Kapitel 3 + 4

Kapitel 3

  Zwei von Aamas Großneffen erwarteten uns, als wir am Flughafen von Katmandu aus dem Taxi stiegen. Sie fühlten sich unwohl in diesem riesigen Gebäude und traten von einem Fuß auf den anderen, die Hände tief in den Taschen vergraben. Zwar waren sie stolz, Aama hier verabschieden zu dürfen, und freundlich zu ihr, aber doch auch sichtlich enttäuscht: Sie glaubten, mit ihrer militärischen Ausbildung in der Polizeikapelle von Katmandu in Amerika bestimmt nützlicher sein zu können als ihre Großtante, die sich vom aktiven Leben sowieso schon verabschiedet hatte. Auch Tagu wäre gerne mitgekommen, obwohl er das nicht aussprach. Seine Schuhe und seine Armbanduhr waren nur ein schwacher Trost.
Beim Check-in wurde mein Übergepäck registriert: drei handgemachte Metallkoffer vom Basar der Blechschmiede, die nur wenige internationale Flüge überstehen. Aama griff nach meiner Hand und tastete mit dem Bambusstock auf dem glatten Boden nach Halt. Da haben wir schon die Schwierigkeiten, dachte ich; hoffentlich rutscht sie nicht aus.
Die Koffer gingen glatt durch den Zoll, wurden mit einem Kreidezeichen versehen und von den Packern auf einen ramponierten Karren gehievt. »Warum sind diese Lichter tagsüber an?« fragte Aama mit Blick auf die durchscheinenden Lichtkaros in der Decke. »Wo kommen diese Leute alle her, und wohin wollen sie? Wo ich hinschaue, sehe ich schöne Taschen, wie sie die jungen Armeerekruten mit ins Dorf bringen, wenn sie Heimaturlaub haben. Wie wird das alles geordnet?«
Ich faßte sie an der Hand. »Aama, komm hier herüber.«
Beim Sicherheitscheck für Frauen nahm eine  Polizistin Aama die Schultertasche ab und forderte mich auf, auf der Männerseite durchzugehen und sie auf der anderen Seite wieder abzuholen. Ich war schon da, als Aama grinsend hinter dem Vorhang der Kabine heraustrat.
»Die Frau, die wie ein Soldat angezogen ist, hat meine Taschen und meine Schärpe durchsucht, um festzustellen, ob ich noch irgend etwas Schweres eingesteckt habe, nachdem wir gewogen wurden. Das wurden wir doch, oder? Nein? Wie wissen sie dann, wieviel wir bezahlen müssen?« Die Zwanzig-Kilogramm-Gewichtsgrenze bei internationalen Flügen war eine Legende. In der Inlandhalle des Flughafens hatte ich Passagiere gesehen, die in abgelegene Gegenden flogen und die Gepäckregeln dadurch umgingen, daß sie all ihre Kleider am Leib trugen und jede Tasche mit Meißeln, Hämmern und sonstigen Gebrauchsgegenständen vollgestopft hatten.
Ich versicherte mich, daß ich unsere Pässe und Tickets nicht verlegt hatte, was nicht ungewöhnlich gewesen wäre. Der Trubel und Lärm der Paß- und Zollkontrolle verklangen, als wir in die Transithalle kamen. Wir waren ein seltsames Paar, wie es schlechter nicht hätte zusammenpassen können, was Größe, Hautfarbe und Alter anging. Die Leute mochten denken, was sie wollten. Technisch hatten wir Nepal verlassen, und unser Flug war schon aufgerufen worden.
Wir quetschten uns durch die enge Terminaltür und gelangten auf die Rollbahn, behängt mit Handtaschen, Kameras und Aamas Bambusstock. Ihre Augen glänzten vor Aufregung. Sie drückte die Lippen aufeinander und öffnete sie dann leicht, um ihre Eindrücke in Worte zu fassen, wenn eine Szene ihre Aufmerksamkeit so lange gefesselt hatte, daß sich ein vollständiger Gedanke bildete. Ich führte sie zu einem Sitz im Transitbus. Warum das Flugzeug so klein sei, fragte sie - und ob ich auf der ganzen Reise stehen müsse.
»Das ist nicht das Flugzeug«, antwortete ich und fühlte, wie sie meine Hand fester drückte. »Es ist der Bus, der uns zum Flugzeug bringt.«
»Haben wir eine Fahrkarte für den Bus gekauft?«
»Nein, das brauchen wir nicht.«
Wir traten auf die Rollbahn und standen vor dem langen Treppenaufgang aus Metall, der ins Hinterteil des Airbus der Thai Airlines führte. Angesichts des Riesenvogels wurden wir zu Zwergen. Dies war das erste Düsenflugzeug, das Katmandu anflog, noch bevor der Flughafen über eine Gangway verfugte, die ausreichte, um an die Tür zu gelangen. Die ankommenden Passagiere mußten auf eine Holzleiter klettern, die auf der obersten Plattform der alten Treppe stand und von drei Crew-Mitgliedern festgehalten wurde.
Aama verharrte am Fuß der Treppe. Hinter uns standen in einer dichten Reihe nepalesische Geschäftsleute, Bürokraten, Touristen und braungebrannte Trecker, die noch immer ihre Wanderstiefel anhatten und Rucksäcke trugen. Sie reckten die Hälse, um Aama sehen zu können. Sie löste ihre Hand von meiner, beugte sich zum Boden und legte ihre Handflächen auf die unterste Stufe, hob die Hände und berührte die Stirn mit den Fingerspitzen. Sie wiederholte das zweimal und sprach dabei ein Mantra, kaum hörbar im Lärm der laufenden Flugzeugmotoren, die uns zur Eile antrieben. Dann sprach sie eine Invokation, um unsere Unternehmung zu segnen.
»Hare Om, bitte segne mich, meinen Dharma-Sohn und all die Menschen, die uns auf dieser langen Reise begleiten, denn ich gehe in Unwissenheit dessen, was mir bevorsteht. Falls ich an einem fremden Ort sterben sollte, mögen dort die nötigen Zeremonien für meinen Körper und meine Seele vollzogen werden. Mögen alle meine Verwandten und Bekannten Frieden finden. Im Namen meiner Ahnen, Hare Om.«
Aufrichtigkeit und Entschlossenheit drückten sich in ihrem Griff aus, als wir die Stahltreppe hinaufkletterten. Als junger, heranwachsender Frau war ihr klargeworden, daß die Industrialisierung, die irgendwo vor sich ging, die Menschen tief beeinflußte. Sie und ihre Freunde hatten zunächst gedacht, ein Flugzeug sei Garuda, der Adler mit dem menschenähnlichen Kopf, das heilige geflügelte Fahrzeug von Vishnu, dessen Name Aama trug. Später erfuhren sie, daß Flugzeuge von Menschen gelenkt wurden und dazu da waren, Menschen zu transportieren, ohne daß dafür ein Wunder bemüht werden mußte - sofern man die Tatsache des Fliegens nicht als solches ansah.
Aama betrat eine neue Welt. Ich fuhr nur nach Hause oder glaubte das jedenfalls. Das Innere des Flugzeugs fühlte sich wie ein eigenartiges Niemandsland zwischen Kulturen und Kontinenten an. Ich überließ Aama den Fensterplatz. Sie freute sich, am Rand zu sitzen, denn dort bekämen wir frische Luft, wie sie meinte.
Sie schaute mich fragend an. »Warum hat dir die Flugzeugfahrerin an der Tür die Fahrkarten zurückgegeben? Waren sie nicht in Ordnung?«
Aama nahm die Kabine in Augenschein, während ich ein paar Minuten meine Augen schloß, mich dem Schwebezustand zwischen Vergangenheit und Zukunft anheim gab und den Streß meiner Arbeit bei der Hilfsorganisation, zu der ich zurückkehren würde, von mir abgleiten ließ.
Das Flugzeug setzte sich langsam in Bewegung, und ich sagte Aama, daß wir nun abheben würden.
»Was ist geschehen? Warum fahren wir schon los? Das Flugzeug ist ja noch gar nicht voll!« Sie muß wohl nepalesische Busse vor Augen gehabt haben, die hoffnungslos überladen werden.
Wie in Zeitlupe nahm der Airbus Geschwindigkeit auf, legte sich zurück und war in der Luft. Die Stadt verschwand hinter uns, und die mit ungezählten Terrassen übersäten Hügel des Tales kamen in Sichtweite. Ich dachte an die Arbeit, die notwendig war, um jedes dieser kleinen Felder anzulegen, zu bewässern, zu pflügen, darauf zu säen, zu ernten und die Fruchtbarkeit zu erhalten. Allein mit Handgeräten und Zugtieren hatte der Mensch das Gesicht der Erde hier unten verwandelt. Vielleicht würde der Westen eines Tages Pilgerreisen hierher unternehmen, um die lebendigen kulturellen und landwirtschaftlichen Wurzeln der Menschheit zu entdecken und von diesen Bergbauern zu lernen, wie man im Einklang mit der Erde lebt. Aama schlief, als das Flugzeug in Bangkok landete, wurde aber von der Stille geweckt, die nach dem Abschalten der Motoren eintrat. Lethargisch durchquerten wir die Einreisehalle und näherten uns der abwärts führenden, wasserfallähnlichen Rolltreppe. Ich fand keine Zeit mehr, sie in aller Ruhe darauf vorzubereiten.
