Kapitel V. bis VIII

V Nun einige Bemerkungen über meine Heimat.

Der Pflug bringt den steinernen Sarg unserer Väter, der Gallier, ans Tageslicht, das Messer zum Töten des Opfers und den Weihrauch der Römer. Der Pflüger, der an solche Funde gewöhnt ist, nimmt sie mit (manchmal, um aus dem Sarg einen Trog zu machen und um mit dem heiligen Rauch den riesigen Klotz zu räuchern, der in seinem großen Kamin glimmt), und er fährt fort, seine Ochsen zu besingen, während hinter ihm die Vögel in den offenen Furchen die Würmer picken.
Wie gern denke ich an dieses Fleckchen Erde zurück! Hätte meine Mutter meine Abwesenheit überlebt, dann hätte ich gern bei ihr einige friedliche Tage verbracht, wie sie es nötig hatte; ich hätte neben ihrem Sessel gearbeitet, während die alten kaledonischen Katzen am Herd schnurrten.
Viele andere leben noch so lange! Solche Tage sind nicht für uns bestimmt.

Sprechen wir über die Haute-Marne; einst hatte sie ihr Königreich von Yvetot, die Grafschaft von Montsongeons (Königreich des Haut-Gue).
Zwischen drei Flüßchen, die die Grafschaft wie eine Insel erscheinen lassen, am Fuß der Berge, die die Festung überragten, hatte einst Montsongeon seine Armeen, die während der Kriege von Lothringen manche Schlacht gewannen.
In Montsongeon schloß man wie in einer belagerten Festung immer die Tore. Das Tor vom Dom Marius ging aufs Land hinaus, die anderen auf die Saône, die Tille und die Vingeanne.
Das kleine Königreich wurde oft verkauft und wiederverkauft; die Kelche der kleinen Könige waren größer, als daß die Reben ihrer Weinberge sie hätten füllen können; auch ihre schönen Damen brauchten Geld für Spenden oder irgendetwas anderes.
Und dann gab es noch die Gaben an die Abteien als Sühne für die Verbrechen, die die Herren gewöhnlich begangen.
Ein gewisser Pierre de Mauvais-Regard brachte es sogar fertig, einen gestohlenen Geldbetrag in zwei Hälften zu teilen: die eine Hälfte benutzte er für die Sühne, die andere, um seine Bünden fortzusetzen; und dann, um alles rechtens zu machen, gab er gegen hundert Morgen Land aus Langres den Mönchen von Auberive das Recht, in einem Teil des Montsongeonnais ihre Herde zu weiden. Ein anderer Pierre verkaufte alles, was er in Boissey und anderen Ortschaften besaß, da er und seine Frau in Geldnot waren. Das Königreich ist dann gegen Ende des 13. Jahrhunderts zerbröckelt.
Der Name Montsongeon wurde zum Gegenstand von Auseinandersetzungen unter Gelehrten.
Man wollte ihn auf die Priester der Iden (die Saliens) zurückführen. Aber da man dort keine römischen Kunstwerke fand, nahm man mit den Franken (saliens) fürlieb.
- Ach, sagte Marie Verdet, was waren das für schöne Zeiten, als wir für die Kranken noch Salbei pflücken gingen, den selbst Mme le Bourelle aus Langres für ihre Medizinen sammelte.
Vielleicht hatte Marie Verdet recht.
In Beurville, das an dem Fluß Ceffondert liegt, soll eine Liebesgeschichte stattgefunden haben. Gegen 1580, während der Glaubenskriege, liebte Nicolas de Beurville, der Anführer der bewaffneten Banden, die das Land durchkreuzten, die Tochter des Herrn Girard de Hault und wie üblich bei Leuten, denen es verboten wird, liebte sie ihn zurück.
Eine Heirat schien unmöglich zu sein. Die schöne Anne de Hault brachte es in dem Moment, da die Gegend unter dem Terror der Banden von Beurville stand, fertig, daß man von ihrem Vater forderte, sie für den Frieden der Gegend zu opfern.
Eine verwirrte Abordnung kam, um den Vater anzuflehen und notfalls aufzufordern, Nicolas die Hand seiner schönen Anne mit einer hohen Mitgift unter der Bedingung anzubieten, daß er in eine andere Gegend zöge und dort die armen Leute ausplünderte, um seine Kompanien zu unterhalten.
Genau das geschah. Beurville ging woanders plündern, und als der Tag kam, wo er genug hatte, um alles in Frieden zu bereuen, bauten die beiden Eheleute Sainte-Colombe wieder auf und lebten glücklich - die Sage sagt nicht, ob das gleiche für ihre Vasallen galt.
Ein langer Weg auf dem steilen Fels des Cona, Gräber unter der Ruine einer Kapelle unten am Berg, so zahlreich, daß sie ein Nest, das Nest des Todes, bilden, das ist Bourmont, von bläulichen Hügeln umgeben; manche sind von Wäldern geschmückt; am Gipfel eines dieser Hügel gibt es eine Einsiedelei, die drei verschiedene Legenden hat: die erste gibt ihr als Gründer den Teufel; die zweite den lieben Gott; die dritte die Liebe eines Hirten für die schöne Marguerite, Tochter von Renier de Bourmont.
Nach der Belagerung wurde La Mothe ausgeplündert, nachdem man eine Kirchenuhr und andere seltsame Dinge nach Bourmont gebracht hatte. Bourmont war damals durch den Zwang, die Kriegsleute zu ernähren, so arm, daß die Leute, Beinah-Bettler, die Erlaubnis bekamen, ihre Glocke zu verkaufen.
Dann wurde Bourmont eine wirkliche Stadt.
Über Langres und Chaumont werde ich nicht viel erzählen: man kennt sie. Von der Talbrücke von Chaumont aus, die das Tal der Escholiers durchquert, kann jeder die Altstadt des Kahlen Bergs (des Mont chauve) sehen.
Ebenso kann man von der Eisenbahn aus Langres auf seinem Felsen mit dem schwarzen Wall sehen.
In Chaumont sagte man über Langres:

Dort oben auf seinem Felsen
Halb verrückt, halb rasend.

In Langres sagte man unter den Hunderten von Strophen über Chaumont z.B. diese:

In Langres, sagt man, sei es kalt.
In Chaumont aber warm,
Denn wenn dort der Wind wehen soll,
Schreckt er vor diesem Räubernest zurück;
Wenn er aber wehen will.
Dann werden die Türen geschlossen.

Früher war es in Chaumont und Umgebung Sitte, daß sich ein junger Mann jahrelang jeden Sonntag schweigend unter den Kaminsims setzte, ohne zu wagen, seinen Wunsch, die Tochter des Hauses zu heiraten, auf andere Weise zu äußern.
- Guten Tag miteinander! sagte er beim Eintreten; man bot ihm einen Stuhl an, und nach ein paar langen Stunden stand er auf, sagte: Guten Abend! und ging bis zum nächsten Sonntag.
Wenn er, bis zu den Ohren errötend, es wagte, um ihre Hand zu werben, rückte die junge Frau die Holzglut näher, wenn sie ihn annahm; wenn sie ablehnte, ließ sie das Feuer verglühen. In diesem Fall war alles vorbei; im anderen Fall kümmerten sich die Eltern darum, die Hochzeit anzuordnen.
Heute noch setzen sich die jungen Männer lange ans Feuer der Geliebten, bevor sie es wagen, sie anzusprechen.
Früher ging man zu der Festung der Gegend (chate paiot), um die Geister der Ruine mit einer Silbermünze, einem geschliffenen Messer, einem weißen Hemd und einer brennenden Kerze zu beschwören.
Wofür die Silbermünze? fragte ich. Und Marie Verdet dämpfte ihre Stimme und antwortete: - Für den Teufel.
Und die brennende Kerze? Sie ist für den lieben Gott! Und das weiße Hemd? Für die Toten! Und das Messer mit der scharfen Klinge? - Für den Ratsuchenden, wenn er das geschworene Wort brechen sollte.
Aber wem wurde geschworen?
Dem Unbekannten, dem Feullot.
Werde ich es vergessen, vom Wald von Der (Wald der Eichen) zu erzählen? (Niemals wurde er von einem Eindringling betreten, man findet dort keine römischen Überreste.)
Der ganze Wald von Der oder Derff war heilig, - der dichte Schatten der Eichen herrscht dort heute noch. Einst, vor unseren geschichtlichen Zeiten, flüchtete sich dort in eine Höhle ein Geächteter, der wie ein Raubtier gehetzt wurde und auch wie ein Raubtier lebte (von Menschenfleisch).
Die merowingischen Schweinehirten errichteten dort Pfahlbauten; Bruchstücke davon sind in der Mare-aux-loups[1] geblieben. Dann der Teich von Blanchetane - Überbleibsel eines Kreidesees, auf dessen kahlen Ufern, die sich bis zum Bauernhof von Pont-aux-Boeufs[2] erstrecken, nicht ein einziges Heidekraut wächst, sondern Sand in kleinen Wellen vom Wind getrieben wird.
Wie wohl tut es einem, in dem tiefen Schweigen unserer Wälder den schweren Hammer der Schmiede zu hören; und den scharfen Schlag der Axt, der die Zweige erzittern läßt; und die Vogelgesänge und das Wispern der Insekten unter den Blättern!
Im Herbst gingen wir mit meiner Mutter und meinen Tanten tief in den Wald hinein.
Plötzlich hörte man, wie kleine Zweige brachen: es war irgendeine arme Alte, die ihr Holz bündelte.
- eh Kleine! der Wächter, ist er in der Nähe? Geh weg, denn wenn der Wächter vorbeikäme, würdest du singen! Ich muß aber meine eaouves (Besen) binden. Wie wenig waren diese kleinen Birkenzweige in den hohen Wäldern!
Ein anderes Mal hörte man das Uff eines Wildschweins, das im Gebüsch verschwand, oder von armen Rehen, die schnell wie der Blitz flüchteten. Es schien, als spürten sie die Herbstjagd herannahen, bei der man unter dem Klang der Hörner so viele arme Hirschkühe schlachtet, die den grünen Blättern nachweinen. Das Tier zerstört, um zu leben, der Jäger zerstört, um zu zerstören, das Urraubtier erwacht.
Nun habe ich die Tage meiner Kindheit umrissen, und da liegt auf dem Tisch der Leichnam meines Lebens: Sezieren wir nach Herzenslust.

