Kapitel I bis VI

Wie das Samenkorn den Baum in sich trägt, so enthält alles Leben schon zu Beginn das, was das Geschöpf allem zum Trotz werden wird.
Ich will versuchen, auf den Ursprung der Anschauungen und vielleicht auch einiger Ereignisse in meinem Leben zurückzugehen.
Einige in meinen alten Unterlagen wiedergefundene Verse skizzieren diesen Ursprung; legen wir immer die Leiche erst hin, bevor wir sie erforschen. Hier ist dieses Stück:

 
DIE REISE
Wie unendlich ist der Horizont an der Schwelle der Wüste!
Kind, was ist dein Ziel auf dem neuen Weg?
Dort im Unbekannten, was ist deine Hoffnung?
- Wohin ich geh? Ich weiß nicht; zum Guten, zum Schönen.
 
Ich will weder weinen noch den Kopf drehen;
Ginge es nicht um meine Mutter, ach! noch viel weiter.
Durch das unsichere Leben, wo der Sturm braust,
Will ich gehen, wie man dem fernen Klang des Horns folgt.
 
Es schallen die Trompeten am Grunde des schwarzen Geheimnisses, 
Und viele andere gehen, die ich dort wiederfinden werde. 
Horcht! Man hört schwere Schritte auf der Erde. 
Ein Menschenalter zieht vorüber; ich gehe mit ihnen.
 
Ich liebte den Schatten des Weinbergs, voll der wilden Gräser; 
Ich liebte die Winternächte, wenn der Wolf, heulend, 
Durch die Mauerscharten kommt; im Sommer, die schweren Garben; 
Und in den grünen Eichen die Windböen.
 
Mädchen, willst du dich setzen, ruhig und friedlich, 
Und wie die Vögel dir ein weiches Nest bauen? 
Horcht! Es ist Zeit, fliehe vor dem beschwerlichen Weg, 
Wo dein Schicksal verflucht ist und unglücklich.
 
Unwichtig! Laßt mich. Seht die Sandkörner 
und die Haufen des reifen Korns, und im tiefen Himmel 
die zusammengedrängten Mengen; ist nicht alles gleich? 
Wohin all das geht, dahin gehen wir auch.
So weit sind wir heute gekommen.
Ich weiß nicht, ob diese Untersuchung lange dauern wird; ich habe die Absicht, mein Leben unbarmherzig zu durchforschen.
Vielleicht könnte man das eine Psychobiologie nennen! - Ich weiß nicht, ob ich noch in der Lage bin, eine einigermaßen verständliche Sprachwidrigkeit zu bauen.
Man findet es interessant, ein armes Tier quälen zu lassen, um seinen Mechanismus zu studieren, den man annähernd kennt und niemals besser kennenlernen wird, weil der Schmerz Störungen in den organischen Funktionen verursacht; sollte man nicht lieber die Funktionen des Herzens studieren?
Eigentlich sind es diese Phänomene des Herzens und des Gehirns, denen wir im Leben des menschlichen Tieres nachspüren.
Mit dieser Frage will ich beginnen. Ich halte es leider für unmöglich, daß nach dem Tode etwas von uns weiterlebt, nicht mehr als von der Flamme, wenn die Kerze ausgeblasen ist; und kann der denkende Teil entschwinden, Stück für Stück, wenn man die Gehirnlappen entfernt, einen nach dem änderen, so besteht kein Zweifel, daß der Tod, der das Gehirn zerstört, das Denken auslöscht.
Jedoch, wenn es die Ewigkeit gäbe, wie die unermeßliche Weite vor und nach uns, und wenn der denkende Teil in den unbekannten elektrischen Strömen entflöge und darin aufginge, so wie die Elemente des Körpers zu den materiellen Elementen zurückkehren, wäre das kein Wunder. Ob sichtbar oder unsichtbar, es wäre nur wieder die Natur, und ich habe mich oft gefragt, warum man sich einbildet, daß diese unbewußten oder bewußten Ströme durch ihr Eingehen in unbekannte Quellen ein besserer Beweis für die Existenz Gottes seien als die Geburt der Organismen, die die Erde bevölkern.
Leider kann das vom Gehirn abgesonderte Denken nicht fortbestehen, wenn das, was es hervorgebracht hat, nicht mehr existiert.
Man kann aber feststellen, daß die vorherrschenden Ideen eines ganzen Lebens ihre materiellen Ursachen in diesem oder jenem Eindruck oder in den Phänomenen der Vererbung oder anderen haben.
Wenn ich auf den Ursprung bestimmter Dinge zurückgehe, passiert es mir oft, daß ich auf eine starke Empfindung stoße, die ich nach vielen Jahren noch ebenso spüre.
So hatte der Eindruck einer geköpften Gans, die mit der roten Wunde, mit dem blutenden Hals, auf dem der Kopf fehlte, steil aufgerichtet dahinlief, einer weißen Gans mit Blutstropfen auf den Federn, die wie trunken lief, während der Kopf mit geschlossenen Augen in einer Ecke lag, für mich vielfache Folgen.
Ich war bestimmt noch ganz klein, denn als wir durch die Vorhalle gingen, hielt mich Nanette an der Hand, als wolltenwir uns auf eine Reise begeben.
Es wäre mir unmöglich gewesen, diesen Eindruck zu durchdenken, jedoch finde ich ihn wieder in meinem Mitleid für die Tiere, und auch in meiner Abscheu vor der Todesstrafe.