»Diese Treppe hier bewegt sich, und wir treten jetzt darauf und fahren nach unten«, erklärte ich noch hastig, als sei das etwas ganz Normales, »und zwar im Stehen.« Sie hätte ja auf andere Gedanken kommen können. »Gib mir deinen Stock, ich halte diese Hand, und die andere legst du auf das rote Geländer, das mitfährt.« Ich trat auf die Rolltreppe, drehte mich zu ihr um und packte sie an den Armen. Aber sie begriff nicht, was hier vorging, und sträubte sich. Mit einem Satz sprang ich zurück nach oben, um zu vermeiden, daß wir beide hinfielen.
»Okay, dann gehen wir eben«, sagte ich bestimmt, wohlwissend, daß Angst nicht ihre Sache war - noch nie hatte ich diese Reaktion bei ihr gesehen. Sie machte einen entschlossenen Schritt auf die Überholspur der Rolltreppe, und prompt fielen die knapp achtzig Pfund Körpergewicht nach hinten, während sich Aamas Füße nach vorne bewegten. Ich zog heftig an ihren Armen, um ihren Schwerpunkt wieder über die Beine zu verlagern. Sie grinste wie ein Kind, das der Vater zum Spaß fallen läßt und kurz vor dem Boden auffängt.
Das ist gerade noch mal gutgegangen, dachte ich und schaute auf ihre Füße. Nur die Fersen ruhten auf der Stufenkante, der Rest ihrer Füße schaute in die Luft. Ich wollte sie sicherer hinstellen, da setzte sie sich in Bewegung.
»Also, dann geh«, sagte sie. Jetzt fordert sie mich auf zu gehen. »Warum stehen wir hier noch?«
»Wir müssen nicht gehen, die Treppe nimmt uns mit.«
»Ja, aber - wenn wir nicht losgehen, kommen wir nie an.«
Ich deutete nach unten, wo die Leute gelangweilt mit Gepäckwagen herumstanden und darauf warteten, ihre Koffer und Taschen vom Rand aufzuklauben, und teilte ihre Sichtweise, daß der Boden zu uns heraufstieg.
Beim Übergang auf den festen Boden fiel sie nach vorne, und ich fing sie wieder auf.
»Meine Füße sind in den Schuhen nach vorne gerutscht und haben meine Zehen zusammengedrückt«, sagte sie und schaute wie ein junges Mädchen zu mir herauf. Mit dem allmählichen Schrumpfen ihrer winzigen Gestalt hatte sich vielleicht auch die Größe ihrer Füße verringert, seit sie ihre abgenutzten indischen Stoffturnschuhe zum letztenmal getragen hatte, oder die Füße waren durchs Barfußgehen und Klettern über Felsen und auf Bäume breiter geworden. Jedenfalls konnte man an der Ferse gut einen Finger hineinstecken, und die Schuhe schlappten leise, als wir uns von der Rolltreppe entfernten.
In unserem Zimmer im Flughafenhotel trank ich nur noch ein Glas Wasser, stellte fest, wo sich die Lichtschalter befanden, und fiel ins Bett. Irgendwann, zu einer zeitlosen Nachtstunde wachte ich auf. Aama war nicht im Zimmer. Nur ein paar Falten auf der Überdecke des anderen Bettes zeigten, wo sie sich zusammengerollt hatte. Ich lag ruhig da und lauschte auf Geräusche aus dem Bad. Leise kam sie ins Zimmer zurück mit weit geöffneten Augen.
»Da drin ist noch eine andere Gurung-Frau«, sagte sie flüsternd, als wollte sie die Frau nicht stören. Sie winkte mich zur Tür, vergewisserte sich, daß ich wirklich hinter ihr stand, spähte hinein und trat langsam vor. Ein hell beleuchteter Spiegel spannte sich über die ganze Breite der beiden Waschbecken. Sie starrte mutig hinein, diesmal mit mehr Zutrauen als beim erstenmal. Je mehr die Frau im Spiegel lächelte, desto breiter grinste Aama zurück - in einer Wechselreaktion, die ihre Gesichtszüge beinahe explodieren ließ. Selbstverständlich hatte sie sich jetzt im Spiegel erkannt, aber es war ganz einfach ein Schock, sich in dem fluoreszierenden Licht unverhüllt entgegenzutreten, nachdem wir in den letzten 24 Stunden fast nur hellhäutige, merkwürdig gekleidete Ausländer gesehen hatten. Diesen Realitätstest kannte ich gut. Wenn ich mich nach einem monatelangen Aufenthalt in einem nepalesischen Dorf plötzlich in einem Spiegel sah, war ich verblüfft, wie unnatürlich weiß, groß und unvorteilhaft ich aussah. Meine blauen Augen schienen flach und wäßrig und leicht zu durchschauen.
Ich dachte an Didis Augen, die blauer waren als meine; sie schillerten weich wie die eines Babys. Es schien lange her zu sein, seit wir Katmandu verlassen hatten, und ich freute mich darauf, sie wiederzusehen. Dann tauchten in meinem Geist Bilder von jener anderen Frau auf, der ich wahrscheinlich in den Vereinigten Staaten begegnen würde.
Aama hielt im Flugzeug ein Nickerchen, während ich in Tokio ausstieg, um in der Transithalle nach Didi zu suchen. Eine Amerikanerin sprach mich an, als ich in die Halle trat. Sie war mir auf unserem Flug von Bangkok aufgefallen.
»Entschuldigen Sie, aber warum fährt diese alte Frau in die Vereinigten Staaten?« erkundigte sie sich.
»Sie hat dort Geschäfte zu tätigen, die sich mit Fax einfach nicht bewerkstelligen lassen«, erklärte ich im Tonfall eines Roadmanagers, aber meinen Worten haftete die Zeitverzögerung an, und sie klangen, als würden sie durch eine Klopapierrolle gesprochen. Die Dame lachte trotzdem, und ich erzählte ihr Aamas Geschichte beziehungsweise einen Teil davon, während ich mit den Augen nach Didi suchte. Die Frau lächelte und wünschte uns aufrichtig Glück, eine Art amerikanischer Segen. Aber aus irgendeinem Grund war ich nervös.
Didi saß mitten in einer Gruppe Japaner und wippte lässig mit dem übergeschlagenen Bein. Ihre blonden Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt, und sie trug ein schickes weißes Kleid. Wir küßten uns flüchtig, und ich setzte mich neben sie. Mit einem schwesterlichen oder vielleicht mütterlichen Ausdruck sagte sie, ich sähe so aus, als könnte ich etwas Hilfe brauchen, jedoch ihr Blick drückte noch etwas anderes aus als Mitgefühl. Ich lächelte und zuckte mit den Schultern. Ihr Gesicht war entspannt, aber nachdenklich -irgendwie unentschlossen, als könnte sie die Begeisterung für unser Abenteuer nicht ganz teilen.
»Wie geht es deiner Schwester?« fragte ich und versuchte einen offenen, persönlichen Ton anzuschlagen.
»Teddi ist okay. Ihr Geschäft läuft gut. Sie wird in ein paar Tagen 38 Jahre alt und sagt, sie würde gerne heiraten und Kinder bekommen, aber sie hat zur Zeit keinen Freund.« Ich wunderte mich über Didis unverschnörkelte Mitteilung. Sie sagte, sie habe ihre Schwester gedrängt, einen hohen tibetischen Lama in Nepal per Fax um ein Mo zu bitten, eine Weissagung, um etwas über ihre Zukunft zu erfahren und ihre Aussichten auf eine feste Beziehung. Doch Teddi hatte bereits eine bekannte Wahrsagerin konsultiert, eine Engländerin, die in einer Wohnung in Kowloon arbeitete. Bei ihrer letzten Sitzung hatte Teddi einen Termin für Didi vereinbart, und Didi war tags zuvor bei ihr gewesen. Ich fragte Didi nicht nach dem Resultat dieser Sitzung, aber ich spürte in ihr eine neue Entschlossenheit, eine neue Kraft, die vermutlich ebenso von der intensivierten Suche der Schwester nach einem verläßlichen Partner hervorgerufen worden war wie von den Worten der Hellseherin.
Ich gab mir Mühe, durch Komik die Spannung etwas zu lösen. Sie hätte Geld sparen können, meinte ich, wenn sie den »streng wissenschaftlichen elektronischen Wahrsager« in Katmandu konsultiert hätte, der mit einem Aluminiumwagen durch die Straßen zieht, auf dem ein uralter Fernseher steht. Ich erzählte ihr, wie ich eine Rupie gezahlt und meine Hand auf die Maschine gelegt hätte. Farbige Lichter leuchteten auf, ein Wecker klingelte, die Nadel eines Voltmeßgeräts zuckte, und die Maschine produzierte Piepgeräusche aus dem All, bevor sich eine Stimme über einen abgegriffenen Kopfhörer vernehmen ließ: »Sie sind ein glücklicher Mann und werden viele Kinder haben, aber erst nach erheblicher Mühe und Leid...« Auf einem handgeschriebenen Schild an der Seite des Apparats war zu lesen: »Wie oft Sie auch zuhören, die Maschine sagt Ihnen die Wahrheit über Sie.« Angesichts des Satzes über den Kindersegen war ich mit einem einzigen Mal bedient - aber das sagte ich nicht laut.
