Kapitel 1
Die knorrigen Wurzeln eines Banyan-Feigenbaumes bildeten einen natürlichen Treppenaufgang zu einer grasbewachsenen Terrasse. Ich blieb stehen, um mich auszuruhen und auf meine Freundin Didi zu warten. In meinem Kopf pochte das Blut begierig nach Sauerstoff, obwohl wir uns in weniger als zweitausend Meter Höhe befanden.
Eine Frau aus dem Dorf in einem bunt bedruckten Sarong ging vorbei. Sie trug einen Korb mit raschelnden Maisblättern und Futtergras auf dem gebeugten Rücken. Die Augen unter dem Tragriemen, der quer über die Stirn lief, waren auf den Weg geheftet. Gesundheit strahlte aus dem braungebrannten, geröteten Gesicht. Sie trieb eine Kuh mit einer Weidenrute vor sich her, und dabei klimperten die Armreifen am Handgelenk aneinander. Am Rand der Terrasse bückte sie sich, um trockene Kuhfladen aufzusammeln, die guten Brennstoff abgaben, und verstaute sie im Futterkorb. Hatte sie meine Jeans und meine ausländischen Turnschuhe bemerkt? Sie hob den Kopf und bedachte mich mit einem kurzen, abschätzenden Blick. War ich auf dem Weg zu dem Dörfchen oben auf dem Bergkamm, um dort die Kinder im Auftrag der nepalesischen Regierung zu impfen? Oder war ich möglicherweise der Schullehrer, der Vorjahren bei der alten Frau im Dorf gewohnt hatte, drüben am Hügel? Vielleicht war ich jemand, der für die Gurkha-Regimenter der britischen Armee Soldaten rekrutieren sollte, gefolgt von seiner Frau, die sich pflichttreu ein paar Schritte hinter ihm hielt.
»Oounhh«, sagte sie leise, ein Laut, der ihre Frage - welche es auch sein mochte - artikulierte und gleichzeitig beantwortete.
Sie drehte sich um und ging weiter; den Oberkörper hielt sie unter dem Druck der Last auf ihrem Rücken still, und ihre Füße, die in Gummischlappen steckten, fanden sicheren Halt beim Abstieg durch den Hohlweg. Sie bewegte sich im bergigen Gelände ebenso locker, wie Didi oder ich es auf den Bürgersteigen der Städte taten.
Didi mußte sich ausruhen. Im Schatten des Banyanbaums tranken wir Wasser und teilten uns ein Paket Crackers. Unser Blick schweifte über den kühlen Umriß des Annapurna-Gebirges, einen Teil des nepalesischen Himalaja. Der zerklüftete Rücken des Annapurna I, der an die siebentausend Meter hoch war und damit der zehnthöchste Berg der Erde, überragte drei kleinere Gipfel. Im Nordwesten türmten sich fünf Spitzen des Dhaulagiri übereinander. Der Machapucchare, der »Fischschwanz«, stand am Fuße dieser weiß gefrorenen Welle wie eine Verkündigung; seine Pyramidenform vermittelte eine hoffnungsfrohe Botschaft von Dauer und Loslösung. Getragen vom Aufwind aus der sengend heißen indischen Tiefebene, schwebte meine Phantasie im Norden hoch empor, über den Himalaja hinweg, zu der trockenen, kristallklaren Luft des tibetischen Hochlands.
Wir waren froh, der hektischen und verschmutzten Hauptstadt, Katmandu, wo wir arbeiteten, entkommen zu sein, um uns hier in den Bergen, dem geographischen Zentrum des Landes, zu regenerieren. Eine Terrassenlandschaft aus dunkler Erde umgab uns - ähnlich den Konturen einer topographischen Landkarte -, in die sich kleine Ansammlungen von grasgedeckten Lehmhäusern schmiegten. Die subtropische Szenerie machte einen friedlichen und stillen Eindruck, und nichts war zu hören außer dem entfernten Zwitschern von Hirtenstaren und dem Stakkato-Zirpen der Zikaden.
Ein langer, gewundener Weg hatte Didi hierher gebracht. Darauf erpicht, sechs Jahre Schule im Convent of the Sacred Heart bei San Diego möglichst rasch abzuschütteln, war sie Anfang der siebziger Jahre mit ihrer Schwester Teddi nach Europa aufgebrochen. Sie waren auf einer Mittelmeerinsel gelandet und dann auf dem Haschischpfad, der Seidenstraße der sechziger Jahre, quer durch den Mittleren Osten bis nach Asien weitergezogen. Als ihr Kleinbus in Afghanistan zusammenbrach, trampten sie weiter nach Indien und Nepal.
Didi und ich hatten beide schon mehr als ein Jahrzehnt am Fuß des Himalaja gelebt, bevor wir uns kennenlernten. Aus der Gerüchteküche der Ausländer war ihr zu Ohren gekommen, daß ich auf einem verschneiten Paß illegal die Grenze von Tibet nach Nepal überquert hatte, und sie hatte einem gemeinsamen Freund gesagt, daß sie mich kennenlernen wolle.
»Und was hast du in all diesen Jahren gemacht?« fragte ich Didi, als ich bei einer Party neben ihr stand und bedachtsam meinen Drink im Glas schwenkte.
»Ich habe die Kultur studiert und den Buddhismus.« Sie lächelte ironisch. »Und mit meinem Freund habe ich eine Trekkingfirma namens Humpayeti Tours aufgezogen. Wir haben Treks in abgelegene Gebiete geführt. Jetzt ist er allerdings mein Ex-Freund.« Ja, sie war die Frau mit Stiefeln und Barett, die ich auf einem roten Motorrad in der Stadt hatte herumfahren sehen beim Einkauf von Schmuck und Teppichen für den Export.
»Das war sicherlich lohnender, als für die Regierung zu arbeiten«, sagte ich steif und bemühte mich, sie nicht merken zu lassen, daß ich ihre weichen Gesichtszüge und ihre zurückhaltende Art sehr anziehend fand - was ich von einer Motorradfahrerin gar nicht erwartet hatte. Im Vergleich dazu klang meine Geschichte ziemlich langweilig. Ich erzählte ihr, daß ich die siebziger und den Beginn der achtziger Jahre in den Bergen als Schullehrer tätig gewesen war und an landwirtschaftlichen Entwicklungsprojekten von internationalen Hilfsorganisationen mitgearbeitet hatte.
Seit unserer Begegnung waren vier Jahre vergangen. Wir hatten in Didis Haus in Katmandu zusammengelebt und uns vor kurzem entschlossen, gemeinsam in die Vereinigten Staaten zu reisen. Wir wollten herausfinden, wie ernst wir es wirklich miteinander meinten, um es in Didis Worten auszudrücken. Ich sah diesen bevorstehenden Sommer als Test, ob unsere Beziehung dem Kulturwechsel standhalten würde.
Aber es gab noch jemanden, den ich besuchen wollte, bevor wir Nepal verließen.
Eine Stunde Fußmarsch trennte uns noch von unserem Ziel, einem aus zwanzig Häusern bestehenden Dorf, das von Subsistenzbauern des Gurungstammes bewohnt wurde. Die Gurung waren vor mehreren Jahrhunderten aus Tibet eingewandert und hatten sich in über hundert Dörfern auf der Südseite des Annapurna-Gebirges niedergelassen. Sie sind mongolischer Abstammung und Hindu-Buddhisten durch Geburt, leben jedoch einträchtig mit den Brahmanen und den unberührbaren Kasten zusammen, den unauffälligeren Hindu-Kaukasiern, die in späterer Zeit Dörfer in der Nachbarschaft gegründet hatten. Untereinander verständigen sich die Gurung meist in ihrer eigenen Stammessprache, aber sie beherrschen auch das Nepalesische, die Sprache der Regierung und des Erziehungssystems, die Didi und ich gelernt hatten.
Ich kannte die Gegend gut. Als frischer Absolvent eines Colleges an der Ostküste hatte ich in den frühen siebziger Jahren für das Peace Corps in einer höheren Schule hier in der Nähe naturwissenschaftliche Fächer unterrichtet. Mein Zuhause war der Heuschober über dem Stall eines Wasserbüffels, der an das Haus einer 69 Jahre alten Frau angebaut war. Meine Vermieterin, Vishnu Maya, wurde im Dorf allgemein Aama genannt, das nepalesische Wort für Mutter. Sie kochte für uns beide, wenn sie nicht gerade auf Bäume kletterte, um Futter für den Büffel zu schneiden, oder von tief unten aus dem Tal zusammen mit ihrer Tochter und ihren Enkelinnen Ernteprodukte heraufschleppte.
Aama war schon lange verwitwet und lebte allein. Enttäuscht, aber ohne Bitterkeit hatte sie aufgegeben, sich bei den Behörden um die Pension zu bemühen, die ihr, wie Verwandte meinten, zustand, weil ihr Mann beim Dienst in der indischen Armee gestorben war. Aber sie zweifelte daran, ob sie von dem Geld je etwas gesehen hätte, selbst wenn ihr diese Pension zugesprochen worden wäre. Ihr Schwiegersohn und andere Verwandte hätten sich die monatlichen Zahlungen wahrscheinlich schon unter den Nagel gerissen, noch bevor sie überhaupt in die örtliche Auszahlungsstelle gelangt wären. Aama hatte eine Tochter, Sun Maya. Ein Sohn war ihr nie geboren worden, was in einer hinduistischen Gesellschaft als Stigma galt. Es bedeutete, daß die Frau nur teilweise fruchtbar war und im Alter niemanden haben würde, der sie unterstützt. Sun Maya wurde im Dorf verheiratet, damit sie in Reichweite blieb und der Mutter bei den schweren Arbeiten helfen konnte. Wenn ich nicht unterrichtete, machte ich mich bei den Alltagsarbeiten nützlich, die sich als erstaunlich mühsam erwiesen, wie Wasser zu schleppen und Holz zu spalten. Die Dorfbewohner amüsierten sich, und Aama protestierte, denn sie war überzeugt, daß körperliche Arbeit meine Würde als »master-sahib« - als Schullehrer - beflecken würde. Mir schien, daß es mehr um ihre Würde ging, die Schaden nahm, wenn jemand sah, daß ihr Hausgast arbeitet. Aber sie sah in mir ihren Dharma-Sohn, den männlichen Nachkommen, der ihr vorenthalten blieb, bis er ihr nun von den Göttern geschickt worden war, so wie es ihr vom Schicksal schon lange vorherbestimmt gewesen sei.
Und - wie sich herausstellte - auch von meinem. Meine eigene Mutter war überraschend gestorben, als ich neunzehn war - drei Jahre vor meiner Ankunft in Aamas Dorf.