Einige Jahre später wurde in einem Nachbardorf ein Vatermörder hingerichtet; zu der Stunde, da er sterben wollte, mischte sich in mein Grauen vor der Todesqual des Mannes meine Erinnerung an die Todesqual der Gans.
Eine andere Wirkung dieses Kindheitseindruckes war, daß mir bis zum Alter von acht bis zehn Jahren beim Anblick von Fleisch schlecht wurde; und um den Ekel zu überwinden, bedurfte es grosser Willensanstrengung und des Zuredens meiner Großmutter, die mir vorhielt, ich werde viel zu große Gemütsbewegungen im Leben erfahren, als daß ich mich bei dieser Eigenheit gehenlassen dürfe.
Die Hinrichtungsgeschichten, die ich in der écrègne von Vroncourt gehört hatte, wenn Nanette und ich die seltene Erlaubnis bekamen, dort abends hinzugehen, trugen vielleicht dazu bei, mir den Eindruck von der Gans so lebendig zu erhalten.
Ich liebte es, diesen Geschichten beim Summen der Spinnräder zu lauschen; mit einem kleinen trockenen Geräusch klapperten Stricknadeln in das Schnurren hinein; und der Schnee, der dichte weiße Schnee, fiel herab, breitete sich wie ein Leichentuch über die Erde und peitschte das Gesicht.
Wir sollten um zehn Uhr heimkehren, aber wir gingen immer erst später, denn dann kam doch der schönste Augenblick! Marie Verdet legte ihre Strickarbeit in den Schoß; ihre Augen unter der wie ein Dach vorspringenden Haube weiteten sich, und die gebrochene Stimme der fast Hundertjährigen gab den Gespenstergeschichten vom Feullot, von den weißen Wäscherinnen, von der Hexenschlucht den rechten Rahmen; ihre Schwester Fanchette hatte alles gesehen und nickte zustimmend mit dem Kopf.
Nanette und ich gingen ungern fort, wir schlichen an der Friedhofsmauer entlang, wo wir niemals etwas anderes als den Schnee gesehen und den winterlichen Nordwind gehört haben.
Von meinen in der écrègne des Dorfes verbrachten Abenden stammt ein Gefühl der Empörung, das ich später recht oft wiedererlebt habe.
Die Bauern lassen das Korn wachsen, aber sie haben nicht immer Brot! Eine alte Frau erzählte, wie in dem schlimmen Jahr (ich glaube, so nannte man ein Jahr, in dem die Wucherer das Land ausgehungert hatten) weder sie noch ihr Mann noch ihre vier Kinder jeden Tag zu essen hatten; bei ihnen war nichts mehr, was sie hätten verkaufen können; sie besaßen nur noch die Kleidung, die sie auf dem Leib hatten; zwei ihrer Kinder waren gestorben, sie meinten, daß es vor Hunger war! Wer noch Korn hatte, wollte ihnen keinen Kredit mehr geben, nicht einmal ein Maß Hafer für ein bißchen Brot. Aber man muß sich eben damit abfinden! sagte sie. Es kann nicht jeder alle Tage Brot essen. Sie hatte ihren Mann daran gehindert, dem das Genick zu brechen, der ihnen den Kredit verweigert hatte, den sie in Jahresfrist in doppelter Höhe zurückzahlen wollten, und das, während die Kinder im Sterben lagen. Aber die beiden anderen Kinder hatten durchgehalten; sie arbeiteten eben bei dem, den ihr Mann hatte zurechtstutzen wollen. Der Wucherer zahlte ihnen nur sehr wenig, aber die armen Leute müssen eben erdulden, was sie nicht verhinderen können!. ..
Als sie das alles mit ihrer ruhigen Art erzählte, stiegen mir heiße Tränen des Zorns in die Augen, und ich sagte ihr: Sie hätten ihren Mann nicht hindern sollen! Er hatte recht!
Ich stellte mir die armen Kleinen vor, die vor Hunger starben, und das ganze Elend, das sie so herzergreifend schilderte, daß man in sich selbst das Elend nachfühlte; ich sah den Mann mit seinem zerrissenen Kittel, barfuß in Holzschuhen, wie er zu dem bösen Wucherer ging und ihn anflehte, und wie er dann mit leeren Händen den Weg zurückging. Ich sah ihn, wie er drohte, als die Kleinen kalt auf der Handvoll Stroh lagen, das ihnen noch geblieben war, und die Frau, wie sie den Richter aufhielt, der die Seinen und die anderen rächen wollte, ich sah die beiden Brüder, die mit dieser Erinnerung aufwuchsen und zu diesem Mann arbeiten gingen; die Feiglinge!
Mir schien, ich würde ihm an die Gurgel springen und ihn beißen, wenn er jetzt einträte, und das alles sagte ich; ich war empört, daß jemand glaubte, nicht jeder könne jeden Tag Brot haben; ich war erschrocken über diesen Herdenstumpfsinn.
- So darfst du nicht sprechen, Kleine! sagte die Frau. Das macht den lieben Gott weinen.
Haben Sie gesehen, wie die Schafe vor dem Messer die Kehle hinhalten? Diese Frau hatte den Kopf eines Schafes.