Didi blies die Luft durch die Nasenlöcher. Ihr Blick war auf den Boden geheftet, und sie wartete darauf, daß ich zu Ende käme. »Jedenfalls hat die Hellseherin bestätigt, was mir der tibetische Lama in Nepal auch schon gesagt hatte«, meinte sie, ohne aufzuschauen. Ich brauchte einen Augenblick, um meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen und wie beiläufig zu sagen:
»Ich wußte gar nicht, daß du den Lama um Rat gefragt hast.«
»Ich habe ihn nicht um Rat gefragt. Ich war bei einem Morgenteaching über buddhistische Philosophie und holte mir hinterher seinen Segen. Er hat mir in die Augen geschaut und ein paar Worte gesprochen, die mit dem übereinstimmten, was mir seit einiger Zeit im Kopf herumging.«
Wir saßen still nebeneinander und horchten auf die weibliche Stimme aus dem Lautsprecher, die in einem monotonen Singsang Ansagen auf japanisch machte.
»Teddi sagte auch, daß es für mich vielleicht geschäftliche Möglichkeiten in Hongkong gibt, falls ich daran Interesse hätte, und daß ich eine Weile bei ihr wohnen könne.« Didi war nur ein Jahr jünger als Teddi.
Mit einem unbehaglichen Gefühl stand ich auf und ging zur Toilette. Ich hatte diese Veränderung in Didis Einstellung nicht erwartet, dieses Loslassen. Wieder einmal typisch, daß sie die Dinge durcheinanderbrachte, wenn sie gerade anfingen, glatt zu laufen. Aber ich habe auch andere Möglichkeiten, verdammt nochmal, redete ich mir ein, mich auf meinen Stolz besinnend, während ich meine Hemdzipfel in die Hose steckte. Ich konnte sie genauso im ungewissen lassen wie sie mich, wenn es denn sein sollte. Wer weiß, wie Didi Amerika aufnehmen würde; vielleicht würde sie sich zurückziehen, sich verändern und irgendwie komisch werden. Wir würden möglicherweise mit Freunden zusammentreffen, die ihre Karrieren vorangetrieben hatten, während wir als Heimatlose in der Weltgeschichte herumschwirrten in einem Zustand, der sich manchmal wie Scheintod anfühlte. Oder Ausweichen.
Ein Testlauf für uns beide schien mir das Richtige zu sein - besser als Heirat. Zu viele Abenteuer lagen noch vor mir und zuviel Arbeit, so glaubte ich, um Zeit mit der Feineinstimmung von etwas so Ungreifbarem zu verschwenden, wie es eine Beziehung ist. Ich fragte mich manchmal, ob Didi und ich einfach aus Gewohnheit zusammen waren und weil wir jemanden brauchten, an dem wir uns in der Fremde festhalten konnten.
Didi war verständlicherweise mir gegenüber zurückhaltend und frustriert. Ich wäre ja bereit gewesen, mich mehr um unsere Beziehung zu bemühen, aber ich wollte, daß sie vorher meine Zuneigung zu Aama teilte. Sie war hilfsbereit und freundlich mit Aama, aber nicht besonders warm.
Ohne böse Absicht konnte Aama, wie andere alte Menschen auch, halsstarrig und fordernd sein, und hierfür brachte Didi wenig Geduld auf. Traditionell hat die Schwiegertochter ihrer Schwiegermutter Achtung und Ehrerbietung zu erweisen. Dabei ist es üblich, daß die Schwiegermutter kritisiert, ganz egal wie sorgsam die junge Frau ihre Pflichten erfüllt. Didi konnte diese gesellschaftliche Rollenverteilung akzeptieren und sich daran halten, solange sie in einem Dorf in Nepal war. Aber jetzt verlangte dieses Protokoll von der Schwiegertochter, der Frau des Lieblingssohnes, daß sie die Verantwortung und Fürsorge für Aama während ihres Aufenthalts in den Vereinigten Staaten übernahm - eine unbehagliche Rolle für ein Mädchen aus Kalifornien, das keine Ehefrau war und sich nicht so fühlte.
Doch das war noch nicht alles. In Katmandu hatte sich zwischen Aama und Didi eine gewisse Spannung aufgebaut, eine unterschwellige Rivalität, die sich über die Körpersprache, den Ton der Stimme und andere Kanäle ausdrückte, auf die ich mich nicht einstimmen wollte. Beide waren nicht davon überzeugt, daß die andere Frau das verkörperte, was ich brauchte.
Als Didi und ich unsere Sitzreihe im Flugzeug gefunden hatten, war Aama wach, aber schläfrig. Sie schaute zu Didi auf und lächelte erstaunt.
»Warum hast du dich die ganze Zeit im Flugzeug versteckt?« »Wir sind in Japan, Aama«, sagte Didi sanft.
»Du meinst, das Flugzeug ist auf dem Boden?« Didi blieb stehen und betrachtete Aama mit einer Liebenswürdigkeit und Wärme, die mich überraschte. Sie fragte mich, ob ich mir darüber im klaren sei, daß wir ein willkommenes, aber unerwartetes und vollkommen abhängiges Kind in eine neue Welt brachten. Didi wußte, wovon sie sprach: Sie war von der älteren Hälfte von dreizehn Brüdern und Schwestern aufgezogen worden und mußte sich ihrerseits um die jüngere Hälfte kümmern - Katholiken! »Auch wenn du dich nicht mit allen verträgst«, hatte sie mir gesagt, »so liebst du sie doch bedingungslos.« Sie schloß Aama in diese umfangreiche Familie mit ein, und es schien, als flösse ein Geist herzlichen Vertrauens zwischen den beiden.
Einen Augenblick lang streifte mich der Gedanke, daß Didi vielleicht Aama auf ihre Seite ziehen wollte und bei ihr jene Unterstützung suchte, die ich ihr nicht ausreichend geben konnte, um im Verein mit ihr das durchzusetzen, was sie anstrebte. Aber dieser häßliche Verdacht verflüchtigte sich, als Didis blaue Augen weiter auf Aama ruhten mit einer Liebe und einer Zutraulichkeit, wie sie sie mir noch nicht gezeigt hatte und die sie vielleicht für einen anderen Mann, einen Ehemann, aufsparte. Ich hatte das noch nie an ihr gesehen - aber da war es. Aama schaute zu Didi hoch und ließ sich von ihrer Zärtlichkeit umhüllen - ein willkommener Ersatz für Tiere, Felder und Familie.
Zwei Stewards schoben einen Wagen an uns vorbei, auf dem sich die Abendessentabletts türmten, und bald hatte jeder von uns eines vor sich stehen. Aama hob staunend die Hände mit gespreizten Fingern nach oben. »Nein, diese Farben, und alles ist einzeln eingepackt, ... es muß wohl alles ein Traum sein.« Didi half ihr, die Plastikfolien zu entfernen, und Aama probierte von jedem Stück einen Bissen, um zu entscheiden, auf was sie sich zuerst einlassen wollte. Nachdem sie das Besteck beiseite gelegt hatte, aß sie alles ratzekahl auf. Didi bemerkte, daß Aama auf ihren Kuchen schielte, und gab ihn ihr. Auch der verschwand im Nu, und sie nahm mein Tablett und dann mich ins Visier.
»Du hast deinen Kuchen schon gegessen«, stellte sie ohne besondere Betonung fest.
»Natürlich habe ich das. Ich dachte, daß du ihn mir vielleicht wegschnappen könntest. Hat es nicht gereicht? Schau nur deinen Bauch an.«
»Hunnh«, seufzte sie und betrachtete ihre Schärpe, die drei Meter lange petuka, die Bergfrauen tragen, um ihren Rücken zu stützen, wenn sie arbeiten und schwere Lasten tragen. Es schien, als habe sie einen Fußball verschluckt. »Mein Magen tut weh, wenn er voll ist, weil ich nicht weiß, wie man das Band an meinem neuen Unterrock lockert. Aber ich muß es zu lassen, sonst könnte er herunterrutschen. Vielleicht esse ich viel, aber für uns Alte ist es schwer, Fleisch auf den Knochen zu behalten.« Sie hob ein Butterpäckchen hoch, untersuchte es, ließ es in ihrer Schärpe verschwinden und grinste uns an. »Ihr findet es wohl komisch, daß wir solche Sachen nicht in unserem Dorf haben.« Didi betrachtete sie wie eine Mutter ihr Kind und fragte sich, wo der kleine Gegenstand wohl wieder auftauchen würde und in welchem Zustand.
Es war noch ein reifer Pfirsich übrig, den sie langsam verspeiste. Sie lehnte sich zurück, ließ die Zunge im Mund kreisen und warf den Kern geistesabwesend Richtung Fenster der 747 in 12000 Meter Höhe. Er prallte gegen das durchsichtige Plastikglas und sprang zurück in ihren Schoß. Zu Didi gewandt fragte sie: »Kannst du das Fenster öffnen und das hinauswerfen?«
Mitten in der Nacht, hoch über dem Pazifik, geriet der Jet in schwere Turbulenzen. Er erzitterte, sackte durch, ruckte hin und her. Wir konnten keinen Zweifel mehr daran haben, daß wir uns in einem Käfig, vollgestopft mit Menschen, hoch in der Luft befanden und durch den dunklen Raum geschleudert wurden. Angst machte sich in der Kabine breit. Die Passagiere stellten ihre Drinks auf den Boden, schnallten die Sicherheitsgurte fest und klappten die Tische zurück. Ich suchte nach Gelassenheit in den Gesichtern der Flugbegleiterinnen, doch auch sie schienen besorgt zu sein.