Didi und ich saßen auf der Terrasse, ohne miteinander zu reden, und ich gestand mir ein, daß ich mich Aama näher fühlte als meiner Lebensgefährtin. Das Leben in Aamas Dorf war meine zweite Jugend gewesen. Aama hatte mich aus dem Gefühl des Verlustes meiner Mutter herausgeführt und mich am steten Rhythmus ihres Familien- und Dorflebens teilhaben lassen.
Ob Aama wohl noch lebte? Es war zwei Jahre her, seit ich das letzte Mal hier heraufgekommen war, um sie zu besuchen, und ich hatte über ein Jahr lang keinen Brief von Sun Maya erhalten, die schreiben konnte. Der Ausdruck auf dem Gesicht der Frau, die uns mit dem Futterkorb begegnet war, verriet nichts, obwohl sie bestimmt Bescheid wußte. Die Menschen in diesem Bergland waren durch ein Netz von Klatsch und Intuition miteinander verbunden und bekamen auf diese Weise sofort mit, wenn in ihrer Umgebung etwas Einschneidendes geschah.
Die Gurung pflegen nicht zu schreiben, wenn es schlechte Nachrichten gibt, und halten damit sogar gegenüber Besuchern hinter dem Berg. Ich stellte mir vor, wie die Verwandten von Aama Didi und mich begrüßen würden. Sie würden sagen, Aama sei verreist oder holt gerade Wasser von der Quelle. Wenn sie dann nicht käme, würden sie mit gesenktem Blick weiterkochen oder Bambus für einen Korb spalten oder sich mit dem trocknenden Getreide zu schaffen machen, bis irgend jemand sich ein Herz faßte - vielleicht Sun Maya -, den Kopf hob und mit gespitzten Lippen zu einem kleinen Shivaschrein oben auf dem Gipfel des Bergrückens deutete. Ich war darauf vorbereitet, sie sagen zu hören: »Wir haben sie dort hinaufgebracht« - zu dem Platz, wo ich schon einige von Aamas Verwandten ein letztes Mal gesehen hatte: dem Verbrennungsplatz.
Ich schluckte den Rest der Crackers mühsam hinunter, als mir plötzlich einfiel, was Aamas Hoffnung gewesen war - ihr Wunsch, zu sterben, um ihrer Familie nicht zur Last zu fallen, wenn sie sich selbst nicht mehr versorgen konnte. Sie ging auf Mitte Achtzig zu, und sicherlich hatte jemand aus der Verwandtschaft ihre Felder mitbestellt. Ihre jüngste Enkelin würde inzwischen weggeheiratet haben, so daß Aama niemanden mehr an ihrer Seite hatte.
Wir stiegen weiter aufwärts. Unsere Schritte, die wir unserem Atemrhythmus anpaßten, wirbelten kleine Staubwolken auf. Didi kannte Aama aus meinen Erzählungen vom Dorfleben und schaute der Begegnung mit ihr gespannt entgegen. Sie wußte, daß ich es bedauerte, Aama nicht früher, als sie noch jünger war, mit nach Amerika genommen zu haben, um ihr mein Land und meine Familie zu zeigen, so wie sie das auch getan hatte.
Glücklicherweise wurde der Pfad weiter oben ebener, wo er in einen Weg mündete, der durch das jahrhundertelange Lastentragen mit bloßen Füßen fast mannshoch ausgehöhlt war. Vorwärts gelockt von immer neuen Ausblicken, wanderten wir unter Eichen, Pappeln und riesigen Weihnachtssternblumen entlang, welche die mit Hirsesetzlingen frisch bestellten Felder umsäumten. Der Sonnenuntergang überzog die Berghänge und die Gesichter der Bauern, an denen wir vorübergingen, mit goldenem Glanz.
Müde erreichten wir die Stelle, von der man auf Aamas Dorf hinunterschauen konnte - tausend Meter über dem Tal, von dem wir am Morgen aufgebrochen waren. Bambusgehölze, die diese zeitlose Ansammlung bescheidener Steinhäuser einrahmten, öffneten ihre Blätter wie ein Springbrunnen, Kinder spielten ihre rauhen Spiele auf brachliegenden Terrassen in unserer Nähe, ohne uns wahrzunehmen. Ich blieb nicht stehen, um ihnen zuzusehen oder mitzuspielen, wie ich das früher oft getan hatte.
Beklommen kletterte ich auf die Steinbrüstung hinter Aamas Haus. Der Schweiß, der mir über den sonnenverbrannten Nacken den Rücken hinuntergelaufen war, kühlte ab, und ich begann zu frösteln.
»Aama?« rief ich halblaut mit gepreßter Stimme, so wie ein Überlebender angstvoll nach den toten Gefährten ruft.
Aber da sah ich, daß sich Rauch durch das Strohdach in den Himmel kräuselte.
»Nani?« antwortete sie erwartungsfroh von drinnen. Sie benutzte einen Kosenamen für ein kleines Kind. Ihre Stimme klang gesund. Ein Seufzer der Erleichterung entrang sich meiner Brust, und ich trat in ihre enge Küche. Wie immer saß sie auf ihrem geschnitzten Holzklotz und hielt die Feuerzange in der Hand. Instinktiv streckte sie die Hand nach dem Teekessel aus, setzt ihn auf den Dreifuß und blies auf eine Handvoll glimmender Maiskolben darunter.
»Weißt du, ich halte seit einer Weile keine Hühner mehr...«, sagte sie, als würde sie einfach das Gespräch fortsetzen, das wir vor zwei Jahren unterbrochen hatten. Wieder blies sie ins Feuer. Ich lächelte und stellte meinen Rucksack ab.
»Ich habe nicht mehr die Kraft, hinter ihnen herzurennen, und der Habicht hat von der letzten Brut die meisten Küken geholt. Aber fürs Abendessen können wir einen Gockel von einer Nichte bekommen, die im Haus unter uns wohnt. Ich bin froh, daß du nicht zu spät gekommen bist... Wer ist das?« Sie drehte den Kopf zur Seite und schaute Didi an, deren Umriß sich im Kücheneingang gegen den Abendhimmel abzeichnete. Aamas glänzende, bronzefarbene Haut legte sich in Falten um die Augen.
»Du hast mir eine Schwiegertochter mitgebracht.«
Didi lachte, streifte ihren Schal ab und legte dann die Hände vor der Brust zusammen: »Namaste!« Aama erwiderte den Gruß.
Gebeugt von der jahrzehntelangen Feldarbeit, dem Lastentragen und Osteoporose, breitete Aama Gemüse aus dem Garten auf dem Küchenboden aus. Während sie sorgfältig einen Kürbis heraussuchte, berichtete sie von den Hagelstürmen im Frühling, welche die Bäume entlaubt hatten, und der Trockenheit, die fast das Keimen des Mais verhindert hatte. Sie erzählte, daß sie im Traum öfter meine Stimme gehört habe, wie ich vom Weg aus gerufen hätte - Träume, denen die Schulkinder Nahrung gaben, denn sie neckten Aama mit der Nachricht, sie hätten mich am Dorfeingang gesehen, um dann kichernd wegzurennen. Sie wischte sich Tränen aus den Augen, die die Erinnerung an alte Tage und verstorbene Familienangehörige aufsteigen ließ. Es machte ihr Sorgen, daß sie jetzt allein war. Alle drei Enkelinnen, die ihr abwechselnd geholfen hatten, hatten geheiratet und waren weggezogen. Eine von ihnen hatte einen Sohn geboren, Aamas ersten Urenkel.
Aama schenkte uns Tee ein, der leicht mit schwarzem Pfeffer gewürzt war, so wie man ihn schon vor Jahrzehnten getrunken hatte, als es nur wenig Zucker gab. Sun Maya kam mit ein paar Maiskolben und einem großen Kupferkessel voll Wasser herein. Ihr Gesicht hatte noch mehr Falten bekommen von der trockenen Luft, der niemals endenden Arbeit und durch das Zusammenleben mit einem schwierigen Ehemann. Sie war jetzt um die fünfzig. Stillschweigend nahm sie Aama die Vorbereitungen für das Abendessen ab. In ihrer ruhigen und vertrauensvollen Art hatte sie Ähnlichkeit mit Didi. Beiden schien das Sprechen nicht besonders angenehm zu sein, allerdings drückten ihre Gesichter deutlich aus, was sie dachten. Ich fragte mich, ob Didi ihre Passivität und Festigkeit vielleicht asiatischen Frauen abgeschaut hatte.
Im Nebenzimmer der Küche hockten wir im Schneidersitz auf dem Boden und aßen. Aama sammelte die Teller ein, ließ sich auf der Matte neben uns nieder und stellte die Kerosin-Messinglampe so, daß sie Didi und mich im Licht ausgiebig betrachten konnte. Mit ihrem zahnlosen Mund lachte sie herzlich über mein verändertes Aussehen - vor allem sei ich älter geworden, meinte sie. Dann nahm sie Didi in Augenschein, lächelte sie offen an und betrachtete ihre einfache Korallenkette, ihr helles Haar und ihr scharf geschnittenes Profil. Immerhin ließ sie - entgegen meinen Befürchtungen - keine Mißbilligung erkennen, daß ich eine Frau außerhalb des Dorfes gewählt hatte. Eine Gurung-Schwiegertochter hätte Aama bei der täglichen Arbeit geholfen und mittels dieser Erleichterung vielleicht sogar ihr Leben verlängert.
Ich packte die Geschenke aus dem Rucksack aus: Bedruckten Stoff und eine Flasche Rum, die üblichen Mitbringsel, die man von einem Sohn erwartet, der von seinem Dienst bei der britischen oder indischen Armee nach Hause kam: den Gurkha-Regimentern, die überwiegend aus Gurung oder Angehörigen der mongolischen Bergstämme Nepals rekrutiert wurden. Ich hatte oft versucht, mit den Abenteuergeschichten der Söhne des Dorfes zu wetteifern, die sie erzählten, wenn sie Heimaturlaub von ihren Kasernen in London, Hongkong, Malaysia oder Nordindien machten - Geschichten, die das Bild der Gurung von der Welt prägten. Aber jetzt hatte Aama Geschichten zu erzählen.
