Marie Ferre, meine geliebte Freundin, hatte bereits einige Bruchstücke gesammelt; dieses Strandgut soll ihren Namen führen, den auch meine liebe und gute Mutter trug.
Mein Leben setzt sich aus zwei ganz unterschiedlichen Abschnitten zusammen: sie stehen zueinander in vollkommenem Gegensatz; der erste ist ganz Traum und Studium, der zweite ist voller Geschehnisse, als wären die Sehnsüchte der Ruheperiode in der Kampfperiode zum Leben erwacht.
In diesem Bericht werde ich die Namen von Personen, die ich längst aus den Augen verloren habe, so wenig wie möglich einflechten, um ihnen nicht die unangenehme Überraschung zu bereiten, daß man sie des Einvernehmens mit Revolutionären beschuldigt.
Wer weiß, ob nicht gewisse Leute sie des Verbrechens anklagen würden, mich gekannt zu haben, und ob sie nicht als Anarchisten beschimpft würden, ohne daß sie recht wüßten, was das ist?
Mein Leben ist voll von packenden Erinnerungen; ich werde sie oft ohne Plan, wie sie mir einfallen, erzählen: und wenn ich mir das Recht herausnehme, meine Gedanken und meine Feder vagabundieren zu lassen, so wird man mir zugestehen, daß ich es teuer bezahlt habe.
Ich gestehe, daß auch Gefühl dabei sein wird; wir Frauen haben nicht den Anspruch, uns das Herz aus der Brust zu reißen, wir finden das menschliche Wesen - fast hätte ich die menschliche Dummheit gesagt - auch so unvollkommen genug; wir ziehen es vor, ebenso mit dem Gefühl zu leiden und zu leben wie mit dem Verstand.
Auch wenn sich in diese Seiten etwas Bitterkeit einschleichen wird, so wird jedoch kein Tropfen Gift daraus fallen: - ich hasse die verfluchte Gußform, in die uns die jahrhundertealten Irrtümer und Vorurteile hineinpressen, jedoch glaube ich kaum, daß wir dafür verantwortlich sind. Es ist nicht die Schuld der menschlichen Rasse, wenn man sie ewig nach einem so erbärmlichen Vorbild knetet und wenn wir uns, den Tieren gleich, im Kampf ums Dasein aufzehren.
Wenn sich alle Kräfte gegen die Hindernisse richten, die der Menschheit Fesseln anlegen, wird sie den Sturm überwinden.
In unserem ständigen Kampf ist und kann das menschliche Wesen nicht frei sein.
Wir befinden uns auf dem Floß der Medusa[1]; es reicht eben noch dazu, diesem düsteren Wrack, das inmitten der Brandung vor Anker liegt, etwas Freiheit zu lassen. Wir handeln wie Schiffbrüchige.
Wann, du schwarzes Floß! wird man das Tau durchschneiden und die neue Legende singen?
Darüber dachte ich auf der Virginie[2]nach, während die Matrosen die Anker lichteten und die Bardits d'armor ***211.1.3 sangen:
Bac va lestr ce sobian hac ar mor cezobras![4]
Der Rhythmus, der Klang vermehrte die Kräfte; das Tau wurde aufgerollt, die Männer schwitzten; ein dumpfes Ächzen entrang sich dem Schiff und der Brust.
Wir auch, unser Schiff, wie das des alten Bardit der Meere, sind klein, und das Meer ist groß!
Aber wir kennen die Legende der Piraten: wende deinen Bug in den Wind, sagten die Meereskönige, alle Küsten gehören uns!
Mir fällt wieder ein, daß ich meine Erinnerungen schreibe; ich muß also von mir sprechen: Bei allem, was mich persönlich betrifft, will ich furchtlos und offen sein, ohne dabei die Menschen, die mich erzogen haben (in der alten Ruine von Vroncourt[5] in der Haute-Marne, wo ich geboren bin) aus ihrer Abgeschiedenheit, die sie liebten, herauszuzerren.
Die Kriegsgerichte von 1871 haben sie respektiert, als sie mein Leben bis zur Wiege sorgfältig durchstöberten: nicht ich werde den Frieden ihrer Asche stören.
Das Moos hat ihre Namen auf den Grabsteinen verwischt; das alte Schloß ist verfallen; aber ich sehe noch das Nest meiner Kindheit und meine Erzieher, die sich über mich beugten, vor mir; sie werden oft in diesem Buch erscheinen.
Leider bleibt von der Erinnerung an die Toten, von dem verflogenen Gedanken, von der vergehenden Stunde nichts zurück!
Nichts als die zu erfüllende Pflicht und das Leben, das man unerbittlich leben muß, damit es sich schneller erschöpft.
Jedoch warum sich selbst bedauern inmitten des allgemeinen Schmerzes? Warum bei dem Wassertropfen haltmachen? Blicken wir auf den Ozean!
Ich wollte, daß meine drei Verurteilungen meine Erinnerungen begleiten.
Für uns ist jedes Urteil das Entern eines Schiffes, wo die Fahne weht; möge diese Fahne mein Buch bedecken, wie sie mein Leben bedeckte, und wie sie über meinem Sarg wehen wird.
Ich habe die Urteile der Gazette des ...buneaux entnommen, die man nicht verdächtigen kann, uns zu sehr wohlgesinnt zu sein (bis auf das zweite, das darin nicht veröffentlicht wurde, da es nur polizeigerichtlich gefällt wurde).
Für das Volk, die große Masse, meine Geliebte, werde ich Bemerkungen hinzufügen, die ich den Richtern nicht dachte mitteilen zu müssen. Diese wird man mit den Urteilen am Ende des Buches finden.
II
Das Nest meiner Kindheit hatte vier eckige Türme, die so hoch wie das Gebäude selbst waren, mit Dächern, wie sie Glockentürme haben. - Die fensterlose Südseite und die Schießscharten der Türme gaben ihm, je nach Standort, das Aussehen eines Mausoleums oder einer Festung.
Früher hieß es das Festungshaus; in der Zeit, in der wir es bewohnten, habe ich oft gehört, wie es die Gruft genannt wurde.
