skinheads und dem Heer ihrer Sympathisanten? Mit verbalen Kraftmeiereien und unüberhörbar revanchistischen Tönen auf Vertriebenentreffen (von denen die Mehrheit längst keine Vertriebenen mehr sind)? Noch einmal: Das dürfen wir nicht zulassen! Und deshalb haben wir als Preisträger einzelne und Gruppen ausgewählt, die all diesen Tendenzen entschieden und gewissenhaft entgegenwirken. Preis und Medaillen 1986 werden verliehen an:

  1. den Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland, Herrn Werner Nachmann, für seine jahrzehntelangen hingebungsvollen und geduldigen Bemühungen um den jüdisch deutschen Aussöhnungsprozeß und den Versuch eines neuerlichen Zusammenlebens von Juden und Deutschen. Werner Nachmann hat sich dabei in beispielhafter Weise um die Überwindung der Schwierigkeiten bei der Integration der in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehrenden Juden verdient gemacht. Seine versöhnungsbereite Grundhaltung hat ihn trotz vieler Rückschläge - immer wieder befähigt, gegenseitiges Verständnis zu fördern und zum offenen Dialog zu ermutigen. Trotz Emigration und erlittenen bitteren Unrechts hat er sich nie einseitig als Vertreter jüdischer Interessen verstanden, sondern als versöhnungsbereiter Mittler auch gegenüber dem Staate Israel... Mit der Zuerkennung des Theodor-Heuss-Preises an Werner Nachmann möchte die Stiftung die tief empfundene Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, die wir Deutsche dem deutschen Juden Werner Nachmann für seinen Beitrag zum Versöhnungswerk schulden!

  2. die Arbeitsgemeinschaft »Christen und Juden auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag« (Frau Edna Brocke - Prof. Dietrich Goldschmidt Pfarrer Otto Schenk - Pfarrer D. Martin Stöhr) für ihre hervorragenden Bemühungen um christlich-jüdische Verständigung und Zusammenarbeit in theologischen, politischen und pädagogischen Bereichen und dies auf und zwischen den Kirchentagen seit fünfundzwanzig Jahren unter wechselnden politischen Bedingungen. Der Ertrag dieser Bemühungen für ein besseres gegenseitiges Verständnis in theologischer, historischer und politischer Hinsicht ist schon heute unermesslich groß und bedeutsam.

  3. Herrn Tadeusz Szymanski, der als langjähriger Kustos der Gedenkstätte in Auschwitz ungezählte Besuchergruppen aller Nationen begleitet und betreut hat. Als ehemaliger Häftling hat er bei diesen Begegnungen nicht nur die Schrecken des Vernichtungslagers Auschwitz dargestellt, sondern sich in beispielhafter menschlicher Größe für die deutsch-polnische Aussöhnung eingesetzt. Damit ist Tadeusz Szymanski nicht nur zu einem unerläßlichen Mittler bei der Verarbeitung des Geschehens ins Auschwitz geworden, sondern auch zu einem Symbol der Hoffnung für eine deutsch-polnische Aussöhnung.
  4. den Förderverein Internationale Jugendbegegnungsstätte Dachau e. V., der sich auch gegen Widerstände in der Öffentlichkeit unermüdlich für die Errichtung einer Jugendbegegnungsstätte im ehemaligen Konzentrationslager Dachau einsetzt. Tausende von Gruppen und einzelne Jugendliche, die alljährlich das ehemalige KZ besuchen, hatten zur Begegnung bisher keine Gelegenheit. Deshalb soll die Begegnungsstätte Jugendlichen aus allen Ländern offen stehen, die sich mit den Ursachen und den schrecklichen Folgen des Nationalsozialismus auseinandersetzen und daraus für ihr eigenes Verhalten lernen wollen.
  5. Herrn Hartmut Peters und dem Schüler-Lehrer-Projekt »Juden besuchen Jever« für ihre Arbeit »Zur Geschichte der Juden Jevers - Dokumente und Darstellungen zur Geschichte der Juden Jevers 1698-1984«. Das Buch basiert auf einer Ausstellung »Zur Geschichte der Juden Jevers«, die von Schülern und Lehrern des Mariengymnasiums initiiert wurde. Sowohl die Ausstellung wie auch eine Einladung an ehemalige Mitbürger jüdischen Glaubens, ihre alte Heimatstadt nach Jahrzehnten wieder aufzusuchen, gehen auf eine Schülerbewegung zurück, die seit 1978 immer wieder auch Lehrer motiviert hat, bei der Erkundung der Vergangenheit, der Gegenwart und bei der Präsentation der Ergebnisse und politischen Projekte zu helfen.
  6. Herrn Erwin Essl, der sich als Gründer und Vorsitzender der »Bayerischen Gesellschaft zur Förderung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion« durch sein jahrelanges selbstloses Engagement auf diesem besonders schwierigen Feld der Verbesserung von Beziehungen große Verdienste erworben hat.

