Leiden an der Wirklichkeit

Einführung

Zum Verständnis dieses Kapitels, das ebenso unterschiedliche wie kontroverse Themen enthält, möchte ich auf meine allgemeine Einführung zum Textteil verweisen (S. 17ff.) Allen hier aufgenommenen Beiträgen ist darüber hinaus gemeinsam, daß die ihnen zugrunde liegenden Ereignisse nicht nur für mich Persönlich oft harte Bewährungsproben bedeuteten, sondern daß sie mir auch für den Werdegang und den Zustand unserer demokratischen Kultur von prinzipieller Bedeutung zu sein scheinen. Das gilt im Rückblick ebenso für den »Fall Maunz « (Ziffer 2) wie für die Richtungskämpfe um das Selbstvertrauen einer liberalen Partei (Ziffer 3). Es gilt aber auch für die unter den Ziffern 4 bis 6 zusammen gefaßten Kontroversen aus der jüngsten Zeit und den Rückblick auf das Jahr »anstößiger Gedenktage« (Ziffer 1).
Diese letzten Jahre brachten für meine demokratischen Überzeugungen und Verhaltensprinzipien schwerste Belastungsproben. Wiederholt hatte ich das Gefühl, daß alles zur Disposition und Bewährung stehe, was ich seit 1945 vertreten hatte und wofür ich eingetreten war:

  • Es begann am 1. Oktober 1982, als ich dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt das Mißtrauen aussprechen sollte, ohne auch nur eine Spur davon zu empfinden, um damit einen Machtwechsel ohne Wählervotum zu legalisieren. Dieses Votum wurde ja erst mit den Wahlen am 6. März 1983 nachgeholt.
  • Es folgte Anfang 1984 die schlimme Affäre um Verteidigungsminister Wörner, die im stickigen Dunst ungeklärter Stilfragen ohne seinen fälligen Rücktritt endete. Wenige Monate später gab es den Versuch der Koalition, dem Parlament anläßlich einer Novellierung der Steuerstrafgesetzgebung die Amnestierung illegaler Parteispenden »unter zujubeln«, was allein durch den Aufstand der FDP-Basis verhindert wurde.
  • Das Jahr 1985 endete schließlich mit der dubiosen Nutzung der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes für parteipolitische Zwecke durch den parlamentarischen Staatssekretär des Bundesinnenministeriums.

Die hier abgedruckten Erklärungen und Stellungnahmen zu solchen und anderen schwer erträglichen Beschädigungen der demokratischen Kultur und des politischen Stils haben mir verständlicherweise Ärger und Schwierigkeiten eingebracht. Dabei haben mich mein Protest und öffentliche Unterstützung vor endgültiger Resignation bewahrt. Denn heute - wie vor vierzig Jahren - weiß ich, daß der einzelne zwar nicht die Welt verändern kann, wohl aber sein eigenes Verhalten. Daraus erwächst Mut und Demut zugleich, oder - wie Max Weber es formulierte -jene »Festigkeit des Herzens, die auch beim Scheitern aller politischen Hoffnungen erlaubt, >dennoch< zu sagen« - und das heißt, nicht aufzugeben (Ziffern 1, 4 b, 7, 8).

1. 1985: Ein Jahr anstößiger Gedenktage - und was nun?[25]
(Rückblende)
 

1985 war ein Jahr »anstößiger« - das heißt: Anstöße gebender, aber auch Anstoß erregender - Gedenktage. Ich nenne nur

  • den 8. Mai, den Tag des Kriegsendes und der Befreiung von der Hitlerdiktatur, und
  • den 19. Oktober, das Datum des »Stuttgarter Schuldbekenntnisses« der Evangelischen Kirche vor vierzig Jahren,
  • den 15. September, den 50. Jahrestag des Erlasses der Nürnberger Rassengesetze, und schließlich
  • den 20. Jahrestag der Veröffentlichung der Ost-Denkschrift der EKD.

Diese Häufung schwieriger Erinnerungen an düstere Begebenheiten unserer politischen Geschichte mag, vor allem jüngeren Menschen, eher zufällig erscheinen. Wer aber wie ich beides miterlebt hat - die Ereignisse selber und die Erinnerung daran aus heutiger Sicht -, der weiß, daß sie in einem historisch so stringenten Zusammenhang stehen, daß sie, zusammen gesehen, ein eindringliches politisches Lehrstück von aktueller und fortwirkender Bedeutung ergeben, auf das zu besinnen sich am Ende dieses Jahres lohnt. Dies möchte ich hier versuchen. Auf den ersten Blick hinterläßt dieses »Lehrstück« seltsam verworrene Empfindungen. Da gab es die politische und wohl auch seelische Zerreißprobe zwischen der hoch offiziellen Pilgerfahrt nach Bitburg und dem spontanen Gang von Juden und Christen, Deutschen und Amerikanern zu den Gräbern der Opfer der » Weißen Rose«. Da taten sich Abgründe im Selbstverständnis der Deutschen auf zwischen den Reden der Vertriebenen-Funktionäre und mancher Minister einerseits und der des Bundespräsidenten am 8. Mai andererseits. Da erlebten wir Höhe- und Tiefpunkte von aufrichtiger Besinnung bis hin zu gespenstischen Kameradschaftstreffen ehemaliger SS-Verbände. Da gab es klärendes, aber auch qualvolles Bemühen, aus Schuld und Verantwortung fortwirkende Konsequenzen zu ziehen - z. B. auch beim Ökumenischen Treffen von deutschen und polnischen Christen in Warschau. Da gab es aber auch Verkrampfungen, Abwehr und Beispiele bestürzender Unfähigkeit zu Einsicht und Mitempfinden, wie sie noch einmal in den letzten Wochen während der Auseinandersetzung um das (schlechte) Fassbinder-Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod« in Frankfurt aufgebrochen sind. Angesichts all dieser Verworrenheit ist es kein Wunder, daß es eher gemischte Gefühle sind und unklare politische Vorstellungen, die zurückbleiben, und daß sich Erleichterung ausbreitet, daß dieses Jahr anstößiger Gedenktage nun überstanden ist. Ist das wirklich so? Haben wir es überstanden? Ich meine, daß wir es uns nicht so leicht machen dürfen. Offenbar begleiten uns diese »gemischten Gefühle« und unklaren Vorstellungen nicht nur anläßlich anstößiger Gedenktage, sondern fortwirkend auch bei anderen Gelegenheiten in unserer politischen Wirklichkeit. Deshalb sollten wir nicht einfach zur Tagesordnung 1986 übergehen, sondern zu klären versuchen, wo und weshalb wir uns mit unseren politischen Vergangenheiten immer noch und immer wieder so schwer tun. Ich denke da beispielsweise an den aufgebrochenen Dissens, ob und wie eine offizielle Gedenkstätte in Bonn (zur Kranzniederlegung bei Staatsbesuchen) symbolisch gestaltet werden soll (Opfer und Täter vereint? für jeden etwas?), oder bei der Konzeption für ein Haus der Geschichte (der Bundesrepublik Deutschland). Oder die spürbar allgegenwärtige politische Vergangenheit, wenn es um die Entscheidungen unserer Politik gegen das Apartheids-Regime Südafrikas geht oder über Waffen-Exporte nach Saudi-Arabien ja über den Bau einer Munitionsfabrik, auf deren Produktion und den Verbleib dieser Produktion wir Deutschen endgültig keinerlei Einfluß mehr haben. Unsere unaufgearbeitete Vergangenheit quält uns auch bei der mühsamen Entdeckung der versäumten Wiedergutmachung an Sinti und Roma, an Zwangssterilisierte und deren Angehörige, an Homosexuelle. Es ist immer wieder das gleiche: An den Konsequenzen aus den Lehren des Nazismus und am Ausmaß unserer Verstrickung scheiden sich immer noch und immer wieder die politischen Geister in unserem Land. Deshalb müssen wir uns am Ende dieses Jahres doch wohl eingestehen, daß es uns auch nach vierzig Jahren noch nicht gelungen ist, unserer politischen Kultur eine für alle Bundesbürger verbindliche und überzeugende moralisch-sittliche Grundlegung zu geben. Hierfür ist es nur symbolisch, daß wir keinen wirklich allen Bürgern verbindlichen »nationalen« Feiertag haben (wie schade, daß wir nicht den 21. Mai als Verfassungstag hierfür erwählt haben!). Statt dessen mehren sich die Anzeichen dafür, daß auf dieses verwaschene Geschichts- und Vergangenheitsverständnis ein ebenso verwaschenes neues deutsches Nationalgefühl aufgetüncht werden soll. Und zwar sozusagen regierungsamtlich. Ich halte das für weder erlaubt noch erfolgversprechend. Unsere politische Zukunft wird entscheidend davon abhängen, daß wir unsere Augen und Herzen nicht vor der Tatsache verschließen, daß unsere »nicht erkämpfte Demokratie« trotz äußerer Stabilität - in ihrem Selbstverständnis nach wie vor unfertig und labil ist. Darin erkenne ich den politischen Sinn und den weiterführenden Auftrag dieses Jahres anstößiger Gedenktage: Einmal: daß wir nicht vergessen, unter welch nahezu hoffnungslosen Bedingungen unsere Demokratie entstanden ist, unter welcher Erblast sie bis heute steht und auch in Zukunft stehen wird. Ob wir wollen oder nicht: Unsere Vergangenheit holt uns immer wieder ein - auch die Generationen, die sie oft kaum noch vom Hörensagen kennen. Deshalb ist dieses Erinnern keineswegs nur eine Aufgabe für Gedenktage, es muß vielmehr sozusagen die »Meßlatte« unseres politischen Denkens und Handelns sein. Eine Meßlatte, die ebenso für unser Verständnis gegenüber Minderheiten gilt (zu denen auch unsere jüdischen Mitbürger gehören, die einen neuen deutschen Antisemitismus - gleich in welchem Gewande - fürchten) als auch für unsere Politik gegenüber Polen oder gegenüber Südafrika. Immer muß unser heutiges Verhalten eine konsequente Abkehr von unserer Vergangenheit glaubhaft machen. Zum anderen: daß wir die Lehren aus unserer Geschichte auch im Alltag beherzigen. Hierfür gibt es anspornende Beispiele! So finde ich es beispielhaft, daß immer mehr Schulklassen, Gemeinden oder Gruppen von Bürgern darangehen, ihre eigene, örtlich überschaubare Vergangenheit aufzuspüren, darzustellen und aufzuarbeiten, selbst wenn es dagegen Widerstände, ja Anfeindungen gibt. Ebenso beispielhaft sind persönliche Beiträge zur Aussöhnung, zur Verständigung und Begegnung mit Opfern des Nazismus, wie sie - gottlob jenseits aller staatlichen Verfügung - gerade in diesem Jahr mit großem Einsatz geleistet wurden. Beispielhaft ist jede Zuwendung, die den wenigen Überlebenden oder Hinterbliebenen versäumter Wiedergutmachung zuteil wird, und beispielhaft sind Angebote zur Begegnung und Verständigung mit ausländischen Familien in unserem Land.
Es ist der gleiche Sinn, der in jener alttestamentarischen Verheißung liegt, die der erste Bundespräsident Theodor Heuss nach seiner Wahl zu seiner Losung wählte:

»Gerechtigkeit erhöhet ein Volk,
aber die Sünde ist der Leute Verderben«

2. Der Fall des Kultusministers Maunz[26]

Die folgenden Dokumente belegen den wohl schwersten und folgenreichsten politischen Kampf, den ich während meiner parlamentarischen Tätigkeit gegen die absolute Mehrheit der CSU zu bestehen hatte. Rückblickend betrachtet, ist dieser Kampf zu einem Stück bayerischer Nachkriegsgeschichte geworden, in dem sich mehr das pseudo-demokratische Elend als der Glanz eines politischen Neubeginns widerspiegelt:
Der ob seiner juristischen Gewandtheit bekannte Staatsrechtslehrer Theodor Maunz wurde im Herbst 1957 zum bayerischen Kultusminister berufen, um einen juristischen Ausweg aus den politisch hoffnungslos festgefahrenen Verhandlungen über ein neues Lehrerbildungsgesetz zu finden. Er fand ihn tatsächlich, um den Preis allerdings, daß die Lehrerbildung in Bayern zwar formal »akademisiert« wurde, tatsächlich aber seither weit hinter die Entwicklung in anderen Bundesländern zurückgefallen ist. Zu seinem 1964 erzwungenen Rücktritt führten folgende Ereignisse:

a) Berufungspolitik im konfessionellen Zwielicht[27]