An diese Geschichte dachte ich an dem Tag, als ich im Religionsunterricht energisch das Gegenteil der bekannten Redensart: Jeder ist sich selbst der nächste! behauptete. Der alte Pfarrer (ein wirklicher Gläubiger) rief mich zu sich; ich befürchtete eine Strafe, aber er rief mich, um mir ein Buch zu geben.
Nun, dieses Buch hatte gerade noch gefehlt, um mich die Abscheu vor den menschlichen Blutsaugern und noch vor allen anderen menschlichen Vampiren zu lehren.
Es handelte sich um eine Art Paraphrase der Psalmen aus der Babylonischen Gefangenschaft.[1]
»Die Harfe hängt an den Uferweiden.«
»Das gefangene Jerusalem sah seine Straßen weinen.«
Und ich verfluchte die, welche die Völker vernichten, ebenso wie die, die sie aushungern, ohne zu ahnen, wie hoch ich später diese Verbrechen emporkommen sehen sollte.
Eine Kleinigkeit, ja, ein Geständnis sogar möchte ich nebenbei hinzufügen. Dieses Buch war ähnlich eingebunden wie die kleine Enzyklopädie von Monsieur Laumont >dem Großen<, und ich gestehe, daß mich seit dem Augenblick, da es der Pfarrer neben sich gelegt hatte, die Frage beschäftigte, was wohl unter diesem braunen Lederdeckel stecken mochte; ein Kinderbuch konnte es nicht sein; vielleicht war dem Pfarrer meine Neugier nicht entgangen.
Da ich von dem kleinen Band von Monsieur Laumont gesprochen habe, und da ich gesagt habe, daß ich jeden von uns zu allem Bösen und allem Guten für fähig halte, das in seiner Natur liegt, möchte ich noch gestehen, daß ich als Kind ohne Gewissensbisse zu Hause alles nahm, vom Geld, wenn welches da war, bis zu Früchten, Gemüse etc.Ich verschenkte das alles im Namen meiner Verwandten, was zu ergötzlichen Szenen führte, wenn sich irgendwelche Leute einfallen ließen, sich zu bedanken. Unverbesserlich, wie ich war, lachte ich darüber.
Einmal schlug mir mein Großvater vor, mir zwanzig Sous pro Woche zu geben, wenn ich nicht mehr stehlen würde, aber ich fand, daß ich an dem Geschäft zuviel verlor.
Ich hatte mir Schlüssel zurechtgefeilt, mit denen ich den Birnenschrank und noch andere Schränke öffnen konnte, in denen ich kleine Zettel an der Stelle hinterließ, wo ich etwas fortgenommen hatte. Darauf stand zum Beispiel dies: Ihr habt das Schloß, aber ich habe den Schlüssel.
Letztlich brachte der Boden so wenig ein, daß weder mein Onkel, der ihn zur Hälfte bestellte, noch wir auskommen konnten; ich begriff, daß oft viele solcher Jahre aufeinanderfolgen; daß nicht immer die einen den anderen helfen konnten, und daß es noch etwas anderem bedurfte, damit jeder Brot hatte.
Was die Reichen nun betrifft, so hatte ich für sie wenig Achtung; und da kam mir der Kommunismus in den Sinn.
Die harte Feldarbeit sah ich so, wie sie ist: sie beugt den Menschen wie auch den Ochsen über die Furchen; das Schlachthaus steht für das Tier bereit, wenn es verbraucht ist; der Bettelsack für den Menschen, wenn er nicht mehr arbeiten kann, das »leinene Gewehr«, wie man in der Haute-Marne sagt.
Man häuft keine Renten an, wenn man die Erde bearbeitet, man häuft sie für die, die schon zu viele haben.
Die Feldblumen, das schöne frische Gras, glaubt ihr, daß die Kleinen, die das Vieh hüten, damit spielen! Die beanspruchen nur die Wiese, um sich über Mittag hinzulegen und ein wenig zu schlafen; ich habe sie gesehen.
Der Schatten der Wälder, das gelbe Korn, das der Wind hin-und herwiegt, ist der Bauer nicht zu müde, um sie schön zu finden? Die Arbeit ist schwer, der Tag ist lang; aber er findet sich damit ab, findet sich immer weiter damit an; ist sein Wille nicht gebrochen? Der Mensch ist überarbeitet wie ein Tier.
Dann schläfert ihn das Gefühl der Ungerechtigkeit ein, die ihm angetan wird; er ist halbtot und arbeitet, ohne nachzudenken, für den Ausbeuter. Viele Männer haben mir wie die Alte der écrègne gesagt: Das darfst du nicht sagen, Kleine; das beleidigt Gott!
Ja, das antworteten sie mir, als ich ihnen sagte, daß alle ein Recht auf alles haben, was es auf der Erde, ihrem Nest, gibt, genau wie die kleinen Vögel, die im selben Frühling zur Welt kommen, auf den Erntefeldern gemeinsam Nachlese halten werden.
Mein Mitleid für alles, was leidet, für das stumme Tier vielleicht noch mehr als für den Menschen, ging weit; meine Empörung über die sozialen Ungerechtigkeiten ging noch weiter; sie ist gewachsen, immer mehr gewachsen, durch den Kampf hindurch, durch das Gemetzel hindurch; ich habe sie wieder mitgebracht von jenseits des Ozeans, sie beherrscht meinen Schmerz und mein Leben.