Aama erzählte von einer Unterhaltung mit ihren Verwandten über den Büffelstall, der eines Nachts vom Sturm umgeweht worden war, vor 35 Jahren.
»... Habe ich dir das schon erzählt?« Sie wollte keine Einzelheit auslassen. »Auf dem Weg nach unten beschädigten die Bruchstücke die Ecke an meinem Haus, und jemand kam rü-bergelaufen und sagte...«
»Merkst du eigentlich nicht, was sich hier abspielt?« unterbrach ich sie. Allem Anschein nach machte sie sich überhaupt nichts daraus, daß wir wie eine Streichholzschachtel herumgewirbelt wurden. Wenn jemand nicht gesagt bekam, daß Fliegen gefährlich ist - vielleicht war es ihm dann überhaupt nicht bewußt. Ich versank in einem intensiven, toxischen Zustand von Todesangst, der sich weder durch Didis harten Griff nach meiner Hand noch durch die buddhistischen Lehren zur Vorbereitung auf den Tod besserte.
»Die Gurkha-Jungens haben gesagt, so ist das in Flugzeugen«, meinte Aama. »Wie das Busfahren. Manchen Leuten macht es was aus, ihnen wird schlecht, und sie übergeben sich, aber ich nicht. Ich habe keine Angst vor der Höhe und auch nicht vor dem Fliegen. Ich fürchte mich nur davor, daß ich beim Gehen hinfallen könnte.«
Didis Augen begegneten den meinigen, und wir tauschten einen schweigenden Blick aus. Wir müssen uns an ihr festhalten; vielleicht fallen wir alle zusammen vom Himmel, und dann brauchen wir uns keine Sorgen mehr darüber zu machen, daß Aama auf einem Gehsteig hinfallen könnte.
»... Und so habe ich mich entschieden, den Stall nicht am selben Platz wiederaufzubauen, sondern statt dessen das Haus zu reparieren. Das ist aber auch schon wieder abgerissen, und mit den alten Steinen haben wir das neue gebaut. Jedenfalls hat mir mein Bruder gesagt...«
Der Sturm ging vorüber. Didi deutete zum Horizont im Osten, wo sich ein schmaler Streifen orangefarbenen Lichts in Regenbogen von stratosphärischen Eiskristallen brach. Die 747 tauchte in den Sonnenaufgang und überflog an der nordwestlichen Ecke des Bundesstaates Washington die Grenze zu den Vereinigten Staaten. Warmes Sonnenlicht fiel in Streifen an die Kabinenwand, während das Flugzeug nach Süden abdrehte und unter uns in der strahlenden Morgensonne Kaskaden von Berggipfeln auftauchten.
»Das ist unser Himalaja, unser ewiger Schnee«, erklärte ich Aama.
»Die Berge sehen aus wie Heuhaufen, die wir bei unseren Häusern aufschichten.« Sie lehnte sich ans Fenster, um die großartige Szenerie in sich aufzunehmen, allein mit dem Flugzeug, dem Himmel und der Erde. Leise sprach sie mit sich selbst: »Was geschah mit den Planeten am Tag meiner Geburt, daß ich jetzt hier bin? Was war an diesem Tag anders? Wie wird es sein, und wo werden meine Gedanken sein im Augenblick meines Todes?«
Mit Asien hinter und Amerika vor uns verließen Didi und ich das Exotische, während es für Aama umgekehrt war. Für uns bedeutete Amerika Vertrautheit und Bequemlichkeit, allerdings ließ sich auch eine gewisse Beklommenheit nicht verhehlen. Konnten wir mit dem Tempo und dem Professionalismus Amerikas, mit seinem Wortwörtlichnehmen ohne weiteres wieder Schritt halten? War unsere kritische Einstellung zu unserem Land vielleicht vor allem ein Symptom für unsere Angst, uns mit dem auseinandersetzen zu müssen, was wir durch das Leben im Ausland vermieden hatten?
Ich suchte Zuflucht in Gedanken über das, was Asien uns gelehrt hatte: daß Glück und innerer Friede - bei aller Unerreichbarkeit - kein Produkt von äußeren Ereignissen oder der Erziehung sind. Was uns als Menschen ausmacht, sollte letztlich unabhängig davon sein, wo wir uns befinden.
In Amerika würden wir nicht mit so vielen merkwürdigen Paradoxa konfrontiert sein. Als würde sie auf meine Gedanken antworten, sagte Didi: »Ich mag das Chaos und die Verrücktheit in Asien.« Als wir zur Landung auf dem Flughafen Seattle-Tacoma ansetzten, kam mir in den Sinn, wie ich einmal nach Pokhara in Westnepal geflogen war auf dem Weg zu Aama und mich mit einem jungen Sherpa-Piloten unterhalten hatte, während wir auf der Graslandebahn standen und darauf warteten, daß die Leute vom Bodenpersonal unser Gepäck entluden. Aber statt dessen fuhren sie Gepäckwagen voller Koffer zur Maschine für den Rückflug nach Katmandu.
»Warum laden sie nicht zunächst unser Gepäck aus, das wir aus Katmandu mitgebracht haben, bevor sie wieder für den Rückflug einladen?« fragte ich den Piloten.
»Pokhara hat nicht genug Gepäckwagen«, lautete die Antwort. »Wir müssen zuerst einladen, um die Wagen zu leeren.«
Amerikas Pünktlichkeit und Voraussagbarkeit würden unsere Reiseplanungen nach Kalifornien erleichtern, sofern wir überhaupt so weit kamen. Man konnte einfach telefonieren. Den ganzen Tag über gab es Wasser und Elektrizität von gleichbleibender Qualität. Die Menschen hielten sich an die Bedingungen einer Kultur, die auf Effizienz ausgerichtet war. Der Kapitalismus funktionierte. Ich fragte mich, ob Aama wohl spüren würde, auf was das Ganze beruhte beziehungsweise was ihm fehlte. Sie war gut dafür ausgerüstet, den Zustand dieses Landes vorurteilsfrei in Augenschein zu nehmen. Ihre Sichtweise wurde nicht dadurch beeinträchtigt, daß sie dringend Arbeit finden, sich eine Karriere aufbauen oder für sich und ihre Nachkommen die Existenz sichern mußte wie die wachsende Zahl der Einwanderer in diesem Land. Sie hatte keine Pflichten.
Aama stützte in der Einreisehalle die Arme auf den Tresen des Paßbeamten und erforschte den Mann samt seiner Umgebung mit den Augen wie Finger, die Blindenschrift lesen. Der Beamte blätterte unsere Pässe durch, ohne Fragen zu stellen. Aber Aama erkundigte sich bei ihm nach seiner Nationalität und ob er Kinder habe.
Ich war enttäuscht, daß mein Vater und meine Stiefmutter uns nicht abholen konnten, weil sie verreist waren. Aber als wir aus dem Zoll kamen, sahen wir unsere Freunde, Mrs. Withington und ihre Tochter Tori, in der Ankunftshalle hinter der Absperrung, wie sie uns mit kleinen US-Fähnchen zuwinkten.
In Katmandu war die amerikanische Flagge innerhalb der bombensicheren Abgrenzung der US-Botschaft aufgepflanzt; sie wehte an einem glatt lackierten Pfahl, den ein Adler krönte, und symbolisierte Macht und hochentwickelte Technologie. Jetzt, neben Tori und Mrs. Withington, repräsentierte das Fähnchen etwas anderes: Es war das Symbol für Zuhause. Mrs. Withington holte einen durchsichtigen Plastikbehälter mit Schokoladenkeksen aus ihrer Tasche, genau jene, die Tori schon vor zwanzig Jahren bei Wochenendausflügen dabeigehabt hatte - die Lieblingskekse. Aama schob die Lippen vor und schaute mit einem hungrigen und zustimmenden Blick zu Mrs. Withington auf.
Draußen vor dem Terminal trug mir die warme Luft die Gerüche von Douglastannen, Papiermühlen und einer Stadt am Meer zu. Aama atmete die Frische einer jungen Welt ein. Auch sie schien zu Hause zu sein - und jung.
»All meine Verwandten und Freunde sind vor mir gestorben. Ich konnte nicht sterben, wie es sich für eine alte Frau gehört hätte. Es war der Wille der Götter und des Schicksals, daß ich noch lebe, damit ich nach Amrika gebracht werden konnte, und jetzt stehe ich hier mit meinem Dharma-Sohn und meiner Schwiegertochter.«

Kapitel 4

Mit zurückgelegtem Kopf, den Jetlag in den Knochen, betrachtete Aama aus dem Fenster des Autos, das uns ins Zentrum von Seattle brachte, die vorüberziehende Landschaft. Von der Autobahn, die von oben in die Stadt mündete, hatten wir einen grandiosen Blick auf die futuristisch anmutende Stadt.