Parlamente sind in einer freiheitlichen Demokratie dazu da, die Regierung und die Verwaltung zu kontrollieren. Deshalb haben die gewählten Abgeordneten nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht und Schuldigkeit, Fragen an die Regierungsvertreter zu stellen, und diese wiederum haben die Pflicht und Schuldigkeit, solche Fragen wahrheitsgemäß und korrekt zu beantworten.
Jeder, der wie ich seit Jahren im öffentlichen und politischen Leben steht, weiß, daß bei diesem Kräftespiel der Abgeordnete in einer wesentlich schlechteren Position ist als die Vertreter der Exekutive. Das liegt nicht nur daran, daß hierzulande der Glaube an die Obrigkeit fast unerschüttert fest verwurzelt ist, sondern vor allem auch daran, daß jeder Vertreter der Verwaltung natürlich »von Haus aus« wesentlich besser informiert und im Besitz aller einschlägigen Unterlagen ist. Der Abgeordnete ist allein auf seinen Spürsinn, seine Hartnäckigkeit und auf die oft spärlichen Informationen oder Beschwerden von dritter Seite angewiesen. Der bayerische Kultusminister hat es stets mit besonderer Bravour verstanden, die Abgeordneten des Bayerischen Landtages so zu informieren, daß formal rechtlich die Antwort oder Auskunft nicht direkt falsch, wohl aber dem wahren Sachverhalt nicht voll entsprechend war.
So geschah es auch bei den diesjährigen Beratungen des Etats des Kultusministeriums. Ich erbat zu einigen Hochschul-Berufungen, die in der letzten Zeit einiges Aufsehen erregt hatten, verschiedene Auskünfte, speziell über die Besetzung des Lehrstuhles für Pädagogik an der Universität München. Der Minister bestritt in seiner Antwort auf das nachdrücklichste, daß seine Entscheidung zugunsten des dritten Vorschlags auf der Berufungsliste gegen den Willen der Universität erfolgt sei, und sprach mehrfach davon, daß Senat, Rektor und Universität sich für den Bewerber ausgesprochen hätten, der an dritter Stelle der Berufungsliste stand. Formal mag das richtig sein und wurde von mir auch nicht beanstandet. Nachdrücklich bestritten habe ich allerdings, daß die Fakultät und der Senat der Universität die Berufung dieses Herrn wirklich gewünscht hätten. Es liegen nämlich mindestens vier Schreiben der Universität vor, in denen immer wieder mit besonderem Nachdruck gebeten wird, gemäß dem ersten Vorschlag Herrn Professor Andreas Flitner wegen seiner besonderen wissenschaftlichen Eignung zu berufen. Der Minister hat unbestritten das Recht, aus der Vorschlagsliste der Fakultät unter den drei Bewerbern auszuwählen, und so hätte er im Landtag auf meine Frage nichts anderes antworten müssen, als daß es richtig sei, daß die Universität sich mit außergewöhnlichem Nachdruck für den ersten Vorschlag, Herrn Professor Flitner, eingesetzt habe, daß er, der Minister, aber das Recht zur Auswahl gehabt hätte. Daß er jedoch mit großem Raffinement versucht, diese Meinungsverschiedenheiten mit der Universität im Landtag und damit vor der Öffentlichkeit zu vertuschen, läßt den Verdacht aufkommen, daß er Gründe dafür gehabt haben muß. Diese Gründe, vermute ich, liegen darin, daß die Berufungspolitik in Bayern mehr und mehr in ein konservativ-konfessionelles Fahrwasser gerät (dafür gibt es konkrete Anhaltspunkte) und daß die Vorschlagslisten der Universitäten, die ja in jedem Fall eine gewisse Rangordnung in der wissenschaftlichen Bewertung der drei Vorgeschlagenen bedeuten, häufiger als früher vom bayerischen Kultusminister nicht beachtet werden. Leider war diese Kontroverse nicht der einzige Anlaß der Kritik meiner Fraktion am Verhalten des Kultusministeriums. Es ist eine Frage der Selbstachtung des Parlaments und der einzelnen Abgeordneten, ob sie gewillt sind, diese Art des Überspieltwerdens hinzunehmen, oder ob sie auf dem Recht bestehen, als gesetzgebende Körperschaft die Exekutive auch wirklich zu kontrollieren.

b) Sehr geehrter Herr Ministerpräsident...

Herrn Ministerpräsident Alfons Goppel
Bayerische Staatskanzlei
München 22. Juni 1964
Persönlich!

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
bitte erlauben Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit auf den Hauptartikel in der »Neuen juristischen Wochenschrift« vom 11.6.64 zu lenken. Unter der Überschrift »Bewältigung der Vergangenheit als Aufgabe der Justiz« wird dargestellt, in welcher Weise und in welchem Ausmaß führende deutsche Staatsrechtslehrer während des Dritten Reiches die Gewaltherrschaft und die namenlosen Untaten des Nationalsozialismus juristisch unterbaut und legalisiert haben. In diesem Zusammenhang wird an erster Stelle der amtierende bayerische Kultusminister Prof. Theodor Maunz genannt und zitiert. Nach der Nennung weiterer Namen und Zitierungen folgert der Autor, daß »es zu erkennen gelte«, daß »die Perversion des Rechts im Dritten Reich« nicht allein ein Werk rechtsblinder Fanatiker vom Schlage Freislers oder Thieracks oder von Richtern des Volksgerichtshofes gewesen sei, sondern, und das ergibt sich folgerichtig aus dem Artikel, auch von Staatsrechtslehrern wie Prof. Maunz und anderen. Bevor sich meine Fraktion in ihrer nächsten Sitzung über mögliche öffentliche Schritte in dieser Angelegenheit klar wird, möchte ich mir aus Gründen politischer Fairneß und Verantwortung erlauben, bei Ihnen, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, persönlich anzufragen, ob und, wenn ja, welche Konsequenzen Sie aus der Tatsache zu ziehen gedenken, daß ein Minister Ihres Kabinetts in der angesehensten juristischen Fachzeitschrift der Bundesrepublik bezichtigt wird, zur staatsrechtlichen Legalisierung nationalsozialistischer Untaten mit beigetragen zu haben.
Ich sehe Ihrer Antwort mit Interesse entgegen und verbleibe mit dem Ausdruck meines Dankes und meiner vorzüglichen Hochachtung Ihre
Dr. Hildegard Hamm-Brücher

Herrn Ministerpräsident Alfons Goppel
Bayerische Staatskanzlei München
28. Juni 1964
Betreff: Ihr Schreiben vom 25.6.64

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
mit bestem Dank bestätige ich Ihr Schreiben vom 25. Juni, das am Samstag, den 27. Juni, bei mir eintraf. Ich erwähne das Datum deshalb, weil am gleichen Samstag bereits einige Zeitungen über den Vorgang und den Inhalt Ihrer Antwort berichteten, was ich ganz besonders deshalb bedaure, weil ich mich an Ihren - Herrn Dr. Dehler übermittelten - Wunsch gebunden fühlte, bis zum Ergebnis Ihrer Überprüfung Stillschweigen zu bewahren. Ich möchte Sie, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, bitten, mir glauben zu wollen, daß die offenkundigen Indiskretionen weder direkt noch indirekt von mir ausgingen. Zur Sache selbst möchte ich als Erwiderung auf Ihren Brief vom 25. Juni folgende Gesichtspunkte zu bedenken geben: Es geht, meiner Ansicht nach, bei einer neuerlichen Überprüfung der Schriften von Herrn Prof. Maunz nicht um die Überprüfung seiner formalen Belastung, wie sie für die sogenannte »Entnazifizierung« maßgebend war; es geht vielmehr darum, daß in der angesehensten juristischen Fachzeitschrift der Bundesrepublik das Wirken einiger deutscher Staatsrechtslehrer während des Dritten Reiches einer Analyse unterzogen wird, die zu dem Ergebnis kommt: daß auf Grund der offiziellen Staatsrechtslehre, wie sie vor allem von Prof. Maunz gelehrt wurde, mit aller Eindeutigkeit festgestellt wurde, für den Bereich der Polizei sei »jeder Vollzug des Willens des Führers auch notwendig rechtmäßig« gewesen, daß das nationalsoz. Regime durch diese Haltung der Staatsrechtler wie Prof. Maunz und andere »zu unbegrenzter Willkür ermutigt« wurde, was bei der »Natur dieses Regimes in Massenmord enden mußte«, und es »zu erkennen gelte, daß die Perversion des Rechts im Dritten Reich nicht allein ein Werk rechtsblinder Fanatiker vom Schlage Freislers« etc. gewesen ist. Aufgrund dieser Analyse ergibt sich folgender, tatsächlich neuer Aspekt des »Falles Maunz«: Während bisher zur Verteidigung von Herrn Prof. Maunz immer vorgebracht wurde, er habe »lediglich geltendes Recht« gelehrt, wird nun in einer angesehenen juristischen Fachzeitschrift bewiesen, daß er nicht passiv, sondern im Gegenteil höchst aktiv und direkt schöpferisch an der »Pervertierung des Rechts im Dritten Reich« mitgewirkt hat, was man u. a. in seinem im Juni 1934 geschriebenen Vorwort zu seinem Lehrbuch »Neue Grundlagen des Verwaltungsrechts« expressis verbis nachlesen kann. Dort heißt es: »Es kommt weniger darauf an, unangreifbare Ergebnisse zu liefern, als in dem Ringen um die Neugestaltung Waffen zu liefern.« Genau diese Waffen sind es dann auch, die er bis zum »bitteren Ende« mit großem Fleiß produziert hat: von der Notwendigkeit der Ausschaltung der Juden, über die juristische Begründung und Rechtfertigung der »Schutzhaft« (KZs), bis zu den seiner Ansicht nach berechtigten Polizeieingriffen gegen Verweigerer der Eintopfessen-Spende und der Rechtfertigung des Verbotes für Juden, öffentliche Einrichtungen wie Badeanstalten etc. zu betreten. Wenn man die Schriften von Herrn Prof. Maunz aus der Zeit des Dritten Reiches unter dem Aspekt der Verantwortung für die wissenschaftliche und juristische Legalisierung der Untaten und Unmenschlichkeiten dieses Regimes beurteilt, dann gibt es für mich persönlich keinen Zweifel, daß Herr Professor Maunz als Kultusminister nicht länger tragbar ist.
Ich bin sicher, daß Sie meine Darlegungen sorgfältig prüfen werden, und möchte Sie dringend bitten, sie bei Ihrer Entscheidung nicht unberücksichtigt zu lassen!
Mit dem Ausdruck meines Dankes und meiner aufrichtigen Hochachtung verbleibe ich
Dr. Hildegard Hamm-Brücher

c) Nach dem Rücktritt: Weder Sieger noch Besiegte[28]

Nach dem Rücktritt des Kultusministers Maunz gibt es keine »Sieger«, weil es keine »Unschuldigen« gibt: Denn mögen seine Schriften bestenfalls von der formaljuristischen Seite bei seiner erzwungenen Berufung nach München 1952 »geklärt« worden sein, von der politischen Seite wurden sie es nie bis auf den heutigen Tag. Wenn ich mich an die überstürzte Regierungsbildung vom Herbst 1957 zurück erinnere, so kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wann der designierte Ministerpräsident Seidl damals eine politische Überprüfung der Schriften von Professor Maunz vorgenommen haben will. Während der reichlich eiligen Koalitionsberatungen berief er sich wiederholt auf das juristische Gutachten der bis heute immer noch teilweise anonymen »Kommission«, und meine sofortigen Einwände wurden ungeduldig zurückgewiesen. Daraufhin sah ich mich gezwungen, demonstrativ die Koalitionsverhandlungen zu verlassen und der Vereidigung der Regierung Seidl im Parlament am nächsten Tag fernzubleiben. Damals kannte ich allerdings noch keine Auszüge aus den Schriften von Professor Maunz, sondern lediglich die Tatsache seiner gegen den Willen der juristischen Fakultät erzwungenen Berufung an die Universität München. Auch in der Folgezeit erhielt ich zwar gelegentlich (anonym!) Maunz-Zitate zugeschickt, und es wurde im Parlament hinter vorgehaltener Hand viel über seine nazistischen Schriften geflüstert, aber einerseits war die Autorität des Ministerpräsidenten Seidl so groß, daß kein Abgeordneter es gewagt hätte, gegen Maunz aufzutreten, andererseits war und bin ich ein Gegner des »Materialsammelns« gegen politische Gegner, und schließlich kamen die, die es versuchten, im Fall Maunz schon deshalb nicht zum Ziel, weil seine Bücher und Schriften in den öffentlichen bayerischen Bibliotheken nicht zu erhalten waren und seine Aufsätze aus den dicken Sammelbänden juristischer Zeitschriften bis zum heutigen Tag nicht vollständig extrahiert wurden.
Nachträglich besehen, kann man dieses Versäumnis tatsächlich allen Verantwortlichen zum Vorwurf machen; die Opposition (SPD) und der damalige Koalitionspartner (FDP) haben sich wohl allzu sehr auf die Autorität und letzte Verantwortung von Ministerpräsident Seidl verlassen, und dieser wollte »um jeden Preis« das Lehrerbildungsgesetz unter Dach und Fach bringen. Persönlich darf ich hinzufügen, daß ich mich, ohne die Maunzschen Schriften im einzelnen zu kennen und als Nichtjuristin ihre Tragweite ermessen zu können, trotzdem nicht eine Stunde damit abgefunden habe, daß der oberste Repräsentant des bayerischen Schul- und Bildungswesens ausgerechnet ein Mann sein mußte, der seine juristischen Fähigkeiten jeder Staatsform, jeder Regierung, jeder Macht »liebedienerisch und beflissen« zur Verfügung stellt; trotzdem habe ich mich in den zahlreichen kulturpolitischen Auseinandersetzungen immer davor gescheut, die wenigen mir bekannt gewordenen nazistischen Schriften von Professor Maunz als politisch parlamentarische Waffe zu benutzen. Das erscheint mir unfair und kein gültiges Mittel im Ringen zwischen Regierung und Opposition um die Entscheidung von Sachfragen. So habe ich mich auch nicht entschließen können, den »Stein des Anstoßes«, den Artikel in der »Neuen juristischen Wochenschrift« an die große parlamentarische Glocke zu hängen, sondern habe den direkten Weg eines persönlichen Briefes an den bayerischen Ministerpräsidenten und den einer privaten Vorsprache beim Fraktionsvorsitzenden der CSU, Dr. Huber, gewählt. Denn dieser Artikel enthielt nun in zweierlei Hinsicht tatsächlich einen völlig neuen Aspekt, einen unbekannten Tatbestand. Einmal widerlegt er die Version, Professor Maunz und andere deutsche Staatsrechtslehrer hätten »nur« geltendes Recht gelehrt, zum anderen beweist er, daß Professor Maunz aktiv und schöpferisch an »der Perversion des Rechts im Dritten Reich« mitgewirkt hat. Hier die Konsequenzen zu ziehen ist alles andere als eine »zweite Entnazifizierung«, sondern genau wie in den Fällen der zurückgetretenen Minister Krüger und Oberländer oder der vorzeitigen Pensionierung der durch Terrorurteile belasteten Richter ein im Augenblick vielleicht peinlicher, auf lange Sicht gesehen aber klärender Schritt zur notwendigen politischen Bewältigung der Vergangenheit und zur Stärkung der Glaubwürdigkeit der demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung.