An der Ostseite dieser gewaltigen Ruine, wo der Wind durchpfiff wie auf einem Schiff, lagen die Weinberge und das Dorf, von denen sie durch einen Rasenweg getrennt war, der breit war wie eine Wiese.
Am Ende des Weges, der die Routote genannt wurde, lief der Bach entlang der einzigen Straße des Dorfes. Im Winter schwoll er an; man legte Steine hinein, um ihn zu überqueren.
Im Osten der Vorhang der Pappeln, in denen der Wind so leise säuselte, und die blauen Berge von Bourmont.
Als ich Sydney erblickte, das von bläulichen Gipfeln umgeben ist, erkannte ich (vergrößert) die heimatlichen Bergkämme wieder, die der Cona überragt.
Im Westen die Hügel und Wälder von Suzerin, von wo die Wölfe, zur Zeit der großen Schneefälle, durch die Mauerspalten in den Hof eindrangen und heulten.
Die Hunde antworteten ihnen mit wütendem Gebell, und dieses Konzert dauerte bis zum Morgen; es paßte gut zu der Ruine, und ich mochte diese Nächte.
Ich liebte sie besonders, wenn der Nordwind tobte und wir, die ganze Familie, in dem großen Saal beisammensaßen und bis spät in die Nacht lasen; eine Inszenierung, die bei uns im Winter in den hohen kalten Räumen üblich war. Das weiße Leichentuch des Schnees, die Chöre des Windes, der Wölfe, der Hunde hätten genügt, um mich ein wenig Dichterin werden zu lassen, wären wir es nicht alle seit der Wiege gewesen: es war ein Erbe, das seine Geschichte hat.
Es war eiskalt in diesen Riesenräumen; wir setzten uns um das Feuer herum: mein Großvater in seinen Sessel, der zwischen seinem Bett und einem Haufen Gewehre aus allen Zeiten stand; er hatte ein großes Schleppkleid aus weißem Flanell an und Holzschuhe, die mit Schaffell besetzt waren . Auf diesen Holzschuhen saß ich oft und kuschelte mich - fast in der Asche - mit den Hunden und den Katzen.
Es gab eine große spanische Hündin mit langem gelbem Fell und zwei andere Schäferhündinnen, die alle drei Presta hießen; einen schwarzweißen Hund, den wir Medor nannten, und eine ganz junge Hündin, der wir den Spitznamen la biche[1] gegeben hatten, in Erinnerung an eine alte Stute, die gerade gestorben war.
Wir hatten la biche beweint; mein Großvater und ich hatten ihren' Kopf mit einer weißen Tischdecke umwickelt, damit er in dem großen Loch bei der Akazie an der Bastei, wo wir la biche begruben, nicht mit der Erde in Berührung kam.
Die Katzen hießen alle Galta, die getigerten wie die roten.
Die Kater hießen alle Lion oder Raton; es gab massenhaft viel von ihnen.
Manchmal zeigte ihnen mein Großvater mit der Zange eine glühende Kohle, dann flüchtete die ganze Bande, um im nächsten Augenblick ihren Sturmangriff auf das Feuer zu wiederholen.
Um den Tisch herum saßen meine Mutter, meine Tante, meine Großmutter, wobei eine laut las und die anderen strickten oder nähten.
Ich habe noch den Korb, in den meine Mutter ihr Arbeitsgarn legte.
Oft kamen Freunde und wachten mit uns; wenn Bertrand oder der alte Lehrer von Ozieres, Monsieur Laumond der Kleine, anwesend waren, blieben wir noch länger auf; man wollte mich zu Bett schicken, um Kapitel zuende zu bringen, die in meiner Gegenwart nicht vollständig gelesen wurden.
Entweder weigerte ich mich bei solchen Gelegenheiten hartnäckig (und fast immer gewann ich meinen Prozeß) oder, wenn ich es eilig hatte zu hören, was man mir verschweigen wollte, fügte ich mich bereitwillig und blieb dann hinter der Tür stehen, anstatt ins Bett zu gehen.
Im Sommer war die Ruine voll von Vögeln, die durch die Fenster hereinflogen. Die Schwalben bezogen wieder ihre Nester; die Spatzen klopften gegen die Fensterscheiben, und zahme Lerchen schrien sich tapfer mit uns heiser (und schwiegen, sobald wir in Moll übergingen).
Die Vögel waren nicht die einzigen Tischgenossen der Hunde und Katzen; es gab auch Rebhühner, eine Schildkröte, ein Reh, Wildschweine, einen Wolf, Eulen, Fledermäuse, ganze Nester von elternlosen Hasen, die wir mit dem Löffel aufzogen - eine ganze Menagerie -, ohne das Fohlen Zephir und seine Großmutter Brouska zu vergessen, von der keiner mehr wußte, wie alt sie war, und die ohne weiteres in die Säle kam, um sich Brot oder Zucker aus den Händen derer zu nehmen, die ihr genehm waren, und um den Leuten, die ihr nicht paßten, ihre großen gelben Zähne zu zeigen, als lachte sie ihnen ins Gesicht.
Die alte Biche hatte eine ziemlich lustige Gewohnheit: wenn ich einen Blumenstrauß in der Hand hielt, schenkte sie ihn sich und leckte mir dann übers Gesicht.
Und die Kühe? Die große weiße Bioné und die zwei jungen Bella und Nera, zu denen ich in den Stall sprechen ging, und die mir auf ihre Art antworteten, indem sie mich mit ihren verträumten Augen anschauten.
All diese Tiere lebten friedlich miteinander; zusammengerollt, folgten die Katzen den Vögeln, den Rebhühnern und den Wachteln, die auf dem Boden trippelten, lässig mit den Augen.
Hinter den völlig durchlöcherten grünen Tapeten an den Wänden rannten - schnell, aber nicht erschreckt - piepsend die Mäuse hin und her; nie habe ich gesehen, daß eine Katze sich erhoben hätte, um sie bei ihrem Hinundherlaufen zu stören. Im übrigen verhielten sich die Mäuse tadellos; sie nagten nie an den Schulheften und den Büchern, machten sich nie an die Geigen, Gitarren und Cellos heran, die überall herumlagen.