»Hare, Hare«, murmelte sie voller Staunen und Ehrfurcht halblaut vor sich hin, das Mantra zur Anrufung Vishnus. Didi, Tori und Mrs. Withington saßen vorne und tauschten Neuigkeiten und Erinnerungen aus, während sie gelegentlich einen Blick auf Aama warfen. Ich hatte mich zwischen Aama und das Gepäck geklemmt und konnte nur mühsam einen Platz für die Füße finden. Wir nahmen die Ausfahrt zur Third Avenue und fuhren langsam an eine rote Ampel heran.
»Bauen sie diese Stadt gerade erst auf?« fragte Aama. »Das ist ja alles neu hier. Die Leute sind wohl noch gar nicht eingezogen.«
Hmm. »Warum meinst du das?« fragte ich sie. »Wo sind denn die Menschen? Ich sehe nur Autos und Zement und hohe Gebäude. Wenn hier Leute wohnen würden, dann wären sie doch draußen auf den Straßen, und es gäbe Verkaufsstände, um die sich die Leute drängen.« Natürlich -selbst in einem kleinen Marktflecken - in den Bergtälern von Nepal wimmelt es von Menschen.
Tori fand einen Parkplatz und brachte die Sicherheitsvorrichtung an ihrem Wagen an. Vollgepackt mit Taschen und Koffern folgten wir Tori in ihre Stadtwohnung.
Endlich wieder Ruhe nach dem Dröhnen der Flugzeugmotoren und dem Lärm auf dem Flughafen und der Autobahn, der uns noch in den Ohren nachhallte. Aama streckte sich auf dem eleganten Sofa des Studios aus und beobachtete durch ein Dachfenster ein Stückchen Nordwesthimmel. Unter dem grünen Baldachin zweier tropischer Hartholzpflanzen hätte man meinen können, man befände sich in einem Wald.
»Das sieht nach einem guten Futterbaum aus. Werden die Zweige gestutzt?« fragte Aama, die infolge des Jetlags ihre Augen kaum mehr offenhalten konnte.
»Nein, nur wenn sie zu groß werden für das Zimmer.«
»Deine Freunde halten also keine Tiere?«
Tori brachte ein Tablett mit auf nepalesische Art zubereitetem Tee herein, sehr stark und mit viel Milch und Zucker, um ihn nahrhaft zu machen. Didi packte einen Koffer aus, und ich blätterte in einem Notizbuch. In einer anderen Ecke des Lofts telefonierte Toris Mann Bill und machte anscheinend irgendeinen Deal klar. Zwei weitere Gäste, die mit Bill an einem Fotoprojekt arbeiteten, werkelten an einem großen Tisch herum. Aama schlürfte ihren Tee und schaute zwischen uns hin und her in dem Versuch zu verstehen, wie unsere Aktivitäten wohl zusammenhingen. Schon fühlte ich mich wieder als Gefangener einer Kultur, in der die Sandkörner eines Stundenglases gekauft, verkauft, getauscht und oft verschwendet werden. Und wir waren doch gerade erst angekommen.
Wie ein vorsichtiger Archäologe ging Aama auf Entdeckungsreise und erforschte die Wohnung. Tori zeigte ihr den elektrischen Herd, und Aama fuhr mit der Hand langsam über die Metalloberfläche, um die unbekannten Gegenstände mit dem Tastsinn zu begreifen. Wie würde sie wohl angesichts des mühelosen Betriebs eines modernen Herds die lebenslange Plackerei mit Brennstoff empfinden, das Sammeln von Kuhfladen, von knorrigem, feuchtem Feuerholz, das Kleinhacken, das ewige Blasen beim Anzünden?
»Der Ofen muß wohl so groß sein, um den ganzen Brennstoff aufnehmen zu können«, vermutete Aama. »Wenn du mit dem Kochen fertig bist, mußt du das Feuer dann löschen, oder brennt es von selbst herunter?«
Tori drehte einen Knopf und führte das Gerät wie in einer Werbeveranstaltung im Fernsehen vor. Aama studierte die hellrote Heizschlange unter der Platte. Wunderbar, aber zu einfach, schien ihr Mienenspiel auszudrücken. Tore drehte den Wasserhahn auf und griff nach einem Topf. Aama kam näher, um zu beobachten, wie das Wasser in die Spüle lief.
»Habt ihr oben am Berg eine Quelle, oder tragt ihr das Wasser zu einer Zisterne auf dem Dach?«
»Unter der Erde ist die ganze Stadt mit Wasserröhren durchzogen, und so fließt das Wasser von allein in die Wohnung«, antwortete ich für Tori. »Sie müssen dafür bezahlen.«
Aama suchte Bestätigung bei Tori. »Kommen dann alle Leute aus der Stadt hierher, um ihre Wasserkrüge zu füllen?« Ich wollte schon antworten, doch Aama fielen die Augen zu. »Wenn es jetzt in Nepal Nacht ist, dann verwundert es auch nicht, daß ich am Tag schlafen will«, sagte sie müde.
In der Gästeecke des Lofts bereitete Didi das Bett für Aama, eine dicke Schaumgummimatratze mit Leintüchern. Sie schlug die Decke zurück und zeigte ihr das Bad am anderen Ende des Studios. Nach der Erfahrung im Flugzeug glaubten wir, sie würde die Funktion einer Toilette verstehen. Didi drückte den Spülknopf, damit Aama sehen konnte, wie das Wasser in einem Wirbel nach unten gesaugt wurde und verschwand - Trinkwasser, das dazu diente, Exkremente wegzuspülen. Didi ließ die Tür zum Badezimmer offen und das Licht an.
Die Badezimmerdemonstration war ein Signal für Aama, über die Regelmäßigkeit ihrer Verdauung zu sprechen - ein weitverbreitetes Altersproblem, wir wir feststellten.
»Blattgemüse sorgt für einen gleichmäßigen Rhythmus, aber meistens esse ich einfach das, worauf ich Lust habe oder was vor mich hingestellt wird - sogar Dinge, für die man eigentlich Zähne braucht. Es geht alles rein, und manches wird da drinnen zerkleinert und manches nicht.«
Didi brachte Aama ins Bett. Auch wir waren erschöpft und legten uns auf eine Matratze in der Nähe.
Um zwei Uhr früh wachten wir auf, weil jemand in der Wohnung rumkruschtelte. Aama lag nicht im Bett. Schritte waren im Studio zu hören und undeutliches Rascheln wie von kleinen Tieren. Sie hatte sich am Bad vorbei in den Wohnraum vorgetastet, wo die Mitarbeiter von Bill auf dem Boden schliefen. Einer von ihnen hatte das Badezimmerlicht ausgeschaltet und ihr damit die Orientierung genommen. Sie flüsterte leise vor sich hin:
»Wo ist diese Maschine, dieses Gefäß aus Knochen, in das die Leute hier im Haus urinieren? Warte... Was ist das? Warum läßt jemand ganze Haufen von Decken auf dem Boden liegen, ohne sie zusammenzufalten? Da sind ja Leute drunter! Bestimmt schlafen sie, wahrscheinlich sind es die Männer von Tori. Aber warum läßt sie beide Männer auf dem Boden schlafen? Oh, einer rührt sich. Er wird mich wahrscheinlich nicht verstehen. Aber was nun? ich muß doch Pipi machen, vielleicht finde ich eine Ecke, wo es niemand merkt. Ich könnte hinfallen.«
Didi führte sie zum Bad. Aama schloß die Tür, aber ihre Selbstgespräche waren immer noch zu hören. »Wo bin ich nur hingekommen. Kann sich irgendeiner im Dorf vorstellen, daß ich jetzt hier bin?« Sie öffnete leise die Tür, und Didi brachte sie ins Bett zurück.
Eine Zeitlang waren Aama und die Stadt unter den Fenstern des Lofts still. Dann begann sie plötzlich nirgun zu singen, eine Art religiöses Klagelied, mit einer gutturalen, fließenden Stimme. Die Pause zwischen jeder Passage war mit klingender Leere angefüllt. Auf mich übte es eine beruhigende Wirkung aus, und ich glitt bald in eine Art Traumzustand hinüber, in dem ich weder Spannung noch Genuß empfand. Genau dies war das Gefühl von nirgun, eines Zustandes ohne garn, das heißt ohne Form und ohne Eigenschaft.
In trauerndem Tonfall beschrieben Aamas Worte die Leere, die das Wesen unseres Intellekts ausmacht. Trotz unserer Fähigkeit, Wissen über das anzusammeln, was wir erfahren, sind wir letztlich unfähig zu erkennen, warum alles existiert und was geschehen wird; nur eins wissen wir sicher: daß alles ein Ende nimmt. Unsere Gedanken, unsere Körper und das Leben, das ihnen eingehaucht ist, sind nicht mehr als ein Tropfen Wasser auf dem Blatt einer Lotusblüte. Der Tropfen ist vollkommen in seiner Rundheit und Schönheit und reflektiert das gesamte Spektrum des strahlenden Lichts. Aber schon ein kleiner Windhauch läßt ihn herabfallen, und er wird eins mit dem Wasser darunter. Der Tropfen ist vom Wasser nicht mehr unterscheidbar und läßt nichts zurück, nicht einmal Feuchtigkeit auf dem Lotusblatt.