3. Krisen des politischen Liberalismus

a) Verhängnisvoller Rechtskurs[29]

Schon Mitte der fünfziger Jahre hatte die bayerische FDP aufgehört, der Versuchung zu widerstehen, sich politisch nach »rechts« auszuweiten. Die Folge war, daß Mitläufer, Unbelehrbare und kaum getarnte Anhänger nationalsozialistischer Ideen Einfluß auf den Kurs der Partei zu nehmen versuchten, indem sie nach und nach »Schlüsselpositionen« vor allem in der Münchner und in der oberbayerischen FDP besetzten. Damit gewannen sie Einfluß auf die Auswahl von Delegierten und Kandidaten der Partei. Seit 1958 warnte ich bei jeder Gelegenheit vor dieser Entwicklung. Vergeblich. Im Juni 1962 kam es zum Eklat: Bei der Kandidatenaufstellung für die bayerischen Landtagswahlen wurden die beiden einzigen FDP-Abgeordneten aus Oberbayern, der Fraktionsvorsitzende und ehemalige Minister Otto Bezold und ich, in einer manipulierten Delegiertenversammlung auf den 12. und auf den 18. Listenplatz gesetzt als »Absage gegen den liberalistischen Linkskurs nach 1946... «. Damit waren die Chancen für unsere Wiederwahl gleich Null. Die »Starnberger Machtergreifung« erregte beträchtliches öffentliches Aufsehen. Die Hintergründe wurden bekannt, das Parteigericht trat in Aktion, der umstrittene Geschäftsführer wurde angesichts des erdrückenden Beweismaterials seines Amtes enthoben und mußte die Partei verlassen, ich überstand zwei Verfahren wegen »parteischädigenden Verhaltens«, ein weiteres wurde gegen Dr. Th. Dehler eingeleitet, weil er in einem Artikel »Liebe für Hildegard« scharf gegen den Starnberger Rechtskurs Stellung genommen hatte. Schließlich mußte die Kandidaten-Aufstellung wiederholt werden. Diesmal erhielt Otto Bezold den zweiten, ich den wiederum aussichtslosen 17. Listenplatz. Es gab für meine Wiederwahl nur eine theoretische Chance. Das bayerische Wahlgesetz erlaubt nämlich dem Wähler, seine »zweite Stimme« entweder der Parteiliste oder einem einzelnen Kandidaten auf dieser Liste zu geben. Wenn es also einem schlecht plazierten Kandidaten gelingt, möglichst viele persönliche Wählerstimmen zu gewinnen, überrundet er die vor ihm stehenden Kandidaten und kann somit auch gegen den Willen seiner Partei wieder in den Landtag gewählt werden. Ein »Riesensprung« vom 17. Platz aus war bis dahin aber noch keinem Kandidaten gelungen. Dennoch wollten es Münchens Liberale versuchen, gründeten ein »Überparteiliches Bürgerkomitee« für meine Wiederwahl, Altbundespräsident Th. Heuss schrieb einen Brief, und ungezählte »Freiwillige« halfen in einem improvisierten Wahlkampf. Der Wahlsieg war sensationell: Mit 44500 persönlichen Stimmen hatte ich vom hoffnungslosen 17. Platz aus den angeblich so »zugkräftigen« Listenführer um mehr als das Doppelte an Stimmen überrundet. Aber die Partei zog keine Konsequenzen. Im November 1966 nahte das Ende mit Schrecken -: Die bayerische FDP wurde nicht mehr in den Landtag gewählt (für mich persönlich waren es die erfolgreichsten Wahlen: Ich verbesserte meine persönlichen Stimmen auf über 57 000 - diesmal war es mehr als das Dreifache der Stimmen des angeblich zugkräftigeren Spitzenkandidaten). Wenige Monate nach der Wahl-Niederlage wurde ein Landtagsabgeordneter der NPD in die bayerische FDP aufgenommen.

b) Im Andenken an Wolfgang Döring[30]

Erinnern wir uns jener letzten Rede Wolfgang Dörings im Bundestag. Nach der Verhaftung des Spiegel-Herausgebers Augstein hatte Bundeskanzler Adenauer im Bundestag von einem »Abgrund an Landesverrat« gesprochen. Der Abgeordnete Döring war der einzige, der dem nicht-richterlichen Schuldspruch widersprach. Hier offenbarten und vollendeten sich in einer der allzu seltenen Sternstunden der deutschen Demokratie diese drei Maximen: mutiges und glaubwürdiges Aufbegehren gegen traditionalistisch-autoritäre Verdikte ohne gesetzlichen Richterspruch in einem Augenblick, in dem sich die meisten Köpfe ängstlich oder abwartend duckten. Ja, ich finde, daß diese Rede samt ihrem Anlaß und allen Zusammenhängen in jedes deutsche Lehrbuch der politischen Bildung gehört. Nicht etwa, um damit - wie in Schulbüchern oft üblich - mit erhobenem Zeigefinger die Welt in Gut und Böse zu teilen, sondern deshalb, weil sie ein Musterbeispiel des rechtsstaatlichen Denkens ist, der überzeugenden Nutzung parlamentarischer Möglichkeiten und des zivilen Mutes gegenüber der Allmacht von Staat, Polizeigewalt und Obrigkeit; und nicht zuletzt auch deshalb, weil sie von unbeirrbarer Freundestreue zeugt, von Ritterlichkeit und edler Gesinnung. Durststrecken kann man auf die Dauer nicht überwinden, indem man auf den nächsten Regen wartet, sondern nur dadurch, daß man nach neuen Quellen sucht. Erinnern wir uns: Das Verdienst und die Modernität des Liberalismus im 19. Jahrhundert bestand in den kühnen Entwürfen liberaler Verfassungen mit den Garantien der Grundrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der parlamentarischen Kontrolle. Es gehört zur Tragik der deutschen politischen Geschichte, daß sie erst nach 1945 mit genau hundertjähriger Verspätung und nach zweimaligem Scheitern im Grundgesetz mit einiger Hoffnung auf Bestand verwirklicht wurden. Kaum aber haben wir endlich die liberale Demokratie als Staatsform akzeptiert und verwirklicht, da droht die Tragik neuer Versäumnisse. Abermals ist die liberale Verfassung bedroht, diesmal nicht vom Radikalismus, sondern vom Restauratismus. In den einundzwanzig Jahren der Nachkriegszeit haben sich hinter modernen Fassaden und im Schutze und mit Unterstützung einer konservativen Mehrheit die Grundstrukturen, die Denk und Verhaltensformen einer obrigkeitsstaatlichen, einer illiberalen Gesellschaft aufs neue restauriert. Die überfälligen gesellschaftspolitischen Reformen blieben aus oder setzten viel zu zaghaft ein. Wohl haben wir uns im einzelnen dagegen aufgelehnt, aber auch uns fehlt bisher die wissenschaftliche und politische Einsicht in die großen inneren Zusammenhänge dieser Entwicklung. Nur eines spüren wir schmerzhaft klar: Die Diskrepanz zwischen unserer freiheitlichen Verfassung und der »Verfassung der Freiheit«, wie es der Nationalökonom F. A. von Hayek formulierte, ist beunruhigend groß, und daraus erwächst dem politischen Liberalismus am Ende des 20. Jahrhunderts seine neue, diesmal gesellschaftspolitisch schöpferische Aufgabe: mit neuen Ideen, mit furchtlosen Worten und überzeugenden Beispielen den Weg freizukämpfen für eine moderne, freiheitliche und bis in den grauen Alltag hinein menschenwürdige Gesellschaft! Dazu stellt sich die Schicksalsfrage, wie es gelingen kann, den Teufelskreis obrigkeitsstaatlicher Reglementierung und ständischer Relikte in unserer Rechts-, Sozial- und Gesellschaftsordnung, insbesondere aber in unserem Erziehungs-und Bildungswesen einmal und dann ein für allemal zu durchbrechen.
Wie oft sind es nicht gerade die alltäglichsten Widersprüchlichkeiten und Ungerechtigkeiten, ja sogar Vorformen der Unmenschlichkeit, die das Vertrauen des Bürgers in die »von oben« viel gepriesene Staatsform erschüttern. Oft sind diese Erscheinungen nicht einmal böser Wille oder gar Vorsatz, sondern eben die Folge zweier divergierender Systeme - eines verfassungsrechtlichen und eines gesellschaftspolitischen - das eine liberal, das andere bestenfalls pseudo-liberal: Sie lassen sich nicht miteinander legieren. Hier liegt die Aufgabe des politischen Liberalismus: die Schaffung einer liberalen Gesellschaftsordnung! Und diesem Ziel kommt im 20. Jahrhundert die gleiche epochale Bedeutung zu wie der Schaffung liberaler Verfassungen im 19. Wiederum ist es höchste Zeit; wiederum drohen wir uns zu verspäten, wiederum setzen sich bittere Einsichten zu langsam und nur spärlich durch. Seit meiner Reise durch Mitteldeutschland quälen mich immer wieder zwei Fragen: Wie wird unsere westdeutsche Staatsform und das, was wir in einundzwanzig Nachkriegsjahren aus ihr gemacht haben, von den Menschen beurteilt, die wir – zum Unterschied von den Funktionären des Regimes - gern »unsere Brüder und Schwestern« nennen? Ist es uns gelungen, abgesehen von der wirtschaftlichen Stärke, sie von der Überlegenheit und der echten Menschlichkeit unserer politischen Ordnung zu überzeugen? Und zum anderen: Wieviel Prozent ehrlich überzeugter Anhänger der kommunistischen Staatsform gibt es drüben, und wieviel Prozent »glühender Demokraten« sind es bei uns?
Hierauf wird es zwar keine exakte Antwort geben, aber soviel ist klar: Es sind bei uns ganz bestimmt nicht genug, um die Unentschiedenen in beiden Teilen Deutschlands zugunsten der freiheitlichen Demokratie zu überzeugen. Deshalb muß es uns mit Sorge erfüllen, daß mit steigendem Lebensstandard drüben und mit den ersten Anzeichen eines nicht mehr rapid steigenden Lebensstandards bei uns Reserve und Vorbehalte gegen manche Formen und Erscheinungen der westdeutschen Demokratie wachsen. Hier gibt es überhaupt nur den einen Ausweg: Unsere Demokratie muß durch ihre Repräsentanten glaubwürdig werden! Ein Mann wie Wolfgang Döring und sein demokratisches Charisma haben diesseits und jenseits der Mauer mehr bewirkt als hundert noch so gut gemeinte Beschwörungen, und es kommt nicht von ungefähr, daß man ihm hier und dort als aufrechtem Mann, als gutem Deutschen Achtung zollt.

c) Kann die FDP überleben?[31]