Was für ein Friede herrschte in diesem Haus und in meinem Leben zu dieser Zeit!
Ich war deswegen freilich nicht besser. Ich studierte aus Leidenschaft, fand jedoch immer Zeit, um den bösen Leuten Streiche zu spielen, ich führte einen harten Krieg gegen sie! Vielleicht hatte ich nicht unrecht!
Jedes Ereignis in der Familie wurde von meiner Großmutter in Versform in zwei mit dickem roten Pappkarton eingebundenen Sammlungen berichtet, die ich nach ihrem Tod in schwarzen Trauerflor hüllte.
Der Großvater hatte einige Seiten hinzugefügt, und ich selbst, noch ein Kind, wagt mich dort an eine Weltgeschichte, weil die von Bossuet (für Euer Gnaden den Dauphin) mich langweilte und mein Vetter Jules nach den Ferien das Geschichtsbuch seines Gymnasiums mitgenommen hatte. Ich trug die wesentlichen Fakten zusammen, so gut ich konnte.
Lange schon hatte ich erkannt, daß der Unterricht in den Gymnasien bedeutend besser war als der, den die Mädchen in der Provinz erhielten. Ich habe noch viele Jahre später die Gelegenheit gehabt, mich von dem unterschiedlichen Nutzen und Ergebnis zweier Unterrichtsstunden über das gleiche Thema zu überzeugen: einer für die Damen, einer für das starke Geschlecht!
Ich ging als Mann dorthin und konnte mich überzeugen, daß ich mich nicht getäuscht hatte.
Man schwatzt uns haufenweise lauter Blödsinn vor, der sich auf Binsenweisheiten stützt, während man versucht, unsere Herren und Gebieter Wissensklöße herunterschlucken zu lassen, bis ihnen der Kopf platzt. Leider ist es dennoch eine seltsame Ausbildung, und wer in einigen hundert Jahren an unserer Stelle stehen wird, wird sich darüber fröhlich hinwegsetzen - auch über die Ausbildung der Männer.
Es muß ein ziemlich ungereimtes Zeug in meiner Arbeit gestanden haben; dazu hatte ich genügend unfehlbare Bücher zu Rate gezogen; man gab mir aber einige Bände von Voltaire, und ich ließ mein Werk über den Cona unvollendet liegen, mit dem großen Gedicht über den Cona, wovon Monsieur Leaumont der Große geglaubt hatte, mich abzubringen, indem er mir über den Berg von Bourmont genügend possenhafte Geschichten erzählte, um alle Steine der Haute-Marne zum Lachen zu bringen.
Einst lebte in einer Einsiedelei lange Zeit ein Strolch, der tagsüber ein Heiliger war und nachts die Reisenden ausplünderte, und dem die guten Leute der Gegend Gebete bezahlten, damit sie von dem Bösen befreit würden, der durch Wald und Wiese streifte, sobald der Mond aufgegangen war.
Und, sobald der Mond aufging, kehrte der heilige Mann in seine Einsamkeit zurück, denn der Böse war ja er!
Es war ein Mammutzahn, der mich daran hinderte, das famose Gedicht des Cona zuende zu schreiben; derselbe Monsieur Leaumont der Große, mit anderen Worten also Doktor Leaumont, sprach von diesem Zahn mit Begeisterung. Ich gab das Dichten auf, um mir in der Spitze des Nordturmes eine Zelle einzurichten, die ich mit allem vollstopfte, was als geologischer Fund gelten konnte. Hinzu kamen ganz neue Skelette von Hunden, Katzen, Pferdeköpfen, die ich auf den Feldern gefunden hatte, Schmelztiegel, ein Ofen, ein Dreifuß; der Teufel, wenn es ihn gäbe, wüßte alles, was ich dort probiert habe: Alchimie, Astrologie, Geisterbeschwörungen; die ganzen Sagen mußten daran glauben, von Nicolas Flamel bis Faust.
Ich hatte dort meine Laute, ein greuliches Instrument, das ich aus einem Tannenbrett und alten Gitarrensaiten selbst gebastelt hatte - freilich flickte ich sie mit neuen.
Dieses barbarische Instrument war es, von dem ich in meinen Versen an Victor Hugo so pompös sprach: - nie hat er gewußt, was diese Dichterlaute, diese Leier war, deren süßeste Klänge ich ihm sandte!
Ich hatte eine prächtige Eule mit phosphoreszierenden Augen in meinem Türmchen, die ich Olympe nannte, und entzückende Fledermäuse, die ihre Milch wie Kätzchen tranken, und für die ich das Gitter der großen Getreideschwinge auseinandergenommen hatte, da sie zu ihrer Sicherheit tagsüber in einem Käfig bleiben mußten.
Meine Mutter - halb scheltend, halb lachend - hörte mich ein paar Tage lang, wie ich auf meiner Laute die grilla rapita sang, die sie seitdem mit alten Papieren aufbewahrt hat, die den Titel Lieder der Morgendämmerung trugen. Hier ist das Lied:
LA GRILLA RAPITA
Ach! was für ein schlimmes Mädchen!
Es hat das Gitter gebrochen
Der großen Getreideschwinge.
Und morgen wird das Getreide gesiebt!
si fa, fa re si, si re fa, si do re
Daraus macht es einen Käfig
Für seine die nächtliche Vorahnung
Bringenden Fledermäuse!
Das ist nicht erlaubt,
si fa, fa ...
Aber überall sucht man es,
Vermutlich hockt es
In seinem Speicherloch!
Gehen wir es strafen,
si fa, fa ...
Ach, das ist noch nicht alles.
Wir kommen ihm hinter die Schliche!
Ein Ofen, Schmelztiegel...
Das alles stinkt!
si fa, fa ...
Rufen wir nach seiner Großmutter!
Rufen wir nach seinem Großvater!
Es muß ein Ende nehmen.
Aber wie können wir es bloß strafen?
si fa, fa ...
Ich weiß nicht, mit welchem Vers der Refrain reimte.
Noch einige Jahre, und ich sollte, da meine Großeltern gestorben waren, meinen ruhigen Schlupfwinkel verlassen.