VI.
Nachdem der Tod über das Haus hereingebrochen war und das Heim verwüstete; nachdem meine Erzieher unter den Tannen des Friedhofs lagen, fingen für mich die Vorbereitungen zu den Lehrerin-Prüfungen an.
Ich wollte, daß meine Mutter glücklich wurde. Arme Frau!
Abgesehen von meinem Vormund (Monsieur Voisin, ehemaliger Friedensrichter von Saint-Blain, als handelte es sich darum, ein Vermögen zu verwalten) wurde meine Mutter zu meinem Vormund und Madame Girault, Notarin in Bourmont, zu meinem Gegenvormund!
Sie waren nicht zu viele, sagte man, um mich daran zu hindern, die acht- oder zehntausend Francs (in Grund und Boden) sofort auszugeben, die ich geerbt hatte. Sie sind jetzt weit weg!
In meinem Gedächtnis sehe ich nur noch einen Teil dieses Grundstücks; ein Wäldchen, das meine Mutter auf dem Weinberg selbst gepflanzt hatte und das sie während ihres langen Aufenthaltes in der Haute-Marne bei ihrer Mutter weiterpflegte, während ich Hilfslehrerin in Paris war: d.h. also bis ungefähr 1865 oder 1866. Wie man sieht, haben wir eine kurze Zeit lang das Glück gehabt, zusammenzuleben.
"Die Dinge haben Tränen", hat Virgil gesagt. Ich fühle es auch, wenn ich an das Wäldchen und die Weinreben zurückdenke, die vom Schweiß meiner Mutter benetzt wurden.
Von dort aus sah man den Wald von Suzerin mit dem roten Dach des Bauernhofes.
Die blauen Berge von Bourmont; Vroncourt, die Mühlen, das Schloß, der Hügel mit den Kornfeldern, die im Wind wogten; so stellte ich mir das Meer vor, und ich hatte recht.
Meine Großmutter Marguerite wollte den Weinberg sehen, bevor sie stirbt, mein Großvater trug sie in seinen Armen dahin.
Die Preußen zogen da durch, wie alle Sieger durchziehen, und haben den Wald gefällt und den Weinberg zerstört; in der Mitte war eine kleine Hütte; ich glaube, sie haben sie niedergebrannt, als sie mit den Bäumen Feuer machten, um sich zu wärmen.
Meine Mutter hat das Grundstück während meines Aufenthaltes in Kaledonien verkaufen müssen, um die Schulden zu bezahlen, die ich während der Belagerung gemacht hatte und die man von ihr zurückverlangte.
Kommen wir auf die Vergangenheit zurück. Meine Erziehung wurde - bis auf drei in Lagny verbrachte Monate in den Ferien von 1851 - von meinen Großeltern in Vroncourt und von Mmes Beths und Foyer in der Lehrerschule von Chaumont (Haute-Marne) geleitet.
Während eben dieser Ferien von 1851 verbrachten meine Mutter und ich einige Monate bei Verwandten in der Umgebung von Lagny.
Mein Onkel, der an meinem Schreiben kaum Gefallen fand und sich immer einbildete, daß ich die Lehrer-Prüfungen zugunsten der Poesie aufgeben würde, brachte mich - um sich diesbezüglich weniger Sorgen zu machen - in dem Internat von Madame Duval aus Lagny unter, wo auch seine Tochter erzogen worden war; für etwa drei Monate wurde ich Internatsschülerin.
In diesem Haus, wie auch in Chaumont, lebte man die Bücher; die wirkliche Welt machte an der Türschwelle halt, und man begeisterte sich für Bruchstücke an Wissen, die vor den angehenden Lehrerinnen zerbröckelt wurden; es war gerade genug, um einem Durst auf den Rest zu machen; aber man findet nie die Zeit, sich mit diesem Rest zu beschäftigen.
Der Zeitmangel! Vor 71 war das die Qual jeder Lehrerin. Vor dem Diplom kämpfte man mit einem übermäßig aufgedunsenen Programm und danach mit dem gleichen, entleerten Programm, das einem vor Augen führte, daß man nichts wußte!
Das war wahrhaftig nichts Neues! Alle Lehrerinnen waren zu dieser Zeit dazu verdammt; doch die lebendigen Quellen, an denen man seinen Durst hätte löschen wollen, sind nicht für die, die um ihre Existenz kämpfen müssen.
Ich hatte mein Studium fortsetzen und gleichzeitig in Paris als Hilfslehrerin bleiben wollen: viele hielten es so. Dennoch wollte ich mich zu diesem Zeitpunkt nicht von meiner Mutter trennen, und mit ihr kehrte ich zu meiner Großmutter Marguerite in die Haute-Marne zurück.
Somit begann ich im Januar 1853 mit meiner Lehrerinnenlaufbahn in Audeloncourt (Haute-Marne), wo ein Teil meiner Familie mütterlicherseits lebte.
Meine Großonkel, Simon, Michel und Francis, den man Onkel Francfort nannte, lebten noch; ihr dichtes rotes Haar wies keinen einzigen Silberfaden auf.
Sie waren schöne große Greise mit starken Schultern und einem kräftigen Kopf, einer einfachen Seele und einem raschen Auffassungsvermögen. So wie die Brüder meiner Mutter hatten sie, ich weiß nicht wie, eine Menge gelernt, und sie konnten gut sprechen.
Ein Urgroßvater hatte einst eine ganze Bücherei nach Gewicht gekauft: alte Bibeln mit Bildern an solchen Stellen, wo Homer über seine Gestalten die Wolken herabrief; alte Chroniken, wo die Legende so schön wehte, daß den Großonkeln selbst etwas davon anhaftete; Bücher der Wissenschaft in ihrem früheren primitiven Zustand; Roman aus der Vergangenheit, und das Ganze mit privilege du roy.[1] Das a wurde damals noch vom o ersetzt.
Sie erzählten mir davon mit solcher Begeisterung, daß auch ich die verlorenen Seiten und Bücher bedauerte.
Die Romane hatten sich während der Abende der écrégne abgenutzt, bei denen die Vorleserin zum Umblättern den Daumen anfeuchtete und über das Unglück der Helden einen Tränenstrom aus ihren unschuldigen Augen fließen ließ.
Die écrégne ist in unseren Dörfern das Haus, wo sich an den Winterabenden die Frauen und Mädchen versammeln, um zu spinnen, zu stricken und besonders, um die alten Geschichten des feüllot, der in seinem Flammenkleid auf den prèles (Wiesen) tanzt, zu erzählen oder zu hören, und die neuen Geschichten, die sich bei dem einen oder anderen zugetragen haben. Diese Abende gibt es heute noch; manche Erzählerinnen fesseln die Zuhörer derart, daß der Abend bis Mitternacht dauert.
Dann, unter dem ergreifenden Eindruck der Erzählung noch etwas schaudernd, begleiten die einen die anderen zurück, so weit es geht. Und die letzten, die den längsten Weg haben, laufen nach Hause, während sie die beruhigenden Zurufe ihrer Freundinnen noch hören.
Der Schnee breitet sich ganz weiß aus, es ist kalt, und der Reif - wie die Blumen im Mai - bedeckt die Zweige.
Vielleicht hat diese Bibliothek dazu beigetragen, in meiner Familie mütterlicherseits, in der man für eine Ausbildung nicht reich genug war, die Gewohnheit einzuführen, sich das Wissen allein anzueignen.
Die Brüder meiner Mutter schöpften daraus: der Onkel Georges ein erstaunliches historisches Wissen; der Onkel Michel die Leidenschaft für die Mechanik, was ich als Kind ausnutzte, indem ich ihn zum Bau eines kleinen Karren und von tausend anderen Gegenständen nötigte, und ihn sogar noch während des Krieges von 70 für ein Verteidigungsmittel in Anspruch nahm, das man nicht annahm, obwohl es gut war. Ich liebte meine Onkel sehr, die ich frech Georges und Fanfan nannte bis zu dem Tag, an dem meine Großmutter mir sagte, daß es sehr schlecht sei, seine Verwandten mit so wenig Respekt zu behandeln. Mein dritter Onkel, der vom Militärdienst zurückkehrte, verdankte den alten Büchern seine Lust zum Reisen, die sie in ihm erweckt oder gestärkt hatten; eine genaue Einschätzung von vielem, insbesondere der Disziplin, brachte ihn zu Bemerkungen, wobei er weit davon entfernt war, mich für fähig zu halten, sie zu verstehen. Tief in jeder Disziplin keimt die Anarchie. Dieser Onkel ist vor vielen Jahren in Afrika gestorben.
Da ich wieder bei den Tagen meiner Kindheit angelangt bin, lassen Sie mich diese Epoche noch etwas betrachten (wenn das Buch zu lang wird, kann man Seiten überschlagen).
Dort liegt die alte Mühle an der Straße nach Bourmont am Abhang eines wildwachsenden Weinbergs; das Gras am Teich ist dicht und frisch. Das Schilf rauscht, wenn die Enten es zerknittern oder der Wind darin spielt.
In der Mühle ist das erste Zimmer sogar am Tage finster; dort las der Onkel Georges jeden Abend. Wie viele Dinge hat er so beim Lesen gelernt!
Alle, Lebende und Tote, sind plötzlich an ihrem früheren Platz.
Da sind sie, die lieben Toten! Die alten, den Barden ähnlichen Verwandten aus Vroncourt; die Schwestern meiner Großmutter Marguerite mit weißem Häubchen, ihrem am Hals mit einer Nadel befestigten Tuch, ihrer viereckigen Bluse, mit der ganzen Aufmachung der Bäuerinnen, die sie von ihrer Jugend an (wo man sie die schönen Mädchen nannte) bis zu ihrem Tod eitel beibehielten: ihre drei Namen waren so einfach wie sie selbst, Marguerite, Catherine, Appoline.
Eine der beiden Schwestern meiner Mutter, die Tante Victoire, war mit uns in Audeloncourt; die andere, meine Tante Catherine, wohnte in der Umgebung von Lagny: sie besaßen beide, so wie meine Mutter, diese gänzliche Reinheit, diesen Luxus an Sauberkeit, der - von dem Band in ihrem Haar bis zu ihren Fußspitzen - weder den Verdacht eines Flecks noch eines Staubkorns zuließ.
So waren sie auch tief in ihren Herzen!
Während der frühen Jugend meiner Tante Victoire hatten Missionare, die in Audeloncourt predigten, einen religiösen Fanatismus hinterlassen, der eine beträchtliche Anzahl von jungen Frauen zum Kloster führte. Meine Tante gehörte auch dazu, jedoch nachdem sie Novizin oder Laienschwester in dem Hospiz von Langres war, zwang sie ihre durch das Fasten zerrüttete Gesundheit dazu, zurückzukehren; zu dieser Zeit fing sie an, bei uns in Vroncourt zu wohnen, wo sie bis zum Tod meiner Großeltern blieb.
Sie war hochgewachsen, mit einem etwas mageren Gesicht und feinen und regelmäßigen Zügen.
Nie habe ich einen so eifrigen Missionar wie meine Tante gesehen: sie hatte aus dem Christianismus alles entnommen, was begeistern kann: die finsteren Hymnen; die abendlichen Besuche in den dämmerdunklen Kirchen; das Leben der Jungfrauen, die an die Druidinnen,[2] Vestalinnen und Walküren denken lassen. Alle ihre Nichten wurden in diesen Mystizismus hineingezogen, ich noch leichter als die anderen.
Was für ein seltsames Gefühl ich noch verspüre! Ich hörte gleichzeitig meiner katholischen schwärmerischen Tante und meinen Voltairianischen Großeltern zu. Ich suchte, durch seltsame Träume gerührt; so sucht die in den Zyklonen verwirrte Magnetnadel den Norden.
Der Norden, das war die Revolution.
Der Fanatismus stieg vom Traum in die Realität hinab; mein Leben ging im Sturmschritt durch die Marseillaises des untergehenden Kaiserreichs dahin. Wenn wir Zeit dazu hatten, uns gegenseitig Wahrheiten zu sagen, sagte mir Ferré, daß ich eine Betschwester der Revolution sei. Es stimmte! Waren wir nicht alle Fanatiker dieser Revolution? Es ist wie mit jeder Vorhut.
Kommen wir auf meine Schule von Audeloncourt, die im Januar 1853 eröffnet wurde. Eine Freie Schule,[3] wie man sagte, denn um zur Gemeinde gehören zu können, hätte man einen Eid auf das Kaiserreich leisten müssen.
Mir fehlte der Mut nicht, ich hegte sogar die Illusion, daß ich meiner Mutter eine glückliche Zukunft bereiten könnte.
Der Betrag für einen Monat Schule konnte nur einen Franc erreichen (eine recht hohe Summe für die Feldarbeiter); da ich nicht das erforderliche Alter hatte, um Internatsschüler zu haben, war ich gezwungen, die Schülerinnen aus anderen Dörfern bei Eltern der Schülerinnen von Audeloncourt unterzubringen. Aber trotz der Denunzierungen einiger Idioten über diesen Umstand und über meine politische Meinung lernte meine Klasse umso besser, da ich den Eifer der ersten Jugend zeigte; ich unterrichtete sie mit Leidenschaft.
Die Ordnungsfreunde, die sich dazu herabließen, sich um mich zu kümmern, betrachteten mich als Rot, d.h. als Republikanerin, und als verdächtig, nach Paris gehen zu wollen, was sie jedoch nicht hätte ärgern müssen, da meine Art, die Dinge zu betrachten, sie störte.
Diese Beschuldigungen waren absolut richtig; ich hatte Paris kaum erblickt, da zog es mich schon an, obwohl ich noch nicht einmal so viele Wunderwerke gesehen hatte, wie man mir erzählt hatte; nur dort konnte man das Kaiserreich bekämpfen. Außerdem ruft Paris einen so stark, daß man seine magnetische Kraft fühlt.
Die Denunzierungen, die die Ruhe meiner armen Mutter störten, verschafften mir eine schöne Reise nach Chaumont. Dort sah ich mein Internat, meine Lehrerinnen, meine Freundinnen wieder, mit denen ich, wie früher, den bösen Leuten Streiche spielte.
Ich verbrachte dort zwei Tage unter dem Vorwand von Geschäften.
Ich erinnere mich daran, wie ich mit Clara gewissen Großmäulern von Republikanern (im Sprechen natürlich) einen großen Schrecken einjagte, auf deren Türen wir mit roter Kreide ein, wie sie sagten, geheimnisvolles Zeichen aufgemalt hatten; sehr geheimnisvoll in der Tat, denn die einen erkannten darin das Gleichheitsdreieck (etwas verlängert), die anderen ein unbekanntes Folterinstrument und die an der Sache nicht Interessierten ein großes Eselsohr. Diese hatten recht.
Ich sehe wieder Chaumont, wie es damals war: der Rasenplatz, die alte rue de Choignes, eine finstere Erinnerung, dort wohnte nämlich der Henker; die Talbrücke, die das ganze Val des Escholiers überbrückte; die Buchhandlung Sucot, die alles enthielt, was mich in Versuchung bringen konnte, und wo ich als Lehrerin wie auch als Schülerin ständig Schulden hatte. Der große Lockenkopf von Monsieur Sucot blickte zum Schaufenster inmitten der luxuriösen Papierwaren, der neuen Bücher, der aus Paris kommenden Musik.
Das erinnerte mich an meine kindliche Verblendung vor der Buchhandlung Guerre in Bourmont. Vor gewissen Bücherständen habe ich heute noch einen solchen Ausdruck.
Die Geschäfte, die mich nach jeder Denunzierung angeblich zwei Tage in Chaumont aufhielten, waren mit meiner Ankunft bereits abgeschlossen.
Ich ging zum Rektor der Akademie, Monsieur Fayet, und saß dort bei der Asche des Feuers wie bei meinen Großeltern. Ich sprach mich über die Denunzierungen aus, die ihm über mich zugeschickt worden waren und sagte, das alles wahr sei, daß ich wünschte, nach Paris zu gehen, daß ich Republikanerin sei und daß, wenn meine Internatsschülerinnen bei den Eltern meiner Schülerinnen aus Audeloncourt untergebracht seien, es deswegen geschähe, weil es den Gedanken dieser Familien entspräche, und ich lachte wie damals in meiner Kindheit; dennoch, wenn ich vom Studieren, von meiner Leidenschaft, die mich nach Paris rief, von der Republik, von meinen Lieben sprach, öffnete sich mein Herz .
Der Rektor betrachtete mich lange schweigend, bevor er mir antwortete, und seine Frau, die immer für mich Partei ergriff, lächelte, während die Tauben frei im sonnenerfüllten Zimmer flogen. Bei ihnen roch es nach Frühling zu jeder Jahreszeit und zu jeder Morgenstunde.
In meiner Schulklasse von Audeloncourt sangen wir die Marseillaise morgens vor dem Unterricht und abends nach dem Unterricht.
Die Strophe der Kinder:

Wir werden in die Bahn treten,
Wenn unsere älteren Brüder fallen

wurde kniend gesungen; eine der Jüngsten sang sie allein (sie war eine kleine Brünette, die Rose hieß, und die wir wegen ihres glänzenden schwarzen Haares Taupette[4] nannten). Wenn wir im Chor wieder einfielen, hatten wir alle, die Kinder und ich, oft Tränen in den Augen. Dieses Gefühl habe ich in Numea im letzten Jahr meines Aufenthaltes in Kaledonien wieder erlebt. Es war am 14. Juli,[5] meine Aufgabe war es zu dieser Zeit, Zeichnen und Singen in den Mädchenschulen der Stadt zu unterrichten.
Monsieur Simon, der Vertreter des Bürgermeisters, hatte gewollt, daß die Kinder zwischen den beiden Kanonenschüssen im offenen Musikpavillon auf dem Platz des Cocotiers die Marseillaise sängen.
Die Nacht war plötzlich hereingebrochen: in diesen Gegenden gibt es weder Abend- noch Morgendämmerung.
Die Palmen raschelten leise im Wind, die Armleuchter erhellten ein wenig den Musikpavillon und ließen den Platz im Schatten, auf dem man die Menge spürte - eine schwarze und weiße Menschenmenge.
Vor dem Musikpavillon stand die Militärkapelle.
Madame Penand, die erste konfessionslose Lehrerin, die in diese Kolonie kam, stand neben mir, ebenso ein Artillerist, der mit uns singen sollte; die Kinder standen im Kreis um uns herum.
Nach dem ersten Kanonenschuß wurde es so still, daß einem das Herz stillstand.
Ich spürte, wie unsere Stimmen in diesem Schweigen schwebten, es erschien einem, als würde man auf Flügeln rasch fortgetragen; der helle Chor der Kinder, der Donner der Blasinstrumente, der die Strophen abgrenzte, das alles ergriff einen.
Diesen Rhythmus, der unsere Väter führte, lebendige Marseillaise, wir haben ihn sehr geliebt.
Bei der Rückkehr aus Kaledonien fanden wir die heilige Hymne als Schrittmacher für alles nur Erdenkliche benutzt; kaum vom Schmutz befreit, in den sie die letzten Tage des Kaiserreichs gezerrt hatten, war die erneut herumgestoßene Marseillaise für uns gestorben.
Wir liebten noch andere Lieder; während der Waffenruhe, zur Zeit der Belagerung und der Kommune sangen wir oft.
Nach meiner Rückkehr aus Kaledonien fand ich unsere Lieder bei den Freunden aus London wieder.
.......................
Bursche, hörst du nicht
Diesen Refrain eines französischen Liedes?
Dieser Refrain, das ist die Marseillaise