Politischer Katzenjammer herrschte nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen bei allen Parteien; bei der FDP aber war er recht grundsätzlicher Natur. Ihre Absage an die durch das Wahlergebnis vorgezeichnete Koalition mit den Sozialdemokraten, die nicht nur bildungs- und gesellschaftspolitisch, sondern vor allem für den inneren Demokratisierungsprozeß unseres Landes von allergrößter Bedeutung gewesen wäre, und statt dessen die Entscheidung zugunsten einer Koalition mit den eindeutig geschlagenen konservativen Kräften - das hat abermals exemplifiziert, wie schmal für die Freien Demokraten der Grat ist zwischen Freiheit und Abhängigkeit, zwischen den Möglichkeiten des Liberalismus und seiner Gefährdung. Stets hat die FDP es schwerer als andere Parteien und ist »anfällig an Leib und Seele«, wie es in den zwanziger Jahren einmal von der »Demokratischen Partei« geheißen hat. Fairerweise muß man der nordrhein-westfälischen FDP zugute halten, daß sie sich zur Einhaltung ihrer Wahlaussage verpflichtet fühlte - und diese hatte eindeutig auf Fortsetzung der »bewährten Koalition« gelautet. Die bei Koalitionsbildungen allgemein und überall üblichen und nahe liegenden Hintergründe scheiden für die Nibelungentreue der FDP im Fall Nordrhein-Westfalen also aus. An ihrer Statt tut sich ein grundsätzliches Dilemma auf, das seit eh und je als eine Art Erbübel des deutschen Liberalismus diagnostiziert werden kann: die Angst vor der eigenen - der liberalen Courage, die ihn seit über hundert Jahren, seit dem Fiasko der Paulskirche, immer wieder in konventionell-bürgerliche Koalitionen mit den konservativsten und anti-liberalsten politischen Kräften des Landes treibt. Aus überängstlicher Besorgnis um seine »bürgerliche Reputation« glaubt er, sich in Bündnissen rückversichern zu müssen, in denen die eigenen liberalen Kräfte allenfalls rumoren, sich niemals aber voll entfalten und bewähren können. So geschieht es, daß das Erscheinungsbild des Liberalismus schwankt zwischen oft peinlichem Wohl-verhalten und Selbstverleugnung einerseits und jäher Rebellion ohne rechtes Zielbewußtsein andererseits. Auch die »Wahlaussage« zu den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen - nur eine Koalition mit der CDU eingehen zu wollen - war so eine Vorleistung: Man traute sich weder eine handfeste Opposition zu, noch wollte man die sogenannten bürgerlichen Wähler mit der Möglichkeit einer Koalition mit der SPD schrecken, und daraus entstand schließlich ein in diesem Fall besonders folgenschwerer Präzedenzfall.
Denn es ist etwas weit Alarmierenderes passiert als bloß, daß die FDP mit der Einhaltung ihres Wahlversprechens aus ihrer Tugend diesmal eine Not gemacht hätte, über die man am besten so rasch als möglich den Mantel liberaler Nächstenliebe breitet. Die Koalitionsentscheidung in Nordrhein-Westfalen könnte als Generalprobe gemeint sein für das, was sich nach den nächsten Bundestagswahlen im Bund wiederholen könnte. Das aber wäre eine Katastrophe - eine Katastrophe für die Demokratie und den Liberalismus! Ich schreibe das als engagierte Liberale, die in den letzten zwanzig Jahren kaum einmal aus dem Schützengraben der Parteiarbeit und der parlamentarischen Verantwortung herausgekommen ist. Wenn der FDP nach der Wahlarithmetik tatsächlich eine »Zünglein-an der-Waage-Funktion« zufällt, dann muß sie ein für allemal aufhören, diese Funktion wieder und wieder zu Bündnissen zu benutzen, die genau jenen politischen Kräften die politische Macht garantieren, die - ausgenommen in der Wirtschaftspolitik (und da auch nur flügelweise) - deklarierte Feinde des Liberalismus sind, erzkonservativ und voll unüberwindlicher Aversion gegen alle überfälligen modernen, fortschrittlichen und freizügigen Lösungen in Staat und Gesellschaft. Der politische Liberalismus als beflissener Steigbügelhalter des militanten Antiliberalismus - ist das nicht eine groteske Art von Selbsterhaltungstrieb? Wie segensreich könnte sich eine wohlverstandene »Zünglein-an-der-Waage-Funktion« für die Einübung demokratischer Spielregeln auswirken, wenn die FDP dazu von Fall zu Fall Bündnisse zugunsten der inneren Liberalisierung und Demokratisierung unseres Landes schlösse und damit die Demokratie als Lebensform glaubwürdig machte! Aber auch einem koalitionsfreien Liberalismus böten sich Gelegenheiten mehr als genug, von den oft vernachlässigten, ungenützten oder gar mißachteten Chancen einer freiheitlich demokratischen Ordnung Gebrauch zu machen und immer dann Paroli zu bieten, wenn der Buchstabe oder der Geist der Verfassung gebeugt, gedehnt oder auch nur angetastet wird. Das verspricht die große Freiheit für die kleine Freie Demokratische Partei, das berechtigt die Existenz des politischen Liberalismus und garantiert ihn, solange noch ein Funke demokratischer Willens- und Tatkraft im westdeutschen Volke ist. Seine Aufgaben lassen sich aufgrund des Zustandes unserer Demokratie von Fall zu Fall sehr exakt konkretisieren. So war die Koalitionsbildung in Nordrhein-Westfalen gegen die stärkste Partei und eindeutige Siegerin der Wahlen ein »Fall«, in dem der Liberalismus dem Gesetz, nach dem er angetreten, untreu geworden ist. Sie hat die FDP viel Vertrauen gekostet und - was beinahe noch folgenschwerer ist - viel Selbstvertrauen. Gute Demokraten hat sie verbittert, skeptische noch skeptischer gemacht.
Die Notstandsgesetzgebung (in der derzeitigen Fassung) wird eine weitere Entscheidung sein, bei der die FDP liberale Farbe bekennen muß, und keine Koalitionsräson der Welt wird ihr vor der Geschichte als Entschuldigungsgrund abgenommen werden, wenn sie abermals einem Ermächtigungsgesetz zugestimmt haben sollte. Die Zustimmung zu einer Strafrechtsreform unter der Ministerverantwortung eines der radikalsten unter den an Anti-Liberalen ohnehin nicht armen CDU/ CSU-Politikern mag ein drittes Beispiel sein - und so etwas wie die Quadratur des Kreises für den in Rechtsfragen ohnehin besonders exponierten Liberalismus. Und als letztes Beispiel sei nur noch die Stärkung der Position und Funktion des Parlaments gegenüber dem unausrottbaren obrigkeitsstaatlichen Vorherrschaftsanspruch der Exekutive genannt (exemplifiziert am bereits dritten »Fall« des Wehrbeauftragten!). Aus grundsätzlicher Einsicht und ohne Koalitionsrücksichten muß die FDP dies durchkämpfen koste es, was es wolle. Dieses Register läßt sich beliebig verlängern; beinahe jede politische Woche beschert dem Liberalismus Bewährungsproben dieser Art. Wenn man es ganz ernst meint und konsequent mit der Freiheit der Freien Demokraten, dann muß man sich heute schon klar darüber werden, daß der große Testfall mit den nächsten Bundestagswahlen bevorsteht. Wenn sich der »Trend« von Nordrhein-Westfalen fortsetzt und wenn die FDP wiederum ein ähnliches Wahlversprechen abgibt und die Chance für Wechsel und Erneuerung damit von vornherein vermanipuliert ist, dann sehe ich den dritten Versuch einer Demokratisierung unseres Landes als gescheitert an, das Schicksal des politischen Liberalismus besiegelt und die FDP in den bereits einsetzenden Diadochenkämpfen um die endgültige Kanzlernachfolge zerschlissen.
Düstere Menetekel? Spekulationen, die der Zeit und Wirklichkeit vorauseilen? Ich glaube nicht. Einmal, weil grundsätzliche politische Überlegungen und Einsichten ohnehin nicht von heute auf morgen reifen und darum rechtzeitig, wenn nötig auch ein wenig pointiert, zur Diskussion gestellt werden müssen - und zum andern, weil die Landtagswahlen in Nordrhein Westfalen noch ein anderes, nicht weniger bemerkenswertes Fanal geben: Sie kündigen den Anfang des Endes der Ära Erhard an. Mit ihm wird eine Politiker- Generation von der politischen Bühne abtreten, die noch ganz und gar von den Erfahrungen der Weimarer Zeit und der nationalsozialistischen Katastrophe geprägt war. Erst mit dem Ende der Interims Kanzlerschaft Erhards wird innenpolitisch die Nachkriegszeit abgeschlossen sein. Dieser Einschnitt ist bedeutsam. Man sollte nicht einfach darüber hinweg schlittern, sondern zu einer Bestandsaufnahme der westdeutschen Demokratie ermutigen, bevor noch ein ganz neuer Typus politisch Verantwortlicher die Bühne betritt und in der Generationenfolge sprunghaft ein neues Kapitel beginnt. Eine Bilanz tut not über den Zustand unserer demokratischen Institutionen, ihre Wirkungskraft und Autorität, über den Zustand der so oft beschworenen freiheitlichen Gesellschaft, ihr Selbstverständnis, ihre Aktivität und Widerstandskraft. Es gibt gute Gründe dafür anzuführen, daß sich die Demokratie als Staatsform im Laufe der letzten zwanzig Jahre einigermaßen etabliert hat. Sie hat sich als »ganz passabel« erwiesen und allen westdeutschen Bürgern (nicht nur wirtschaftlich) Annehmlichkeiten und Vorteile gebracht. Expressis verbis fordert eigentlich niemand, daß sie wieder abgeschafft werden müßte, wie es in der Weimarer Zeit noch gang und gäbe war. Nicht einmal die auf NPD umgesattelten Gauschulungsredner der NSDAP könnten hoffen, daraus derzeit großes politisches Kapital schlagen zu können. Die großen Parteien umwerben Wähler aus allen Ständen und Berufsgruppen, und verglichen mit der Weimarer Zeit ist das politische Klima im großen ganzen wohltemperiert. Der Radikalismus steht - wie es so tröstlich heißt - unter Kontrolle der Verfassungsschutzämter, und offiziell attackiert werden in dieser Demokratie allgemeinen Wohlwollens eigentlich nur die Intellektuellen, aber auch die sind politisch ungemein viel harmloser und weniger aggressiv als die intellektuellen Eliten anderer Länder. Bei genauerer Betrachtung der demokratischen Geschäftigkeit zeigen sich offenkundige Mangelerscheinungen. Die freiheitliche Ordnung der Verfassung hat keine Bezugspunkte in den Verhaltensweisen der Gesellschaft gefunden, sie ist kein Erziehungsgrundsatz geworden und kein Lebenselement freiheitlich gesinnter Bürger. Sie wirkt oft unvollständig und unlebendig, weil sie auf obrigkeitsstaatlichem Sand gebaut ist statt auf dem Lößboden einer freiheitlichen Gesinnung und Gesittung. In den einundzwanzig Jahren der Nachkriegszeit haben sich hinter klug konstruierten demokratischen Fassaden, abgeschirmt und unterstützt von einer diesmal als »christlich« deklarierten erzkonservativen Mehrheit, aufs neue die Grundstrukturen, die Denk- und Verhaltensweisen einer obrigkeitsstaatlichen, einer illiberalen Gesellschaft »formiert«. Die überfälligen gesellschaftspolitischen Reformen blieben aus oder setzten viel zu spät und zaghaft ein: angefangen bei der Sozial- und der Strafrechtsreform, fortgesetzt bei der Verwaltungs- und Parlamentsreform und endend bei der großen, in alle Bereiche der Gesellschaft einmündenden Bildungsreform. Die gesellschaftspolitische Verewigung des 19. Jahrhunderts, die Restauration einer scheinbar paradiesischen Ordnung sind es, die verhindern, daß sich die Postulate unserer Verfassung im Zusammenleben der Bürger glaubhaft verwirklichen lassen. Dafür gibt es leider mehr als genug Beispiele: Wir leben in einer Gesellschaftsordnung, in der über die Hälfte aller Wähler - die Frauen trotz formaler Gleichberechtigung politisch praktisch unmündig geblieben sind und teilweise durch Erziehung und unantastbare Klischeevorstellungen bewußt in dieser Gesellschaftsordnung gehalten werden. Wir leben in einer Gesellschaftsordnung, in der Ende des 20. Jahrhunderts nur etwa 40 Prozent aller Kinder - also weniger als die Hälfte aller künftigen Wirtschaftsbürger und Wähler - voll ausgebaute Schulen besuchen und nur 5 Prozent des akademischen Nachwuchses aus Arbeiterfamilien stammen. Wir leben in einer Gesellschaftsordnung, in der das Zusammenleben durch mehr Gesetze und Verordnungen reglementiert wird als in der ganzen übrigen freien Welt zusammen.« Wir leben in einer Gesellschaft, die durch Parolen wie »keine Experimente« und »Sicherheit für alle« systematisch entwöhnt wurde, sich für ihr Tun und Lassen verantwortlich zu fühlen die ihre Existenzfragen tabuisiert und in zwanzig Jahren noch nicht einmal angefangen hat zu lernen, die Stärken einer freiheitlichen Ordnung zu nutzen und ihre Schwächen zu bekämpfen. Es geht um die Mission des politischen Liberalismus für die Zeit bis zur Jahrtausendwende. Diesmal gilt es, den liberalen Verfassungen ein liberales gesellschaftspolitisches Fundament zu schaffen. Und dieser Aufgabe kommt am Ende des 20. Jahrhunderts die gleiche Bedeutung zu wie dem Kampf um die Durchsetzung liberaler Verfassungsgrundsätze im 19. Jahrhundert. Leicht wird es auch diesmal nicht sein, denn der Weg in die Modernität einer liberalen Gesellschaft läßt sich angesichts des versteinerten Traditionalismus in unserem Lande nicht auf leisen Sohlen zurücklegen. Wohl in keinem Industriestaat der Welt ist gesellschaftspolitische Modernität so suspekt wie bei uns. Wenn ich nur an mein tägliches Arbeitsgebiet - die Bildungspolitik - denke, an den Leidensweg der Schul- und Hochschulreformen, an die nach wie vor funktionierende ständische Auslese in unserem Bildungssystem, an die Idyllisierung der einklassigen Dorfschule und an die pseudoromantische Untertanenphilosophie unserer Lesebücher! Mögen diese Vorstellungen in Literatur und Kunst noch einigermaßen harmlos und liebenswert erscheinen, in der Politik waren sie - und sind es heute mehr denn je mindestens so gefährlich wie die totalitären Strömungen der dreißiger Jahre. Ihre Unschuld und Rechtschaffenheit haben sie im Lauf der Geschichte und Katastrophen dieses Jahrhunderts ein für allemal verloren. Für den politischen Liberalismus gibt es also mehr als genug zu tun und für die liberale Partei keine Existenzsorgen, wenn sie ihre Aufgabe erkennt, ihre Entscheidungen konsequent an dieser Aufgabe orientiert und die Möglichkeiten ihrer großen Freiheit auch durch Personen glaubwürdig repräsentiert werden.