Ich komme auf die Hartherzigkeit des Menschen gegenüber dem Tier zurück.
Im Sommer sind alle Bäche der Haute-Marne, alle feuchten Wiesen im Schatten der Weiden voller Frösche; an schönen Abenden hörte man sie, bald einzeln, bald im Chor. Wer weiß, ob sie nicht einst die monotonen Chöre des antiken Theaters inspirierten!
Genau zu dieser Jahreszeit geschehen die Grausamkeiten, von denen ich gesprochen habe; die armen Tiere, die weder leben noch sterben können, versuchen, sich in den Staub oder in eine Ecke des Dunghaufens zu wühlen; in der hellen Sonne sieht man so etwas wie einen Vorwurf in ihren weit aufgerissenen und stets sanften Augen schimmern.
Die Brut der Vögel ist für die Kinder da, die sie quälen; entkommen sie, dann stehen im Herbst an den Waldpfaden Fallen für sie bereit; da sterben sie, an einem Bein gefangen und verzweifelt flatternd bis zum Ende.
Und die alten Hunde, die alten Katzen! Ich habe gesehen, wie man sie den Flußkrebsen vorgeworfen hat. Wäre die Frau, die das tat, in das Loch gefallen, dann hätte ich nicht die Hand hingestreckt.
Inzwischen habe ich Feldarbeiter gesehen, die wie Tiere behandelt wurden, Arbeiter in der Stadt, die vor Hunger starben; ich habe gesehen, wie die Kugeln auf die entwaffneten Mengen regneten.
Ich habe die Reiter gesehen, die mit der Brust ihrer Pferde die Versammlungen durchbrachen; das Tier, das besser ist als der Mensch, hebt die Hufe, um die Menschen nicht zu zerstampfen, und tritt unwillig zu, wenn es mit Schlägen angetrieben wird.
Oh, die Georgika und die Eklogen[2] täuschen über das Glück auf dem Felde! Die Naturbeschreibungen sind wahr, das Glück der Feldarbeiter ist erlogen.
Der Boden! Dieses Wort ist tief in mein Leben eingedrungen, in der dicken bebilderten römischen Geschichte, mit deren Hilfe Monsieur Laumont (der Kleine) unserer Familie beider Seiten das Lesen beigebracht hat.
Meine Großmutter hatte mich damit lesen gelehrt, indem sie mit ihrer großen Stricknadel auf die Buchstaben zeigte.
Das Buch lag auf demselben Pult, an dem sie mich nach den großen alten italienischen Notenbüchern, aus denen sie selbst gelernt hatte, singen ließ.
Auf dem Lande aufgewachsen, verstand ich die Bauernaufstände im alten Rom; über diesem Buch habe ich viele Tränen vergossen; der Tod der Gracchen[3] bedrückte mich so wie später die Galgen Rußlands.
Nach alldem war es mir nicht möglich, mein Leben nicht der Revolution hinzuwerfen.
Dieses Kapitel werde ich mit der Anschuldigung beenden, die manche Freunde, Augenzeugen, gegen mich erhoben haben. Man sagt, daß ich bei der Barrikade Perronet***211.101.4** in Neuilly mit allzu großer Selbstverständlichkeit einer in Gefahr geratenen Katze zu Hilfe geeilt bin. Nun ja, aber deswegen habe ich doch nicht meine Pflicht versäumt.
Das arme Tier kauerte in einem Winkel unter platzenden Schrapnells und schrie wie ein menschliches Wesen. Mein Gott, ja! Ich habe die Katze geholt, aber das hat keine Minute gedauert; ich habe sie einen Schritt weiter abgesetzt, wo sie einigermaßen in Sicherheit war.
Sie wurde sogar von jemandem aufgenommen.
Eine andere dieser dümmlichen Tiergeschichten; diese ist neueren Datums. In meiner Zelle von Clermont waren Mäuse aufgetaucht; ich hatte eine Menge Wolle zum Sticken, die mir meine arme Mutter und meine Freunde geschickt hatten; ich hatte keine Ruhe, bis die Löcher gestopft waren.
Aber in der Nacht hörte ich einen kläglichen kleinen Schrei hinter diesem Loch, einen so jämmerlichen Schrei, daß es eines Herzens aus Stein bedurft hätte, um ihr nicht aufzumachen; das tat ich sofort, und das Tier kam vor mir heraus.
War die Maus ein unvorsichtiges Tier oder ein Genie, das seine Leute einschätzen konnte? Ich weiß es nicht; von diesem Augenblick an jedenfalls kam sie frech bis zu meinem Bett, hievte Brotbissen darauf, um sie in aller Bequemlichkeit zu knabbern, wobei die Bewegungen, die ich machte, um sie zu verscheuchen, sie völlig unbekümmert ließen; obendrein benutzte sie die Stelle unter meinem Kopfkissen als Speisekammer und sogar zu noch Schlimmerem.
Als ich meine Zelle verließ, war sie nicht da, ich konnte sie also nicht in die Tasche stecken, und ich weiß nicht, was aus dem armen kleinen Tier geworden ist. Ich gestehe, daß ich sie bei der Abfahrt dem Mitleid aller empfohlen habe.
Blickt man zurück bis zur Wiege oder bis zu bestimmten Ereignissen, die sich dem Gehirn eingeprägt haben, dann findet man die lebendige Quelle der Ströme, die das Leben tragen, den Ausgangspunkt für die aufeinanderfolgenden Vergleiche.