e) Die Theodor-Heuss-Preisträger und die
Medaillenempfänger von 1965 - 1986 (in Auswahl)

Jahr Theodor-Heuss Preisträger  
1965 »Vom rechten Gebrauch der Freiheit« Preisträger: Professor Georg Picht - Aktion Sühnezeichen
1966  »Über den Mut, den ersten Schritt zu tun« Preisträger: Marion Gräfin von Dönhoff - Bamberger Jugendring - Medaillenempfäger u. a. Bund Deutscher Pfadfinder
1967  »Verantwortung ist Bürgerpflicht« Preisträger: Wolf Graf von Baudissin -Professor Ludwig Raiser Medaillenempfänger: u. a. Aktion Student aufs Land
1968 »Demokratie glaubwürdig machen« Preisträger: Dr. Dr. Gustav Heinemann
Medaillenempfänger: u. a. Helferkreis zur Betreuung ausländischer Zeugen in den KZ-Prozessen
1969 »Konflikte - Ende oder Anfang der Demokratie« Günter Grass - Dr. Hans Heigert - Hans Wolfgang Rubin
1970 »Demokratisch leben« Preisträger: Bürgeraktion zum Schutze der Demokratie Lebenshilfe für geistig Behinderte - Oberstaatsanwältin Dr. Barbara Just-Dahlmann
1971 »Mehr Demokratie braucht mehr Demokratie« Walter Scheel - Aktion junge Menschen in Not (Gießen)
1972 »Demokratie verantworten« Preisträger: Alois Schardt und die Redaktionsgemeinschaft von »Publik«
1973 »Der lange Weg vom Untertan zum mündigen Bürger« Preisträger: Der mündige Bürger u. a. Christian Wallenreiter Professor Theodor Hellbrügge
1974 »Demokratie aktiv legitimieren« Preisträger: Initiativgruppe zur Betreuung ausländischer Kinder (München) Initiativkreis ausländischer Mitbürger und die Spiel- und Lerngruppen für Gastarbeiterkinder (Augsburg)
u. a. D. Dorothee Sölle
1975 »Weltverantwortung und individuelle Lebenschancen« Preisträger: Forum Regensburg
1976 »Demokratie im Wahlkampf« Preisträger: Egon Bahr - Burkhard Hirsch
1977 »Grundwerte der Demokratie: Initiative und Verantwortung« Preisträger: u. a. Modell Berufseingliederung und Berufsausbildung »Lernbehinderter« der Handwerkskammer Mittelfranken  
1978 »Verteidigung der Freiheit« Preisträger: Helmut Schmidt u. a. Manfred Rommel - Alfred Grosser
1979 »Bürgerengagement für Europa« u. a. Lilo Milchsack Hans Paeschke
1980  »Verantwortung für den Nächsten« Preisträger: terre des hommes Deutschland Professor Horst Eberhard Richter u. a. Gerhard Mauz
1981 »Herausforderungen in der Zukunft« u. a. Arbeitslosen-Initiative Stuttgart
1982 »Frieden wahren, fördern und erneuern« Preisträger: Die Denkschrift der Kammer für öffentliche Verantwortung in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) »Frieden wahren, fördern und erneuern«
1983 »Fremd sein - miteinander leben« u. a. Renate Weckwerth und die von ihr geleitete »Regionale  Arbeitsstelle zur Förderung ausländischer Kinder und Jugendlicher (Oberhausen)
1984 »Politischer Stil in der demokratischen Auseinandersetzung« Preisträger: Richard von Weizsäcker u. a. Liselotte Funcke - Dr. Ruth Leuze
1985 »Verantwortung für die Freiheit« Preisträger: Dr. h. c. Georg Leber Aktion Menschen für Menschen Karlheinz Böhm - Deutsches Komitee Not-Ärzte e. v.
1986 »Vierzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Hitler-Diktatur, Mut zum Erinnern Kraft zur Versöhnung« Preisträger: Werner Nachmann

 

Texttyp

Historischer Essay