Die alte Ruine bewahrte die Abschiedsworte nicht lange, die ich an die Wand des kleinen Turms geschrieben hatte. - Es ist von ihr kein einziger Stein übrig.
ADIEUX AN MEINEN KLEINEN TURM
Adieu im Landhaus, mein verträumter Schlupfwinkel!
Adieu mein hoher Turm, allen Winden offen!
Deinen alten Mauern bleibt das Moos des Daches.
Und ich, zerbrechlicher Zweig durch den Sturm gebrochen,
Werde fern von dir den schnellen Strömen folgen.
Ohne mich wirst du die Rückkehr der Schwalben sehen,
Die in den Sommertagen am Rande der Dächer singen.
Doch, wenn ich wie sie flüchtend umherirre,
Sag mir, wird dann nichts fehlen unter den Türmen,
Wenn ihr trauriges Echo meine Stimme nicht wiedergibt?
III.
Von allen Bögen, die mein Großvater schrieb, ist mir ein einziger übriggeblieben; der Wind der Feindseligkeit bläst die Dinge wie die Wesen fort.
Hier ist dieses Blatt:
FÜR ANTIQUITÄTENHÄNDLER
Sie wollen Antiquitäten?
Hier sind zwei in den Türmen.
Sie bedecken die Nester der Schwalben:
Meine Frau und ich, alt und zerbrochen.
Die Vögel fühlen sich wohl am Fenster;
Wir fühlen uns wohl am Feuer.
Wir lieben den Sommer, unter den Buchen;
Den Winter, in diesem ruhigen Ort.
Hier, alles ist alt und gotisch;
Alles wird gleichsam entschwinden:
Die Greise, die antike Ruine;
Und das Kind wird sehr weit weggehen.
Noch ein Bogen, diesmal von meiner Großmutter, den sie nach dem Tode ihres Mannes schrieb: es ist alles, was ich von ihnen noch habe.
DER TOD
Die Trauer ist hinabgestiegen in mein trauriges Heim:
Der bleiche Tod sitzt am Feuer, und ich weine.
Alles ist Schweigen und Nacht im Haus der Toten.
Keine Lieder, keine Freude mehr, wo Akkorde vibrierten.
Ganz leise murmelt man, wie bei einem Geheimnis.
Weil man nie zurückkehrt, wenn man unter der Erde schläft.
Auf immer hat seine Abwesenheit die Lieder verstummen lassen.
Diese traurigen Reime klingen recht schwach, wenn man sie mit den fesselnden Versen vergleicht, die ich nicht mehr besitze.
Alles ist dahingeschwunden, sogar die Gitarre meines Großvaters, die auseinanderfiel, als ich in Kaledonien war. Meine Mutter hat lange darüber geweint.
Wie verschieden waren meine beiden Großmütter! Die eine, mit ihrem feinen gallischen Gesicht, ihrem Häubchen aus fein gefälteltem weißen Musselin, unter dem ihr Haar zu einem dicken Knoten im Nacken gekämmt war; die andere, mit ihren schwarzen Augen, gleich glühenden Kohlen, ihrem kurzen Haar und von ewiger Jugend umstrahlt, die mich an die Feen alter Erzählungen erinnerte.
Mein Großvater nahm für mich je nach den Umständen verschiedene Gestalt an; bald zeigte er sich leidenschaftlich bewegt, wenn er von den großen Tagen erzählte, von den Heldenkämpfen der ersten Republik, von diesem Krieg der Riesen, in dem die Blauen und die Weißen,[1] Tapfere gegen Tapfere zeigten, wie Helden sterben; bald zeigte er sich ironisch wie Voltaire, der Meister seiner Generation, oder fröhlich und geistreich wie Moliere, wenn er mir die verschiedenen Bücher erklärte, aus denen wir gemeinsam lasen.
Ein anderes Mal noch reisten wir ins Unbekannte und sprachen von Sachen, die wir am Horizont emporkommen sahen. Wir blickten in die Vergangenheit, auf die Entwicklung des Menschen zurück; in die Zukunft blickten wir auch, und oft weinte ich, von irgendeinem lebendigen Bild des Fortschritts, der Kunst oder der Wissenschaft bewegt, und auch ihm standen große Tränen in den Augen, wenn er dann seine Hand auf meinen Kopf legte, der schlimmer zerzaust war als der der alten Presta.
Meine Mutter war damals blond und hatte lächelnde, sanfte blaue Augen und langes lockiges Haar und war so frisch und so hübsch, daß Freunde lachend zu ihr sagten: »Es ist unmöglich, daß dieses scheußliche Kind Ihnen gehört!« Ich war groß, mager, borstig, wild und tapfer zugleich, sonnenverbrannt, und oft waren die Risse in meiner Kleidung mit Nadeln zusammengehalten; ich sah mich, wie ich war, und es machte mir Spaß, daß man mich häßlich fand; meine arme Mutter fühlte sich zuweilen dadurch verletzt.
Wieviel las ich zu jener Zeit mit Nanette und Josephine, zwei außergewöhnlich klugen jungen Frauen, die niemals aus ihrer Gegend herausgekommen waren!
Wir sprachen über alles; wir nahmen die illustrierten malerischen Unterhaltungszeitschriften, die Familienmuseen[2] - Hugo, Lamartine, den alten Corneille mit hinaus und lasen sie im hohen Gras. Ich weiß nicht, ob Nanette und Josephine mich nicht lieber als ihre eigenen Kinder mochten. Ich mochte sie auch sehr gern.
Ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, als wir über dem Buch von Lamennais, Die Worte eines Gläubigen, Tränen vergossen.
Von diesem Tag an gehörte ich dem Volk; von diesem Tag an ging ich Stufe für Stufe alle Entwicklungen der Gedanken durch, von Lamennais bis zur Anarchie. Ist sie die letzte Stufe? vermutlich nicht! Gibt es nicht hinterher noch immer das Riesenwachstum aller Fortschritte unter dem Licht der Freiheit; die Entwicklung neuer Empfindungen, und all diese Dinge, die unser enger Geist nicht einmal ahnen kann?
Von den alten Verwandten, von den alten und jungen Freunden, von meiner Mutter ist mir heute nichts geblieben als die Träumereien meiner Kindheit.