Manchmal entsteht plötzlich eine Idee, während andere verschwinden; das ist die Zeit, die unter den alten Kontinenten die Vulkane aufwühlt und den Wesen neue Sinne verleiht für die nahende Sintflut.
Der durch das Leben sich dahinwälzende Gedanke verändert sich und wächst und reißt tausend unbekannte Kräfte mit sich.
Ja, gewiß, der Mensch der Zukunft wird neue Sinne haben! Man spürt sie im Menschen unserer Epoche sprießen.
Die Künste werden für alle da sein; die gewaltige Harmonie der Farben, die Wucht der Marmorskulpturen, all das wird dem Menschengeschlecht gehören. Indem sie ihr Genie entwickeln, statt es zu ersticken, werden auch die in der Vergangenheit verankerten Künstler ihr altes Wrack losreißen; überall muß der Anker gelichtet werden.
Voran, voran, die Kunst für alle, die Wissenschaft für alle, das Brot für alle; hat die Unwissenheit nicht genug Unheil angerichtet, ist das Privileg des Wissens nicht schrecklicher als das des Goldes! Die Künste sind ein Teil der menschlichen Forderungen, sie müssen allen gehören; und dann erst wird die menschliche Herde zum Menschengeschlecht.
Wer wird nun diese so hehre und so stolze Marseillaise der Kunst singen? Wer wird den Wissensdurst besingen, die freudetrunkenen Akkorde des fleischgewordenen Marmors, der Instrumente, die die menschliche Stimme wiedergeben, der Gemälde, die wie das Leben pulsieren? Vielleicht der Marmor! Der herrlich schweigende Marmor könnte durchaus das gewaltige Poem der sozialen Forderungen des Menschen sein.
Nein, weder der Marmor noch die Farben noch die Gesänge allein können die Marseillaise der neuen Welt singen! Alles, alles muß befreit werden, die Geschöpfe und die Welt, wer weiß, vielleicht die Welten? Wilde, die wir sind!
Was sollen uns Brotkrümel für die Masse der Enterbten? Was soll uns das Brot ohne die Künste, ohne die Wissenschaft, ohne die Freiheit?
Voran, voran, möge jede Hand eine Fackel ergreifen, und möge das anbrechende Zeitalter im Lichte schreiten!
Erhebt euch alle, ihr großen SternJäger!
Setzt alle Segel, ihr kühnen Schiffer, die ihr zu sterben versteht!
Voran, erhebt euch alle, ihr Helden der Legenden kommender Zeiten!
Ich spreche vom Atavismus! Dort, mit den roten Rosen des Weinbergs gefallen, wie die Bienen gestorben, liegen die Familienlegenden. Die, die sie mir erzählten, werden es niemals wieder tun.
Den Sphinxen gleich und schattenumhüllt beugen sie sich über mich. Mit den grünen Augen der Meerfrauen betrachten sie den Grund des Meeres; mit der schlanken und mageren Gestalt der Hexen laufen sie über das Dickicht oder die Heide.
Diese ferne Legende erstreckt sich von Korsika bis zu den wilden Schluchten, bis zu der Bretagne, bis zu den spukenden Menhiren der Poulpiquets; von der roten Schlucht von Flogof, wo der Norroi [5] weht und donnert, bis zum dunklen See von Creno.
Wie viele Dinge sind um einen Elenden, die seinen Horizont erweitern, die ihn die Weite spüren und sehen lassen können, damit er unter dem öden Leben mehr leidet und besser begreift, daß alles um ihn zusammengestürzt ist!
Aber würde er sonst nützlich sein! Vielleicht nicht.
Selbst wenn meine Neigungen nicht eine Spur Atavismus aufgewiesen hätten, wird man in der Einsamkeit Dichter, ob man Verse aneinanderreiht oder nicht.
In der Einsamkeit wehen die Winde eine Dichtung, die wilder ist als die nordische, sanfter als die der Minnesänger; sie paßt sich dem großen Schnee des Winters an, oder dem Windhauch des Frühlings, der in den Hecken unserer Hohlwege so viele Heckenrosen und Rosen hin- und herbewegt.
Waren nicht Nanette und Josephine, diese beiden jungen Frauen des Landes, Dichterinnen?
Habe ich schon über ihr Lied erzählt? L'Age nu deu bos, der schwarze Vogel des Waldes, dessen Hauch ich am Meeresufer, durch die Jahre und die Ozeane hindurch, wiederfand.
Ja, es war wirklich der schwarze Vogel auf dem roten Feld, dem ich am Rande der Fluten wiederbegegnete, wie er die heftigen Strophen der wilden Natur besang.
 
II.
Wer weiß, ob uns unsere Sinne nicht täuschen? Genau wie bei dem Reisenden, der glaubt, die Straße laufen zu sehen, wenn er sich fortbewegt.
Sicher ist, daß der Fortschritt nicht aufzuhalten ist, daß die Revolution die Segel schwellt und daß man es eines Tages wissen wird!
Richtig ist auch: daß niemand gelobt werden kann für das, was er tut, denn er handelt so, wenn es ihm so gefällt; es gibt keinen Heroismus, da man von der Größe des zu vollbringenden Werkes gepackt ist und man selbst unter dessen Niveau bleibt.