»Ich glaube, es hat dir jemand geschrieben, daß meine Kusine Tyaure Aapa letztes Jahr gestorben ist. Vor einem Monat haben wir die Sterbezeremonie abgehalten. Verwandte kamen von weit her, zwei Tagesreisen zu Fuß; sie hatten neue Kleider an, die aus etwas gemacht waren, das sie Polyester nennen. Aber das war nicht der letzte Todesfall - meine andere Kusine, deine Tante Chyaurey, ist hinübergegangen. Die Leute meiner Generation sterben vor mir und um mich herum, und ich kann sie nicht richtig verabschieden. Die Feldarbeit läßt mir keine Zeit für Besuche, und ich komme nicht mehr so gut die Berge hinauf. In unserem Dorf gibt es jetzt vier Menschen, die reif sind und bereit zu sterben, und ich bin als nächste dran!«
Aama hielt die Rumflasche mit ausgestrecktem Arm von sich und betrachtete sie eingehend, als würde sie das Etikett studieren, um sie dann vorsichtig zu öffnen. Sun Maya habe ihr meine Briefe vorgelesen, und jedes Jahr hätten sie gehofft, daß ich rechtzeitig zum Herbstfest eintreffen würde. Ich erklärte, daß mich meine Arbeit in der Entwicklungshilfe in Katmandu und in Amerika festgehalten und ich versucht hätte, ihrem Distrikt Projekte zur Verbesserung des Landlebens zuzuleiten. Wenn oberhalb des Dorfes eine Wasserquelle gefunden würde, dann könnten wir ein Schwerkraft-Trinkwassersystem installieren -das hatte ich den Dorfältesten mitgeteilt. Aama schaute mich skeptisch an; es amüsierte sie, daß ich mir anmaßte, die überkommene Vernachlässigung seitens der Regierung ändern zu wollen, die sie im Laufe der Zeit als Schicksal akzeptiert hatten.
Sie lehnte sich gegen die Wand, streckte die Beine aus, hob die Flasche hoch über ihren weit geöffneten Mund und schüttete den Rum in kleinen Kaskaden hinein.
»Das kann gute Medizin sein, aber man sollte nicht zuviel davon trinken«, warnte sie lächelnd. Sie leckte ihre Lippen und genoß sichtlich den Nachgeschmack auf der Zunge. Jugendliche Energie strahlte aus den Runzeln ihres Gesichts, die wie eigenartig attraktive Verzierungen wirkten.
»Anfang Frühjahr kamen sieben Brahmanenpriester, um in meinem 84. Lebensjahr das Ritual des langen Lebens abzuhalten, das nwaran. Von jetzt an ist mir die Zeit also geschenkt - hah! Und wenn wir hundert werden, dann kehrt sich, so sagen die Priester, der Alterungsprozeß um, und wir werden wieder jünger, bekommen neue Zähne und sollten abermals heiraten; unsere Reinkarnation beginnt in diesem Leben von neuem.«
Tatsächlich hat dieses 84-Jahre-Ritual Ähnlichkeit mit der Hindutaufe, die auch nwaran heißt und elf Tage nach der Geburt des Säuglings abgehalten wird. Aama schwelgte in den Erinnerungen an die Zeremonie - die Musik, Räucherwerk, Opfergaben, Blumengirlanden, Ziegenopfer und Besuch von Verwandten, die Geschenke mitbrachten, die sie erwidern mußte. »Ich überließ eine Kuh meiner Tochter, eine meinem Schwager und gab jedem meiner Enkel Geschenke: Öl zum Kochen, Räucherwerk und Geld. Wir haben fast zwanzig Kilo Reis gekocht, und es gab für alle Linsen, Chutneys, gebratenes Brot und Schnaps für die Trinker.«
Am Tag des Rituals würde sie, wie ihr die Priester gesagt hatten, vielleicht 1008 Vollmonde sehen, die heilige Zahl der Mondmonate, die sie gelebt hatte, und dann käme jener Segen auf sie, den eine solche Vision mit sich bringt. Man glaubt, daß die Alten jenseits der 84 Jahre auf die Ebene der Götter erhoben werden, und daß es vorteilhaft für jüngere Menschen ist, ihr darshan zu erhalten, das heißt vor ihnen zu erscheinen und ihren Segen zu empfangen.
Die Brahmanen hatten im Hof vor dem Haus einen kleinen Graben ausgehoben als Symbol für den Fluß der Ewigkeit. Während die Priester sangen und rezitierten, packte Aama den Schwanz eines Kalbes, um sich auf die andere Seite des Grabens hinüberziehen zu lassen - als Initiation und Vorbereitung für das allerletzte Überschreiten des Flusses dieses Lebens.
Die Wasserscheide im 84. Lebensjahr markiert die Erfüllung der weltlichen Verantwortlichkeit. Hinduistischem Brauch zufolge soll man sich nach dieser Zeremonie in eine Hütte im Wald zur Meditation zurückziehen. Man kann aber auch zu einer religiösen Pilgerreise aufbrechen. So wie ein Kind an der Mutterbrust genährt wird, so erhalten die Pilger eine Art geistiger Nahrung von heiligen Plätzen. Durch den Besuch von Kraftorten kann der ergebene Hindu die Schulden ausgleichen, die wir, wie die Priester sagen, aufgrund dessen ansammeln, daß wir die Milch unserer Mutter trinken. Aama hatte oft den Wunsch geäußert, in ihren letzten Lebensjahren eine solche Pilgerreise zu unternehmen und als Bettelnonne von einem heiligen Platz zum anderen zu ziehen.
Bujay, Aamas auch schon recht betagte Kusine, kletterte die Treppe vom Haus auf der unteren Terrasse hoch. Andere Verwandte kamen nach, breiteten sich auf den Strohmatten aus und hofften auf Zigaretten und die Möglichkeit, mich nach Didi zu fragen und wo ich gewesen sei. Das Dorf war wie eine große Kommune, voll mit Menschen, welche die Arbeiten gemeinsam verrichteten. Es gab nur wenige persönliche Grenzen, und Versuche, sich eine Privatsphäre zu schaffen, ließen die Leute nur noch neugieriger werden. Bujay zog lautstark an einer Zigarette, die sie in eine kurze Bambusspitze gestopft hatte, und um besser hören zu können, hielt sie ihren untertassengroßen, vergoldeten Ohrschmuck nach vorne, als könnte er die Funktion eines Hörrohrs erfüllen. Nicht nur habe Aama das Glück, noch am Leben zu sein, meinte Bujay mit ihrer rauhen Stimme, sondern sie sei auch mit einem Sohn gesegnet und nun sogar noch mit einer Schwiegertochter. Zwei von Bujays vier Kindern waren noch als Säuglinge gestorben.
Mit einem kräftigen »Uhnnh« stimmte Aama zu. Sie nahm noch einen Schluck aus der Flasche und begann zu erzählen, wie ich vor fast einer Generation im Dorf aufgetaucht sei. Mit ihrer Begeisterung und guten Laune steckte sie alle an. Aama und die anderen Gurung-Frauen hatten in all den Jahren der harten Arbeit mit Singen, Schwätzen und Geschichtenerzählen, die gar nicht phantasievoll genug sein konnten, ihren Geist frisch gehalten. Für sie waren Tatsache und Legende ziemlich einerlei, beides mußte in eine gute Geschichte eingewoben sein. Wir waren ganz Ohr.
»Vor vielen Jahren, im Monat Januar, war ich gerade mit Wasser von der Quelle zurückgekommen. Mein Schwiegersohn - der Dorfvorsteher und oberste Halunke - hatte diesen Ausländer zu meinem Haus gebracht, und beide saßen am Eingang und erwarteten mich. Der Ausländer hatte in einem Nachbardorf den Posten des Schullehrers bekommen, und mein Schwiegersohn meinte, er könne doch bei mir wohnen und ich solle für ihn kochen. Ich dachte: >Hoffentlich ist er nicht einer von diesen undankbaren nepalesischen Reisenden, die hier durchkommen, sich zum Dorfvorstand durchfragen und dann bei mir abgeladen werden/ Offensichtlich wollte er nicht in einer Basarstadt herumhängen und dort den Kindern der Kaufleute abends nach der Schule Englisch eintrichtern. Vermutlich war er auch kein Schurke, denn Leute, die faul sind oder Schwierigkeiten machen wollen, bleiben lieber in den Basarstädten. Der weiße Schullehrer legte die Hände zum Gruß zusammen und sagte >Namaste<, so wie es in Nepal üblich ist. Sah komisch aus bei einem Ausländer. Normalerweise sagen wir Gurung nicht >Namaste< zueinander, nur zu Brahmanen und anderen Nepalesen, und so mußte ich einfach lachen.«
In Aamas Stimme schwangen die Ausdrucksweise und der Sprachrhythmus ihrer Vorfahren mit, und für Didi und mich war es ein Genuß, dem plätschernden Fluß ihrer Rede zuzuhören.
»Mein Schwiegersohn meinte, der Schullehrer könne auf dem Dachboden über meinem Wasserbüffel schlafen und jeden Morgen zu Fuß in die Schule gehen. Aber wer sollte sich um seine Versorgung kümmern? Sun Maya arbeitete den ganzen Tag auf dem Feld und kümmerte sich um die Tiere, und ich konnte kaum noch das Wasser tragen und das Holz zerhacken, das ich selbst brauchte. >Der Ausländer wird dich dafür bezahlen, daß du für ihn kochst; dann kannst du jemanden anstellen, der dir hilft. Vielleicht verdienst du auf diese Weise sogar ein paar Rupien extra<, meinte mein Schwiegersohn, offensichtlich in der Hoffnung, daß er bei diesem Handel ein paar zusätzliche Rupien abstauben könnte. Eh ich mich versah, war er in meinem Haus und schenkte dem neuen Schullehrer ein Glas Schnaps ein, und natürlich auch sich selbst. Da wußte ich, daß er etwas im Schilde führte.«
Aama blühte auf bei soviel Aufmerksamkeit, unterstützt vom Rum, und sah jünger und lebendiger aus als bei unserer letzten Begegnung. Das Altersritual hatte ihrem Leben eine neue Perspektive eröffnet. Sie setzte die Rumflasche vorsichtig ab und betrachtete sie.
»Ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war, und fragte meinen Schwiegersohn: >Was ißt denn der Herr Lehrer? Bestimmt lauter Dinge, die ich gar nicht zubereiten kann.< Selbst wenn Verwandte bei mir eingekehrt wären, hätte mich das in Verlegenheit gebracht - vor allem weil die Büffelkuh damals keine Milch gab. >Und außerdem habe ich keine Tische und keine Stühle<, fügte ich hinzu, >und Englisch sprechen kann ich auch nicht.< Dann machte der Schulmeister den Mund auf und sprach Nepali, und zwar so langsam, daß ich ihn verstehen konnte. Er sei zufrieden, das zu essen, was ich auch aß, und er würde gerne in meinem Haus wohnen. >Ich sehe<, sagte er, >daß Sie eine kultivierte Frau sind. Wohin sind Sie denn schon gereist, daß Sie sich so gut mit Ausländern auskennen und von Tischen und Stühlen wissen?< Ha! Darüber mußte ich lachen. Ich erklärte es ihm: >In der indischen Armee habe ich vor mehr als fünfzig Jahren mit meinem Mann in Kasernen gewohnt/ Stellt euch nur diese Überraschung vor. Da sitzt hier vor meiner Haustür ein Ausländer... einer von denen, die in großen Säcken schlafen, die mit dem Balg von toten Hühnern gefüllt sind, samt Federn und allem...«
Didi warf einen Blick auf unsere Schlafsäcke und lachte, was Bujay dazu veranlaßte, ihren Ohrschmuck auszurichten und so, als habe sie verstanden, in das Gelächter einzustimmen.