Es schien uns, als hätten die Toten viel Leere hinterlassen; wieviel leerer ist es heute!
Das Geräusch von Holzschuhen in meinem Gefängnis erinnert mich an andere Holzschuhe mit einem traurigen oder fröhlichen Klang: an kleine schwarze Holzschuhe, die sonntags in Audeloncourt geschwind zum Tor der Kirche klapperten, in der man gerade den Domine, salvum fac Napoleonem[6] anstimmte.
Ich hatte den Kindern gesagt, es wäre ein Sakrileg, einem Gebet beizuwohnen, das für diesen Mann verrichtet wurde; so liefen die kleinen schwarzen Holzschuhe, liefen rasch und verursachten ein niedliches kleines trockenes Geräusch wie Hagel, das gleiche kleine trockene Geräusch wie die Kugeln, die am 22. Januar 1871 aus den Fenstern des Rathauses auf die unbewaffnete Menge niederprasselten.
Später hörte ich andere Holzschuhe, dicke und schwere diesmal, die an den Füßen der gefangenen Frauen von Auberive traurig klangen.
Sie schallten auf der gefrorenen Erde in einem schwermütigen Takt, während der schweigsame Zug vor den mit Schnee beladenen Tannen langsam vorbeizog.
Aus Audeloncourt schickte ich Victor Hugo Verse; wir, meine Mutter und ich, hatten ihn in Paris im Herbst 1851 gesehen, er antwortete mir aus der Verbannung in mein Nest von Vroncourt und mein Internat von Chaumont, so wie er mir früher aus Paris geantwortet hatte. Einige Geschichten schickte ich auch zu den Zeitungen von Chaumont.
Von diesen habe ich noch einige Auszüge, die weniger zerbrechlich sind als die Hände, die sie mir aufbewahrt haben.
Aus ihnen zitiere ich einen Satz, mit dem ich mir die Anklage der Beleidigung gegen seine Majestät den Kaiser zuzog, eine wohl verdiente Anklage überdies, die durch viele andere Sätze hätte motiviert werden können.
Dieses Feuilleton, eine Märtyrergeschichte, begann folgendermaßen:

Domitian herrschte; er hatte die Philosophen und die
kapitolinischen Gelehrten aus Rom verbannt, den Sold
der Prätorianer erhöht, die Spiele wieder eingesetzt,
und man verehrte den gütigen Kaiser und wartete darauf,
daß er erdolcht würde. Für die einen kommt die
Verherrlichung vorher, für die anderen nachher, das ist alles.

Wir befinden uns in Rom, 95 nach Christi.

Ich wurde zum Präfekten zitiert, der mir sagte: Sie haben seine Majestät den Kaiser beleidigt, indem sie ihn mit Domitian verglichen, und wenn Sie nicht so jung wären, hätten wir das Recht, sie nach Cayenne[7] zu schicken.
Ich antwortete, wer in dem Porträt Domitians Monsieur Bonaparte erkenne, beleidige ihn nicht weniger; außerdem hätte ich ihn auch tatsächlich im Auge gehabt.
Was Cayenne beträfe, fügte ich hinzu, wäre es mir angenehm, dort ein Erziehungshaus einzurichten, und da ich für die Reisekosten nicht selbst aufkommen könne, täte man mir damit sogar einen großen Gefallen.
Die Angelegenheit hatte keine weiteren Folgen!
Einige Zeit später kam ein Mann zu mir, der bei der Präfektur ich weiß nicht welche Gunst erfragen wollte, und sagte mir: Sie sollen bei dem Präfekten gewesen sein, schreiben Sie mir einen Empfehlungsbrief.
Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, und ihm entgegenhalten, daß ich zur Präfektur gerufen worden war, um verurteilt und mit Cayenne bedroht zu werden, und daß meine Empfehlung keineswegs günstig für ihn wäre - ganz im Gegenteil - der brave Mensch ließ nicht locker. Aber wenn ich es doch möchte, was macht es Ihnen aus! Versuchen Sie es doch erstmal.
Schließlich schrieb ich ihm etwa folgendes:

Sehr geehrter Herr Präfekt,
»Die Person, der Sie so freundlich waren, die Reise nach Cayenne zu versprechen,
wird von dem alten X... bedrängt, ihm einen Empfehlungsbrief für Sie zu geben.
Ich habe ihm nicht verständlich machen können, daß es das Mittel sei,
sich vor die Tür setzen zu lassen: er ist so stur wie ein Esel.
Möge er nicht zu seinem Schaden erfahren, daß ich recht hatte, mich zu weigern!
Was mich betrifft, Herr Präfekt, vergessen Sie bitte
besagte Reise nicht.«

Als ich den braven Menschen nach seiner Expedition nach Chaumont zurückkehren sah, lachte ich schon, das muß ich gestehen, über die Unannehmlichkeiten, die er mir berichten würde, doch zu meiner großen Überraschung sagte er mir: Na! ich wußte es doch; Sie haben Glück! Ich habe, was ich wollte.
Er war es, der Glück hatte!
In meiner Schulklasse in Audeloncourt hörte man unaufhörlich das Geräusch des Wassers; während des Sommers floß der Bach murmelnd hinab; während des Winters tobte er wie ein Wildbach.
Wer hört ihm nun zu, in diesem finsteren Haus, wo ich von aufmerksamen Schülerinnen umgeben war, wie es in den Dörfern üblich ist, da keine Ablenkung von außen eindringt? Ich könnte sie heute noch alle bei ihrem Namen nennen, von der kleinen Rose bis zur großen, die heute Lehrerin ist. Eudoxie starb in meinen Armen während eines Jahres der Seuche.
Und Zelie, die Schwester des Boten von Clefmont! Ich mochte sie doppelt gern, weil sie den Namen einer Freundin aus Vron-court trug, der ich lange nachgeweint habe, und weil sie eine lebhafte Phantasie besaß.
Der Bote und seine Schwester waren Waisenkinder. Er war der Älteste und nahm schon ganz jung die Stelle der verstorbenen Eltern ein; er hatte gewollt, daß seine Schwester meine Schule besuchte; bei meinen Reisen von Audeloncourt nach Chaumont sprachen wir von unzähligen Dingen wie Leute, die viel lesen.
Nie hat es eine ernsthaftere Diskussion gegeben, wie an dem Tag, an dem ich mit meiner Freundin Clara zurückkehrte; ich hatte in der Tasche noch die rote Kreide, die ich beim Markieren der Türen der bösen Leute benutzt hatte.
Ich benutzte sie, um dieselbe Zeichnung auf dem Rücken eines Reisenden anzufertigen, der sich in Lobreden zugunsten Bonapartes versuchte, und den ich erschaudern ließ, indem ich sagte:
- Die Republik wird noch kommen müssen, wir sind viele und tapfer.
Bei jeder Umspannstation stiegen neue Personen ein und aus, die einen mit dem Kittel aus blauem Leinen, mit dem durch einen kleinen Ledergurt am Handgelenk befestigten Stock, in der Tasche die Tabaksdose aus Kirschholz; die anderen in Tuchkleidern, die so selten getragen wurden, daß die Falten wie gewalzt erschienen.
Die Straße lang von Chaumont bis Audeloncourt; sie dreht sich spiralförmig um den Mont Chauve herum, steigt hinab, wo die Abhänge am sanftesten sind und indem sie die Knoten ihrer Falten durch die noch mit Stroh bedeckten Dörfer hindurch auflöst, stürzt sie schließlich bis zu den Wäldern der Sueur hinab, wo sich unter den niedrigen Zweigen der gewundenen Apfelbäume die zusammengestürzten Dächer einer kleinen Herberge befinden, in der man früher den Reisenden die Kehle durchschnitt, wie die Alten des Dorfes sagen; wer vor etwas mehr als einem Jahrhundert dort eintrat, kam selten wieder heraus.
Ist es unrecht, so lange bei diesen Zeiten zu verbleiben? Ich glaubte, daß ich sie schnell behandeln würde, und ich lasse mich von den Erinnerungen treiben; vielleicht werden noch einige Seiten der Haute-Marne gewidmet sein.
Einige Freunde sagen zu mir: Erzählen Sie ausführlich Ihr Leben in der Haute-Marne. Andere: Gehen Sie schnell über die ruhigen Tage hinweg und erzählen Sie nur ihr Leben seit der Belagerung eingehend.
Ich bin nicht gezwungen, die eine oder die andere der beiden Meinungen zu befolgen; ich erzähle die Dinge, wie sie mir einfallen.
Ich habe schon manche Seite zerrissen, die für andere kindisch war, aber nicht für mich, die ich darin diejenigen wiedersehe, die mich liebten.