d) Brief zum Bundesparteitag in Saarbrücken (1985)
Mitte Februar 1985

Sehr geehrte Delegierte, liebe Parteifreunde, nach reiflicher Überlegung und vielen Gesprächen, in denen die Meinungen des Fürs und Widers meiner möglichen Kandidatur zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der FDP weit auseinander gingen, habe ich mich - wie Sie wissen - entschlossen, auf eine Kandidatur zu verzichten. Ich möchte damit einen Beitrag zum inneren Frieden und zur äußeren Geschlossenheit unserer Partei leisten. Viel entscheidender als eine Kandidatur ist es, daß es uns in Saarbrücken gelingt, den notwendigen neuen Anfang vor uns selber und vor der Öffentlichkeit glaubwürdig werden zu lassen. Auch hierzu möchte ich beitragen - und da wir in Saarbrücken wenig Zeit für eine vertiefte Grundsatzdiskussion haben werden, möchte ich Ihnen meine Überlegungen in Form dieses Briefes vorlegen. Am 1. Oktober 1982 habe ich in meiner umstrittenen Rede zum konstruktiven Mißtrauensvotum gegen den damaligen Bundeskanzler gesagt: »Ich bedaure zutiefst, daß der politische Liberalismus, dem ich, wie Wolfgang Mischnick, seit fast fünfunddreißig Jahren mit Kopf und Herz verbunden bin, über diesen Konflikt in eine so schwere Existenzkrise geraten ist, und ich werde alles in meinen Kräften Stehende versuchen, daß wir diese Krise überstehen.« Wir alle wissen, daß es trotz guten Willens auf beiden Seiten seither wiederholt kontroverse Auseinandersetzungen über den Weg aus der Krise - vor allem aber neue Belastungen und weitere Bewährungsproben gegeben hat. In Saarbrücken wollen wir die uns alle belastende Nach Wende-Zeit beenden und mit einem »Liberalen Manifest« einen neuen Anfang beschließen. Hierfür genügt nicht nur »guter Wille«, hierzu bedarf es einer ehrlichen Standortbestimmung, die mir im Entwurf des Liberalen Manifests noch nicht deutlich genug wird. Was mir hierfür wichtig und für die Weiterexistenz des politischen Liberalismus unerläßlich zu sein scheint, ist einmal die Einsicht in unsere ideengeschichtliche Erfahrung und zum anderen - daraus resultierend die Konsequenzen für unsere aktuelle Standortbestimmung. Zur ideengeschichtlichen Erfahrung: In der Geschichte des politischen Liberalismus gibt es Höhe- und Tiefpunkte, und sie lassen sich genau identifizieren: Höhepunkte waren das Hambacher Fest - die Paulskirche der Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht (»von Bassermann bis Bebel«) - die Weimarer Verfassung (Hugo Preuß, Max Weber, Friedrich Naumann) - die kurzlebige Weimarer Koalition zwischen Linksliberalen, Sozialdemokraten und Zentrum - das Grundgesetz (Heuss, Dehler, Höpker-Aschoff) -unsere Politik der innen- und außenpolitischen Reformen in den sechziger und siebziger Jahren und der Aufbruch zum Freiburger Programm. Allen Höhepunkten ist gemeinsam, daß wir freiheitliche Antworten auf verkrustete Strukturen wagten. An den Rand des Unterganges haben uns gebracht: das Bündnis mit Bismarck - das Versagen beim Kampf um Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts - die Hinwendung des Rechtsliberalismus nach Stresemanns Tod ins Weimar feindliche Lager der Rechten - die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz - die innerparteiliche und bundesrepublikanische Restauration der fünfziger und sechziger Jahre (Euler, Middelhaufe, Zogelmann, Mende... ) und leider auch der jüngste Versuch, den organisierten Liberalismus auf momentane koalitionspolitische Bedürfnisse zu zuschneiden. Allen Tiefpunkten ist gemeinsam, daß wir nicht verhindern konnten, daß sich über Koalitionen und Konstellationen traditionell verkrustete Strukturen neuerlich verfestigten. Hiervor möchte ich auch heute mit großer Besorgnis warnen! Die Identität der Partei ist wichtiger als momentane Koalitionsopportunitäten, die zu berücksichtigen sind, aber nicht zur Verengung oder gar Amputation der Partei führen dürfen. Damit bin ich bei den aktuellen Konsequenzen aus unseren parteigeschichtlichen Erfahrungen: Wir müssen die Lehren aus unserer eigenen Geschichte der Erfolge und des Versagens beherzigen! Die Partei muß (bildlich gesprochen) fest auf ihrem ideengeschichtlichen Standbein stehen. Wir dürfen es nicht - wie es leider den Anschein hat als koalitionsopportunes Spielbein auf dem schlüpfrigen Bonner Rasen zur Disposition stellen. Denn dieses Standbein macht unsere »Eigenständigkeit« aus, und wenn wir nicht mehr »stehen«, nützt uns alle Geschicklichkeit und Wendigkeit unseres Spielbeins nichts mehr. Mit anderen Worten: Unsere liberale Partei darf nicht von Fall zu Fall zur Manövriermasse für Koalitionen und Opportunitäten umprogrammiert oder hierzu personell verengt werden. Sie darf ihre ideengeschichtlich begründete Brückenfunktion nicht aufgeben. Sie muß vielmehr die ganze Bandbreite liberalen Denkens - und das reicht nun einmal vom Postulat der Freiheit bis tief hinein in die Sozialpflichtigkeit für die Freiheit - garantieren, aushalten und personalisieren... Für die meisten unserer Mitglieder ist dieses Selbstverständnis der Partei - unabhängig von Koalitionen - wichtig! Sie kommen in der Regel zu uns wegen unserer Ideen und Überzeugungen, also um unseres Standbeines willen, und nicht wegen bestimmter Koalitionen - das sind Ausnahmen. (Bei den Wählern mag das etwas anders sein, aber wenn wir sie halten wollen, dann müssen wir sie für unsere Überzeugungen und nicht nur für unsere Funktion im Parteienspektrum gewinnen.) So sehe ich z. B. eine entscheidende Aufgabe unserer Partei unabhängig von Koalitionsbedürfnissen -, überzeugt und überzeugend der Verwilderung unserer politischen Kultur und der um sich greifenden Verdrossenheit gegen Parteien, Parlamente und die repräsentative Demokratie insgesamt entgegenzuwirken. Bonn ist zwar nicht Weimar, aber ohne das Scheitern in Weimar wäre Bonn nicht möglich und nötig gewesen, deshalb müssen wir als Partei allen Weimar-ähnlichen Symptomen tatkräftig entgegenwirken. Das gilt beispielsweise auch für die heutigen Gespensterschlachten von vorgestern um die verlorenen Ostgebiete. Ohne eine lebendige, engagierte Partei können wir dies in den Zwängen der täglichen Parlaments- und Regierungsarbeit nicht überzeugend leisten. Dies alles müssen wir in Saarbrücken uns und der Öffentlichkeit deutlich machen. Ich halte wenig von der versuchten Therapie, unsere Partei durch das liberale Manifest und durch vorprogrammierte Wahlen »ruhig zustellen« und dabei alles zu verdrängen, was uns bis zum 1. Oktober 1982 wichtig war. Ich meine, wir müssen in Saarbrücken die Kraft aufbringen, uns nicht hinter Formelkompromissen zu verschanzen, sondern uns miteinander und füreinander zu identifizieren, indem wir die großartige Bandbreite liberalen, politischen Denkens und Lebens vorbehaltlos akzeptieren. Dann hat der politische Liberalismus wieder eine Chance aber nur dann.

In dieser liberalen Verbundenheit grüßt Sie, liebe Delegierte,
Ihre Hildegard Hamm-Brücher

4. Nach der »Wende«: Wo bleibt die geistig-moralische Erneuerung?

a) Zur Affäre Wörner - Kießling[32]

Ich war dem Bundeskanzler dankbar, als er im Fernsehen feststellte, er respektiere zu seiner Entscheidung in der Affäre Wörner/Kießling jede andere Meinung... Auch ich respektiere seine Entscheidung, vermag ihr aber leider nicht zuzustimmen.
Meine Bedenken gegen diese Entscheidung möchte ich in drei Punkten zusammenfassen:

  1. Der Vergleich der Anlässe und Maßstäbe zwischen früheren Ministerrücktritten und dem Fall des Verteidigungsministers Wörner müßte seinen Rücktritt nahe legen. Ich erinnere insbesondere an den seinerzeit notwendig gewordenen und von der damaligen Opposition (insbesondere ihrem damaligen Sprecher Wörner) lauthals geforderten Rücktritt des Ministers Leber, der gleichfalls seinen Fehler zugegeben und bedauert hatte und dessen Rücktritt von uns menschlich genauso bedauert wurde, wir wir den Rücktritt von Herrn Wörner menschlich bedauert hätten. Beide waren hervorragende Minister. Beide genossen in ihren Ministerien Ansehen und Respekt. Aber gerade dieser und andere Ministerrücktritte mit vergleichsweise weniger gravierenden Anlässen haben Maßstäbe gesetzt. Die strikte Beachtung des Prinzips der Ministerverantwortlichkeit hat in der Öffentlichkeit Zustimmung gefunden. Dies halte ich für das Ansehen der repräsentativ-kontrollierten Demokratie für unerläßlich. Eine funktionierende Ministerverantwortung war so etwas wie eine vertrauensbildende Maßnahme für die Glaubwürdigkeit unseres Systems. Notwendig gewordene Ministerrücktritte waren ein Beitrag zu seiner »inneren Hygiene«. Dies hat für die Betroffenen eine beachtliche Folgewirkung gehabt: nämlich, daß ein rechtzeitiger Rücktritt – unabhängig von den persönlich-schmerzlichen Begleiterscheinungen nicht nur nichts Unehrenhaftes ist, sondern als Beispiel für demokratischen Stil in der Öffentlichkeit sehr wohl anerkannt wird. Das persönliche Ansehen z. B. auch des früheren Kanzlers Brandt ist in der Folgezeit eher gestiegen als gesunken. Aus all diesen Erfahrungen bedaure ich sehr, daß an diesen von der damaligen Opposition mit gesetzten und geforderten Maßstäben im Falle von Minister Wörner nicht festgehalten wurde! Aus meiner Sicht wäre dies ein wirklich glaubwürdiger Beitrag zur moralisch geistigen Festigung unserer demokratischen Kultur gewesen (von der »Erneuerung« soll in diesem Zusammenhang nicht die Rede sein). Wir dürfen nicht zulassen, daß solche, gewiß schmerzliche Entscheidungen, die für das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der parlamentarisch-verfaßten Demokratie und der darin verantwortlichen politischen Parteien ein Prüfstein sind, mit zweierlei Maß gemessen werden, je nachdem ob eine Partei in der Regierung oder in der Opposition sitzt, und sie müssen auch unabhängig von persönlichen Sym- oder Antipathien für den Betroffenen sein.
  2. Mein zweites Bedenken gilt demzufolge der Vermischung von klarer Ministerverantwortung mit persönlichen Wertschätzungen, also der politischen Formel: weil der Minister seine Fehler zugegeben und bedauert hat und weil er (unbestritten) ein kompetenter Mann ist, kann er im Amte bleiben. Diese Formel scheint mir fragwürdig und nicht haltbar zu sein. Nicht nur, weil Herr Wörner »Fehler gemacht« hat -, sondern weil er aus meiner liberalen Sicht - nur Fehler gemacht hat, und zwar vom ersten bis zum letzten Augenblick dieser Affäre, nachdem er noch bis wenige Stunden vor der Rückkehr des Bundeskanzlers undementiert verbreiten ließ, daß er seinen Rücktritt nicht anbieten wolle. Wer über Wochen das Ansehen (und die Ehre) eines unbescholtenen Mitbürgers (das braucht kein General zu sein) als Folge eigenen Fehlverhaltens in den Schmutz ziehen läßt, kann dies nicht mit einer anwaltschaftlich ausgehandelten Ehrenerklärung und einem Zapfenstreich aus der Welt schaffen, ohne auch persönlich Konsequenzen zu ziehen. Davon aber abgesehen muß weiter gefragt werden: Welche und wie viele Fehler darf ein Minister machen, bevor Konsequenzen fällig sind? Haben nicht künftig Minister und andere hohe Beamte geradezu einen Anspruch darauf, analog behandelt zu werden? Das nicht ohne Grund existierende Prinzip der Ministerverantwortung einmal preiszugeben heißt, es für immer preiszugeben.
  3. Damit bin ich bei meinem dritten Bedenken, das für mich als Abgeordnete des Deutschen Bundestages ausschlaggebend ist: Welche Folgen wird das Außerkraftsetzen des Prinzips der Ministerverantwortung oder seine willkürliche Anwendung künftig haben? Was muß in Zukunft passieren, bevor ein Minister freiwillig zurücktritt oder zurücktreten muß? Wie wird der Verteidigungsminister Untergebenen Verantwortung und Konsequenzen abverlangen können, die er selber nicht gezeigt hat? Welche Folgewirkungen hat das für unsere Bundeswehr - vor allem für junge Wehrpflichtige? Wie wird man klar machen können, daß das, was für den Minister recht war, nicht auch für andere Fälle persönlicher Verantwortung billig sein muß? Welche Folgen hat das alles für unsere doch immer noch nicht gefestigte Demokratie und unsere politische Kultur? Wie belastet ist sie? Wieviel sauren Skandal-Regen verträgt sie auf längere Sicht? Welche Verantwortung übernehmen heute das Parlament und seine Abgeordneten für solche und andere Folgen in dieser Affäre? Theodor Heuss, der in diesen Tagen viel zitierte erste Bundespräsident, dessen 100. Geburtstag wir gerade erst mit wirklich schönen Reden gefeiert haben, hat wiederholt von der »Sünde des Wegsehens« gesprochen. Dürfen wir Abgeordnete der Koalition aus Gründen der Koalitionsräson (oder gar des Fraktionszwanges) wegsehen? Dürfen wir die Augen vor möglichen Folgen verschließen? Die Erfahrungen des legalen Scheiterns der Demokratie von Weimar vor einundfünfzig Jahren sitzen mir zu tief in den Knochen, um sie bei dieser Gelegenheit nicht schmerzlich zu spüren. Ich respektiere die Entscheidung des Bundeskanzlers, eine Mitverantwortung hierfür aber kann ich aus den dargelegten Gründen nicht mittragen.