»Ja, zwei Jahre lang hat er hier gelebt. Am Anfang hat er sich zurückgelehnt und sich beim Essen mit einem Arm abgestützt; einfach auf einer Strohmatte sitzen, das konnte er nicht. Und wenn er sich eine Handvoll Reis nahm, dann drehte er sein Handgelenk so, als wüßte er nicht, wo er mit dem Essen hin sollte. Was haben wir gelacht über ihn - wie er aß und sich bewegte. Er verströmte auch einen eigenartigen Geruch, als er hierherkam, nicht schlecht, aber einfach anders. Und er hat immer Dinge verlegt oder vergessen, seine Bücher oder seine Taschenlampe, und suchte dann stundenlang im Kreis herum. Einmal haben Sun Maya und ich ihn beobachtet, wie er einen Bleistift gesucht hat, der hinter seinem Ohr steckte.«
Aama lächelte mich unschuldig an. Mir fiel der Beiname ein, den man mir im College verpaßt hatte: »Langsam, aber chaotisch.« Ich glaubte, den Titel schon vor langer Zeit abgelegt zu haben, aber hier, in einem fremden Land mit einer anderen Sprache, lebte er wieder auf. Ich schaute Didi an und nickte zähneknirschend bei Aamas Bericht. Didi lächelte: Dieser linkische, naive, überhöfliche Junge entsprach wohl dem Bild, das sie sich davon gemacht hatte, wie ich einmal gewesen war und vielleicht teilweise immer noch war.
»... Aber dann begann er Wasser zu tragen und Feuerholz zu hacken. Er war sehr hilfsbereit. Das ist der Sohn, den ich in einem früheren Leben geboren habe und der gekommen ist, um in diesem Leben bei mir zu sein. Er war ein Sohn ohne Mutter, und ich war eine Mutter ohne Sohn.«
Sun Maya goß Tee in unsere Messingtassen und tauschte stillschweigend Aamas Rumflasche gegen eine Tasse aus. In mir stieg eine Welle von Dankbarkeit und Zuneigung auf, und mit einemmal begriff ich, warum ich in das Dorf zurückgekehrt war. Aama zu sehen, war, als hätte ich meine eigene Mutter vor mir - die Mutter, die meine Schwester und mich plötzlich allein gelassen hatte, als sie starb. Hier saß sie vor mir, wiedergeboren als vierundachtzigjährige, rituell befreite Gurung-Bergbäuerin. Vielleicht hatte ich mir dieses Bild zusammengebastelt, um die fehlenden Teile in meiner persönlichen Welt zu ersetzen -einer Welt, die während dieser langen Zeitspanne, die ich allein in einer fremden Kultur verbrachte, auseinandergefallen und neu zusammengefügt worden war. Aber Aamas Wärme und meine Zuneigung zu ihr waren keine Erfindung.
Sehnsucht nach meiner verstorbenen Mutter ergriff mich. In meiner Kindheit hatte ich meine Geheimnisse mit ihr geteilt.
Das hatte sich verändert, als ich heranwuchs und Sport, Mädchen und Gleichaltrige mich dazu brachten, Teile meines Lebens vor ihr zu verbergen und Ausreden zu erfinden. Als ich soweit war, das Haus zu verlassen und aufs College zu gehen, war ich rebellisch und voreingenommen und bildete mir ein, die Freiheit am Schwanz erwischt zu haben. Ich konnte meine Mutter nicht mehr so achten wie früher. Da starb sie völlig unerwartet im Schlaf.
Noch immer, obwohl sie schon so lange tot war, hielt mich ein Gespinst von verborgenen, zähen Schuldgefühlen in einer Scheinadoleszenz fest. Irgendwie mußte ich diese Schuld, die ich meiner Mutter gegenüber verspürte oder zu verspüren glaubte, abtragen - die Schuld für all die Jahre der Liebe und Fürsorge, für das Genährtwerden mit ihrer Milch. Ich konnte dieses Gefühl, dieses Bedürfnis, nicht ganz beschreiben und sah keine greifbare Möglichkeit, wie ich mich daraus lösen konnte.
Bis jetzt. Was als vage Ahnung in Katmandu begonnen hatte, erschien jetzt wie eine wilde Möglichkeit. Ich sah Didi an. Sie zog die Augenbrauen hoch in Erwartung einer meiner impulsiven Einfälle. Sollten wir Aama bei ihrer Pilgerreise am Ende ihres Lebens beistehen? Würde sie uns vielleicht in die Vereinigten Staaten begleiten? War sie überhaupt fähig zu reisen? Wir überlegten hin und her, was eine solche Reise mit sich bringen würde, und ob wir es wagen konnten.
Wir stimmten darin überein, daß Aama, wenn sie wollte, wahrscheinlich dazu in der Lage wäre. Sie war offensichtlich unternehmungslustig und hatte schon immer wissen wollen, wo ich herkäme und wer meine Verwandten seien. Natürlich würde sie ihre üblichen Entschuldigungen vorbringen: ihr Alter und ihre Schmerzen und die Tiere, die sie versorgen müsse, und daß sie uns nicht zur Last fallen wolle, so wenig wie ihren Töchtern und Enkelinnen. Aber die Aussicht auf eine Tour durch die Vereinigten Staaten würde gewiß ihre Lebensgeister wecken. Und auch ich könnte etwas dabei lernen. In meiner Collegezeit hatte ich Amerika ziellos durchfahren, aber der Wert dieser Trips war mehr als fraglich - ich konnte froh sein, daß man mich nicht festgenommen hatte.
»Laß uns noch länger darüber sprechen«, sagte Didi. »Wir sollten uns gut überlegen, worauf wir uns einlassen, meinst du nicht auch?« Ich gab ihr keine Antwort, denn ich war mit Mutmaßungen darüber beschäftigt, daß mir Aama nach einer gemeinsamen Reise durch die USA wahrscheinlich würde sagen können, wie ich mich Didi gegenüber verhalten sollte - ob ich bei ihr bleiben oder weiterziehen sollte.
Aama war mitten in endlosen Erzählungen über meine komischen Eigenarten - ein guter Zeitpunkt, um sie zu fragen. »Aama, hättest du Lust, mit uns nach Amerika zu fahren?« Meine Worte standen klar im Raum, und ich bekam plötzlich einen Schreck, was ich ihr mir nichts dir nichts angeboten hatte - mehr als jemals einer anderen Person.
Sun Maya in der Küche war die erste, die reagierte. Sie schaute zwischen uns hin und her und lachte bei der Vorstellung, wie sich ihre Mutter wohl in einem modernen, fremden Land ausnehmen würde. Vielleicht hatte Didi doch recht gehabt damit, daß wir noch länger darüber hätten reden müssen.
Gestärkt von ihrer »Medizin«, antwortete Aama sofort: »Warum sollte ich keine Lust haben? Warum sollte ich nicht das Zuhause meines Dharma-Sohnes und meiner Schwiegertochter sehen wollen und ihre Verwandten kennenlernen?« Es schien, als hätte sie nur auf meine Frage gewartet, und als sei die Antwort selbstverständlich. Unsere Verwandten waren wahrscheinlich der einzige Aspekt von Amerika, den sie sich vorstellen konnte.
»Schau mich nur an, und dann weißt du, warum.« Sie öffnete ihre Hände und hob sie nach oben, um ihrer Aufrichtigkeit Nachdruck zu verleihen. Ihre Hände hatten Ähnlichkeit mit den Wurzeln der Feigenbäume. »Ich kann keine schwere Arbeit mehr verrichten und für mich selbst sorgen und falle meiner Tochter nur zur Last. Hier bin ich nutzlos. Außerdem habe ich meine 84-Jahre-Zeremonie hinter mir. Normalerweise dürfen die Leute während einer Sonnenfinsternis weder essen noch trinken, noch Stuhl und Urin ausscheiden, aber nach dem Altersritual spielen selbst diese ernsten Dinge keine Rolle mehr. Es heißt, wir sind beschützt und sammeln kein schlechtes Karma mehr an.«
Trotz des gottähnlichen Status, den die Zeremonie des langen Lebens verleiht, wußte Aama nur zu gut, daß alte Menschen im Alltag oft vernachlässigt wurden. Die Subsistenzbauern erachteten die Versorgung einer Gottheit, insbesondere wenn sie schwach oder pflegebedürftig war, als eine beschwerliche Pflicht. Die Zeremonie enthält Elemente einer Ruhestandsfeier, bei der dem Pensionär herzlich zugeprostet wird in unausgesprochener Dankbarkeit für sein Abtreten.
Sun Maya sammelte die Teetassen ein, während Didi und ich begannen, uns die Einzelheiten auszumalen. Bujay kicherte und parodierte mit erhobenem Haupt und zurückgezogenen Schultern die stolze Haltung, welche die Mütter mancher Gurung-Rekruten der britischen Armee einnehmen. Den Sohn im Ausland zu besuchen, wo er stationiert war, erhöhte den sozialen Status der heimkehrenden Mutter, und jeder Gurkha hoffte, das Geld aufzubringen, um seiner Familie eine Reise in seine Kaserne zu ermöglichen. Eine Fahrt nach Amerika kam da gerade recht - endlich ein Sohn im Auslandsdienst.
Aama aß normalerweise grob gemahlenen Hirsebrei. Ich beargwöhnte das amerikanische Essen, das selbst für den Geschmack von Didi und mir zu fetthaltig und zu weich war. Aber für jemanden ohne Zähne konnte die amerikanische Küche vielleicht die reinste Freude sein. Als ich Aama sagte, daß Zucker billig sei und man überall Fisch bekommen könne, versicherte sie uns, daß sie mit dem Essen bestimmt zurechtkomme.
»Aber was ist, wenn du Heimweh bekommst, Aama, oder gar in der Fremde sterben würdest?« Der Tod in Amerika würde vielleicht eine günstige Wiedergeburt vereiteln, denn weder wären Verwandte noch buddhistische Lamas und Hindupriester da, um den Körper angemessen zu segnen und bis zur Verbrennung vor Verunreinigungen zu schützen.