VII.
In den Morgenstunden des Lebens wartet das Schicksal mit gefalteten Flügeln wie eine Schmetterlingspuppe auf die Stunde, da sie sich dem Wind preisgeben kann, der sie zerfetzt; so ging es mir in den Jahren in der Haute-Marne.
Manche Schicksale folgen zuerst einander und schlagen nachher entgegengesetzte Wege ein. In dem Internat von Chaumont habe ich meine Freundin Julie L... kennengelernt.... mit ihr wurde ich Lehrerin in der Haute-Marne und mit ihr auch Hilfslehrerin in Paris bei Madame Vollier; dann kamen die Ereignisse, sie blieben ihr fremd.
Jedoch hatten wir uns früher in den Ferien in unseren großen Wäldern (unter der Schwureiche) ewige Freundschaft geschworen; und weder die eine noch die andere hat diesen Schwur gebrochen. Selbst in Paris beschäftigte sich Julie hauptsächlich mit dem Studium, der Haß, den ich gegen das Kaiserreich empfand, ließ sie lange Zeit kalt; sie fühlte sich eher zu Musik und Dichtung hingezogen. Wir haben geraume Zeit an den Frühlingsabenden in Millieres, wo uns das Klavier als Orgel diente, zusammen gesungen; dort wurde ich ein bißchen Organist, bis zu meiner Abreise nach Paris im Jahre 1855 oder 1856; zu dieser Zeit hatte Julie die Stimme der Nachtigall unserer Wälder. Zwei Lehrerinnen, die ihren Lebensunterhalt allein bestreiten mußten, konnten in diesem Lande kaum nebeneinander überleben, wenn sie sich nicht zusammenschlössen; das taten wir, Julie und ich, denn auch. Trotzdem dachte ich immerzu an Paris, ich ging als erste dorthin; sie folgte mir zu Madame Vollier, 14, rue du Château-d'Eau.
Von diesem Augenblick an bis zum Tode ihrer Mutter wohnte meine Mutter in Vroncourt in diesem Haus, das an der Steigung beim Friedhof stand, von dem ich wahrscheinlich schon gesprochen habe.
Von da hörte man den Wind in den Tannen, die unseren Lieben Schatten spendeten. Im Winter sah man ihre Spitzen, die schwer von Schnee waren.
Nirgends habe ich den Rauhreif so lange wie in der Haute-Marne erlebt; abgesehen vom Polarmeer habe ich nirgends eine schneidendere Kälte gespürt.
Ich litt sehr darunter, meine Mutter und meine Großmutter allein zu lassen, aber die Hoffnung, ihnen eine glückliche Zukunft zu bereiten, hatte ich noch nicht aufgegeben; ich sollte diese Illusion noch lange hegen.
Von dieser Zeit an bis zum Tode von Mme Vollier in meiner Schule von Montmartre, vier Jahre vor der Belagerung, haben wir uns nicht mehr getrennt.
Ihr Bild liegt bei den lieben Erinnerungen, die die Polizei bei ihrer Durchsuchung gefunden hat, denn meine Mutter bewahrte sie sorgfältig für mich auf; halb verblichene Bilder, würmerzerfressene Bücher, verwelkte Blumen, rote Nelken und weißen Flieder, Eiben- und Tannenzweige; heute gäbe es noch dazu die weißen Rosen mit Blutstropfen, die ich ihr aus Chaumont schickte.
Zwischen eben diesen in den alten Möbel (auch sie waren Erinnerungen) versteckten Überbleibseln wartete sie auf mich, die arme Frau, aber von den sechs Jahren, zu denen ich verurteilt wurde, hat sie nur zwei warten können.
Heute ist das Zimmer in Montmartre von Unbekannten bewohnt; dennoch mag ich es einen Augenblick vor mir sehen, so wie das Haus bei dem Friedhof in Vroncourt. Das letzte Mal, daß ich Vroncourt gesehen habe, war in den Ferien 1865; mit mir war die noch ganz junge Mme Eudes (damals hieß sie noch Victorine Louvet); sie war sechzehn oder siebzehn und arbeitete für ihre Prüfungen.
Die Freude meiner Großmutter und meiner Mutter, als sie mich wiedersahen, war so groß wie die meine; es schien uns, als müßten die Ferien ewig dauern - sie waren schnell vorbei!
Als ich diese beiden armen Frauen verließ, wagte ich es nicht, den Kopf zu wenden, es zerriß mir das Herz; aber der Augenblick war gekommen, wo der Kampf gegen das Kaiserreich zunahm, und so klein er auch noch sei, jeder hielt seinen Posten.
Uns schien, als müßte die Republik alles Üble in der Menschheit heilen; wir hatten allerdings von einer sozialen und egalitären Republik geträumt.
Ich sah meine Großmutter Marguerite nie wieder.
Victorine erzählte mir noch von diesem Herbst während der Krankheit, an der sie, ganz jung, bei der Rückkehr aus dem Exil starb.
Wir gingen zusammen in den Wald, ich hatte ihr die Schwureiche, das alte, noch stehende Schloß gezeigt; sie ging mit meiner Mutter in den Weinberg, der damals voll von jungen Bäumen aller Art war, die sie dort gepflanzt hatte.
An einem Abend gingen wir an dem Wald von Thol bei Clefmont entlang zu dem Onkel Marchal, dem alten Waldhüter, der seine Tochter verheiratete; während des ganzen Weges folgten uns der regelmäßige Trab und die leuchtenden Augen eines Wolfes. Es lieferte uns eine Inszenierung für die Legende der Eiche.

Die Eiche
................................
Sie steht unter der großen Eiche,
unter der großen dreißigjährigen Eiche.
Zweige des roten Eisenkrauts
umschlingen ihr wehendes Haar.

In dem Wald der dunklen Schatten,
herrscht das Schweigen ohne Ende.
Die Barden singen; die Druiden
wollen ihr Leinentuch ausbreiten.

Lange schwingt das Echo der höchsten Lieder,
nachdem das Lied verstummte.
Und die Lauten hallen nach,
der gespenstische Zweig ist gefallen.

Aus tiefen Schnitten in der Eiche
strömt das Blut des weißen Stiers;
Aber das Opfer, in seinem Leid,
stößt ein trauriges Klagen aus.

Vor dem unheilvollen Omen
spricht die Priesterin mit dem Schicksal.
Am Horizont dauert das Gewitter;
Man braucht ein menschliches Opfer,

- ein freiwilliges Opfer.
Noch jung ist der, der kommt.
Er will, daß sein Blut auf die Erde fließt,
vergossen durch die goldene Sichel.

Aufrecht unter der erschreckenden Nacht
wie schön war er für den Tod!
Wer starb, o blutiger Tod,
Tode der Märtyrer am erhabensten?

Zitternd die Druidin
erschlägt sich mit der goldenen Sichel,
sterbend fällt sie neben ihn,
sich noch einmal ins Herz stoßend.

Als Talisman auf der Brust
trugen diese Toten im alten Gallien,
mit dem Ginster der Schluchten,
Das Zeichen der Eiche.

Es war die Zeit, da jeder Sklave
gegen die Cäsaren aufstand,
die Zeit, da Gallien tapfer war
und seine verstreuten Söhne sammelte.

O unsere Väter, stolz und wild,
Recht schwer ist euer Schlaf!
Väter, gibt es keine Omen mehr?
Haben wir kein rotes Blut mehr!

Ihr, die ihr euch bewaffnet, warum leben?
Die Liebe ist stärker als der Tod,
müssen wir uns nicht befreien?
Glücklich, wen das Schicksal zeichnet!

Der Hymen[1] verhundertfacht die Ketten.
Diesem Tiberius mit den glühenden Augen
gibt er neue Sklaven.
Seien wir nicht seine Kämpfer.

Freunde, es ist schön unter den Eichen;
Die Eichen bewahren den Schwur
Der Liebe oder des Hasses
auf den Misteln mit den Blutstropfen.

So waren meine Gedanken und sind sie noch heute bei den unheilvollen Dingen wie der Tyrannei, die das Volk ähnlich dem Korn in der Mühle zermalmt. Man hat schon genug mit den Qualen der armen Mütter, ohne die Familienbande durch Heirat zu vermehren; ja, nur dann können wir Kämpfer sein!
Für mich war es natürlich leicht, so zu denken, denn die, die um meine Hand angehalten hatten, wären mir als Brüder so lieb gewesen, wie ich sie als Ehegatten unmöglich fand; warum, weiß ich wirklich nicht; wie alle Frauen hatte ich hochgespannte Träume, und abgesehen von der Notwendigkeit, für die Zeit des höchsten Kampfes frei zu bleiben, habe ich jede Verbindung ohne Liebe immer als Prostitution betrachtet.
Noch fünf Jahre lang glaubte man ihn gekommen, den höchsten Kampf. Aber erst mußte Sedan zu den anderen Verbrechen hinzukommen, um den Kelch zum Überlaufen zu bringen. Man wartet immer erst, daß der Kelch wie ein Ozean überläuft, wie einen das Unglück erst erschüttert, wenn man es nicht mehr vermeiden kann.
Zwei lächerliche Gestalten, die einander folgten wie Gänse oder Gespenster (sie hatten von beiden etwas), hatten nacheinander bei meinen Großeltern um meine Hand angehalten, als ich zwölf oder dreizehn war; die Erinnerung daran hätte mich von der Heirat abgebracht, wenn ich nicht schon dagegen gewesen wäre.
Der erste, eine echte Komödiengestalt, wollte sein Vermögen (das er bei jedem Wort wie eine Schelle klingen ließ) mit einer nach seinen Grundsätzen erzogenen Frau teilen (also etwa in der Art wie Agnes;[2] nach alldem, was ich gelesen hatte, war es zu spät, um bei mir diese Methode anzuwenden. Der Trottel! Man hätte meinen können, daß er ein- oder zweihundert Jahre verschlafen hatte und gekommen war, um uns dies nach seinem Erwachen zu erzählen.
Man ließ mich selbst antworten; ich hatte gerade an jenem Tag mit meinem Großvater in seiner alten Moliereausgabe gelesen. Ich fand, daß der Bewerber dem Vormund von Agnes sehr ähnlich sei, und es gelang mir, ihm im rechten Augenblick einen großen Teil der Szene unterzujubeln, wo sie sagt: Die kleine Katze ist gestorben!
Als Antwort hatte ich ihm die Szene sogar Wort für Wort wiedergegeben - er verstand nicht!
Verzweifelt über diesen Fall, schaute ich ihm nun direkt ins Gesicht, und naiv wie Agnes fragte ich unverschämt: Mein Herr, ist das andere auch aus Glas? (er hatte ein Glasauge)
Meine Verwandten schienen mir ein wenig peinlich berührt; und er schleuderte mir aus dem Auge, das nicht aus Glas war, einen giftigen Blick zu: ihm war die Lust vergangen, aus mir seine Braut zu machen.
Zu dieser Zeit wuchs ich tüchtig, mein Kleid war sehr kurz, meine Schürze ganz zerrissen, und aus der Tasche hing mein Krötennetz; ich bedauerte, nicht ein paar Kröten bei mir zu haben, die ich geschickt in seine Tasche geschmuggelt hätte, aber es war nicht nötig; er kam nie wieder.