b) Weihnachtliche Gedanken über Politik und Moral[33]

Als unsere zweite Demokratie vor fünfunddreißig Jahren aus der Nottaufe gehoben wurde, stellte sie der erste Bundespräsident Theodor Heuss bei seiner Antrittsrede unter die Losung des Predigers Salomon » Gerechtigkeit erhöhet ein Volk« (Sprüche 14,34). Den Nachsatz der alttestamentarischen Mahnung »aber die Sünde ist der Leute Verderben« zitierte Heuss nicht expressis verbis, er bezog ihn aber als gedankliche Mahnung in seine Rede mit ein, als er sagte: »Meine Sorge ist, daß manche Leute in Deutschland mit dieser Gnade des Vergessens Mißbrauch treiben und zu rasch vergessen wollen. Wir müssen das im Spürgefühl behalten, was uns dorthin geführt hat, wo wir heute sind... Ich hoffe, daß wir dazu kommen werden, aus dieser Verwirrung der Seelen eine Einheit zu schaffen. Aber wir dürfen es uns nicht so leicht machen, nun das vergessen zu haben, was die Hitlerzeit uns gebracht hat... Wir haben die Aufgabe im politischen Raum, uns zum Maß, zum Gemäßen zurückzufinden und in ihm unsere Würde neu zu bilden... « Immer wieder während seiner zehnjährigen Bundespräsidentschaft mahnte Heuss, alles politische Denken an moralischen Maßstäben zu orientieren und demgemäß zu handeln. Damit sprach und handelte er stellvertretend für alle Deutschen, die nach den schrecklichen politischen Ereignissen des Unrechtsstaates nun in der Nach-Hitler-Zeit auf einen neuen Anfang in Staat und Gesellschaft hofften und eine dauerhafte moralische Erneuerung ersehnten. So wie unser erster Bundespräsident waren sich auch die damals wieder erlaubten politischen Parteien und ihre führenden Repräsentanten wohl bewußt, daß sie eine besondere Verantwortung vor »Gott und den Menschen« (Präambel Grundgesetz) mitzutragen hatten, um den jungen Staat, der auf den Trümmern eines schrecklichen Unrechtsstaates errichtet werden sollte, innere Würde und äußere Glaubwürdigkeit zu verleihen - und zwar zuerst und vor allem durch das persönliche Verhalten.
Diesen ernst gemeinten Vorsatz finden wir auch in unserem Grundgesetz wieder, vor allem in den Artikeln, die sich mit den Grundrechten aller Bürger, mit der Garantie unserer Glaubens und Gewissensfreiheit sowie mit dem Grundgebot für alle Abgeordneten befassen, »an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur dem Gewissen unterworfen« zu sein. Ja, das persönliche Gewissen sollte die Instanz sein, aus der die Erneuerung unseres Gemeinwesens ihre moralische Qualität erhalten sollte. Hier - im persönlichen Gewissen - sollten sich Politik und Moral aneinander messen, wenn nötig, miteinander ringen und Entscheidungen verantworten. Wenn ich an das Weihnachtsfest vor fünfunddreißig Jahren - damals war ich schon jüngste Stadträtin in München - zurückdenke, dann erinnere ich mich sehr wohl daran, daß dieser starke, ernst gemeinte Vorsatz alle Politiker - alle Nachkriegsdeutschen guten Willens miteinander verband: Nie wieder dürften und wollten wir auch nur millimeterweise von Buchstaben und Geist unserer Verfassung abweichen - nie wieder auch nur einen Schritt vom Wege des Rechtes und gemeinsamer moralischer und ethischer Grundwerte tun... An diese Vorsätze heute in der Weihnachtszeit 1984 neuerlich zu erinnern bedeutet für mich keine billige Nostalgie. Es erscheint mir vielmehr durchaus aktuell. Nicht, daß ich unsere Demokratie neuerlich vom Scheitern bedroht sehe, aber doch gibt es Krisensymptome, die sich in politischen Skandalen, in der Verwilderung unserer politischen Kultur und im Verlust an Glaubwürdigkeit der Politiker und Parlamentarier äußern, die uns alle hellhörig machen sollten. Wie halten wir es heute fünfunddreißig Jahre nach diesen hoffnungsvollen Anfängen - mit Politik und Moral? Sind wir möglicherweise wieder dabei, es uns zu leicht zu machen mit dem Vergessen dieser Anfänge? Sicher stellt sich die Frage nach dem Stellenwert von Moral in der Politik immer und in jedem Gemeinwesen. Wahrscheinlich kann dieser Stellenwert nie, so voll befriedigen, wie das wünschbar wäre. Dennoch muß danach immer wieder mit bohrender Hartnäckigkeit gefragt werden und besonders dann, wenn es Anzeichen für nachlassende »Gewissenhaftigkeit«, also Anzeichen für den Verlust an Moral in der Politik gibt.
Da sind einige Kontrollfragen, die sich anläßlich aktueller Vorkommnisse stellen:

  • Wie halten es Parteien und Politiker mit ihrer Verfassungs und Gesetzestreue, wenn es um die Einhaltung von Bestimmungen geht, die sie selbst betreffen?
  • Wie gebrauchen sie Macht und Mehrheiten zu ihrem eigenen Vorteil, und wie gehen sie mit politischen Gegnern und Minderheiten um?
  • Und vor allem: Welchen Stellenwert hat das Gewissen im Umfeld politischer Machtkämpfe und Entscheidungen? Vermag sich der Abgeordnete in den Zwängen von Fraktion und Partei überhaupt auf seine im Grundgesetz verankerte Gewissensverantwortung berufen - und falls er es tut, was widerfährt ihm dann?

Wenn in letzter Zeit - nachdem Parteispenden- und andere Skandale, ihr Ausmaß und die Mitbetroffenheit aller Parteien offenkundig geworden waren - viel von »Selbstreinigung« die Rede ist, dann läßt das hoffen. Es kann und darf sich dieser Vorsatz aber weder in selbstgerechter und gegenseitiger Aufrechnung erschöpfen noch in der vordergründigen Korrektur von Einzelbestimmungen: »Selbstreinigung«, das setzt Besinnung auch auf die Anfänge und Vorsätze vor fünfunddreißig Jahren voraus. Sie erfordert heute Einsicht und auch Scham über das Geschehen dieses Jahres, und sie erfordert vor allem und zuerst Konsequenzen im eigenen Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereich. Sie erfordert Gewissenhaftigkeit, die »vor Gott und den Menschen« zu verantworten ist. Sind solche unbequemen Gedanken auch weihnachtliche Gedanken? Ich denke schon, denn vor der Weihnachtsfreude steht die Besinnung und die Erneuerung.

c) Zur Amnestie für Spendensünder[34]

Köln (AP) »Ich dachte, mich rührt der Schlag. « Mit dieser drastischen Formulierung schilderte die Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher am Freitag, wie sie am Vortag in der Sitzung der FDP-Bundestagsfraktion die geplante Amnestie für Beteiligte an unrechtmäßigen Parteispenden aufnahm. In einem Interview der Kölner Tageszeitung »Express« (Samstagausgabe) unterstrich die liberale Politikerin ihre entschiedene Ablehnung des von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP am Donnerstag mit jeweils großer Mehrheit gebilligten Vorhabens. Frau Hamm-Brücher hatte sich bei der Abstimmung in der Fraktion zusammen mit zwei weiteren FDP-Abgeordneten der Stimme enthalten: dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden Gerhart Baum und dem innenpolitischen Sprecher Burkhard Hirsch. »Ich war so belastet, so kaputt, und bin's auch heute noch, über das, was man uns wieder zumutet«, erklärte sie in dem Zeitungsgespräch. »So verstehe ich geistige Liberalität allerdings nicht«, kommentierte die Abgeordnete eine entsprechende Bemerkung ihres Parteivorsitzenden. Sie habe in der Fraktion »laut und energisch gegen das Verfahren protestiert, daß wir so etwas vorgelegt bekommen und uns innerhalb weniger Minuten zu entscheiden haben, und zwar unter eindeutigem Druck«...

d) Präzisierung des Verhaltenskodex für Abgeordnete[35]

Seitdem Bundestagsabgeordnete durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Berufspolitikern erklärt und ihre Diäten zum »Gehalt« aufgestuft wurden, ist die heikle Frage nach regelmäßigen Nebeneinkünften, die möglicherweise zu Interessenkollisionen zwischen Mandat und Geld führen könnten, sowie nach dem Verfahren ihrer Offenlegung und Kontrolle wie sich anläßlich der »Affäre Barzel« herausgestellt hat - niemals befriedigend geklärt worden. Der sogenannte »Verhaltenskodex für Abgeordnete«, der seit 1972 gültig ist, sieht zwar eine »Meldepflicht« für Beraterverträge, Nebeneinkünfte und Spenden von einer jeweils bestimmten Höhe ab vor, ob aber und in welchem Umfang und wie präzis dieser Meldepflicht nachgekommen wurde ob und in welcher Weise diese Meldungen überprüft und Bedenken oder Einwände zur Folge hatten -, das alles ist und bleibt wohl das Geheimnis der jeweiligen Parlamentspräsidenten, in deren Panzerschrank solche Meldungen deponiert wurden.
Nach den jetzt im Gefolge des Flick-Skandals kursierenden Gerüchten muß angenommen werden, daß die gültigen Bestimmungen des Verhaltenskodex' nicht präzis genug gefaßt und eine wirksame Kontrolle zumindest nicht ausreichend stattgefunden hat. Keinesfalls haben sie genügend zur Aufhellung einer möglichen Grauzone zwischen Mandatsausübung und Interessenkollision beigetragen. Deshalb muß es im Interesse des Ansehens des Bundestages und jedes einzelnen seiner Mitglieder liegen,

  • erstens über die Abläufe der bisherigen Melde- und Kontrollverfahren lückenlos informiert zu werden.
  • Zweitens müssen die bisherigen Bestimmungen- ähnlich wie in anderen westlichen Demokratien - so verschärft werden, daß sie an Klarheit und Präzision nichts mehr zu wünschen übrig lassen.
  • Drittens schließlich muß die Überprüfung der Einhaltung der Bestimmungen durch ein hierfür zu berufendes Vertrauensgremium auch wirklich garantiert werden. Neuerlicher Mißbrauch muß ausgeschlossen werden.