»Es ist zwar gut, bald zu sterben, wenn du alt wirst; dennoch konnte ich es nicht, obwohl ich es versucht habe. Warum soll ich also nicht mit euch nach Amrita gehen?« gab sie lachend zurück. Amrita nannte sie unser Land nach dem legendären heiligen Elixier, das dem, der es findet, Unsterblichkeit verleiht.
Aber Aama schien ke'mAmrita zu brauchen. Sie hatte sich nie einen Knochen gebrochen, war allerdings fast an Malaria und Darminfektionen gestorben - Krankheiten, die von ihrem Vetter, dem Schamanen, diagnostiziert und behandelt worden waren. In Trance reiste er in die Unterwelt, um die Dämonen zu stellen, die ihr zusetzten, und ihnen zu erlauben, sich auf manchmal brutale Weise in seinem eigenen Körper zu manifestieren. In diesen Nachtsitzungen sahen Verwandte ruhig zu, wie der Doktor-Schamane, den man zur Heilung gerufen hatte, über seine Patientin herfiel und den Versuch unternahm, sie zu erwürgen, um ihr so in der unmittelbaren physischen Welt die Chance zu geben, die ansonsten unerreichbaren Dämonen zu verjagen. Im Widerstand gegen diesen Angriff würde sie sich entweder von der Krankheit befreien oder einen Rückfall erleiden. Aama schrieb ihre Langlebigkeit teilweise diesem Vetter zu, dessen besondere Fähigkeiten zum erstenmal erkannt wurden, als er beim Pflügen spontan in Trance fiel. Er war ein bhui-phatta, ein Schamane von Natur aus. Er sah, daß ihre Konstitution ihr zwar ein langes Leben erlauben würde, sie aber andererseits viele Hindernisse zu überwinden hatte.
Eine Pilgerreise nach Amerika würde einige dieser Hindernisse auftürmen, soviel ließ sich schon jetzt voraussehen. Didi und ich fragten uns auch, ob Amerika der Pilgerin überhaupt hinreichend heilige Plätze bieten konnte, um ihre Anstrengungen zu belohnen. Aber die Hindupriester sagen, daß es dem Seelenheil dient, überhaupt eine spirituelle Reise zu unternehmen, besonders wenn sie lang und beschwerlich ist.
Kichernd und hustend stand Bujay auf, streckte ihre steifen Glieder, so gut sie konnte, und lieh sich eine Taschenlampe aus, um dem Pfad zu ihrem Haus folgen zu können. Ich schlug ihr vor, sie solle ihren Ohrschmuck als Lichtreflektor benutzen. Sie lachte bellend und drohte mir spaßhaft mit dem Stock.
Aama zog sich auf ihr Holzbett über der Veranda zurück. Lange vor Sonnenaufgang würde sie schon wieder auf den Beinen sein und Getreide worfeln und mahlen. Didi und ich gingen durch die köstliche Nachtluft zu dem strohgefüllten Boden über dem Wasserbüffelstall. Unser Kichern ging allmählich in Gähnen über. Wir breiteten unsere Schlafsäcke aus und schlüpften hinein - zu Hause in den fernen Bergen.
Im Licht von Didis schwacher Taschenlampe zeichneten sich die Bambusstreifen ab, mit denen die Strohbündel auf dem Dach befestigt waren. Sie sprach leise und sann über ihren neuen Titel nach: Schwiegertochter. Es klinge nicht schlecht, meinte sie.
»Wir sollten darüber sprechen«, murmelte ich schlaftrunken, »aber am Morgen, wenn wir ausgeschlafen sind.«
Beim ersten Tageslicht rief Aama uns herunter zu einem Frühstück mit Tee und geröstetem Mais. Wir saßen auf der Veranda und schauten zu, wie die Sonne aufging und das Leben in einem Dorf erwachte, das sich über Generationen nicht verändert hatte. Aama hockte am Rand des Hofes und verrichtete ihre Morgenwaschungen. Aus einer Messingkanne schüttete sie Wasser in ihre rechte Hand und massierte es in ihre faltige Haut; dabei sang sie.
»Hare Om, ye hwar Bhagwan, Krishna Bhagwan, Kailaspati, Baigundanath, Jagganath, Pasupatinath, Rameswor, Muktinath...« Die Namen von Gottheiten und heiligen Orten des indischen Subkontinents flössen ihr jeden Morgen spontan über die Lippen in einer Reihenfolge, an die sie sich während des Tages nicht erinnern konnte. Sie schloß ihr Mantra mit einem nachdrücklichen »Om, Om, Om« ab, stand langsam auf und wandte sich uns zu. In diesen kurzen Augenblicken, die sich fest und doch leicht anfühlten, wurde der Tag geweiht.
Auf jeden Fall würden Aamas Vitalität und ihre unerschöpfliche Neugier sie zu einer herausfordernden Reisegefährtin machen, deren Verhalten sich kaum vorhersehen ließ. »Was glaubst du«, fragte ich Didi, »wie es sein wird, mit Aama zu reisen?«
Didi spannte die Lippen an, als sei sie unsicher, und nickte dann langsam. »Wie Aamas Leben wird es voller Freude, Herzlichkeit und Humor sein, aber auch schwierig.«
Kapitel 2
Eine Frau, die im Dorf als Tutays Mutter bekannt war, blieb am Weg stehen und schaute zu Aama herunter, die sich gerade in ihrem Küchengarten zu schaffen machte. »Phursailni«, rief sie und benutzte Aamas Familiennamen, jenen der drittältesten Schwester des Vaters. Die letzte Silbe dehnte sie in einem hohen, musikalischen Ton, der dazu diente, um jemanden aus weiter Ferne willkommen zu heißen. Sie streifte das Stirnband ab, setzte den Korb mit Zweigen und Gras ab und lehnte sich über die Mauer. Ein goldener Stecker saß locker am linken Nasenflügel und betonte die glatten, braunen Gesichtszüge, die von der Feldarbeit und vom Holzrauch glänzten.
»Ohhn«, rief Aama zurück und richtete sich auf. »Mein Garten gibt dieses Jahr nicht viel her. Die Bohnen und Gurken tragen weniger als letztes Jahr. Aber Nani und meine Schwiegertochter haben mir angeboten, mich mit in ihr Land zu nehmen.« In Aamas Lächeln spiegelte sich ihre eigene Überraschung über die unverhoffte Wendung von einer alten Bergbäuerin zu einer Weltreisenden. Tutays Mutter ließ die Zunge hervorschießen und preßte sie zwischen die Zähne vor ungläubigem Staunen. Didi und ich schauten vom Haus aus zu.
»Wenn mich mein Dharma-Sohn ruft, dann muß ich gehen«, fuhr Aama fort. »Aber wo finde ich jemanden, der sich um meinen Wasserbüffel kümmert? Deine und alle anderen Kinder im Dorf gehen ja heutzutage in die Schule. Es gibt so viel zu tun... Das Haus braucht neues Stroh aufs Dach, der Hühnerstall fällt ein, und das Heu muß umgelagert werden, damit kein Regen hineinläuft und es nicht anfängt zu faulen. Die Büffelkuh kann tagtäglich ihr Kalb kriegen. Schon lange hatte ich vor zu reisen - eine Pilgerfahrt nach Süden, quer durch Indien -, doch ich fürchte, daß ich dann nicht mehr zurückkomme. Ich müßte ja alles verkaufen, was ich besitze, um die Reise bezahlen zu können. Vielleicht wäre es sowieso das beste, alles zu verkaufen - ich möchte nicht, daß mich Sorgen um mein Eigentum zurückhalten.«
Vielleicht lagen die heiligen Stätten Indiens ja auf dem Weg nach Amerika. »Nani«, erkundigte sie sich zutraulich, »in welche Richtung reist man, um nach Amrita zu kommen?« Amrita, der mythische Nektar der Unsterblichkeit, der Same der Götter. Einige Leute im Dorf behaupten zwar, daß Amrita aus dem Ozean hervorquelle, geben jedoch dann normalerweise zu, das Meer nie gesehen zu haben. Aama lächelte bei der verheißungsvollen Aussicht, im köstlichen Ambrosia des Landes ihres Dharma-Sohns baden zu können.
»Wir können nach Osten oder nach Westen reisen«, antwortete ich. »In beiden Richtungen kommen wir dorthin.« Aama lachte, und Tutays Mutter sah noch neugieriger aus; ihre Zunge schnellte wieder hervor und wurde von den Zähnen eingeklemmt.
Ich duckte mich unter dem niedrigen Sims der Haustür, trat auf den Hof und sprach so laut, daß mich beide hören konnten. »Aama, die Erde sieht aus wie ein Ball, so wie der Mond oder die Sonne.« Ich suchte nach Bildern oder Beispielen aus der Natur, nach etwas, das ihr vielleicht besser einleuchtete als meine Erklärungsversuche, die schon vor Jahren keine Wirkung gezeigt hatten, aber nichts durchdrang den Nebel, den mein Kater vom Vorabend in meinem Gehirn erzeugte. »Die Sonne geht im Osten auf und im Westen unter, nicht wahr?« Aama nickte erwartungsvoll, als sei das der Auftakt zu einem guten Witz. »In Amerika ist das auch so, nur dreht sich die Sonne nicht um uns, sondern sie steht fest, und die Erde umkreist die Sonne, Amerika liegt auf der anderen Seite der Erde, und deswegen ist es hier Tag, wenn sich in Amerika die Nacht ausbreitet.«
»Und wie arbeiten die Leute dort, wenn es immer dunkel ist?« wandte Aama ein und brach mit Tutays Mutter in gackerndes Gekicher aus. Die beiden schienen an einer Antwort nicht interessiert zu sein, und so fuchtelte ich mit den Armen, damit sie mir ihre Aufmerksamkeit noch einmal zuwandten.