Während der vergangenen Monate hatte ich meinen verbeulten, zweifarbigen Ford Sedan LTD aus dem Jahr 1968 mit dem Spitznamen Straßenfeger bei einem Freund im Hof abgestellt. In der Hoffnung, daß sich das Vehikel in der Zwischenzeit von den Strapazen erholt hatte, die es durch mich erdulden mußte, schloß ich die Batterie an. Es sprang tatsächlich keuchend und spuckend an und schien erpicht darauf, nach dem Winterschlaf im regnerischen Nordwesten wieder aktiv werden zu dürfen. Auch wenn das Gefährt einmal bequem und respektabel gewesen sein mochte, so würde es auf Didi wohl keinen großen Eindruck mehr machen, da sie sich gerne gut anzog und Gefallen an einem gehobenen Lebensstil fand - Dinge, die ich großenteils für Zeitverschwendung hielt. Ich verklebte die zerschlissenen Sitze mit Klebeband und warf eine tibetische Decke darüber, der übliche Überzug von armen Leuten.
»Aama braucht bessere Schuhe«, sagte Didi unvermittelt zu mir, als ich ins Loft zurückkehrte. Sie brannte darauf, in die Stadt zu gehen und Dinge zu kaufen, die wir in Asien nicht bekommen konnten. Vom Fenster im fünften Stock schaute sie auf den Ford hinunter, den ich am Straßenrand geparkt hatte, und ich erwartete ihren Kommentar. Sie stöhnte nur leicht auf. Türkis und Elfenbein waren, das mußte ich zugeben, noch nie besonders tolle Autofarben gewesen.
Wir halfen Aama vorne in den Wagen und fuhren quer durch die Stadt zu Nordstroms Supermarkt. In der Schuhabteilung probierte sie fünf verschiedene Paare von gestylten, engen Turnschuhen an, die für jugendliche Jogger entworfen waren, deren Füße vom Säuglingsalter an in diesen Laufwerkzeugen steckten. In der Nähe waren die Damenschuhe fein aufgereiht. Sie nahm einen Stöckelschuh in die Hand, untersuchte ihn von innen und außen und klopfte mit der Absatzspitze wie ein Buntspecht aufs Regal.
»Die sehen aus wie die Schnäbel von Fischreihern, die durch unsere Reisfelder staksen auf der Jagd nach Fischen und Insekten. Diese Spitzen würden wahrscheinlich abbrechen, wenn man sie bei uns in den Bergen tragen würde - was arbeiten die Leute damit?«
Kein Schuh paßte. Bevor wir aufgaben, unternahm Didi noch einen Versuch in der Kinderabteilung und suchte ein Paar breite, weiche Bubenschuhe mit Klettverschluß in unauffälligem Blau aus.
Wir stiegen in den kostenlosen Pendelbus des Einkaufszentrums, der uns vier Blocks weiter zum Bauernmarkt am Pike Place brachte. Aama gab die Stadt noch immer Rätsel auf.
»Was ist hier los? Die ganze Zeit ist ein Geräusch da, überall, wo wir hingehen, ngyung-ngyung-ngyung, wie eine Mühle, die sich dauernd dreht und Korn mahlt. Verursachen die Gebäude dieses Geräusch, oder ist es der Wind, der hindurchbläst?« Sie lehnte sich gegen die Sitzgurte über Didi hinweg zum Fenster und schaute zu den Wolkenkratzern hinauf.
»Diese Häuser sind nicht gerade klein. Wie schaffen es die Leute nur, da hinaufzuklettern? Ihnen wird bestimmt schwindlig, aber sie sind ja dazu gezwungen, um zur Arbeit zu kommen. Diese ganzen Treppen! Und wie kann man überhaupt mit Holz so hohe Häuser bauen?«
»Sie sind aus Metall und Zement«, erklärte Didi.
»Gut, das hält länger als Holz.«
Vier Häuserblocks weiter stiegen wir beim Pike-Place-Bauernmarkt aus. Wir tauchten in die quirlige Menschenmenge ein und schlenderten an den Obstständen, den Topfpflanzen und Schellfisch auf Eis vorbei. Für einen Straßengitarristen kramte Aama ein paar Münzen aus der Schärpe, als sie seinen Hut auf dem Bürgersteig liegen sah.
»Gibt es hier viele Bettler?« fragte sie.
»Ja, es gibt einige, besonders in den großen Städten. Aber die Armen betteln nicht an der Haustür. Hier werden sie über die Steuern unterstützt.«
Ein Blumenstand fiel Aama ins Auge, an dem eine Frau mit einem Strauß in der Hand gerade dem Verkäufer das Geld über den Tisch reichte. »Und sie verkaufen hier sogar Blumen!« Ihre Feststellung erinnerte mich daran, wie ich versucht hatte, ein paar Nachbarmädchen davon abzuhalten, für eine Opfergabe die letzten Ringelblumen am Rand von Aamas kleinem Garten abzupflücken. Deswegen war ich von Aama gerügt worden. Für Rituale und Opfergaben dürfen niemandem Blumen verweigert werden - im Gegenteil: Jeder soll pflücken dürfen, was er will.
Staunend schaute Aama den Leuten nach, die an ihr vorbeigingen, wobei ihr ganzer Oberkörper der Drehung des Kopfes folgte. »Die Leute hier in Amrita sind dick und groß. Warum wohl? Vielleicht liegt es am Essen. Es schmeckt gut, aber mir ist nichts Besonderes aufgefallen, wodurch das kommen könnte. Wahrscheinlich sind es das Obst und das Fleisch, welche die Menschen so lang machen und ihre Haut weiß.«
Manche Passanten blieben stehen und lächelten übers ganze Gesicht, entwaffnet von Aamas kindlicher Offenheit. Mit ihrem buntbedruckten Sarong und der Samtbluse paßte sie bestens zwischen die bunten Obst- und Blumenstände. Wir saßen auf einer Bank, und sie griff nach Didis Haaren. Didi öffnete sie, und Aama ließ ihre Hände behutsam hindurchgleiten; dann band sie sie wieder in einem lockeren Knoten nach oben. Zwei Frauen in meiner Nähe schienen zu fürchten, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugehe. »Vielleicht verhext sie das Mädchen«, tuschelte die eine der anderen zu.
»Siehst du den Mann mit dem roten Gesicht?« fragte Aama. »Warum lassen hier manche Leute die Haare an der Seite und hinten stehen und rasieren oben den Kopf?« Ich dachte einen Augenblick nach und konnte mich nicht erinnern, in Nepal je einen Mann mit Glatze gesehen zu haben. Mußte wohl an den Genen liegen.
Didi und Aama kauften Fisch und Gemüse, während ich das Auto holte. Als wir gemütlich zu Bill und Toris Wohnung zurückfuhren, fiel Didi auf, daß durch den Unterboden Staub ins Auto eindrang. »Du wirst wohl ein neues Auto auftreiben müssen, bevor wir die Stadt verlassen«, meinte sie. »Aama und ich fahren in dieser stinkenden Schrottkarre jedenfalls nicht nach Kalifornien.«
»Ich überleg's mir«, antwortete ich entgegenkommend, denn auch mir war klar, daß der Straßenfeger demnächst sein Leben aushauchen würde. Allerdings paßte es mir nicht, daß Didi sich anmaßte, für Aama zu sprechen. Es war unwahrscheinlich, daß Aama der Unterschied zwischen dem LTD und einem neueren Wagen überhaupt auffallen würde, und auf jeden Fall würde sie ein größeres Fahrzeug einem kleineren vorziehen.
Als wir einparkten, rief Bill von oben herunter, es sei jemand für mich am Telefon. Wir traten in die Eingangshalle des Lofts, und ich schaute die Treppen hinauf - vier Stockwerke! Ich atmete tief durch, kniete mich hin und forderte Aama auf, auf meinen Rücken zu klettern. Wie selbstverständlich verschränkte sie die Hände und legte sie einem Tragriemen gleich über meine Stirn. Mit einer Hand an ihrem Fußgelenk und der anderen auf dem Geländer schleppte ich sie nach oben. Aamas Stimme dröhnte hinter mir, als käme sie aus Kopfhörern. Sie flehte die Götter an, ihr begreiflich zu machen, wie es möglich sei, daß ihr ein Dharma-Sohn wie dieser zugefallen sei - einer, der sie nährte und kleidete und sie jetzt sogar auf seinem Rücken trug. Ihr Stolz verbat ihr, sich noch einmal von mir tragen zu lassen - worüber ich nicht unglücklich war: Ich konnte ohne die Last auskommen und ohne die Bewunderung.