Das ist das Ziel eines Antrages, den ich bereits vor dem Rücktritt von Herrn Barzel angeregt hatte und der von 78 Abgeordneten der »Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform« unterzeichnet, Ende Oktober dem Präsidium und Ältestenrat des Bundestages zugeleitet wurde.
Wohlgemerkt: Dieser Antrag hat nicht den Abgeordneten mit total »gläsernen Taschen« zum Ziel, und er bleibt auch hinter den rigiden Bestimmungen für amerikanische Parlamentarier zurück. Denn das Steuergeheimnis und der Datenschutz sollen und müssen auch für Abgeordnete gelten! Liberale müssen zudem darauf bestehen, daß in jeder Hinsicht unabhängige Persönlichkeiten bereit sind, politische Mandate zu übernehmen. Dennoch müssen alle verpflichtet werden, den Verhaltenskodex strikt zu befolgen. Ich hoffe deshalb, daß unser Antrag mehrheitsfähig sein und damit sehr bald ein freiwilliger Prozeß der Einsicht und der verantwortungsbewußten Selbstkontrolle in Gang gesetzt wird. Den Antragstellern geht es vor allem darum, nicht erst abzuwarten, bis mehr oder weniger abgeglättete Vorschläge »von oben« kommen. Sie wollen mit ihrer Initiative deutlich machen, daß sie sich als Abgeordnete ihrer Mitverantwortung für das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des Parlaments bewußt sind, und einen ersten Schritt tun, um das Ansehen der repräsentativen Demokratie zu stärken. Hierzu wollen sie einen persönlichen Beitrag leisten. Allerdings: Weitere Schritte zu einer weiterreichenden Parlamentsreform werden diesem ersten Schritt folgen müssen.

e) Verhaltenskodex präzise und lückenlos fassen[36]

Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, es gibt niemanden hier unter uns, der dem Ende dieser Debatte nicht mit einem gewissen Unbehagen entgegensieht. (Unruhe Glocke des Präsidenten) Deshalb möchte ich mich doch noch einmal zum Sprecher all der Kollegen machen, die es außerordentlich bedauern, daß wir nach einer zwangsläufig sehr harten und kontroversen Debatte nicht zu einem gemeinsamen Entschließungsantrag der Parteien, die hier betroffen sind, gekommen sind. (Beifall des Abg. Dr. Feldmann (FDP) Ich habe diese beiden Anträge hier mitgenommen, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, und möchte einmal versuchen, kurz zu begründen, weshalb wir alle, glaube ich, dies bedauern müssen und es auch bedauern. Ich muß hier zunächst einmal sagen, Herr Kollege Vogel und Herr Kollege Schmude, daß die Übersendung eines Entwurfes ohne Verhandlungsbereitschaft natürlich nicht die Voraussetzung für eine gemeinsame Entschließung sein kann. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich finde das auch deshalb bedauerlich, meine Damen und Herren, weil nun die Gefahr besteht, daß von dieser Debatte nicht deutlich genug in die Öffentlichkeit übergeht, wie aus dieser Krise eine Chance und eine Bewährung für unsere Demokratie werden kann. Ich möchte das kurz begründen. Es ist ja oft genug gesagt worden, daß es in jeder Demokratie Skandale gibt und daß es die Stärke der Demokratie ist, daß sie offen gelegt werden. Aber, meine Damen und Herren, in unserer jungen, nicht erkämpften Demokratie kann aus solcher Krise ein entscheidender Kampf um Sein oder Nichtsein der Demokratie entstehen. Die Hypothek des Scheiterns der Weimarer Demokratie - das muß ich noch einmal betonen muß von uns allen, von allen Parteien mitgetragen werden. Das Alarmsymptom des Scheiterns der Weimarer Demokratie ist doch das Symptom Parteiverdrossenheit, ist gar das Symptom einer strikten Ablehnung, und von daher entsteht ja der Krisencharakter der Parteispendenaffäre. Das Bemühen, mit dieser Krise fertig zu werden, erfordert einen Quantensprung über die Parteigrenzen hinaus; (Beifall des Abg. Dr. Feldmann (FDP) das möchte ich am Schluß betonen. Wir sollten uns davor hüten, meine Damen und Herren, in dieser Auseinandersetzung Parteiinteressen über Demokratieinteressen zu stellen

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir sollten uns auch davor hüten, zu versuchen, daraus parteipolitisches Kapital zu schlagen. (Zustimmung bei der FDP Dr. Hackel (CDU/CSU): Sagen Sie das in Richtung SPD!) Die Wahlergebnisse zeigen doch, daß diese Rechnung nicht aufgeht. Auch sollten wir uns davor hüten, zu glauben, die Sache nach der Devise »Augen zu und durch« erledigen zu können. Nein, wir müssen die Kraft aufbringen, zwei sehr schmerzhafte Einsichten wirklich aufzuarbeiten, und die möchte ich noch einmal kurz zusammenfassen. Die erste Einsicht für die Parteien, die dies betrifft, ist die Einsicht, daß der Art. 21 unseres Grundgesetzes in seinem ersten Satz, nämlich bezüglich der Mitwirkung der Parteien, wahrscheinlich viel zu weit ausgelegt worden ist und daß der vierte Satz, der die Offenlegung der Art, auf die wir uns - auch durch Parteispenden - finanzieren, vorschreibt, zu sehr ignoriert worden ist und daß dagegen verstoßen worden ist. Wenn wir dies gemeinsam mitnehmen können, müssen alle - ich inklusive - doch so etwas wie eine - so hat Heuss es einmal genannt - Kollektivscham empfinden. Nehmen wir also beide genannten Sätze dieses Art. 21 in Zukunft so ernst, wie unsere Verfassungsväter sie gemeint haben? Hier möchte ich mich meiner verehrten Kollegin Leni Fischer voll anschließen: Wir sollten nicht nur Kostendämpfung im Gesundheitswesen fordern, sondern auch selber eine Kostendämpfung im Parteienfinanzierungswesen vorführen. Meine Damen und Herren, die zweite Einsicht betrifft uns unmittelbar. Wie halten wir es in Zukunft mit unserem Verhaltenskodex, und wie halten wir es mit dem Art. 38 des Grundgesetzes, der hier heute auch schon wiederholt zitiert worden ist? Ich freue mich darüber, daß 82 Kollegen aus allen Fraktionen noch vor dem bedauerlichen Rücktritt des früheren Bundestagspräsidenten einen gemeinsamen Antrag eingereicht haben, um eben diesen Verhaltenskodex so präzise und so lückenlos zu fassen, daß wir in der Öffentlichkeit deutlich machen: Hier beginnen tatsächlich Konsequenzen und ein Selbstreinigungsprozeß. Noch etwas geht uns alle an, meine sehr geehrten Damen und Herren: Wir alle sprechen mit jungen Menschen, und wir müssen wissen, wie wichtig die Vorbildfunktion der führenden Parteien und Politiker für das Ansehen unserer Demokratie ist. Wie wir es mit unserer Verfassung halten, wie wir mit Gesetzen umgehen, wie wir miteinander umgehen, das ist die entscheidende Vorbildfunktion, an der wir gemessen werden und die wir gemeinsam sehr ernst nehmen wollen. Meine Damen und Herren, dieses Schlagwort vom »gläsernen Abgeordneten« heißt doch nichts anderes, als diese Vorbildfunktion und diese Maßstäbe zu setzen, die dann akzeptiert werden können. (Zuruf von der CDU/CSU: Leider heißt es doch etwas anderes!) Mein letzter Satz, Herr Präsident: Gerade weil dieser Art. 38 Abs. 1 nun doch wieder entdeckt wird, sollten wir in dieser Stunde daran erinnern, daß wir Vertreter des ganzen Volkes sind und daß wir die Gemeinsamkeit der Demokraten nicht nur bei Festreden strapazieren, sondern in einem solchen Augenblick auch praktizieren sollten. Beide Anträge haben so viel Übereinstimmung, daß ich für einige Kollegen abschließend ankündigen möchte, daß wir unserem Antrag zustimmen und uns beim Antrag der SPD, um wenigstens eine kleine Brücke zu bauen, der Stimme enthalten werden.
Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der Grünen)

5. Verzicht auf eine Kandidatur als Bundestagsvizepräsidentin[37]

Präsident Dr. Jenninger: Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 22 der Tagesordnung auf: Wahl eines Stellvertreters des Präsidenten.
Die Fraktion der FDP hat den Abgeordneten Dieter Julius Cronenberg vorgeschlagen. Von Abgeordneten der Fraktion Die Grünen ist die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher vorgeschlagen worden. (Beifall bei den Grünen und bei Abgeordneten der SPD - Dr. -Ing. Kansy (CDU/CSU): Das kommt nicht von ungefähr!) Dazu hat mir die Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher gestern folgendes Schreiben übermittelt:

Sehr geehrter Herr Präsident!
Aus Gründen der Loyalität gegenüber der FDP-Fraktion vermag ich die von den drei Kolleginnen der Grünen vorgeschlagene Kandidatur zum Bundestagsvizepräsidenten nicht anzunehmen. (Dr. Ehmke (Bonn) SPD: Leider!) Dafür bitte ich auch die Antragstellerinnen um Verständnis. Dennoch möchte ich den Kolleginnen für ihre Initiative danken. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie ist für mich ein Zeichen der Hoffnung, daß es möglich ist, Schritte zur Überwindung der unheilvollen parlamentarischen Polarisierung zu wagen und einander trotz aller Gegensätze den menschlichen Respekt nicht zu versagen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der Grünen) In diesem Sinne, denke ich, können Vorschlag und Verzicht zur parlamentarischen Stilbildung beitragen.
Hildegard Hamm-Brücher

Meine Damen und Herren, da nach unseren allgemeinen Wahlrechtsgrundsätzen niemand gegen seinen Willen zur Kandidatur gezwungen werden kann, gibt es bisher nur den Vorschlag, den Abgeordneten Dieter Julius Cronenberg zur Wahl zu stellen. Darf ich fragen, ob andere, weitere Vorschläge gemacht werden? - Das ist nicht der Fall...

6. Gegen Waffenexporte nach Saudi-Arabien[38]

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,  1.11.1985
bitte erlauben Sie mir eine persönliche Reaktion auf Ihre Rede anläßlich der ersten - alle Teilnehmer tief bewegenden Konferenz des Leo-Baeck-Institutes in Berlin. Entscheidend für unser Verhältnis zu den Juden und ihrem Staat ist, daß wir in unserem Reden und Handeln glaubwürdig sind und bleiben - und diese Glaubwürdigkeit wird tief gestört - vielleicht sogar zerstört - sein, wenn die geplanten Waffenexporte - insbesondere der Bau einer Munitionsfabrik - (wie könnten wir je kontrollieren, wohin die dort produzierte Munition verkauft würde?) nach Saudi-Arabien genehmigt werden sollte. Dieser atmosphärisch-greifbare Widerspruch zwischen Ihrer Rede in Berlin und der offenbar von Ihnen geförderten Entscheidung hat Ihren Auftritt - bei allem Respekt vor dem, was Sie sagten - für viele, sehr viele Anwesende, schmerzlich und peinlich gemacht - wie dann auch der folgende Konferenzverlauf überschattet war von der Angst und Sorge der teilnehmenden Juden und Deutschen, es könne so kommen.
Deshalb schreibe ich Ihnen, um Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, inständig zu bitten, alsbald eine klare und endgültige Entscheidung gegen jedwede weiteren Waffenexporte in arabische Länder zu treffen. Dies wäre eine, im besten Sinne, »historische« Entscheidung, mit der Sie mehr zur Heilung, Vertrauensbildung und Versöhnung des immer noch tief gestörten deutsch-jüdischen Verhältnisses beitragen würden als alle noch so aufrichtig gemeinten Reden der letzten Jahrzehnte zusammen. Außerdem stünden Sie mit dieser Entscheidung in der Nachfolge Konrad Adenauers und könnten der Zustimmung der überwiegenden Mehrzahl der Deutschen - vor allem auch der jüngeren - sicher sein. Aus all diesen Gründen bitte ich Sie: Bedenken Sie, was in der Sache, in den Folgewirkungen und was auch für Sie persönlich auf dem Spiel steht. Übrigens auch in der Koalition, denn die Beschlußlage und Stimmung in meiner Partei ist eindeutig gegen Waffenexporte im allgemeinen und in den Nahen Osten im besonderen. Ich hoffe, daß sich viele meiner Fraktionskollegen aus tiefster eigener Überzeugung an diese Beschlußlage halten werden. Ich werde es ganz sicher tun und mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln gegen diese Entscheidung kämpfen. Im Verzicht auf diesen Waffenexport liegt die entscheidende moralische Bewährungsprobe dieser (und jeder!) Bundesregierung! In diesem Sinne grüßt Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, respektvoll Ihre
Hildegard Hamm-Brücher
P. S. Dieser Brief läuft zunächst nicht über mein Büro. Im Hinblick auf seine parteipolitische Relevanz erhalten Herr Genscher und Herr Bangemann persönlich Fotokopien.

Eine ausweichende Antwort des Bundeskanzlers erhielt ich erst etwa fünf Wochen später nach nochmaliger Anfrage.