»Nein, in Amerika schlafen die Menschen jetzt. Wenn hier die Sonne versinkt, dann geht sie in Amerika auf, und die Leute dort wachen auf und beginnen ihren Tag.« Mit den Händen zeichnete ich große Kreise in die Luft und kleine Objekte und versuchte, mehr schlecht als recht ein Diagramm des Universums darzustellen. Die Augenbrauen von Tutays Mutter wanderten nach oben. Sie war nie weiter vom Dorf weggekommen als ein paar Stunden Fußmarsch. »Es wird alles verständlich, wenn ihr euch die Welt rund vorstellt wie einen Ball. Die Sterne ziehen in vollkommener Ordnung über den Himmel - Nacht für Nacht von Osten nach Westen -, in der gleichen Richtung wie die Sonne und der Mond, nicht wahr? Also sind doch wir diejenigen, die sich bewegen, und nicht sie, oder nicht?«
»Also, die Geschichte habe ich wirklich noch nie gehört«, gab Tutays Mutter zurück und lachte über meine gestikulierenden Hände. Aamas Terrasse war zu einer Art Tribunal geworden, und ich fühlte mich albern und verletzlich. Didi beobachtete meinen Auftritt, und ihr Gesicht reflektierte die Skepsis von Aama und Tutays Mutter. Mein Angebot, Aama mit nach Amerika zu nehmen, erschien mir jetzt wie ein kapriziöser Einfall, und mir wurde zweierlei beim Gedanken an seine Realisierung.
»Aber wenn du es sagst, dann glauben wir dir«, lenkte Aama ein. »Du bist mein Dharma-Sohn, und du bist gescheit - deswegen hat man dich als Lehrer hierhergeschickt. Du weißt etwas über diese Dinge, wahrscheinlich weil du es aus Büchern gelernt hast; es könnte also wahr sein.« Das Funktionieren eines mystischen Universums, in dem Götter fliegen, Schamanen Hagel abwenden und ein Elefantenkopf auf einen menschlichen Körper verpflanzt wurde, war in den Hindutexten, die sie kannten, voll und ganz erklärt. Doch meine Erläuterungen klangen ganz so wie die abwegigen Theorien, welche die Kinder aus der Schule mit nach Hause brachten.
»Unnh«, seufzte Tutays Mutter, was lakonische Zustimmung signalisierte, daß jemand über diese Dinge Bescheid wissen könnte. Sie wandte sich an Aama: »Er ist wirklich ein Sohn aus einem früheren Leben.«
Während die alten Frauen weiter miteinander schwatzten, gab mir Didi zu verstehen, daß es ein langwieriger Prozeß werden würde, von der Regierung von Nepal einen Paß für Aama zu bekommen und wahrscheinlich persönlicher Kontakt mit den Behörden notwendig sei, damit der Antrag nicht in einem großen Haufen Papier unterginge.
Doch vielleicht brauchte es am Ende gar nicht so weit zu kommen. Sun Maya erzählte mir, daß kürzlich ein Regierungstrupp von Beamten und Fotografen durchs Dorf gekommen sei anläßlich einer nationalen Kampagne, in deren Rahmen jedem Dorfbewohner Staatsangehörigkeitspapiere ausgestellt werden sollten. Solche Unterlagen würden die Anfertigung eines Passes beschleunigen. Bestimmt hatte man Aama fotografiert und ihr die Fingerabdrücke abgenommen. Ich fragte Sun Maya, ob ich die Dokumente sehen könnte. Nein, sie hatte keine. Die Beamten glaubten, daß eine Vierundachtzigjährige solche Papiere nicht mehr benötigte, und so war Aama in der Gegend die einzige Dorfbewohnerin, die man ausgelassen hatte. Es war ja auch nur logisch, daß ein Ritual zur Feier von 1008 Lebensmonden nicht nur von weltlichen, sondern auch von bürokratischen Pflichten entband.
Didi und ich mußten nach Katmandu zurückkehren. Ich hatte nur wenige Tage frei, und Didi mußte sich um ihr Haus und ihr Exportgeschäft kümmern. Sun Maya versicherte uns, daß sie helfen würde, Aamas Papiere im Distriktzentrum zu beantragen. Ich sagte ihnen, sie sollten direkt nach Katmandu kommen, wenn sie die Dokumente bekommen hätten, wobei ich im stillen daran zweifelte, daß sie es schaffen würden. Das Distriktzentrum verfügte über eine einzige Telefonleitung nach außen. Ich schrieb Didis Telefonnummer auf einen Zettel und gab ihn Sun Maya.
Bevor Didi und ich aufbrachen, besprachen Aama und Sun Maya die Zukunft. Die Kuh gab keine Milch und würde einen schlechten Preis erzielen; aber Aama wollte, daß Sun Maya sie dennoch verkaufte, damit sie ihre Schulden bei einem Verwandten, dem Geldverleiher des Dorfes, begleichen konnte. »Bei all der Energie und Arbeit, die wir in sie reinsteckten, scheinen die Rinder und Wasserbüffel mehr von uns zu profitieren als umgekehrt«, sagte Sun Maya lächelnd. Ich hatte noch nie gehört, daß sie sich über etwas beschwerte, oder Sorgen auf ihrem Gesicht gesehen.
»Du kannst auch das meiste Gras fürs Dachdecken von meinem Stück Land im Wald verkaufen«, sagte Aama ruhig, »aber behalte ein paar trockene Bündel zurück, um das Loch im Dach zu flicken, wo es beim letzten Monsun hereingeregnet hat. Ich mache es, wenn ich wieder zurück bin.« Sun Maya lächelte über Aamas Selbstvertrauen. Didi und ich verschlangen eine Mahlzeit aus Huhnresten, Reis und in Büffelbutter gebratenen Chilis. Bevor sie uns ziehen ließ, packte Aama Früchte und Gemüse aus ihrem Garten in unsere Rucksäcke, obwohl uns kein Träger zur Verfügung stand, der uns geholfen hätte, das übervolle Gepäck ins Tal zu schleppen, und wir uns nach dem Essen träge fühlten. Am Rande des Dorfes schauten wir noch einmal zurück und schenkten dann den Großteil von Aamas Gaben einer Familie der unberührbaren Schmiedkaste, die in einer abseits gelegenen Hütte wohnte. Aama hätte zugestimmt - allerdings nicht, wenn sie vorher von uns gefragt worden wäre.
Ein paar Tage später verließ Aama das Dorf so, wie es die Mütter von Gurkha-Rekruten zu tun pflegten. Als Symbol für den Beginn eines neuen Abenteuers hingen dünne Dubo-Grashalme - Haare von Vishnu - aus ihren Mundwinkeln; sie hielt sie mit den Lippen fest und war auf diese Weise am Sprechen gehindert. Abschiedsworte konnten nur unangemessen sein. Der Brauch verlangte, daß sie den Abschied nicht hinauszögerte und nicht mehr zurückschaute, wenn sie zum letztenmal aus ihrer Haustür getreten war.
Sun Maya blieb, wie ich vermutet hatte, im Dorf, um die anstehenden Arbeiten zu erledigen. An ihrer Stelle wurde Aama von ihrem ältesten Enkel Tagu, einem introvertierten Sechzehnjährigen, zum Distriktzentrum begleitet, das mehrere Fußstunden entfernt war. Dort kampierten sie fast eine Woche lang in der Wohnung eines entfernten Neffen. Tagtäglich gingen sie zu den Distriktbehörden, um ihr Anliegen vorzubringen.
Um sechs Uhr früh gegen Ende der folgenden Woche klingelte Didis Telefon. Vom Bett aus nahm sie den Telefonhörer ab, und ich hörte die Stimme eines jungen Mannes, der es offenbar nicht gewohnt war zu telefonieren und der sagte, er und Aama seien in Katmandu angekommen und müßten abgeholt werden. Es war Tagu. Er murmelte etwas und hängte ein, ohne Didi beschrieben zu haben, wo sie waren. Aber eine Rickschahupe und die Straßengeräusche im Hintergrund ließen vermuten, daß sie sich im Stadtzentrum befanden - vermutlich an der Busstation. Ich sprang aus dem Bett, schüttete eine Tasse Pulverkaffee hinunter und lief auf die Straße hinaus, um ein Taxi zu erwischen.
Das Taxi fegte in den internationalen Busbahnhof von Katmandu scharf an Verkaufswagen vorbei und schlaftrunkenen Reisenden vom Land, die ihre Habseligkeiten zusammenklaubten. Eine Frau mit einem Baby auf der Hüfte konnte gerade noch zur Seite springen. Da sah ich Aama und Tagu, die erschöpft und orientierungslos an einer Teebude standen. Sie hatten einen der Nachtbusse genommen, jenen »Luxus-Mini-Super-Express«, der über Bergstraßen rast, vollgepackt mit einander rempelnden, sich übergebenden Passagieren, die sich bei grellem Licht und gröhlendem Radio auf Sechserbänken zusammendrücken.
Aama paßte mit ihrer Größe von anderthalb Metern zu dem Haus, in dem sie lebte - aber hier, vor dem Hintergrund der Stadt, sah sie winzig aus. »Unh, da bist du ja, Nani«, sagte sie erleichtert, als ich aus dem Taxi stieg. Tagu trug eine vergoldete Armbanduhr und makellose Turnschuhe. Die Rupien, die ich für Aama im Dorf gelassen hatten, waren offenbar in mehrere Hände gelangt. Wir drückten uns zu dritt auf die Rückbank des rostigen Taxis, das sich wieder in den überschäumenden Verkehr von Katmandu einfädelte. Ich versicherte Aama, daß wir immer noch an dem Plan festhielten, nach Amerika zu reisen, und bereits Flugtickets gebucht hatten.
Aama zog aus ihrer Schultertasche ein Bündel von Dokumenten auf Reispapier hervor, die mit einer Stecknadel zusammengehalten wurden. »Die ganze Fragerei der Beamten und der Papierkram im Distriktzentrum waren lästig für Tagu und meinen Neffen«, sagte Aama, »und ich habe ihnen ein paarmal gesagt, sie sollten die ganze Sache vergessen.«
Didi hatte ihr Haus renoviert und zu einem ruhigen Rückzugsort gestaltet, der ihr geduldiges Wesen reflektierte. Sie begrüßte Aama und Tagu und machte sich, genau wie Aama das getan hätte, sogleich daran, das Frühstück herzurichten: Tee und gebratenes Brot mit einem großen Käseomelett. Aama und Tagu hatten ihre hungrigen Mägen bald gefüllt und streckten sich dann auf dem Teppich im Wohnzimmer aus. Wohlgefällig ruhte Tagus Blick auf seinen neuen Schuhen, die er ordentlich in eine Zimmerecke gestellt hatte. Aama jagte mit einer Hand im Dickicht ihrer Haare nach einer Kopflaus.
»Seit meine Brüder und Schwestern tot sind, bin ich das Mutterhuhn für die ganze Brut von Nichten und Neffen geworden und muß jetzt für sie sorgen. Sie haben mir zugeredet, nach Amrita zu gehen, mir anzuschauen, wie es dort ist, und dann rechtzeitig zum /)«$«/«-Herbstfest ins Dorf zurückzukehren, um ihnen allen den Tika!-Segen zu erteilen. Ich habe ihnen gesagt, daß ich das tun will.« Aama untersuchte ihre Fingernägel nach Spuren von Parasiten. Didi beobachtete sie mit einer Mischung aus Erstaunen, Humor und Mitgefühl und sagte mir, daß sie Läuseshampoo habe und sie am Waschbecken entlausen werde.