Ich habe noch nie Kinder getroffen, die gleichzeitig so ernst und so verrückt, so boshaft und dabei so besorgt, jemandem wehzutun, so faul und zugleich solche Büffler gewesen wären wie mein Vetter Jules und ich.
Jedes Jahr kam er in den Ferien mit seiner Mutter, meiner Tante Agathe, die ich unendlich liebhatte und die mich sehr verwöhnte.
Ich bin heute überrascht über die vielfältigen Fragen, die Jules und ich behandelten; bald hockten wir jeder in einem Baum, von wo wir den Katzen mit den Augen folgten, bald brachen wir eine Probe irgendeines Dramas von Hugo ab, das wir für zwei Personen inszeniert hatten, um zu diskutieren. Ihnen ist nichts heilig, sagte man von uns!
Warum unterhielten wir uns so gern von einem Baum zum anderen? Ich weiß es wirklich nicht; wir fühlten uns wohl in den Zweigen, und außerdem bewarfen wir uns gegenseitig mit allen Äpfeln, die wir erwischen konnten.
Es gab dann Fallobst für Marie Verdet (eine fast hundert Jahre alte Frau), die so schön von den Erscheinungen der weißen Wäscherinnen am Damenbrunnen oder des feuerroten Feullot[3] unter den Weiden an der Mühle erzählen konnte.
Immer sah Marie Verdet solche Sachen, aber wir nie! Es hinderte uns nicht daran, Freude an ihren Erzählungen zu haben, sogar so sehr, daß ich anfing, mich für das Phantastische - vom Feullot
bis zu Faust - zu begeistern, und daß ich in der Spukruine des Châte paiot[4] inmitten magischer Kreise Satan meine Liebe erklärte, der aber nicht erschien. Das brachte mich auf den Gedanken, daß es ihn gar nicht gäbe.
Eines Tages, als ich mich mit Jules von Baum zu Baum unterhielt, erzählte ich ihm dieses Abenteuer, und er gestand mir seinerseits, daß er einer berühmten Schriftstellerin, Madame George Sand, eine nicht weniger zärtliche Erklärung geschickt habe, und sie habe ebensowenig geantwortet wie der Teufel: die Undankbare!
Wir beschlossen, unsere Lauten auf andere Themen zu stimmen; gerade hatte ich meinem Vetter eine nach meinem Modell angefertigte geschenkt, nachdem wir die Burgraves[5] oder Hernani, glaube ich, geprobt hatten, die wir selbst für zwei Schauspieler inszeniert hatten. Während einer stürmischen Diskussion über die Gleichheit der Geschlechter hatte Jules behauptet, daß ich anormal sei, wenn ich aus Büchern lernte, die er für die Ferien mitgebracht hatte (so, daß ich fast sein Wissensniveau erreichte). Unsere Lauten, die wir als Wurfgeschosse benutzten, zerbrachen mitten im Kampf in unseren Händen.
Wenn ich in meinem Gedächtnis forsche, finde ich dort ein Lied dieser Zeit wieder:
DAS BIRNENLIED
Man hat uns befohlen.
Über die Birnen zu wachen,
Damit sie noch in den Obstkeller kommen.
Können Sie das glauben?
Für gewisse Kinder,
Deren Zähne man fürchtet,
Sind die Birnen frisch;
Spalten haben die Mauern!
Wir rufen nach ihnen,
Und alle singen
Und schütteln die Birnen.
Sie können es glauben!
Im Klang der Lieder
Im Kreis wir tanzen,
Und das ist die Geschichte,
Wie man über Birnen wacht.
Noch zwei Strophen aus dieser Zeit, bevor ich dem Feuer eine Handvoll vergilbter Bögen übergebe.
Abendwind, was tust du mit dem bescheidenen Gänseblümchen?
See, was tust du mit der Woge? Himmel, was mit der feuerroten Wolke?
Oh! Mein Traum ist recht groß, und ich bin recht klein,
Schicksal, was wirst du mit meinem Riesentraum tun?
Licht, was tust du mit dem schweigsamen Schatten?
Und du, die von so weit ihn zu dir ruft,
O Flamme! was tust du mit dem Nachtschmetterling?
Geheimnisvoller Traum, was wirst du mit mir tun?
Mir war immer, als witterten wir das Schicksal wie die Hunde den Wolf; manchmal wird es mit einer seltsamen Genauigkeit zur Wirklichkeit.
Vieles wäre, wenn man es bis in die geringsten Einzelheiten erzählte, noch viel überraschender.
Manchmal könnte man meinen, die Erzählungen von Edgar Poe vor sich zu haben.
Wie viele Erinnerungen! Dennoch, ist es nicht müßig, diesen ganzen Unsinn niederzuschreiben? Gestern fiel es mir schwer, mich daran zu gewöhnen, über mich zu sprechen; heute, da ich in den vergangenen Tagen stöbere, finde ich kein Ende, es ist alles wieder präsent.
Da sind die runden Steine unten am Weinberg bei dem Hügel und den Haselsträuchern; Tausende von jungen Kröten würden dort ihre Metamorphose in Ruhe durchmachen, wenn wir sie nicht zwischen die Beine der bösen Leute werfen würden. Arme Kröten!
Im Hof hinter dem Brunnen wurden Reisigbündel aufgeschichtet, sie hießen fascines; wir benutzten sie dazu, ein Schafott zu bauen, mit Stufen, einer Plattform, zwei hohen Holzpfosten, nun, mit allem, was dazugehört! Dort stellten wir die historischen Epochen und die Gestalten dar, die uns gefielen: Wir hatten Quatre-vingt-treize[6] als Drama umgeschrieben und stiegen hintereinander die Stufen empor, stellten uns hin und schrien: Es lebe die Republik!
Unser Publikum wurde durch meine Kusine Mathilde dargestellt und manchmal durch das radschlagende, pickende und gackernde Federvieh.
Wir durchsuchten die Annalen der menschlichen Greueltaten. Das Schafott aus fascines wurde zum Scheiterhaufen von Jean Hus; und noch weiter zurück in der Geschichte, zu dem Turm der Bagaudes,[7] und so weiter.