7. Konsequenzen aus dem Nationalsozialismus -
Die Ost- und Entspannungspolitik im Zeichen der Aussöhnung[39]

Wesentlich umstrittener als die Westpolitik war und ist zwischen den politischen Parteien die Gestaltung unserer Beziehungen zu unseren früheren Feinden im kommunistischen Osteuropa. Während es in der Ära Adenauer darum ging, unsere wiedergeschenkte Freiheit im Rahmen der westlichen Option zu sichern, begannen etwa seit spätestens Mitte der sechziger Jahre einzelne und Gruppen lautstark über eine Entspannung unseres Verhältnisses mit dem Ostblock nachzudenken (z. B Egon Bahr). Es ging um die Überwindung (oder doch Milderung) der Realitäten und Mentalitäten des Kalten Krieges - ein Prozeß, der in den USA bereits seit Anfang der sechziger Jahre in vollem Gang war. Wir Westdeutschen mußten lernen, umzudenken beziehungsweise weiterzudenken. Wir mußten im Rahmen der großen Entwicklungen unseren spezifischen Beitrag leisten! Bei der Beurteilung dieses mühsamen Prozesses müssen wir beachten, daß der Antikommunismus das bestimmende ideologische Signum der Ära Adenauer und der ganzen Nachkriegszeit war. Es war der Kalte Krieg, der die Voraussetzung für den raschen Wiederaufstieg Deutschlands schuf. Auch die Geschichte unserer Ostbeziehungen in diesem Jahrhundert, die in der brutalen Vernichtungspolitik Hitlers während der Besetzung im Zweiten Weltkrieg gipfelte, belastete und verhinderte einen neuen Anfang. - Eine wirkliche Aussöhnung mit dem polnischen Volke schien kaum denkbar die sogenannte »Hallstein-Doktrin« versperrte den Weg, die Teilung Deutschlands für die Deutschen erträglicher zu machen, und belastete unsere diplomatischen Beziehungen zu Ländern der Dritten Welt. So ist es zu erklären, daß erst mit der Bildung der sozialliberalen Koalition 1969 erste mutige Schritte hierzu versucht wurden. Auch die 1967 veröffentlichte heiß umstrittene Denkschrift der EKD unter dem Vorsitz des unvergessenen Tübinger Staatsrechtlers Ludwig Raiser zur Aussöhnung und zur Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze hatte hierzu den Boden bereitet. Diese neue Ostpolitik wurde als ein spezifisch deutscher Beitrag zur Sicherung des Friedens in Europa, zur Aussöhnung und nicht zuletzt zur Verbesserung und Erleichterung der menschlichen Beziehungen zwischen den in zwei Staaten und zwei Gesellschaftssystemen lebenden Deutschen einer Nation konzipiert. Zwischen 1970 und 1976 wurden - gegen den erbitterten Widerstand der CDU / CSUOpposition - folgende Verträge unter Dach und Fach gebracht:

  • der Moskauer Vertrag, in dem der Gewaltverzicht mit der Sowjetunion und die Anerkennung der bestehenden Grenzen niedergelegt sind,
  • die Warschauer Verträge, mit denen die Oder-Neiße-Grenze anerkannt und die Aussiedlung Hunderttausender Deutschstämmiger eingeleitet wurde,
  • das Berlin-Abkommen der vier Mächte, das seither den Status der geteilten Stadt erfolgreich stabilisiert und die Aufnahme zwischenstaatlicher Beziehungen auf der Grundlage des
  • Grundlagenvertrages mit der DDR ermöglicht hat.

Was haben diese Verträge nach etwa zehn Jahren erbracht? Sicher hat sich nur ein Teil der Hoffnungen erfüllt, aber es gibt doch auch positive Entwicklungen, vor allem im deutsch deutschen und im deutsch-polnischen Verhältnis (Wirtschafts- und Kulturbeziehungen, Familienzusammenführung, menschliche Erleichterungen). Sicher ist auch, daß die zunächst von Präsident Kennedy eingeleitete Entspannungspolitik weltweit nicht die erhofften Früchte getragen hat - in Europa aber hat sie an der Nahtstelle der deutschen und europäischen Teilung immerhin eine verbesserte Konstellation ermöglicht. Und nicht zuletzt: Damals, zu Beginn der siebziger Jahre, war die Vertragspolitik innenpolitisch heiß umstritten, und ich bin sicher, daß sie damals nicht von einer konservativ geführten Bundesregierung durchgesetzt und gestaltet worden wäre. Heute aber wird sie auch von den konservativen Parteien akzeptiert - selbst wenn sich gerade in jüngster Zeit anläßlich der unglaublichen Diskussion um das Motto des Schlesier-Treffens »Schlesien ist unser« einige unerfreuliche Irritationen ergeben haben.
Letztlich wird die weitere Entwicklung - abgesehen von unseren eigenen Bemühungen (Genscher: »Die Entspannungslokomotive unter Dampf halten«) natürlich von der »Großwetterlage« im Ost-West-Verhältnis abhängen. Wir dürfen dabei nie vergessen: Dies alles sind immer noch die Folgen des von Hitler vom Zaune gebrochenen Zweiten Weltkrieges. Dazu gehören auch die Schreckenstaten, die wir in den besetzten Ostgebieten vollbracht haben (Auschwitz, Treblinka u. a.) Wenn Sie als junge Erwachsene sich und uns fragen, was Sie heute und morgen noch die Schuld Ihrer Vorväter angeht, dann mag meine Antwort vielleicht bedrückend klingen - Sie ist aber im Sinne Karl Poppers ermutigend gemeint.
Auch Sie werden einer fortwirkenden Kollektivhaftung nicht entgehen können, aber Sie haben die große Chance, unbefangener damit umgehen zu können als wir. Ich stimme Popper zu, wenn er sagt: »Nur aus unseren Irrtümern können wir lernen, und nur der wird lernen, der bereit ist, die Irrtümer anderer als Schritte zur Wahrheit zu schätzen und der nach seinen eigenen Irrtümern sucht, um sich von ihnen zu befreien... Diese Selbstkritik und Selbstbefreiung ist nur in einer pluralistischen Atmosphäre möglich, das heißt in einer offenen Gesellschaft, die eigene Irrtümer und viele andere Irrtümer toleriert.« Und er fährt fort: »Wir müssen versuchen, nicht nur unserem individuellen Leben eine Aufgabe zu geben, sondern auch unserem politischen Leben - unserem Leben als politisch denkende Menschen und insbesondere als Menschen, die die sinnlose Tragik der Geschichte als unerträglich empfinden und als eine Aufforderung, unser Bestes zu tun, um die künftige Geschichte sinnvoller zu machen.« Das scheint mir die eigentliche Konsequenz aller Konsequenzen aus der Zeit des Nationalsozialismus zu sein: Unsere künftige Geschichte sinnvoller zu machen!

8. Begegnung in Warschau Zwanzig Jahre EKD-Denkschrift[40]

Das Jahr 1985 war reich an Gedenktagen, die sich anstößig und sperrig in den Weg unserer Alltagsgeschäftigkeit gestellt haben: die Erinnerung an den 8. Mai 1945 - an das Potsdamer Abkommen mit der Folge der Vertreibung von Millionen Deutschen aus ihrer Heimat - an den Abwurf der ersten Atombombe - an das Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche vor vierzig Jahren - an den Erlaß der Nürnberger Rassengesetze, mit denen die Judenverfolgung legalisiert wurde vor fünfzig Jahren - und an die »Ostdenkschrift« der EKD - Die Häufung dieser - im doppelten Wortsinn - »anstößigen« Gedenktage erscheint vor allem jüngeren Menschen eher zufällig. Tatsächlich stehen sie jedoch in einem historisch derart stringenten Zusammenhang, daß sie, aufeinander bezogen, ein eindringliches politisches Lehrstück von aktueller und fortwirkender Bedeutung ergeben, das bedacht werden sollte. Ist uns das gelungen? Auf den ersten Blick ist die Bilanz verworren. Da gab es von Bitburg bis zu den Gräbern der Geschwister Scholl, von den Reden der Vertriebenenfunktionäre bis zu der des Bundespräsidenten Höhe- und Tiefpunkte des Erinnerns, erlebten wir klärende, aber auch qualvolle Augenblicke. Da spürten wir aufrichtiges Bemühen, aus Erinnerungen und Erfahrungen Erkenntnisse über Schuld, Verantwortung und fortwirkende Konsequenzen zu ziehen. Da gab es aber auch Verkrampfungen, Abwehr und Beispiele bestürzender Unfähigkeit zu Einsicht und Trauer. Ich möchte mich auf ein Gedenkdatum konzentrieren, in dem sich alle anderen gleichsam widerspiegeln: den 20. Jahrestag der sogenannten Ostdenkschrift der EKD, ihre Geschichte und ihre Folgen, die während eines Symposiums, zu dem der Polnische Ökumenische Rat deutsche Vertreter aus Kirche und Politik vom 4. bis 6. Oktober nach Warschau eingeladen hatte, noch einmal hautnah lebendig wurden. Es war für jeden deutschen Teilnehmer aufregend und lohnend, die Denkschrift und die leidenschaftlichen Reaktionen darauf nachzulesen, zu bedenken, was dieser Text in den zwei Jahrzehnten seither an Veränderungen im Denken und Verhalten von Christen und Politikern beider Länder bewirkt hat, und zu fragen, wo wir heute stehen, welche Aufgaben sich für die Zukunft ergeben. Trotz Freude über diese Begegnung war auf beiden Seiten Befangenheit zu spüren. Wie offen konnten wir sprechen? Würden wir mehr und etwas anderes bewirken können, als bekannte Positionen auszutauschen? Die »harten Tatsachen« saßen ja mit am Tisch, und sie personalisierten sich auf beiden Seiten. So ist es nicht verwunderlich, daß der greifbare politische Ertrag der Gespräche in Warschau nicht viel ergiebiger war als bei anderen Begegnungen dieser Art. Bei den polnischen Partnern bestehen die Ängste über die Sicherheit ihrer Westgrenzen unvermindert fort. Ihre Befürchtungen sind groß gegenüber dem Kurs einer deutschen Regierung, welche die Verträge zwar anerkennt und deren Kanzler dies immer wieder bekräftigt, dessen Partei sie aber jahrelang mit allen politischen Mitteln bekämpft hatte und in den eigenen Reihen bis heute mit Vorbehalten und Störmanövern konfrontiert ist.

Daraus resultiert bei den Polen ein beinahe zwanghaftes Rechtfertigungsbedürfnis für ihren historisch-politischen Anspruch auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie. Auf deutscher Seite wiederholten sich die Bekräftigungen unbedingter Vertragstreue, verbunden mit vagen Vorstellungen über eine europäische Friedensordnung und zum sogenannten Friedensvertragsvorbehalt. Und doch stellte sich im Laufe der Tagung ein deutlicher Unterschied heraus und damit Hoffnung ein: Hier sprachen Christen miteinander - gleich, in welcher politischen Funktion oder Parteiung sie stehen. Über diese spirituelle Gemeinsamkeit führte der Dialog schließlich wirklich weiter und eröffnete schmale, aber doch hoffnungsvolle Perspektiven. Dies bewirkte der Geist aufrichtiger Versöhnungsbereitschaft, der Dabei wird es deutscherseits in diesem Dialog vor allem darum gehen, bei der Akzeptanz, Auslegung und Anwendung der Warschauer Verträge Vorbehalte und Doppeldeutigkeiten zu vermeiden. Dazu gab es zwei Schlüsselaussagen. Der polnische Völkerrechtler Lech Janicki: »Der >Friedensvertragsvorbehalt<, auf dem politische Kräfte in der Bundesrepublik bestehen, enthält Polen sein Recht auf gesicherte Grenzen vor.« Und Karsten Voigt ergänzte: »Wer die Zusage der Bundesrepublik im Warschauer Vertrag, an Polen keine Gebietsansprüche zu haben, durch mancherlei Vorbehalte relativiert, stellt die politische Zukunft beider Länder in Frage.«
Ich sehe das auch so: Erst und nur dann, wenn wir aufhören, unsere Anerkennung der Verträge im nachfolgenden Satz mit »aber« wieder zu relativieren, werden sich Ressentiments und Verkrampfungen auf beiden Seiten wirklich lösen und wird ein Aufeinander zugehen beiderseits möglich sein. Was das auf polnischer Seite erfordert, hat Jürgen Schmude sanft, aber unmißverständlich artikuliert, als er die polnischen Kirchen darum bat, einen weiteren Schritt zur Versöhnung zu tun und anzuerkennen, daß die vertriebenen Deutschen ein bitteres Schicksal erlitten haben und daß man ihnen die Erinnerung an dieses Schicksal nicht als Revanchismus auslegen dürfe. Die Warschauer Tagung hat für mich ergeben, daß der Geist der Versöhnungsbereitschaft an diesen beiden Tabusperren ansetzen und kräftiger werden muß, bevor die nächsten politischen Schritte gewagt und getan werden können. Der dauerhafte Ertrag des Symposiums könnte darin liegen, daß wir das versuchen, um die Stagnation und beginnende Resignation im deutsch-polnischen Aussöhnungsprozeß zu überwinden. Vielleicht ist hierfür der Vorschlag zu einer »zweiten Ostdenkschrift« eine brauchbare Idee. Ich möchte diesen Gedanken unterstützen und würde mir hierbei ein gemeinsames Vorgehen unserer und der polnischen Kirche wünschen. Sie sollte in dem Geiste verfaßt werden, den Richard von Weizsäcker am 8. Mai beschworen hat: »Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte... Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Gewaltverzicht heute heißt, den Menschen dort, wo sie das Schicksal nach dem 8. Mai hin getrieben hat und wo sie nun seit Jahrzehnten leben, eine dauerhafte politisch unangefochtene Sicherheit für ihre Zukunft zu geben. Es heißt, den widerstreitenden Rechtsansprüchen das Verständigungsgebot überzuordnen.«
Hierin könnte der Ertrag dieses Jahres anstößiger Gedenktage liegen, daß wir beim Erinnern nicht stehen bleiben, sondern davon ausgehend verpflichtende Anstöße für die Politik der folgenden Jahre annehmen. Das sollte allerdings nicht nur für die deutsch-polnischen Beziehungen gelten, sondern für alle Bereiche der deutschen Politik, die immer noch und wieder von unserer Vergangenheit überschattet sind.

Texttyp

Briefe