»An dem Morgen, an dem ich das Dorf verließ«, fuhr Aama fort, »hatte ich keinen Hahn zum Opfern, um die Lage, die Farbe und die Linien der Leber anzuschauen. Das hätte mir Aufschlüsse über meine und die Zukunft meiner Tochter gegeben.«
Ich verspürte das nebulöse Gefühl, daß die Schicksalsgötter schon hier in Didis Wohnzimmer mit von der Partie waren, wohlgesonnen und beschützend. Folglich wollte ich gerade den Mund öffnen, um diese Empfindung zum Ausdruck zu bringen - doch Aama lag noch etwas auf dem Herzen.
»Jedenfalls hat ein Brahmane den Planetenstand an meinem Abreisetag überprüft und gesagt, die Vorzeichen für meine Reise seien günstig. Aber ich wollte auch meinen Vetter, den Schamanen, um Rat ersuchen, weil ich ihm natürlich näherstehe. Ich wollte ihn fragen, ob ich in Amrita sterben würde. Hätte er geantwortet, daß dies der Fall sein könnte, so wäre ich nicht gekommen. Aber dann habe ich mir gesagt, daß es keine Rolle spielt und es auch in Ordnung wäre, in Amrita zu sterben, wenn die Planeten und die Götter das so wollten. Und deswegen verzichtete ich darauf, ihn zu rufen. Ich habe allerdings vergessen, dich zu fragen: Wenn es so wäre, was würde mit meinem Körper geschehen? Könnte er auf dem Weg zum Verbrennungsplatz etwa beschmutzt werden? Was tut man bei euch?« Sie legte den Kopf zurück und linste mich an, als habe sie auf der Nasenspitze eine Brille sitzen. »Wahrscheinlich holt man eure Körper einfach ab und verscharrt sie in der Erde oder so ähnlich, wie es die Muslime machen.« Sie lachte über die unverhohlene Respektlosigkeit ihrer Vermutung. »Die Muslime heben sogar ihr Grab aus und bereiten es vor, bevor sie sterben; man könnte meinen, sie wollten den Tod anlocken.« Sie betrachtete mich ruhig, und ihre Stimme wurde weich. »Nani, gibt es Gurung-Lamas in Amrita oder Schamanen oder vielleicht sogar Brahmanen?« Hinter ihren Worten verbarg sich mehr als eine Frage: Würde ich in der Lage sein, die rituellen Pflichten zu erfüllen, die der Sohn beim Tod der Mutter auszuführen hat? Die Aussicht, daß sie tatsächlich sterben könnte, schien für Aama nebensächlich. »Nun ja, Schamanen und Gurung-Lamas sind in Amerika schwer zu finden, aber es gibt Brahmanen«, sagte ich und überlegte, wo wir anfangen könnten, nach einem zu suchen. »Wir müßten einen guten auftreiben, denn wie du weißt, halten sich viele Brahmanen nicht mehr an die alten Vorschriften, besonders die Brahmanen nicht, die in Amerika leben.« Ein gläubiger Brahmane sollte weder Alkohol trinken noch Geflügel-, Schweine- und Rindfleisch essen, insbesondere auf letzteres verzichten, weil die Kühe heilig sind. Es wird dir nichts zustoßen, Aama, aber wenn es nötig sein sollte, dann finden wir auch einen Brahmanen oder vielleicht einen tibetischen Lama«, sagte ich aufrichtig.
»Vor allem fürchte ich mich vor dem Hinfallen. In den letzten Jahren ist mir das dreimal passiert. Ich habe geglaubt, daß ich mich vom letzten Sturz nicht mehr erhole.« Aama rappelte sich vom Teppich hoch und suchte nach der Tür. Wir hatten hier drinnen genug Zeit verschwendet, bestimmt gab es draußen Arbeit zu erledigen - wie immer.
Didis Garten war nach einer Art Zen-Zufallsprinzip angelegt - Gemüse, Heilkräuter und exotische Blumen gediehen bunt durcheinander. Aama ging herum und schaute jede einzelne Pflanze an, als sei es eine Fotografie von einem verlorenen Freund. Ihr fiel auf, wie das Klima oder der Boden die Gewächse hier unten im Tal verändert hatten. Alle paar Schritte blieb sie stehen, berührte die Ziersteine mit den Fingerspitzen der rechten Hand, mit denen sie dann die Stirn berührte, um den Segen der Steine zu empfangen, während sie ihr Mantra murmelte. Hatte ein Dorf-Lama oder ein Schamane solche Steine geweiht, so galten sie als Verkörperungen von Gottheiten und wurden in einen Schrein oben auf dem Bergkamm gelegt oder zu Füßen eines Gebüschs aus Bergbambus.
Die Papiere, die Aama aus dem Distriktzentrum mitgebracht hatte, waren nur der Anfang. Ein Freund mit Verbindungen zur Paßgenehmigungsstelle erklärte sich bereit, einen Verwandten im Innenministerium anzurufen, der sich persönlich darum bemühen würde.
Das einzige Fahrzeug, das ich besaß, war ein Motorrad, das effektivste Fortbewegungsmittel im Verkehr von Katmandu. Ich rollte es aus dem Schuppen und zeigte es Aama.
»Früher ist niemand mit so etwas gefahren. Braucht es Futter oder Kerosin?«
»Benzin - das ist so etwas Ähnliches wie Kerosin«, antwortete ich und setzte mich darauf. Ich deutete auf den Soziussitz und die Fußstütze, bot ihr meinen Oberarm als Griff an und sagte ihr, sie solle sich daran mit der rechten Hand festhalten. An steile Bergpfade gewöhnt, machte es ihr keine Mühe, auf den Sitz zu klettern, und schon bald mußte ich gar nicht mehr hinschauen - sie schwang sich hinauf wie eine alte Motorradbraut.
Wir tauchten in das Gewühl des Stadtzentrums von Katmandu ein, hielten zuerst an einer Bude für Paßfotos am Straßenrand und fuhren dann zum Innenministerium, um den Antrag abzugeben. Anschließend kauften wir eine neue Schultertasche - die aus dem Dorf war zerschlissen - und ein paar Ketten, Münzen und andere Souvenirs für Amerika. Am Nachmittag brausten wir auf der Ringstraße im vierten Gang nach Hause und genossen die klare Luft nach einem kurzen, heftigen Regenschauer. So halb über die Schulter konnte ich sehen, wie sie im Wind mit den Augen zwinkerte und versuchte, mir etwas zu sagen.
»Warum fährst du mit dem Motorrad immer da, wo der Wind bläst?« rief sie und versuchte, den Lärm des Fahrtwindes und des Motors zu übertönen. Ich fuhr an den Straßenrand und hielt an.
»Ist es jetzt windig?« fragte ich sie.
»Nein. Der Wind hat aufgehört.«
Ich setzte Aama zu Hause ab und fuhr zurück in die Stadt, um noch einiges meiner Arbeit zu Ende zu bringen und zur Bank zu gehen.
Die Zentralbank nimmt Zahlungen für die Regierung an, und Paßbewerber müssen die Paßgebühren dort persönlich hinterlegen, sofern sie nicht davon befreit sind. Ich vermochte mit nichts zu entschuldigen, daß ich Aama nicht mitgebracht hatte, außer daß ich von der Hektik des Alltags mal wieder überollt worden war. Das letzte, was wir jetzt brauchten, war ein Bürokrat, der das ganze Verfahren bremste, um uns zu veranlassen, unseren »Einsatz« zu erhöhen, wie man hier sagt.
Durch eine Öffnung im Gitter, das den Kassierer wie ein Käfig umgab, reichte ich eine Tasche voll Rupien samt dem Einzahlungsformular hinein; erstaunlicherweise bedurften selbst Bareinzahlungen einer Genehmigung. Der Kassierer gab das Formular automatisch an den Abteilungsleiter weiter, der am Tisch hinter ihm saß. Nachdem er das ausgefüllte Blatt mehrere Minuten lang gründlich geprüft hatte, knallte er plötzlich einen Stempel darauf und kritzelte Notizen an den Rand. Dann winkte er mich durch die Sperrholztür hinter die Kasse zu seinem Tisch, um mir die Quittung in die Hand zu drücken, wodurch er sich das Aufstehen ersparte. Er war schon dabei, sie mir zu reichen, als er auf Nepali fragte, für wen der Paß bestimmt sei. Mit Sicherheit hatte er den Namen der Einzahlerin auf dem Antrag gelesen und wollte wissen, wo die Person war.
»Eine Nepalesin«, antwortete ich.
»Eine Frau also, nicht wahr?«
»Ja.«
»Oho! Eine Frau«, wiederholte er laut und genüßlich. Die Angestellten der Kassenabteilung schauten von ihren Zeitungen und den übergroßen Kontenblättern auf, die mit Zahlenkolonnen bedeckt waren. Eine Rechenmaschine konnte ich nirgends entdecken.
»Wie alt ist die Frau?«
»84«, antwortete ich.
Der Abteilungsleiter drehte den Kopf zu einem Mitarbeiter und sagte kühl: »Er meint bestimmt, 48.« Dann wandte er sich wieder mir zu und sagte: »Sie müssen Ihr Nepali verbessern.« Er sprach noch lauter und überdeutlich, so als müßte er eine Sprachbarriere überwinden. »Das heißt 48, verstehen Sie, acht-und-vierzig.« Dabei unterstrich er jede Silbe mit übertriebenen Lippen- und Zungenbewegungen - ganz so, wie das mein Sprachlehrer getan hatte - zog die Augenbrauen hoch und preßte die Augäpfel heraus, um den Wirkungsgrad der Kommunikation zu erhöhen. »Aber sind Sie sicher, daß sie nicht 24 ist?« Er legte eine dramatische Kunstpause ein, um unter dem guten Dutzend Angestellten, die hier saßen und sich nur zu gerne ablenken ließen, eine skandalträchtige Atmosphäre zu schaffen. Beamte in Nepal teilten eine gewisse landeseigene Weltsicht - ein Gemisch aus gesundem Menschenverstand, Tradition und doppelter Moral. Demzufolge war es klar, daß ich eine Frau gefunden hatte, eine Nepalesin, die bedauernswerterweise ihre Herkunft und ihre Religion verriet, um einen Ausländer zu heiraten; wahrscheinlich stammte sie aus einer niedrigen Kaste oder war irgendwie in Schwierigkeiten. Das ließe mich in einem schiefen Licht erscheinen, aber von Ausländern konnte man nichts anderes erwarten.