Man sagt, ich sei tapfer; es kommt daher, daß der Gedanke und die Art, wie sich die Gefahr in Szene setzt, meinen Sinn für das Künstlerische gefangen nehmen und bezaubern; Bilder davon bleiben in meinen Gedanken zurück, die Schrecken des Kampfes als Schlachtgesänge.
So ist mir der Zug der Gefangenen von Montmartre nach Satory im März 1871 in allen Einzelheiten gegenwärtig.
Wir gingen zwischen Reitern, es war Nacht.
Nichts konnte die grausige Schönheit der Landschaft unweit des Château de la Muette übertreffen, in deren Schluchten wir hinabsteigen mußten.
Die von bleichen Mondstrahlen kaum erhellte Finsternis verwandelte die Abgründe in Mauern oder gab ihnen das Aussehen von Hecken.
Die Schatten der Reiter bildeten zu beiden Seiten unserer langen Reihe eine schwarze Franse, wodurch die Wege noch heller wirkten; der Himmel, der schwer war von dem dichten Regen des folgenden Tages, schien auf uns herabzusinken. Alles erschien wie ein entschwindendes Traumgebilde - bis auf die Reiter, die an der Spitze und bei den ersten Gruppen der Häftlinge waren.
Ein breiter Mondstrahl sickerte von unten zwischen die Füße der Pferde und tauchte sie in Licht; rote Lappen schienen an uns und an den Uniformen zu bluten.
Der Rest unseres Zuges zog sich wie ein langer Tintenstrich hin und verlor sich in der Tiefe der Nacht.
Dort wollten sie uns erschießen, hatten sie gesagt. Ich weiß nicht, warum man uns wieder hinaufsteigen ließ: ich betrachtete das Geschehen und dachte nicht mehr daran, wo wir waren.
Es war der Tag, den wir mit Dombrowski festgesetzt hatten, um im Château de la Muette ein Lazarett einzurichten.
Es kommt auf einen Eindruck hinaus, den Eindruck von Assoziierbarem. Da ich von dem Gedanken gepackt werde, ist es bei mir kein Verdienst, wenn ich eine Gefahr verachte, an welche ich nicht denke, oder wenn ich, von einem Bild gefesselt, schaue und mich erinnere.
Ich werde nicht als einzige von verschiedenen Situationen gefangengenommen, aus denen die Poesie des Unbekannten strömt.
Ich erinnere mich an einen Studenten, der, obwohl er keineswegs unsere Ideen teilte (es stimmt zwar, daß er die der anderen Seite auch nicht vertrat), an unserer Seite bei Clamart und bei Pierres Mühle kämpfte - mit einem Band von Baudelaire in der Tasche.
Wir haben mit großer Freude darin gelesen - wenn wir dazu die Zeit hatten.
Ich weiß nicht, was das Schicksal ihm bereitet hat; wir haben damals gemeinsam und auf recht lustige Weise unser beider Glück auf die Probe gestellt: als wir sozusagen unter der Nase des Todes, der an derselben Stelle hintereinander drei der Unsrigen getroffen hatte, Kaffee tranken, wurden wir von den Kameraden zurückgeholt, die die Geduld verloren, uns da sitzen zu sehen; es schien ihnen verhängnisvoll zu sein. Gleich darauf schlug eine Granate ein und zertrümmerte die leeren Tassen.
Er war in erster Linie eine Poetennatur: weder bei ihm noch bei mir konnte von Heldenmut die Rede sein. Gehörte denn Heldenmut dazu, wenn ich mit hingerissenen Augen die geschleifte Festung von Issy betrachtete, die schneeweiß aus dem Dunkel hervortrat, und unsere Reihen, die bei den nächtlichen Ausfällen über die kleinen Höhen von Clamart oder gegen die Hautes Bruyeres mit den roten Zähnen der Kartätschen am Horizont zogen? Es war schön, weiter nichts; meine Augen dienen mir wie mein Herz und wie meine Ohren, die der Kanonendonner entzückte. Ja, barbarisch wie ich bin, liebe ich den Kanonendonner, den Pulvergeruch, die Kartätschenschüsse in der Luft, aber meine Leidenschaft gilt vor allem der Revolution.
Es mußte so sein; der heulende Wind in meiner alten Ruine, meine alten Erzieher, die Einsamkeit, die große Freiheit in meiner Kindheit, die Legenden, die ein wenig überall erjagten Brocken Wissenschaft, all das mußte mein Ohr öffnen für jeden Wohlklang, meinen Geist für jeden Lichtschimmer, mein Herz für die Liebe und den Haß; all das ist verschmolzen zu einem einzigen Traum, zu einer einzigen Liebe: der Revolution.
War ich jemals gläubig? Hat mich jemals die überwältigende Liebkosung eines Tantum ergo 211.102.1***  ergriffen, haben mich jemals die Flügel eines Regina coeli [2] emporgetragen? Ich weiß es nicht! Ich liebte den Weihrauch wie den Geruch des Hanfs, den Geruch des Pulvers wie den der Lianen in den kaledonischen Wäldern.
Der Schein der Kerzen, die im Gewölbe schallenden Stimmen, die Orgel, all das sind Empfindungen.
Ich habe sie empfunden wie ein Flügelschlagen an das Gewölbe, als ich als Hilfslehrerin bei Mme Vollier war und in der Kirche sang. Schon seit langem war ich nicht mehr gläubig, oder es war mir klargeworden, daß man nicht glaubt, wenn man zweifelt.