Was die zweite dieser drolligen Personen betrifft, so inspirierte mich wieder Moliere. Ich glaube, sie kannten sich nicht, und doch bildeten die beiden ein Paar.
Auch dieser hatte die Idee, sich eine ganz junge Braut zu suchen und sie ein paar Jahre wie weiches Wachs kneten zu lassen, bevor er sie sich sozusagen als Opfertier gönnte.
Haben Sie auch gemerkt, wie viele Geschöpfe zu zweit, zu dritt herumlaufen, ähnlich den Gestirnen, die umeinander kreisen? Diese beiden Doppelsterne hatten an sich etwas Faszinierendes, doch das Lachen zerstörte den Eindruck.
Diesem Zweiten hielt ich etwa folgende Rede: Sie sehen wohl, was da an der Wand hängt (es war ein Hirschgeweih)? Nun, ich liebe Sie nicht, ich werde Sie niemals lieben, und wenn ich Sie heiratete, würde ich mir ebensowenig Zwang antun wie Mme Georges Dandin! Sie würden hunderttausend Fuß mehr Hörner auf dem Kopf tragen als der!
Er kam nie wieder, wohl überzeugt, daß ich ihm die Wahrheit gesagt hatte; allerdings wurde mir empfohlen, ein andermal etwas zurückhaltender zu sein, wenn ich die alten Autoren zitierte.
Kurze Zeit später begegnete mein Großvater, als er mit dem Botenwagen aus Bourmont zurückkam, einem dritten Verrückten, der auf Vroncourt zeigte und ihm sagte: »Sehen Sie dieses alte Rattennest?«
Ja! Und? - Da gibt es einen alten Kauz, der seine Enkelkinder für das Bagno und das Schafott erzieht.
Ja! Wirklich! - Ja, mein Herr. Kürzlich hat mein Freund X angeboten, das Weibstück in einigen Jahren zu heiraten, wenn ihre Erziehung so geleitet würde, wie er es wünscht. - Und?
Nun! Man hat sie antworten lassen, was sie wollte; sie hat so entsetzliche Sachen gesagt, daß mein Freund sie nicht wiederholen mag. Wenn ich eine solche Tochter hätte, würde ich sie ins Erziehungsheim stecken lassen. Ein kleines Weibstück, das keinen roten Heller haben wird! Na, wo gehen Sie denn hin?
Ich schlage den Weg nach Vroncourt ein, der alte Kauz bin ich.
Man bedenke, daß es arme Kinder gibt, die man gezwungen hätte, eines dieser alten Krokodile zu heiraten! Hätte man es mit mir getan, so fühle ich, daß einer von beiden, ich oder er, hätte aus dem Fenster springen müssen.
Ich weiß nicht mehr, ob ich dies Victorine erzählt habe. Mein ganzes Leben kam mir wieder in Erinnerung, aber ich sprach mit ihr hauptsächlich über meine Schülerinnen der Gegend: Rose und Claire, beide sind Lehrerinnen geworden; die große Estelle, den frischen Hirtinnen des Florians ähnlich; die arme kleine Aricie - mager, humpelnd, verkümmert, die in ein paar Tagen ein großes Studienbuch verschluckte und noch dazu den Unterricht des Vortages oder noch den der anderen Tage; die, die lachen, und die, die weinen machten.
Das waren einige von denen, die mich lachen machten. Ich habe von den beiden Laumont gesprochen: Monsieur Laumont dem Kleinen, Lehrer in Ozieres; Monsieur Laumont dem Großen, Arzt in Bourmont.
Beide kamen oft in unser Haus. Der Kleine trug immer einen grauen Kutscherrock, der kurz wie eine Pelerine war, und einen ellenlangen Spazierstock und schien die Erde kaum zu berühren; er war ebenso intelligent, wie sein Verhalten seltsam war.
Der Große, in einen weiten schwarzen Mantel gehüllt (mein Vetter und ich fanden, daß er darin aussah wie ein Mistkäfer) kam jeden Dienstag auf einem schweren Pferd angeritten, um mit uns den Tag zu verbringen. Die beiden Laumonts waren Verwandte, der Kleine verbrachte den Winter mit uns; er hatte früher meine Tante Agathe und meine Mutter unterrichtet; ich glaube, er hatte der ganzen Gegend das Lesen beigebracht.
Der Große trug manchmal in seiner Tasche eine Flöte, die er vollendet spielte.
Es war eine schöne Zeit, meine Großmutter und ich saßen am Klavier, mein Großvater nahm seine Baßgeige, und wir machten so lange Musik, bis wir genug hatten.
Trotz dieser Begeisterung fand ich immer Zeit, der bekannten Stute eine ganze Schürze voll Hafer zu geben, was ihre Gangart eigentümlich veränderte.
Dann erinnerte der im abendlichen Dunst rasch davonreitende Doktor mit seinem wehenden weiten Mantel an den schwarzen Ritter aus den Legenden.
- Kleines Ungeheuer! sagte er eines Tages zu mir, nachdem er zwei Wochen nicht gekommen war, um ein Haar hätten Sie mich umgebracht; ich habe die letzten vierzehn Tage im Bett verbracht.
Iah war darüber so bestürzt, daß ich mich in die Tiefe eines Kellers zurückzog, um über meine Unbesonnenheit zu weinen; dort stieg ich immer hinunter, wenn ich irgendeinen großen Kummer hatte: es beschwichtigte meine Gewissensbisse, daß ich nur Dunkelheit sehen konnte. Von Mitleid ergriffen, gestand mir nun meine Großmutter, daß mir Monsieur Laumont der Große nur eine Lektion hatte erteilen wollen, und daß ihm in Wirklichkeit gar nichts geschehen war; es war auch so genug der Strafe. Die beiden Laumonts sind bemerkenswerte Gestalten, von denen ich ausführlicher erzählen werde.
Ich dachte, daß ich mit Vroncourt heute fertig werden würde, und nun reihen sich endlos weitere Seiten, und ich habe immer noch etwas zu erzählen. Ich werde noch darauf zurückkommen, zunächst umreiße ich mein ganzes Leben.
Wie oft erinnerte ich mich am Ende des Kaiserreichs der furchtbaren Strophen von Victor Hugo! Kalt wie Stahl zwängten sie sich in mein Herz, und jede Silbe klang in meinem Ohr wie eine Standuhr.

Harmodius, die Zeit ist gekommen!
Diesen Mann kannst du getrost erschlagen.[3]

So hätte ich gehandelt, denn gäbe es diesen Mann weniger, so würden Millionen von Menschen verschont. Jemand hatte mir einen Empfang versprochen (denn ihn hätte ich nicht um eine Audienz gebeten, selbst nicht, um ihn zu töten).
Die versprochene Audienz gab man mir, als Bonaparte nicht mehr anwesend war, als er zu seinem Krieg gegangen war.
Ja, zu dieser Zeit hätte man Sedan vermieden, wäre Bonaparte tot gewesen; aber gewöhnlich wartet man die Ausrottung vieler Menschen erst ab; gern würde man die eines ganzen Volkes abwarten, bevor man die großen Meuchelmörder aufhält.
Vielleicht versteht man es dadurch schneller, und diese Ausrottung von Legionen wird das menschliche Geschlecht daran hindern, sich selbst noch länger diesen Menschenfällern zu überlassen, die es zu ihrem Spaß wie einen Wald stutzen.