Dabei träumte sicherlich jeder dieser Bankangestellten davon, Amerika zu besuchen oder dort Arbeit zu finden - Amerika, das noch immer als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und des unerschöpflichen Reichtums galt, wo das Geld schon bei der Ankunft auf der Rollbahn herumlag oder jedenfalls in den Straßen der großen Städte aufgelesen werden konnte. Sie wußten, daß wir für immer in Übersee leben müßten, falls Vishnu Maya meine Braut war, denn Nepal gewährte nur ausländischen Frauen, die einen Nepalesen geheiratet hatten, ein Langzeitvisum - nicht aber ausländischen Männern mit einer Nepalesin als Ehefrau. Die Paßgenehmigung gehörte genaugenommen nicht zum Zuständigkeitsbereich der Bank, aber der Ernst des mutmaßlichen Bruchs der Tradition rechtfertigte die Anmaßung.
»Nein«, sagte ich. »Sie ist 84.« Nun war es an mir, die dramatische Pause einzulegen. Ich öffnete mit großer Bedachtsamkeit meine Aktentasche, raschelte mit den Papieren, zog ein Paßfoto hervor, betrachtete es noch einmal selbst und reichte es dann dem Abteilungsvorsteher. Sämtliche Angestellten erhoben sich gleichzeitig wie eine Schulklasse beim Pausenklingeln und drängelten sich hinter den Vorsteher, um einen Blick auf das Bild zu werfen. Plötzlich waren alle still, und keiner rührte sich. »Er hat recht. Sie muß mindestens 84 sein!« rief der Abteilungschef aus. »Vielleicht ist sie »vierundachtzig!« Alle schauten mich an, und wir lachten unisono. Angesichts des ungewohnten Reizes dieser neuen Situation erwiesen sich Belehrungen über korrekte Aussprache oder kulturelle Vorurteile als überflüssig.
»Bestimmt geht es um medizinische Behandlung«, bot einer der Angestellten als plausible Erklärung an. Die anderen sagten nichts. Die Frauen unter ihnen machten allerdings den Eindruck, als hätten sie ein Babyfoto gesehen; vielleicht, so träumten sie, würde eines Tages auch jemand ihre Mutter oder gar sie selbst mit nach Amerika nehmen. Der Abteilungsleiter reichte mir nun die Quittung mit vollendeter Höflichkeit, indem er auf der Brust seine Hände überkreuzte und den Kopf leicht neigte - ein liebenswürdiger Abschluß dieses kleinen Intermezzos.
Die Bankquittung war das letzte Dokument, das wir für den Paß brauchten. Ich rief Didi an, die mir mitteilte, daß der Kontakt mit dem Innenministerium geklappt habe, fuhr dann zum Regierungsgebäude und bekam ohne viel Aufhebens Aa-mas Paß ausgehändigt. Sodann buchte ich unsere Flugtickets fest. Aber Aama brauchte noch eine weitere Genehmigung.
Der Konsul der US-Botschaft in Katmandu war dafür bekannt, daß er Visaanträge von Nepalesen, wenn irgend möglich, ablehnte. Die Edelstahlschublade unter dem kugelsicheren Fenster im Empfang des Konsulats verkörperte in der Tat das Tor nach Amerika, und eine Schlange von Bewerbern stand drängend davor und hoffte, hindurchzuschlüpfen.
Der Assistent rief mich herein, weil der Konsul mich sprechen wollte. Verdammt, dachte ich, so ist es immer. Jetzt haben wir den Paß, die Flugtickets, und prompt macht unsere eigene Regierung einen Strich durch die Rechnung. Als ich aber die Hand des Konsuls schüttelte, fühlte ich sofort Sympathie. Er wollte nur ein bißchen plaudern, um sich von der endlosen Kette von Entscheidungen zu erholen, die er als Ausführungsorgan der undurchsichtigen Einwanderungspolitik der Vereinigten Staaten treffen mußte. Die ständige Flut von flehentlichen Bitten, Hoffnung und Gerissenheit, die aus der Verzweiflung entsprang, hatte Furchen in seine Stirn gegraben.
»Vishnu Maya Gurungs Visum wird heute nachmittag ausgestellt«, sagte er sogleich, ohne mich weiter auf die Folter zu spannen. »Sie dürfte einem Amerikaner kaum die Arbeit wegnehmen, und wenn sie eine heilige Frau ist oder so etwas, dann könnten die Vereinigten Staaten vielleicht sogar davon profitieren.«
Überzogen mit einer rußigen Schmutzschicht, kehrte ich zu Didis Haus zurück. Aama und Didi merkten mir sofort meine Müdigkeit, aber auch meinen Triumph an.
»Alles wäre leichter gewesen«, meinte Aama mit einem schüchternen Lächeln, »wenn ich nur schon früher gestorben wäre. Meine Tochter Sun Maya müßte mich nicht im Alter versorgen, und du müßtest dir nicht diese gebeugte Alte aufhalsen.« Es war kein Heischen nach Mitleid oder nach Aufmerksamkeit und auch keine Entschuldigung. Sie sagte einfach, wie sie die Dinge sah.
Aamas Befürchtung, daß sie in Amerika sterben könnte, ließ eine Krankenversicherung ratsam erscheinen, die aber für eine Frau ihres Alters nur schwer abzuschließen sein würde, besonders für eine kurze Reise auf die Schnelle. Aber wir hatten die Entscheidung ja schon getroffen - oder genauer: Aama hatte es getan. Sie war zu ihrer letzten Odyssee aufgebrochen, um herauszufinden, was einer Frau beschieden sein konnte, die sich dem Schicksal anheim gab. Didi und ich mußten uns nur an sie hängen, und wir hofften, daß auch sie das gleiche mit uns tat.
Aama und Tagu hatten im Wohnzimmer geschlafen und saßen nun in einem Haufen Decken auf dem Boden und schlürften Tee. Didi war weg. Sie hatte frühmorgens ein Flugzeug nach Hongkong genommen, wo ihre Schwester Teddi lebte. Aama und ich würden nachmittags nach Bangkok fliegen, dann Didi in Tokio treffen, um dort gemeinsam ins Flugzeug nach Seattle zu steigen.
Aama bat mich um Waschwasser für ihr Gesicht, doch zuvor besprenkelte sie damit ihren Goldschmuck, um sich zu reinigen, eine für die Morgenandacht unabdingbare Handlung. Bevor sie Nepal verließ, wollte sie noch Opferungen durchführen. Mochten die Ereignisse dieses Lebens vom Schicksal vorausbestimmt sein, so hingen von Andacht und Verehrung doch vielleicht ihre Wiedergeburt und eine günstige Beeinflussung der Ereignisse des nächsten Lebens ab.
Nur Hindus durften den Pasupatinath von Katmandu betreten, einen der heiligsten Shiva-Schreine des Subkontinents. Ein Polizeioffizier patrouillierte vor dem Eingang und bewachte ihn mit der doppelten Autorität einer hinduistischen Regierung. Ich setzte Aama an dem tunnelförmigen Durchgang ab und spähte nach innen. Shivas goldener Stier Nandi, ätherisch eingehüllt vom Morgennebel und von schwelendem Räucherwerk, saß in einem magischen Bereich, der mir nie zugänglich sein würde, um sich in überschäumender Fruchtbarkeit zu ergießen. Bei dieser Ausschließlichkeit fragte ich mich, warum wohl jemand Hinduist sein wollte. Aber Hinduismus ist nicht etwas, zu dem man sich entschließt - man wird so geboren. Und doch sind alle Menschen empfindende Wesen im Reich Brahmas, des Schöpfers, und Bhagwans, der formlosen, aber allwissenden Vitalität Gottes - reine Existenz, Bewußtsein und Seligkeit.
Der Hinduismus ist der Vorgänger und Verbündete des Buddhismus, und vielen Zeugnissen zufolge bilden sie eine Einheit. Aama hat ihren Hinduismus oder Buddhismus nie zur Schau getragen und nie davon abgelassen, denn für sie gab es keinen Unterschied zwischen ihrem Glauben und ihrem täglichen Leben sowie der Entfaltung des Dramas der Existenz. Ihre Art der Religion ist mit anderen Glaubensrichtungen nicht unvereinbar, sie ist einfach eine Beschreibung des Lebens, wie es war und wie es sein wird. Dharma - der universale Weg.
Ich wartete am Ausgang in der Nähe der Ghats, der Bade-und Bestattungsplätze am Bagmati-Fluß. Aama kam ruhig und erfrischt heraus. Sie ließ einige zinnoberrote Reiskörner in meine offene Hand rieseln, um den Tika-Segen auf die Mitte meiner Stirn zu setzen. Wortlos reichte sie mir ihre Schultertasche und ging zu den Ghats.
Sie blieb stehen und gab den Aghori Babas ein paar Münzen, nackten Yogis einer Shivasekte, die in Yoga-Asanas dasaßen. Einige rauchten Haschisch und schienen auf etwas zu warten. Ihre Körper waren mit Asche von den Verbrennungsplätzen beschmiert, um sie vor Geistern zu schützen und die Körperwärme zu stabilisieren - selbst im Winter schienen sie nicht zu frieren. Als Teil einer tantrischen Hindupraxis aßen die Aghoris gelegentlich menschliches Fleisch von den Scheiterhaufen. Aber wenn sie meditierten, sagte Aama, brauchten Aghoris keine Nahrung, denn sie haben keinen Hunger: Sie werden von den Göttern gespeist.
Sie ging die Treppen zum Fluß hinunter und stieg bis zu den Knien ins Wasser. Wie die anderen Frauen tauchte sie mitsamt ihrem Sari unter und badete. Sie drehte sich nach Südosten, schöpfte mit den Händen Wasser aus dem Fluß und ließ es von oben über das Gesicht tröpfeln: eine Gabe an Surya, die Sonne, die wie zur Bestätigung ein Loch in den Nebel brannte. Und wieder nahm sie Wasser, hob es hoch und ließ es durch die Finger rinnen, diesmal für den heiligen Fluß Ganges, in den der Bagmati mündet. Die Götter und Göttinnen sprachen fast hörbar zu ihr über Leben, Leiden, Karma und Schicksal, und sie murmelte demütig ihre Lobpreisungen. Ein paar Meter flußabwärts schwankten Bäume im Wind, und die Pagodendächer der Tempel leuchteten durch die Flammen eines Scheiterhaufens. Ein verkohlter Fuß und ein Arm ragten heraus, als hätten sie den Verwandten, die das Feuer schürten, noch etwas zuzurufen, während die Funken wie Kobolde gen Himmel stoben.