Der Gedanke ist also wirklich das Produkt des menschlichen Organismus, und dennoch möchte man meinen, daß er ihn auf Touren bringt und erwärmt, wie der Weichensteller die Maschine lenkt.
Das ist erklärlich: da die Geschöpfe das Produkt ihrer Zeit sind, wirbelt sie diese Zeit mit den anderen Staubkörnchen auf.
Das Manuel du Baccalauréat [3] würde erwidern, der Geist könne nicht zerfallen, da er nicht aus Teilen zusammengesetzt sei; abgesehen davon, daß er teilweise mit diesem oder jenem Gehirnlappen abstirbt und dann partiell oder vollständig vom Wahnsinn befallen wird.
Die Universalanschauungen etc. etc., die im Herzen des Menschen angewurzelten Neigungen, etc.
Es sind all diese Beweise, die mich sagen lassen: es gibt nichts nach dem Tode.
Eine einzige dieser Überlegungen jedoch ist stichhaltig, nicht für ein Einzelwesen, das mit seiner langen, tierisch-wilden oder menschlich-halbwilden Ahnenreihe, von der es zur Welt gebracht wurde, dahingegangen ist, sondern für das vielköpfige, Menschheit genannte Wesen, das zu jenem Fortschritt gelangen wird, den wir verständnislos betrachten wie ein fernes Licht, zu jenem Glück, nach dem wir dürsten und das unter den heutigen Umständen niemandem zuteil werden kann.
Ich weiß nicht, welcher Dichter gesagt hat:
 
Im Herzen jedes Menschen schlummert ein Ferkel.
Nur ein Wort muß man ändern, damit dieser Satz stimmt.
Im Herzen jedes Menschen schlummert ein Ungeheuer.
 
Dieses Ungeheuer ist nie das gleiche böse Tier, aber jeder von uns fühlt zuweilen das Urbild der Ahnenreihe in sich aufleben, das sein Geschlecht über Millionen und aber Millionen Jahrhunderte der Umgestaltungen und Umwälzungen beherrscht.
Ist es das Tier, dem man gleicht, ist es das Tier, das man liebt? Vielleicht sind sie identisch? Was mich betrifft, ob Tiger, Löwe oder Katze, so liebe ich das Katzengeschlecht und vor allem die Raubtiere; deshalb werde ich, sollte ich je wieder frei sein, zu den wilden Roten des Westens gehen und ihnen von der Revolution sprechen. Auch diese Banditen fühlen mitunter das wilde Ahnengeschlecht in sich aufleben; sie glauben anders als wir, aber sie glauben! Man wird sehen, wohin wir unter Fanatikern kommen.
Bei ihnen riskiert man eine Kugel oder einen Dolchstoß, aber sie beschmutzen einen nicht; der Tod ist sauber.
Ein Einzelleben kann nur interessant sein, solange es mit der Vielzahl der umgebenden Leben zusammenhängt; jetzt zählt allein die Menge, in der jeder freie Mensch in das unermeßliche Ganze gehört.
Deshalb werden die auf Riten gegründeten oder durch Riten gehemmten Vereinigungen nicht einmal bis zu dem Tag leben, da sich die einzig lebensfähige Vereinigung erhebt, die der revolutionären Menschheit: sie werden ihr nur als Gespenster beiwohnen.
Während der mutigen Interventionen der Freimaurer 1871 hatte ich den Eindruck, eine Versammlung von Geistern zu sehen, die sich auf den Wällen vor den Royalisten, den Würgern der Revolution, aufrichteten; es war ein Bild der Mächtigkeit und der kühlen Schönheit, wie das, was man vor den Toten empfindet.
Später in Kaledonien, zur Zeit der Verjüngung des tropischen Saftes, habe ich Freimaurer wiedergesehen; mir schien, als wären sie von einem großen Wunsch nach Fortschritt beseelt und als würden sie sich die Mühe geben, daran teilzunehmen: es geschah dort, wo die Sonne warm ist.
Inzwischen schien mir, als würde sich in Holland (das Mutterland der Tapferen) die Freimaurerei unter dem Einfluß des Frühlings verjüngen.
 
III.
Men of England, wherefore plough 
for the lords who lay ye low?
SHELLEY.
Männer von England - oder der Welt, es ist einerlei - warum für die Herren pflügen, die euch unterdrücken? Ist es nicht überall dasselbe, und dennoch pflügt ihr immer weiter, und auf die Saatzeit folgt die Erntezeit.
Und wenn es darum geht, sich zu wehren, so ist wahrscheinlich, daß der Galgen zur Stelle wäre! Gott! Diese Nebensächlichkeit reicht nicht aus, um uns unsere Absichten madig zu machen. Es gab eine Zeit, da mir der Gedanke, am Ende eines Stricks den armen Leuten Grimassen zu schneiden, unangenehm war; inzwischen habe ich erfahren, daß man in Rußland in einen Sack gesteckt wird. Es ist anzunehmen, daß auch in England diese Dinge eine ordentliche Lösung gefunden haben. Nach Reinsdorff und den anderen hat Deutschland seinen Hinrichtungsblock. Es sind nur verschiedene Formen des Todes, und je schauerlicher die Inszenierung, um so mehr wird sie vom roten Morgenschimmer umhüllt.