Als wir eines Tages singend auf unser Schafott kletterten, wies uns mein Großvater darauf hin, daß es besser sei, schweigend hinaufzusteigen und oben den Grundsatz zu beteuern, für den wir in den Tod gingen; und so hielten wir es seitdem.
Unser Spiel war nicht immer so ernst: zum Beispiel gab es die große Jagd, wobei wir die Schweine als Wildschweine benutzten, Besen als Fackeln anzündeten und mit den Hunden unter dem fürchterlichen Lärm der Schäferhörner rannten, die wir Jagdhörner nannten; ein alter Förster hatte uns beigebracht, wer weiß was zu blasen, das er das Halali nannte. Wie es scheint, beachteten wir bei diesen wilden Verfolgungen die Regeln des Waidwerks, es endete damit, daß wir die Schweine, wohl oder übel, in ihren Stall zurückbrachten und manchmal auch damit, daß sie in das Wasserloch im Gemüsegarten fielen, wo sie - von ihrem Fett über Wasser gehalten - verzweifelt ihr »uff« grunzten, bis man sie herausholte. Männer mit Stricken übernahmen diese Arbeit und schimpften hinter uns her. Besonders ich hatte den Ruf, wie ein ausgerissenes Pferd zu spielen: - vielleicht stimmte es.
Man muß mich die Dinge erzählen lassen, wie sie mir einfallen!
Sie erscheinen mir wie Gemälde, die bis ins Unendliche an mir vorbeiziehen und unaufhaltsam ins Dunkle verschwinden, - ich weiß nicht wohin.
Sie haben sicher gesehen, wie in Macbeth die Söhne von Banquo auf diese Weise aus dem Unbekannten heraus- und wieder hineintreten.
Die Menschen, die gestern oder vor langer Zeit dahingegangen sind, sehe ich so vor mir, wie sie waren, mit allem, was ihr Leben begleitete, und die Wunde ihrer Abwesenheit blutet wie am ersten Tag.
Ich habe kein Heimweh, aber ich habe Sehnsucht nach den Toten.
Je länger ich in diesem Bericht voranschreite, desto zahlreicher drängen sich mir die Bilder derer, die ich nie wiedersehen werde, auf, und bei dem letzten, dem meiner Mutter, gibt es Augenblicke, wo ich mich weigere, es zu glauben; mir ist, als würde ich bald aus einem entsetzlichen Alptraum erwachen und sie wiedersehen.
Aber nein, ich habe ihren Tod nicht geträumt.
Bei diesem stechenden Schmerz stockt mir die Feder; man würde lieber erzählen, man mag es nicht schreiben!
Möge sich mein Blick einmal noch auf Vroncourt richten!
Neben dem Haselstrauch in einer Schanze der Gartenmauer stand eine Bank, auf die sich meine Mutter und meine Großmutter im Sommer setzten, wenn die Hitze des Tages vorüber war.
Meine Mutter hatte, um meiner Großmutter eine Freude zu machen, in dieser Ecke des Gartens alle möglichen Rosensorten gepflanzt. Während sie miteinander sprachen, stand ich, die Ellenbogen auf die Mauer aufgestützt.
Der Garten war frisch in dem abendlichen Tau.
Wohlgerüche vermischten sich dabei, als schwebten sie aus einer Garbe empor; das Geißblatt, die Resede, die Rosen strahlten sanfte Düfte aus, von denen der intensive Geruch jeder einzelnen Blume zu erkennen war.
Die Fledermäuse flogen leise in der Dämmerung, und während ihr Schatten meine Gedanken hin- und herwiegen ließ, sprach ich die Balladen, die ich liebte, ohne daran zu denken, daß der Tod bald kommen sollte.
Und die Balladen und der Gedanke und die Stimmen gingen mit dem wehenden Wind dahin, - manche waren sehr schön:
Kinder, nun ziehen die Ochsen vorbei.
Versteckt eure roten Schürzen!
und die Louis D'or? und die Braut des Paukenschlägers? und so viele andere?
Mit diesen Tagen in der Dämmerung sind auch die traurigen oder träumerischen Reime gegangen. Ich sage nicht einmal mehr das Kriegslied: schweigend, gehe ich fort, schweigend, wie der Tod.
IV.
Während meiner Laufbahn als Lehrerin, die ich noch ganz jung in meiner Heimat begann und als Hilfslehrerin in Paris bei Madame Vollier, in der rue du Chateau-d'Eau und bei Montmartre fortsetzte, habe ich etliche Tage des Elends erlebt; es war das Schicksal aller Lehrerinnen, die keinen Eid auf das Kaiserreich leisten wollten.
Aber ich hatte es besser als viele andere, da ich nach der Schule noch Musik und Zeichnen unterrichten konnte. Wie bedeutungslos ist aber das physische Leid verglichen mit dem Verlust derer, die uns nahestehen?
O meine Freundin! O meine Mutter. O meine tapferen Genossen!
Wenn ich diese Erinnerungen aufwühle, drehe ich das Messer um, oft tut es gut. Wenn irgendein Wesen das Leben erfunden haben sollte, an welcher gräßlichen Kette würden wir ihm verdanken, angebunden zu sein!
Ich möchte gern wissen, wofür diejenigen, die an ihn glauben, der Vorsehung danken; das ist ein recht bequemes, aber recht sinnloses Wort, und das Werk dieser Allmächtigkeit wäre entsetzlich verbrecherisch.
So wie viele andere Sachen entdeckt wurden, wird man auch die Zahlen- und Ähnlichkeitsprinzipien entdecken, die zu den Gruppierungen der Planeten und der Wesen führen; es wird unaufhaltsam dazu kommen müssen; die bezwungene Natur wird der befreiten Menschheit dienen müssen; die Wissenschaft wird voranschreiten müssen, statt durch alle Unfehlbarkeiten aufgehalten im Rückstand zu verweilen.
Nun los, die Jäger des Unbekannten! Das sagenhafte Zeitalter, das das Tor öffnen wird! Nieder mit den Festungen! Es sollen alle Türen weit geöffnet werden und alle Geheimnisse aufgebrochen; es soll alles in den Schlachthäusern und Quarantänestationen, in denen die menschliche Dummheit uns festhält, zusammenstürzen!