Die Anzeige in der Zeitung von Seattle lautete: »Familienwagen. PS..., Baujahr..., bester Zustand... $ 1600«. Ich rief dort an, dann fuhren Didi und ich zu einem Vorort auf der Ostseite des Lake Washington. Seattles Vororte waren längst größer als die Stadt selbst, eine traurige moderne Version der alten Geschichte von den Kindern, die ihre Eltern verschlingen. Die Frau öffnete das elektrische Garagentor und tastete nach dem Lichtschalter. Didi und ich kletterten in einen rotbraunen Ford-Kombi, ausgekleidet mit einer Plastikholzimitation aus den späten siebziger Jahren. Es erübrigte sich zu fragen, warum sie verkauften, denn daneben stand eine geräumige und gepflegte Familienkutsche, eine eindeutige Verbesserung gegenüber unserer Kiste. Wir drängelten uns mit dem Kombi durch den Vorortverkehr auf die Schnellstraße zu einer Testfahrt nach italienischem Vorbild: Didi spielte mit den Knöpfen und überprüfte die elektrischen Sitze und Fenster, während ich abwechselnd das Gaspedal durchdrückte und voll auf die Bremsen trat und - ganz Ohr - mit hoher Geschwindigkeit scharfe Kurven nahm. Der Motor blieb bei seinem gleichmäßig tiefen Brummen und reagierte geschmeidig auf meine Attacken. Klang gut. Dazu gab es auf der Vorderbank noch drei Sitzgurte. Die Frau nahm einen Scheck an, und wir hatten einen Straßenfegersohn.
Am nächsten Morgen erzählte uns Aama, noch bevor wir richtig wach geworden waren, was sie in der Nacht gesehen und gehört hatte. Schamanen und Verwandte aus dem Dorf waren über ihre Felder gegangen. Jeder von ihnen hatte etwas zu sagen, und zwar ausnehmend Gutes. Dennoch fürchtete sie, daß sie vor ihr etwas verheimlichten. Sie streckte die Arme nach ihnen aus, aber sie gingen weg, bevor sie mehr herausbringen konnte. Auch ihre Tiere liefen vor ihr davon. Sie erinnerte mich daran, daß die Gurung schlechte Bilder in Träumen als gute Omen erachten. Ein toter Körper ist ein positives Vorzeichen, eine Hochzeit nicht. Besonders günstig ist es, Wasser in einer Kupferurne zu sehen.
Ich hatte mich in einem ähnlichen Angsttraum herumgewälzt. Mein Handgepäck war auf dem Flughafen verlorengegangen. Ich wußte genau, wo es war, konnte aber einfach nicht zu ihm gelangen. Noch ein paar Tage, dann würden wir wieder durchschlafen. Jetzt lagen wir nachts noch oft wach, und ich versuchte Didi von einer wissenschaftlichen Untersuchung zu überzeugen, der zufolge Sex das beste Heilmittel gegen Jetlag sei. Wieso sich das so verhielt, war noch nicht bekannt; ebensowenig wußte ich, wo der betreffende Zeitungssausschnitt geblieben war.
»Ich möchte warten, bis wir ein Zimmer für uns haben«, meinte Didi, wie erwartet. »Und ich bin auch nicht in der Stimmung, weil es mich müde macht, ständig für Aama zu sorgen.«
Die Müdigkeit, sagte ich ihr, sei eher eine Folge des Jetlags. »Ich helfe dir mehr, wenn wir unterwegs sind.«
Nach dem Frühstück packten wir ein und nahmen Aama an Bord. »Das ist ein neues Auto«, sagte ich mit Befriedigung über die solide Neuerwerbung, »und damit fahren wir zu unseren Verwandten.«
»Können wir nicht zu Fuß gehen?«
»Nein, denn zuerst müssen wir meine Kleider und sonstige Sachen in einem Haus abholen, wo ich sie gelagert habe. Dann besuchen wir eine von Didis Schwestern mit ihren Töchtern, danach meine Tante und meinen Onkel mütterlicherseits -Farmer, die auf der anderen Seite des Gebirges leben, das wir aus dem Flugzeug gesehen haben. Von dort fahren wir ein paar Tage lang nach Süden zu Didis Mutter.«
Didi forderte Aama auf, stillzuhalten, während sie den Sicherheitsgurt anlegte. »In einem Monat oder so sind wir wieder da«, rief ich durch die Tür nach draußen, während ich herauszufinden versuchte, mit welchem der glänzenden Chromknöpfe sich das Fahrerfenster öffnen ließ. Wir winkten Tori und Bill zum Abschied. Meine Campingsachen waren bei Freunden, Ann und Greg, untergebracht, die am Rande einer Kuhweide oberhalb des Puget Sound lebten.
»Oh nein!« rief Aama. Ich zuckte dabei jedesmal zusammen. Sie schaute an sich herunter, als würde sie zum erstenmal den Sicherheitsgurt bemerken. »Jetzt habe ich den großen Gürtel, den ich im anderen Auto anhatte, aus Versehen mitgenommen.« Ich achtete darauf, daß Didi zuhörte, und fragte dann Aama, ob ihr das neue Auto besser gefalle als das alte.
»Beide sind gut. Hab' mir nicht träumen lassen, je in einem Auto zu fahren; da ist eins so gut wie's andere, auch wenn dieses größer ist. Wenn ich wieder in Nepal bin, dann behältst du das alte Auto, und ich fahre mit diesem zum Dorf hinauf- ich kann mehr Gras und Feuerholz darin unterbringen.«
Wochenendausflügler auf dem Weg zur Olympic Peninsula drängelten sich an der Fähre nach Mukilteo. Wir hielten in der Warteschlange für die Autofähre, und Didi ging zur Toilette einer Austernbar neben dem Dock. Sie kam mit drei Softeistüten zurück und drückte Aama eine in die Hand.
Willkommen in Amerika, dachte ich. Die Sonne strahlte von einem patriotisch blauen Himmel, vor dem Marineflaggen wehten und Möwen langsame Kreise zogen. Auf dem Pier standen Touristen in Shorts und Sandalen, die ihr Popcorn mit den Möwen teilten. Aama sah Didi zu, wie sie die weiche Spitze ihrer Eistüte ablutschte, und tat das gleiche. Auf den Geschmack gekommen, streckte sie die Zunge bis zur Unterkante des Kinns heraus und leckte wie ein Leopard aus einer Milchschüssel. Sie schaute lächelnd und voller Befriedigung zu Didi auf und leckte dabei immer weiter von einer Seite - Götterspeise für die Zahnlosen. Allmählich nahm der verbliebene Eiskegel eine gefährliche Schräglage ein.
»Du mußt die Tüte beim Essen drehen«, erklärte ihr Didi. Aama schöpfte Atem und beobachtete, wie ich in die Zuckertüte biß und sie im nächsten Augenblick in meinem Bauch verschwunden war. »Was? Du ißt den Griff?« rief sie aus. Sie erklärte, daß sie genug habe, und bat Didi, den Rest in ihrer Handtasche aufzubewahren. Mit einem mütterlichen Seufzer reichte mir Didi die Eistüte. Ein Bediensteter in einer reflektierenden Weste winkte uns auf die Fähre. Aama richtete sich auf und schaute über die Motorhaube aufs Wasser. Mehrere Boote glitten in der Ferne lautlos vorbei und spiegelten sich in der Windschutzscheibe.
»Hier ist ja noch ein Schiff, das ist doch nicht dasselbe?« fragte sie und wußte nicht recht, wohin sie zeigen sollte.
»Also, Aama, wir sitzen in einem Auto, und das Auto steht jetzt auf einem Boot, und das da drüben sind andere Boote.« »Ahhn«, seufzte sie - eine Silbe, die ausdrückte, daß sie sich in die Komplexität, die ihr Leben plötzlich angenommen hatte, hineinschickte.
Die Aufzugtüren glitten leise summend nach außen, und drei Leute traten herein. Didi mußte noch einmal zum Auto, um sich einen Pullover zu holen, und Aama schaute zu, wie sich die Türen schlössen. »Gleich steigen wir auch ein«, sagte ich, »aber wir warten noch auf Didi.« Wieder öffneten sich die Türen. Aama breitete die Arme aus, um sie offenzuhalten, und beugte sich vor. Sie sah besorgt aus. »Aber wo sind die Leute, die hier gerade eingestiegen sind?«
»Das Zimmer ist hinaufgefahren, und oben haben sie es verlassen, dort, wo sich die Leute hinsetzen, während das Schiff übers Wasser fährt.« Wir gingen hinein, die Türen schlossen sich, und der Aufzug surrte nach oben. »Wahrscheinlich werden wir hier gewogen, damit wir wissen, wieviel wir für die Schiffsfahrt bezahlen müssen. Ich glaube, wir sind jetzt wirklich auf dem Schiff. Nein, wir sind doch gerade aus dem Auto ausgestiegen, nah am Wasser. Ob das Auto auch dorthin fährt, wo wir hinfahren? Wenn das ein großes Boot ist, dann wird es nicht kentern - zum Glück, denn ich kann ja nicht schwimmen...«
Während die Fähre sanft vom Ufer wegglitt, stiegen wir die Treppe zum Deck hoch. Die Bäume und Häuser von Whidbey Island waren über die Meerenge deutlich sichtbar. »Das muß Malaysia sein«, erklärte Aama mit Bestimmtheit. »Wir fahren nach Westen, und es hat immer geheißen, Malaysia sei im Westen von Hongkong und Amrita. Werden wir Gurkha-Soldaten treffen, die dort stationiert sind?« »Malaysia liegt viel weiter im Westen, Aama. Auf dieser Reise kommen wir da nicht hin«, sagte ich und war ebenso enttäuscht wie sie, daß es in den Vereinigten Staaten keine Angehörigen der renommierten Gurkha-Regimenter der britischen Armee gab.