VIII
Als wir, Julie und ich, bei Mme Vollier wohnten, beide gleich gekleidet, beide groß und braunhaarig, hielt man uns für Schwestern; man nannte uns die Töchter Vollier. Als man 71 eingehende Auskünfte über mich sammelte, mußte ich auf diese Eigentümlichkeit hinweisen.
Zwei meiner Kusinen waren zu dieser Zeit Hilfslehrerinnen: eine in Puteaux, die andere in La Chapelle. Wir hatten in etwa dieselben Einnahmen, d.h. das, was das Lehren einem zu dieser Zeit einbrachte. Wir waren darüber nicht betrübt: es war bekannt, daß es sich unter der Herrschaft seiner Majestät Napoleon III. nicht anders verhalten konnte als unter der seiner Vorgänger. In keinem Staat hätte man weniger Geld gehabt; in keinem Staat hätte man besser darauf verzichten können - wir lebten ein bißchen Boheme!
Trotz ihres Alters konnte Mme Vollier, wie alle Frauen, die von ihrer Arbeit leben, der Situation ins Gesicht lachen; manche befreundeten Literatinnen konnten noch mehr ertragen! An jedem Donnerstagabend verhöhnten wir das Ganze bei einer dampfenden Tasse guten Kaffees. Ich hütete mich wohl davor, meiner Mutter zu sagen, daß die Einnahmen mit Mühe und Not die Ausgaben der Tagesschulen (so gering sie auch waren) aufwogen, in denen die Miete ständig stieg. Als wir erkannt hatten, daß es nichts zu gewinnen gab, und da keine von uns etwas besaß, was wir aber nicht ausposaunen wollten, beschlossen Mme Vollier, Julie und ich, uns zusammenzutun. Das gab uns einen seriösen Anstrich und hatte zur Folge, daß ich meiner Mutter einen ordentlichen Teilhabervertrag schicken konnte, wodurch endlich das Gerede aufhörte: Ihre Tochter wird niemals irgendetwas verdienen! Sie gibt alles aus, und Sie dürfen ihr nichts mehr schicken etc.; eine Köchin verdient zehnmal mehr.
Wir wußten verdammt gut, daß mit dem Unterrichten nichts zu verdienen war! Aber in jedem anderen Frauenberuf hatte man noch weniger, wenn man nicht schummeln wollte. Sind die Frauenberufe denn heute besser? Allerdings sind die der Männer nicht viel mehr wert!
Die arme Mme Vollier war eitel für uns wie eine Mutter und fand Mittel, daß Julie und ich immer schmuck gekleidet gingen. Ich erinnere mich an unsere weißen Krepphüte mit den Margeritensträußen, an ein Kleid aus schwarzer Granatseide und an Spitzenumhänge; doch mit Hilfe von Wechseln oder des Temple[1] wurden wir viel billiger ausstaffiert als man geglaubt hätte.
Meine liebe Mutter fand ihrerseits Wege, um mir ein wenig Geld zu schicken, das leider für Bücher oder Noten draufging. Jetzt mache ich mir Vorwürfe darüber, aber der Teilhabervertrag hatte sie beruhigt, und das Lamentieren der Dummköpfe, wie unrecht sie gehandelt habe, mich nicht zur Heirat zu zwingen, hatte aufgehört: das gesiegelte Papier des Vertrages hatte ihnen imponiert. Es gab nichts mehr zu sagen: ich war Teilhaberin einer Schule in Paris!!
Wir waren alle drei bestimmt nicht faul, aber in dem Viertel gab es Erziehungshäuser in Hülle und Fülle, und die Mieten waren sehr hoch.
Nach den Unterrichtsstunden gaben wir noch Abendkurse: selbst Mme Vollier, obgleich sie schon sehr betagt war. Sie erzählte ihren Söhnen im Kleinen die gleichen Lügen, die ich meiner Mutter im Großen auftischte. Mme Vollier hoffte, wenn man die Nr. 14 der rue du Chateau-d'Eau abreißen würde, auf eine Entschädigung, mit welcher wir eine Schule in den Vororten hätten aufmachen können. Julie hatte von ihrer Familie eine kleine Summe erhalten und ließ sich in einem dichtbesiedelten Viertel nieder; sie trat uns ihren Anteil an der Gesellschaft ab und kaufte sich eine Schule im faubourg Saint-Antoine. Ich wollte mich ihr nicht anschließen. Mme Vollier war schon alt und Julie noch jung, aber an den freien Tagen waren wir zusammen, und an den Donnerstagabenden gab ich dort Musikunterricht.
Diese Einzelheiten sind zu knapp umrissen, dennoch wird dieses Gerüst aus meinem Leben das Buch weniger unvollständig erscheinen lassen, wenn der Tod es schließen sollte.
- Wenn Ihre Tochter so viel Geld verdient, sagte man zu meiner Mutter, warum macht Sie Ihnen dann nie eine kleine Freude?
Beunruhigt kam sie nach Paris; ich konnte sie in den Ferien nicht besuchen: in den Tagesschulen gibt es nur acht freie Tage, andernfalls läuft man Gefahr, seine Schüler zu verlieren. Die Eltern, die ihre Kinder das ganze Jahr über bei sich haben, ausser in den Unterrichtsstunden, wollen oder können sie nicht länger als acht bis zehn Tage zu Hause behalten. Vor allen Dingen die Privatstunden erlauben keine längeren Ferien.
Und wie sollte man es auch machen mit der schrecklichen Miete, wenn man einen Monat ohne Einkünfte blieb?
Wenn irgendetwas anderes als der Existenzkampf mich je unglücklich gemacht hat, so bin ich es im Lehrerberuf niemals gewesen; ich war jung, und ich gestehe, daß ich in den Pausen wunderbar mit den Großen Spaß machen konnte: Auf Anhieb dichteten wir Dramen, die wir den Kleinen vorspielten (zum besseren Verständnis wurden die Dekorationen an die Tafel gemalt). Jung bin ich geblieben, durch alle Lebenslagen hindurch, und bis zum Tode meiner Mutter etwa hatte ich ein junges Herz; seit jenem Tag beherbergt es keinen Tropfen Blut mehr.
Nun ist mir das Leben gleichgültig, alles ist vorbei, und ich werde im höchsten Kampf (in dem wir alles hergeben müssen) kalt sein wie der Tod.
Ich sehe die Schülerinnen des Chateau-d'Eau in kleinen Gruppen vor mir: die Gruppe der Großen, zwei oder drei waren von hohem Wuchs, Léonie C., Aline M., Leopoldine; - die Gruppe der Hellhaarigen, zwei hatten eine breite Stirn und stahlblaue Augen, Héloise und Gabrielle; - eine Gruppe mit schwarzen Augen,
Alphonsine G., und die beiden Schwestern L., eine Gruppe mit blassem Teint, Josephine L., die kleine Noel, Marie C. Und Kleine, die so dunkles Haar hatten, daß es schwarz schien: Elisa B., die schon ganz jung die hervorstechenden Züge der südländischen Rasse hatte, Julie L., deren Stimme stark war,
solange sie noch nicht schön war, Elisa R., die zur Preisverteilung[2] ihr Musikstück spielte, dabei hatte sie die vier Jahre eines Mozart noch nicht erreicht. Und so viele andere, und alle, was ist aus ihnen geworden? Man versteht, warum ich hier wie in der Haute-Marne, wie in Montmartre, wie in Kaledonien nur die Anfangsbuchstaben angebe.
Wer weiß, ob meine Erinnerungen nicht eines Tages durchgeblättert werden und für die Verhaftung derer benutzt werden, die mir begegnet sind! Ob man sie nicht der Anarchie anklagen würde, weil sie mich gekannt haben!
Wir sagten vorhin, daß meine Mutter beunruhigt war und nach Paris gekommen war, um sich selbst zu überzeugen.
Zwischen ihr und Mme Vollier, die meiner Großmutter glich, entstand eine herzliche Freundschaft. Wieviel Schlimmes erzählten sie sich über mich, die armen Frauen! Aber wie schön waren die vierzehn Tage, die wir miteinander verbrachten, bis auf den Abend, wo meine Mutter angekommen war. Ich war bei unserem Abendessen zu dritt so glücklich, daß ich das Gefühl hatte, eine Trübung dieses Glücks sei unvermeidlich. Ich hatte recht.
Ein langer Schlaks mit Schielaugen tauchte plötzlich auf und brachte einen fälligen Wechsel, den ich vollkommen vergessen hatte.
Das geschah gerade in dem Augenblick, da ich mich vor meiner Mutter (nicht, weil es mir Spaß machte, sie zu täuschen, sondern weil ich sie beruhigen wollte) mit meinem Entschluß rühmte, für Bücher keine Wechsel mehr zu unterschreiben: das Schweigen von Mme Vollier ließ nichts Gutes ahnen, und das Erscheinen des langen Schlaks strafte mich Lügen, wie es nicht treffender hätte sein können.
Um meine Mutter zu beruhigen, nahm dann Mme Vollier das Geld für die Miete (zu der ihre Söhne gerade den Rest beigesteuert hatten) und bezahlte den Wechsel. Meine Mutter beglich diese Summe, sobald sie nach Vroncourt zurückgekehrt war und gab mir behutsam zu verstehen, wie viele Entbehrungen sie die Bücherkäufe schon gekostet hätten. Lange Zeit habe ich nicht wieder damit angefangen, aber es war hart, es gab so viele Neuerscheinungen, die mich in Versuchung brachten! Eigentlich alle, wenn ich ehrlich sein will!
Zum Glück gab es noch den Elementarunterricht. Da der Unterricht in der rue Hautefeuille meistens um zehn Uhr abends stattfand, konnte ich mich dahin flüchten, und bei der Rückkehr waren die Buchhandlungen geschlossen.
Dort hatten wir in der langen Nacht des Kaiserreichs ab und zu einen Ausblick auf bessere Zeiten. Wer hätte damals gedacht, daß sich unter den Männern, die so schön von der Freiheit redeten, die so laut die Verbrechen des Dezembermannes[3] anprangerten, einige befinden würden, die die Freiheit im Blut des Mai 1871 ertränken wollten?
Die Macht verursacht Schwindelgefühle, sie wird sie immer verursachen, bis zu der Stunde, da sie der ganzen Menschheit gehören wird.
In jedem Menschenleben vollziehen sich dieselben Veränderungen wie in der jahrhundertelangen Entwicklung der gesamten Menschheit: in der Kindheit, in der Jugend, im Mannesalter des Menschengeschlechts.
Verachtet nicht in der Jugend jeder menschliche Geist die Träume der Kindheit, in der er sich mit sich selbst beschäftigte?
Der von andern getrennte Mensch tritt zurück und hält es nicht mehr für würdig, törichte Träume um seine kleine Person zu spinnen.
Dann ist es belanglos, daß die Zeit für ausgedehnte Studien gefehlt hat und daß man von den Künsten geträumt hat und nun nichts weiter als eine Unterrichtsmaschine ist. Man fühlt, man leidet, man ist glücklich mit der ganzen Epoche, in der man lebt, und alle Liebe, aller Haß, alle Übereinstimmung, alle Macht, die man besitzt, all das wirft man in die mitreißenden Menschenströmungen; man ist nichts und ein Teil des Ganzen: ein Teil der Revolution!
Als ich bei Mme Vollier wohnte, schickte ich einige Verse an Zeitungen, an die Union des Poetes,[4] die Jeunesse[5] und andere, aber ich hatte schon so vieles aus meinen Händen weggegeben, daß ich kaum darauf achtete, was damit geschah; ich habe oft nicht gewußt, was von alledem erschien.
Victor Hugo, der im Exil war, schickte ich die Gedichte, mit denen ich annähernd zufrieden war. Doch die Zeit, da ich ihm von Vroncourt aus Verse geschickt hatte, die der nachsichtige Meister als so zart wie mein Alter bezeichnete, lag weit zurück.

Ich bin die weiße Taube
aus dem schwarzen Gewölbe
die für den Friedensbogen über dem Grab
einen kleinen Zweig sucht.

Was ich ihm nun schickte, roch nach Pulver.

Hört ihr den Donner der Kanonen?
Zurück, wer schwankt!
Morgen wird der Feigling verraten!
Auf die Berge, auf die Klippen
voran! Wir säen die Freiheit.
Der Gewittersturm trägt uns fort
Gehen wir, lebendige Marseillaise.
Gehen wir, gehen wir weit über die Meere, durch die dunklen Täler.
Gehen wir, gehen wir; es falle das reife Korn in seine Furchen.

Diese Verse, die schwarze Marseillaise, warf ich an einem 14. Juli zusammen mit anderen in den Postkasten von L'Echelle; sie waren an Mme Bonaparte gerichtet; die letztgenannten Verse, die Vermorel und ich gemeinsam angefangen hatten, waren von anderen Freunden durchgesehen und ergänzt worden, mit der gleichen Geringschätzung des Reimes, aber mit Ausdrücken, die, wie sie sagten, den Umständen besser angepaßt seien, wenn das Wort >angepaßt< die Sache auszudrücken vermag! Ich glaube, daß, abgesehen von der ersten und der letzten Strophe, keiner von denen, die daran mitgearbeitet hatten, gewagt hätte, dieses Stück ganz laut vorzulesen:

AUF DIE MELODIE VON »MALBROUGH«
1. Strophe
Guten Tag, Frau Bonaparte,
Mironton, etc.
Mironton, etc.
Wie geht es uns denn?
Na ja, mein Herr der Cent-Garde,[6]
Es geht mir nicht schlecht, und Ihnen?

letzte Strophe
Elende des Hofes, Drückeberger, Schufte
Mironton, etc.
Bestochene, Geschäftemacher,
Ihr seid selbst das Geschäft,
Mironton, etc.
Die Lumpen dieser Lumpensammler.