Ich vergesse immer wieder, daß ich meine Erinnerungen schreibe!
Wo war ich stehengeblieben?
Ich besitze noch einige Fragmente aus meiner Kindheit: ich greife aufs Geratewohl hinein.
Hier ist eine Beschreibung von Vroncourt, die meine Mutter aufbewahrte.
Wie vieles hat dieses Stück vergilbten Papiers überlebt!
VRONCOURT
Es liegt an dem Berghang zwischen dem Wald und dem Tal; man hört dort die Wölfe heulen,
aber man sieht sie nicht die Lämmer würgen. In Vroncourt ist man von der Welt abgeschlossen.
Der Wind rüttelt an dem alten Kirchturm und den alten Türmen des Schlosses;
er läßt die Felder mit reifem Korn sich biegen wie ein Meer; das Gewitter macht dort
einen ungeheuren Lärm, und das ist alles, was man dann hört. Es ist grandios, und es ist schön.
Dieses Werk war ebenso wie die märchenhafte Haute-Marne mit Kohlezeichnungen des Verfassers illustriert.
Man sah dort den Damenbrunnen mit dem Schatten der Trauerweiden auf dem Wasser. Und von diesem Schatten hoben sich die weissen Wäscherinnen ab (nach der Beschreibung von Marie Verdet).
- Ach, sagte sie, es wäre nicht der Mühe wert, ein Buch über Vroncourt
zu schreiben, wenn die Wäscherinnen nicht darin vorkämen!
Also hatte ich drei Erscheinungen unter die Weiden gesetzt.
- Eine von ihnen beweint die vergangenen Zeiten, sagte Marie Verdet,
die andere beklagt das Heute, die dritte das Morgen.
Erinnern nicht die bleichen Wäscherinnen, die unter den Zweigen klagen -
die eine über die vergangenen Tage schluchzend, die andere über die heutigen
weinend, die dritte über die von morgen -, an die Nornen?
Eine andere Zeichnung aus dieser Arbeit stellte den großen Teufelsspuk von Chaumont dar. Weit zurück liegen diese Kritzeleien, die die Empfindungen wiederzugeben suchten, die der Mondschein, die Wälder, der Schnee, die Nacht verursachten; einige stellten die Eindrücke in der Form von geisterhaften Erscheinungen dar.
Hier ist ein zweites Fragment (das letzte) aus der märchenhaften Haute-Marne; ich setze es an diese Stelle, weil es die genaue Schilderung jener alle sieben Jahre stattfindenden Feste enthält, die man den Teufelsspuk von Chaumont nannte.
Im Teufelsspuk von Chaumont mischen sich Geschichte, Roman und Sage.
Der Teufelsspuk ist ein Traum, den es wirklich gegeben hat, und von dem man
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts noch Spuren finden konnte.
Unter den seltsamen Bräuchen, die mit dem Mittelalter verschwunden sind,
gehört der Teufelsspuk von Chaumont zu denen, die ihre Zeit am längsten überlebten.
Die Flagge weht noch, wenn das Schiff bereits versunken ist.
Alle sieben Jahre, so sagen die Chronisten der Champagne, vermummten sich
zwölf Männer als Teufel - so wie man sich die Kleidung des Teufels eben vorstellt
- mit Höllenplunder, also mit allen möglichen Verkleidungen, sogar mit der von Jehovah;
die Teufel von Chaumont fanden ihre Verkleidung bei der alten Anne Larousse,
vor deren Haus das Schild Ausgelassenheit und Freude hing: ein riesiges Hörnerpaar
und eine schwarze Kutte; - sie begleiteten die Palmsonntagsprozession,
um den Himmel zu ehren, indem sie die Hölle darstellten. Nachdem sie Gott zuliebe so
aufgetreten waren, verteilten sich unsere Herren Teufel über die Felder,
die sie nach Herzenslust und dem Teufel zuliebe plündern durften.
Warum hatte man die Zahl zwölf gewählt? Die Chronisten sagen, zu Ehren der zwölf Apostel, obwohl ihnen diese Art der Ehrung nicht gerade sehr angenehm gewesen sein muß; die Gelehrten behaupteten, die Teufel bedeuteten die zwölf Zeichen des Tierkreises, wieder andere, daß sie die Söhne Jakobs verkörperten; jedoch war keine dieser Vermutungen allgemein anerkannt; bei jedem Teufelsspuk brachen unter den Gelehrten, den Geistlichen und den Astrologen der guten Stadt Chaumont viele Streitereien aus, die mit der Feder ausgefochten wurden und so hohe Ausgaben für das Pergamentpapier verursachten, daß eine Vielzahl von Einwohnern diese Kämpfe mit ihrem Leben bezahlen mußten.
Jedenfalls sangen die Herren Teufel ihr Quis est iste rex gloriae[1] mit ebensoviel Schwung, wie es jene vermocht hätten, deren Kostüme sie trugen, jedoch mit weniger Übereinstimmung, denn der Teufel hat ein besonders musikalisches Gehör.
Der Teufelsspuk von Chaumont dauerte vom Palmsonntag bis zur Geburt des heiligen Johannes an und endete mit der Darstellung der wichtigsten Taten aus dem Leben dieses Heiligen auf zehn Bühnen, die vor den andächtigen Gläubigen aufgebaut waren.
Das Fest endete mit einer Hinrichtung (ohne Hinrichtung gab es kein gelungenes Fest in jenen Zeiten, selbst heute nicht!).
Die Hinrichtung wurde meistens bildlich dargestellt: die Seele von Herodes, die verbrannt wurde, war eine Strohpuppe.
Aber im letzten Jahr, in dem diese heiligen Orgien veranstaltet wurden, ereignete sich etwas, was ihr Ende beschleunigte.
An diesem Ereignis (über das in den schriftlichen Chroniken nicht berichtet wurde) bestand für Marie Verdet nicht der leiseste Zweifel.