Der Straßenfegersohn fuhr über die Landstraße der Insel bis zu einer schmalen Abfahrt, die zu Ann und Gregs Haus führte. Wir holperten über die Furchen, die schmalere Fahrzeuge in den Weg gegraben hatten, und erreichten den Parkplatz, wo uns Ann und Greg entgegenkamen.
»Das ist also eins deiner Häuser, und das sind die Hausmeister, wenn du in Nepal bist«, sagte Aama zu mir - glücklicherweise auf Nepali. Andrew und Adrienne, vier und sechs Jahre alt, verhielten sich ungewöhnlich still, aber nur, um die Reaktion ihrer Eltern auf Aama abzuwarten, die jedoch lebhaft und freundlich verlief.
Die Kinder führten Aama zur Klippe, von der aus man über das Meer schauen konnte, den Hauptkanal für den Schiffsverkehr. Die Olympic Mountains erhoben sich elegant im Westen, ungefähr in der gleichen Entfernung wie die Himalajagipfel von Aamas Dorf. Aama ließ ihren Blick über die bewaldeten Hügel des Olympic National Park am Fuß der Berge schweifen. »Dann ist also das Malaysia«, erklärte sie mit Entschiedenheit. »Und es scheint doch gar nicht so weit weg zu sein!«
Sie inspizierte das mit Zedernschindeln gedeckte Haus von Ann und Greg. »Nani«, wandte sie sich an mich, »wenn du genug Geld hast, dann kannst du dir ein Blechdach drauf machen lassen.« Wellblechdächer waren zu meinem Kummer in ihrem Dorf beliebt geworden. Sie warfen das Sonnenlicht hart zurück und verursachten einen fürchterlichen Lärm bei Hagelstürmen. Die meisten jungen Männer im Dorf hatten kein Interesse mehr daran zu lernen, wie man ein Dach mit Stroh deckte, und Aama sagte, sie glaube sowieso nicht, daß sie es richtig machten. Die Kinder holten sich Töpfe und rannten damit hüpfend und stolpernd in den Garten, um Erbsen und Bohnen zu pflücken. Sie winkten Aama zu, und sie ging ihnen nach. So hockten die drei zwischen den Reihen, und Aama sorgte dafür, daß alle reifen Früchte sorgfältig abgeerntet wurden.
Eins der Kinder deutete auf eine Schnecke.
Aama sagte: »Heb sie auf. Wir können sie braten und essen. Sie sind auch gute Medizin für Verstauchungen und Blutergüsse. Du trocknest sie, mahlst sie und mischst sie mit Brennesseln und Maismehl, bevor du sie ißt. Aber bei Tuberkulose verzehrt man sie am besten roh oder wenn sie noch leben.« Ich übersetzte den Kindern Aamas Ratschlag.
Andrew hielt sich die Hand vor den Mund, als müsse er sich übergeben, und beide verzogen vor Grausen das Gesicht.
»Manche Leute mögen den Geschmack«, fuhr Aama fort, »und sie jagen nach ihnen. Andere ekelt es, und man muß ihnen die Schnecken so geben, daß sie nicht merken, was es ist.« Sie hob die Schnecke hoch und klemmte sie zwischen zwei große Steine.
Die Sonne hing wie eine Christbaumkugel hoch über den Olympic Mountains, obwohl es schon nach neun Uhr abends war. Ann und Didi deckten den Tisch, und wir setzten uns zum Abendessen hin - unsere dritte Nacht in Amerika.
»Ich habe keinen Hunger«, rief Aama aus dem Wohnzimmer. »Eßt ruhig allein, ich bleibe hier drüben. Setze ich mich jetzt zu euch an den Tisch, so läuft mir vom Geruch und von den Essensgeräuschen das Wasser im Mund zusammen, und dann esse ich doch mit, obwohl ich keinen Hunger habe.«
Vielleicht war ihr nicht gut, oder sie wollte höflich sein. »Komm trotzdem zu uns«, sagte ich, obwohl ich wußte, daß das Essen für Nepalesen - obwohl sie ein Leben in der Gemeinschaft praktizieren - keine soziale Angelegenheit war. Aama empfand es vielleicht als unangenehm, sich mit Männern an einen Tisch zu setzen, denen das Essen normalerweise serviert wird, bevor die Frauen anfangen. In ihrer Dorfküche pflegte Aama zunächst einen Löffel auf einem Teller zum Feuer zu stellen für ihre Ahnen, dann ein wenig in die Feuerstelle für Agni, den Gott des Feuers, und anschließend bekamen die männlichen Gäste die ersten großen Portionen.
»Was wir nicht aufessen, wird vielleicht weggeworfen«, sagte ich, wohlwissend, daß Aama so etwas ganz unmöglich finden würde. Didi und Ann holten sie an den Tisch. Sie nahm den Löffel in die Hand, zögernd und vorsichtig, aber schon bald wuchs ihr Appetit. Sie füllte ihren Teller ein zweites Mal voll, leerte auch diesen und rülpste. Ann reichte ihr noch einmal die Schüssel. »Nein, ich bin satt. Beim Essen ist dann doch der Hunger gekommen.« Sie lächelte befriedigt.
»Wenn die, die niemals haben, finden, dann essen sie den Apfel mit dem Kern.« »Ihr jungen Leute werdet immer größer mit dem Essen, und ich werde immer kleiner. Was hat Ann ins Essen getan, daß es so gut schmeckt? Diesmal war jedenfalls genug Salz dran.«
»Hier, nimm dir noch mal«, drängte ich sie. Im Dorf galt es als höflich, den Gästen Essen aufzunötigen; es wurde erwartet, auch wenn diese Sitte langsam außer Gebrauch kam. Um etwas zu bitten oder zu sagen, was man dachte, wäre jedoch unhöflich. »Übrigens, Aama, du weißt doch, die Schnecken, die du gefunden hast? Wir braten sie in Butter zum Nachtisch, also laß noch ein bißchen Platz.«
»Ich dachte, die Kinder hätten sie weggeworfen. Ich habe sie nicht mehr gefunden«, sagte Aama ganz ernst, füllte dann den Vorlegelöffel mit Kartoffeln und Karotten, den sie, um nichts zu verschütten, mit beiden Händen festhielt und zu meinem Teller führte. Auch Didi und Greg noch einen Nachschlag. Andere kamen immer zuerst.
Greg und Ann sprachen über das Leben auf der Insel. Einerseits waren sie glücklich über die Abgeschiedenheit, aber gleichzeitig sehnten sie sich nach mehr Gesellschaft. Ann meinte, sie seien hier isolierter als Didi und ich in Nepal. Während wir uns unterhielten, beobachtete Aama unsere Bewegungen und Verhaltensweisen. Sie amüsierte sich darüber, daß wir unsere Worte vollständig im Mund bildeten, anstatt in der Brust und im Bauch, und wunderte sich, daß sie trotzdem nützliche Informationen übermitteln konnten. Als die Unterhaltung einmal ins Stocken kam, fing sie an zu kichern. »Was ist so lustig?« fragte ich sie. »Ich...«, sie zögerte, lachte ein bißchen verlegen und sah mich dann mit diesem bestimmten Blick an, der Vertraulichkeit verlangte. Ich lehnte mich zu ihr, und sie setzte wieder an: »Ich weiß, wann ihr über mich sprecht, weil ich höre, wenn ihr meinen Namen in das ganze Kauderwelsch hineinmischt. Weißt du, ich bin mir nicht sicher, ob ihr nicht darüber redet, wie ihr mich zerschneidet und aufessen könnt.«
Als ich zum erstenmal in ihr Dorf kam, ergriff mich auch dieses unbehagliche Gefühl. Bestimmt haben die Bewohner vor, mich auszurauben, oder - was noch schlimmer wäre - mich lächerlich zu machen. »Du hast recht«, gab ich lächelnd zurück. »Aber Ann und Greg sind der Meinung, daß du nicht viel Fleisch hergibst - so dünn, wie du bist. Deswegen füttern wir dich so gut, obwohl du doch gar keinen Hunger hattest, damit du ein bißchen fetter wirst.« Die Leute in Aamas Dorf hatten ähnlich geantwortet, als ich einmal ihr Gespräch unterbrach, um zu fragen, worüber sie redeten. Aama lachte, schaute dann auf ihren kleinen, vorgewölbten Bauch und zwinkerte jedem in der Runde zu.
Ann brachte die Kinder ins Bett. »Mom, hast du auch solche Ohrringe wie Aama?« fragte Adrienne ihre Mutter beim Gutenachtsagen. Und bevor Ann antworten konnte: »Wie ist es, wenn man stirbt, Mom?« »Ich weiß nicht, Liebes.« »Ist Aama schon mal gestorben?« »Was meinst denn du?« »Ich glaube schon, weil sie so altertümlich ist.« Ann erzählte mir später, daß sie dieses Wort - altertümlich - noch nie aus dem Mund von Adrienne gehört habe, doch Adrienne habe nach jemandem gesucht, der gestorben und wieder zurückgekommen sei, weil sie das beruhigt hätte. Ich sagte Ann, daß Aama und die Gurung daran glauben, daß wir alle sterben und wiederkommen - und sicherlich nicht zum letztenmal.