Wie oft mußten wir glauben, daß der Tag gekommen sei, die Fetzen des Kaiserreichs zu den Lumpen zu werfen, und immer noch bestand es weiter! Nichts ist so beständig wie Ruinen, nichts hält länger als Lumpen.
Als ich an einem freien Tag zu Julie ging, kam ich an einer Menschenmenge vorbei, die über den Boulevard eilte; ich dachte, die Stunde sei gekommen!
Aber es ging um Monsieur J. Miot, der ins Gefängnis abgeführt wurde. Einige hatten sich vom Karnevalszug abgewandt, um zu sehen, wie der alte Republikaner von den Schergen des Kaiserreichs abgeführt wurde; diese an einem Trauertage fröhliche Menge ist nicht das Volk, es ist dieselbe Menge, die bei Hinrichtungen zu finden, aber nicht dabei ist, wenn es darum geht, Pflastersteine aufzuheben.
Es ist der Haufen Bewußtseinsloser, die, ohne es zu wissen, die Tyrannei unterstützen und bereit sind, jeden, der sie retten will, an der Gurgel zu packen und unter Wasser zu ziehen; es ist die große Herde derer, die den Hals dem Messer hinhalten und unter der Knute gehen.
Wie zu allen Zeiten, wenn die Nationen Schlachthäuser sind, war auch unter dem Kaiserreich die Literatur seltsam; Blutgier füllte die Bücher; es gab vergessene Leichen hinter jeder Seite, als hätte man beim Schreiben bei Napoleon III. hereingeschaut. Alles roch schal, Aasfliegen summten über den Büchern.
Daher schlummerten die reizenden Bücher von Adèle Esquiros und warteten auf günstigere Zeiten. Manchmal las sie uns ein paar Seiten daraus vor, frische Liebesgeschichten, anmutige Bilder, die jene Frühlingsmorgen heraufbeschworen, wenn der Tau die Blüten bedeckt und die Sonne durch die Zweige schimmert. Es waren wohl auch einige bittere Stellen darin. Aber ein feiner Spott verhüllte deren Traurigkeit.
Was ist aus diesen ganzen Manuskripten geworden! Ich habe sie niemals erscheinen sehen!
Es stimmt allerdings, daß ich zwischen der Deportation und dem Gefängnis wenig Zeit gehabt habe, um die Freunde aufzusuchen. Adèle Esquiros ist seit ein paar Jahren gelähmt; und wie früher trägt sie immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen das harte Schicksal.
Eines Sonntags saß ich allein bei Mme Vollier und versuchte mich in Melodien, die, das wußte ich genau, ebensowenig wie der Text (vielleicht Reminiszenzen meiner Liebe zum Teufel) jemals das Tageslicht erblicken würden. Es war eine phantastische Oper.
Jetzt kann ich es getrost zugeben: es war nicht mehr und nicht weniger als eine Oper, der Traum vom Hexeneabbath.

Wenn man sich tapfer darüber klargeworden ist, daß man unmöglich einen Verleger findet, sofern man nicht bekannt ist, und daß man andererseits nicht bekannt werden kann, solange man keinen Verleger gefunden hat, vertreibt man sich nicht die Zeit damit, seine Manuskripte in die Vorzimmer zu schleppen; man arbeitet weiter in seinem Beruf, wie er auch sei. Hätte man keinen, würde man,lieber Lumpensammler werden, als Empfehlungen nachzujagen. Es macht sogar ein gewisses Vergnügen, Strophen, Motive, Zeichnungen dem Wind preiszugeben. Mögen diese Blätter fallen und sich unter deinem Schritt, Revolution, verlieren bis zu dem Tag, da sich jeder frei entfalten wird!

Als ich mich an meinem Teufelsspuk versuchte und bei der höllischen Jagd angelangt war:

Der Kelch ist gerötet
Vom Wein des Gelages.
Jäger, fort mit den Hüllen
Der Frauen und der Blumen,

läutete es an der Tür. Es war eine alte jüdische Dame, die aufrecht stand wie der 'Steinerne Gast' und immer noch sehr schön war; man hätte meinen können, ihr Gesicht sei in Marmor gemeis-selt: sie war die Großmutter einer meiner Schülerinnen.
Sie sind es also, sagte sie, die sich das wilde Zeug erlaubt, was ich da gehört habe?
Aber... Ja, ich bin es.
Ich bin überzeugt, daß Sie nicht wagen werden, in meiner Gegenwart mit diesen Greueln wieder anzufangen; nun, zur Strafe will ich den Rest hören.
Und sie bestand so sehr darauf, daß ich wieder anfing.
Sie war empört über die wilden Motive, doch ich mußte fortfahren, und gegen bestimmte Sachen war sie dann weniger streng; sie mochte die Liebeslieder.
Die Ballade des Skeletts gefiel ihr.

Du, die so spät noch singt an den moosigen Mauern der Türme,
Junge Frau, öffne mir.
Komm, meine Hand ist weiß und treu meine Liebe,
Und blitzen wird es aus meinen Augenhöhlen,
Die Königin des Turniers zu erschauen.

Am Schluß der Ballade liebt die junge Frau natürlich das Skelett und folgt ihm ins Unbekannte; sie ziehen in ein einsames Tal, wo man nichts anderes hört als eine Laute.
Meine alte Dame geruhte auch die Klage des Troubadours zu billigen.

Der Vogel sang
und erschauerte
unter dem Laube
Und im Winde die entflohene Seele
weinte, weinte.

Das Stück war sehr einfach angelegt: Nach der Vernichtung des Lebens auf unserem Planeten läßt sich das Höllenvolk darauf nieder und fühlt sich dort zuerst wohl.
Im ersten Akt wird deutlich, daß eine geologische Umwälzung den Niedergang der Erde herbeigeführt hat; die Bühne stellt so etwas wie eine Mondlandschaft dar; Satan sitzt auf der Spitze eines Pariser Gebäudes, dessen Fundament wie die ganze Stadt unter der Lava begraben ist.
Die Liebe Satans und Don Juans zu derselben Druidin verursacht den Konflikt und entfacht einen höllischen Krieg.
Alle Gestalten, die mir in der Geschichte, der Dichtung und den Legenden gefallen hatten, fanden darin einen ihrem Charakter entsprechenden Platz.
Am Ende zerbröckelte die Erdkugel, die Geister gingen in die Kräfte der Natur ein, deren Chor in einer von Blitzen durchzuckten Nacht erklang.
Allgemeines Lärmen des Orchesters, das langsam abnimmt; bald schweigen die einen, bald die anderen Instrumente; bis nur noch ein Chor von Harfen erklingt, die ebenfalls nacheinander verstummen; eine einzige bleibt und erlischt in einem Pianissimo, das zarter ist als der Tropfenfall auf den Blättern; so sollen die letzten Töne verebben bis zum Schweigen.
Da waren alle Instrumente von der Kanone bis zur Harmonika, Harfen, Leiern, Flöten, Hörner, Gitarren.
Ein Teufelschor ließ sich ohne Worte, nur durch Geigen (etwa zwanzig an der Zahl) hören.
Für dieses Monsterorchester wäre ein Gebirgskessel vonnöten gewesen, wo die Zuschauer parterre auf dem Talboden sitzen, oder eine ganze Bucht der Neuen Welt.
Nachdem ich auf dem Klavier eine groteske Nachahmung der Harfentöne vorgeführt hatte, schaute mich meine Jüdin fassungslos an:
- Unselige! Stammen diese Ungeheuerlichkeiten wirklich von Ihnen?
Ich antwortete nicht.
- Das Schlimmste ist, daß es Gutes enthält.
- Wenn dem nicht so wäre, wäre ich nicht so dumm, mich damit zu beschäftigen.
- Aber Sie wissen doch, daß man reich oder bekannt sein muß, wenn man sich diesen Dingen widmen will.
- Deswegen lasse ich es sein, ich bleibe im Schuldienst, und der Beweis: ich lasse diese Sache, die in einem Theater nicht aufgeführt werden kann, wie sie ist; sie ist ein Traum, sei es nun vom Hexensabbath oder vom Leben; so werfe ich und habe schon früher Träume weggeworfen.
Sie nahm meine Hand, die ihre war ganz kalt.
- Und Ihr Herz, wo werfen Sie es hin?
- Zur Revolution!
Sie setzte sich ans Klavier, ihre eiskalten Hände glitten über die schwarzen Tasten, und sie begann mit irgendeiner Bitte zu dem Gott Israels; man spürte darin die Einsamkeit, die Stille des Todes, und diese Stille drang bis ans Herz.
Einige Zeit darauf nahm mich mein 'Steinerner Gast' eines Samstags mit in die Synagoge.
Das Fremdartige der Riten und der Rhythmen, die an ein großartiges Kyrie erinnerten, nahm mich gefangen; als sie Tränen in meinen Augen sah, glaubte sie, ich sei von der Gnade Jehovahs ergriffen.
- Nein, sagte ich zu ihr, der Eindruck hat mich so gepackt, und vielleicht geht es mir mit allem so.
Ich weiß nicht recht, warum ich den Traum vom Hexensabbath so ausführlich beschrieben habe; ich glaube sogar, ein paar Jahre vor der Kommune habe ich ihn leserlich abgeschrieben, um ihn unserem Freund Charles de S.... zu geben, aber aus Faulheit habe ich damals die Schlußkatastrophe durch ruhigere Szenen ersetzt, wodurch ich mir etwa zehn Seiten ersparte; es ist so langweilig, etwas ins Reine zu schreiben.
Von dem Orchester, das bis zum letzten Ton der letzten Harfe verebbt, die der Geist im Verlöschen zerschlägt, war nichts geblieben, was ich der Mühe wert gefunden hätte.
Die Revolution erhob sich! Wozu die Dramen? Das wirkliche Drama war auf der Straße; wozu die Orchester? Wir hatten die

Trompeten und die Kanonen.

Wir waren uns oft begegnet, Charles de S... und ich, indem wir dieselben Ideen hatten. Das letzte Mal ging es um ein Klavier, dessen Hämmer durch kleine Bögen hätten ersetzt werden sollen, um dem Geplätscher im Bauch des Klaviers den leidenschaftlichen Ton der Geige zu verleihen.
Über dieses Thema hatte ich einen Artikel mit Louis Michel unterschrieben, der in dem Progres Musical veröffentlicht wurde.
Ich hatte mehrmals Gelegenheit gehabt, festzustellen, daß, wenn ich in den Kasten irgendeiner Zeitung mit Louise Michel unterschriebene Seiten geworfen hatte, man hundert gegen eins wetten konnte, daß sie nicht veröffentlicht würden; wenn ich dagegen Louis Michel oder Enjolras unterschrieb, hatte ich bessere Chancen.