Ihr Großvater wußte es von seinem Großvater, der es seinerseits von einer Urahnin hatte, daß diesmal die Seele von Herodes so schön herumgefuchtelt hatte, daß die Zuschauer im Val des Escholiers[2] vor Freude herumtollten; plötzlich fing der Schatten an zu stöhnen, und man schrie: »Ein Wunder!« und dies um so eher, da man in der Asche des Scheiterhaufens verkohlte Knochen fand.
Dennoch, wenn man in der Asche auch Knochen fand, so konnte man andererseits den schönen Balladensänger Nicias Guy nicht mehr finden; er war es, der aus Liebesrache so böse beseitigt worden war.
Selbst wenn bei meiner Neigung zum Reimen nicht auch die Vererbung eine Rolle gespielt hätte, wer wäre nicht Dichter geworden in diesem Land der Champagne und Lothringens, wo die Winde Bardenlieder des Aufstands und der Liebe singen! Durch den hohen Schnee im Winter, auf den zerfurchten Wegen mit den Hagedornhecken im Frühling und in den tiefen schwarzen Wäldern mit den riesigen Eichen und Pappeln, deren Stämme Säulen gleichen, folgt man noch heute den von römischen Herrschern gepflasterten Wegen, die auf weiten Strecken von den Unbesiegten aus Gallien aufgerissen worden sind.
Ja, dort ist jeder ein wenig Poet. Nanette und Josephine, diese Frauen vom Land, waren es auf ihre natürliche Art.
Nach einer ganzen Zeit und vielen durchkreuzten Meereswogen habe ich mich inmitten von Wirbelstürmen an eines ihrer Lieder erinnert: Vage na du bas (der schwarze Vogel des Waldes) .
Hier ist es und danach meins, das ich dort am Ende der Meere geschrieben habe; man wird in beiden Liedern die gleiche Saite, die schwarze Saite wiederfinden, die tief in der Natur vibriert.
Ihres ist geheimnisvoller und sanfter; man spürt die Hagedornblüten; dennoch singt im selben Atemzug der Vogel auf dem roten Feld seine melancholische Melodie, und die Fluten brausen, wenn sie auf die Klippen aufschlagen.
L'AGE NA DEU CHAMP FAUVE[3]
Dans l'champ fanné c'étot
Un bel âgé chantot.
Teut na il étot
II fo y brâchot.
Ka ki dijot l'âgé,
L'äge deu champ fauve?
C'étot pa les échos
Sous les âbres du bos,
Li bise pleurut
Deven lu brâchot
Ce que dijot l'âgé
L'âgé deu champ fauvé?
Wörtliche Übersetzung:
DER SCHWARZE VOGEL AUF DEM ROTEN FELD
Auf dem roten Feld war es.
Ein schöner Vogel sang.
Ganz schwarz war er.
Er schluchzte so laut!
Was sagte der Vogel,
Der Vogel auf dem roten Feld?
Es war wie ein Echo.
Unter den Bäumen des Waldes
Der Nordwind weinte,
Und schluchzte mit ihm
Des Vogels Lied
Des Vogels auf dem roten Feld.
Ist es nach diesem Lied noch der Mühe wert, meine eigenen Strophen niederzuschreiben? Wenn er mag, kann der Leser sie überschlagen. Sie sind nur wegen des Zusammenhanges da, der sie mit den Versen des schwarzen Vogels auf dem roten Feld verbindet.
AM RAND DER WOGEN
Seltsame Stimmen der Natur,
Hauch der Winde in den Wäldern,
Wehender Wind im Mastwerk
Blinde Kraft! gewaltige Stimmen!
Stürme, Gewitterentladungen,
Was sagt ihr, ewige Abgründe,
Hauch der Winde in den Wäldern?
Der Zyklon heult, das Meer braust,
Der Himmel hat sich entladen; die ganze Flut
stürzt zu auf das schwarze Grab.
Das Meer wäscht die Küste aus,
Tobt, tobt, o Gewitterwinde.
Die Nacht ertränkt Erde und Wasser.
Die Erde schaudert, der Boden raucht
Inmitten der großen Nacht.
Das Meer, mit seinen Gischtkrallen,
Steigt auf die Felsen mit großem Lärm
Eines Tages, für seine höchsten Werke,
Wird der Mensch deine ureigene Kraft nehmen,
Natur, in der großen Nacht.
All deine Macht, o Natur,
Und deine Wut und deine Liebe,
Deine lebendige Kraft und dein Rascheln,
Man wird sie dir nehmen eines Tages.
Wie ein Werkzeug für die Arbeit
Wird man sie von jedem Strand tragen,
Deine Wut und deine Liebe.
Ich befürchte, zu lange über diesen ersten Teil meines Lebens zu berichten, wo die damaligen Tage so friedlich und ereignislos, so bewegt von Träumen waren; man wird dort kindliche Sachen finden, es gibt sie in den ersten Jahren jedes menschlichen Lebens (und sogar während des ganzen Lebens). Ich werde diesen Teil schnell beenden (werde aber darauf zurückkommen, wenn das eine oder das andere während meines Berichts mich dazu führt).
Beim Schreiben wie beim Sprechen ereifere ich mich oft! Dann machen sich die Feder und der Gedanke selbständig und verfolgen ihr Ziel durch das Leben wie durch die Welt hindurch.
Ich sprach von Vererbung. Dort, tief in mir, sind die märchenhaften Sagen vergraben, die mit denen gestorben sind, die sie mir erzählten. Doch heute noch sehe ich diese Gespenster - Sphinxen gleich -, diese korsischen Hexen und Meerjungfrauen mit ihren grünen Augen; - feudale Banditen; - Jacques; - Teutonen mit roten Haaren; - gallische Bauern mit blauen Augen und schlanker Gestalt; - und alle, von den korsischen Banditen bis zu den Richtern des Parlaments der Bretagne, lieben das Unbekannte.
Alle überliefern ihrem Nachkommen (ob ehelich oder nicht) das Erbe der Barden.
Vielleicht stimmt es, daß jedes Blutströpfchen, daß durch so viele verschiedene Rassen vererbt wird, gärt und in dem Frühling des neuen Jahrhunderts brodelt; aber was wissen wir sicher, wenn so viele Sagen erzählt, aber keine je niedergeschrieben wurde?