Zu der Zeit, da ich noch Vorlieben hatte, dachte ich an das Schafott, von dem man die Menge begrüßt, und später an das Erschießungskommando in der Ebene von Satory.
Die weiße Mauer vom Père-Lachaise [1] oder irgendeine Mauerecke in Paris hätten mir zugesagt; heute bin ich abgestumpft; egal wie, egal wo, ich werde deswegen nicht schmollen. Am hellichten Tag oder nachts in einem Wald, was kümmert es mich?
Ich weiß nicht, wo sich der Kampf zwischen der alten und der neuen Welt abspielen wird, aber das ist unwichtig: ich werde dabei sein.
Sei es in Rom, in Berlin, in Moskau oder was weiß ich wo, ich werde hingehen und vermutlich noch viele andere.
Und wo es auch sein mag, der Funke wird die ganze Welt erfassen; die Massen werden überall aufrecht stehen, bereit, das Ungeziefer aus ihren Löwenmähnen zu schütteln.
Inzwischen wird viel geredet und kaum gehandelt; das ist das Grollen des Vulkans; der Lavastrom wird überlaufen, wenn keiner daran denkt.
An dem Abend wird man in den Elysees noch tanzen, und die Parlamente werden noch immer sagen: Es grollt schon lange, und es wird immer grollen, ohne daß wir es ändern können. Dann wird der große Zusammenbruch kommen, als müßte nicht auch für die Erhebungen der Völker, wie für die Umwälzungen der Kontinente, die Stunde schlagen, und das Menschengeschlecht wird für die neue Entwicklung bereit sein, das sonst immer voranschreiten würde, wenn man es nicht in eine Form preßte.
Meine Vorträge im Ausland haben bei der Reaktion zwei Fragen ausgelöst, über die ich wohl gelacht hätte, wenn ich nicht die Achtung gehabt hätte, die den eigenen Überzeugungen gebührt:
 
1. Woher ich das Geld für die Reisen hätte;
2. was ich mit den Einnahmen machte.
 
Wenn mir das Reisegeld nicht von der Organisation zur Verfügung gestellt wurde, die mich anforderte, so lieh es mir Rochefort, und ich gab es ihm nie zurück. Durch die von den Gruppen eingenommenen Gebühren für die Vorträge wurde meine Rückreise bezahlt. - Die Freunde besorgten mir meine Fahrkarte.
Und die Einnahmen? Die revolutionären Gruppen wissen, was damit geschah, ich brauche mich also nicht um diese Frage zu kümmern; ich behielt jedenfalls nichts. Die Brüsseler Vorträge, über die mehr oder weniger wahrheitsgetreue Gerüchte in die Welt gesetzt wurden, verliefen ohne nennenswerte Zwischenfälle, mit Ausnahme der dritten oder vierten Veranstaltung, bei der ein junger Halunke, der Fallou zu heißen vorgab und in aller Unschuld verkündete, er sei zur gleichen Zeit wie ich aus Paris gekommen - was ja weitere Erkundigungen überflüssig mache - einen Skandal heraufzubeschwören versuchte, indem er behauptete, ich hätte in der Revolution sociale gefordert, daß man Monsieur Thiers ein Denkmal errichte!!! Er behauptete, die Zeitung zu besitzen, und eine ganze Anzahl von Leuten schluckte diese faustdicke Lüge. Wahrscheinlich, weil ich einen Artikel mit den Worten begonnen hatte: Foutriquet [2] ist angeschlagen! Eine Kindeshand hat versucht... Trotz der Stuhlbeine, die die Freunde der Ordnung auf die Tribüne warfen, wurde die Veranstaltung zu Ende geführt und zeigte (durch das vor Augen geführte Beispiel besser als durch alles Gerede), daß unter >Ordnung< das Recht verstanden wird, die Leute zu erschlagen, die behaupten, daß die Bienen nicht immer und ewig für die Hornissen arbeiten müssen.
In Gent erlebte ich nach dem prachtvollen Anblick der Gilden eine mittelalterliche Szene in einer mittelalterlichen Stadt, noch dazu in der Nacht, wodurch die Inszenierung gewann.
Einen Teil des Versammlungsraumes hielten eigens aus Paris hergeschickte Polizisten, von denen einer wie ein Dirigent das Signal zum Tumult gab. In dem oberen Teil des Saales hatten die Studenten der katholischen Hochschulen Platz gefunden; ihre Ohren warfen lange Schatten; jedesmal, wenn der Dirigent mit erhobenem Stock das Signal gab, schrien sie los.
Wenn wenigstens noch einiges Gebrüll in dem Konzert zu hören gewesen wäre, aber es war nur ein Gekreische.
Meine Freunde hatten unrecht, zu verlangen, daß ich die Versammlung verlasse; zumindest wären die Herrchen stockheiser geworden, und die Vernünftigen hätten sich bis zum Ende ein Urteil über ihr Benehmen bilden können. Ich fügte mich dem Willen meiner Freunde, aber ungern.
Sie zwangen mich, fortzugehen; aber es war vergebliche Mühe! Eine Freundin, die mich begleitete, war von mir getrennt worden, und nachdem der Kutscher eine halbe Stunde lang schweigend auf sein Pferd eingepeitscht hatte, ohne mich anzuhören und wahrzunehmen, wenn ich ihn am Arm zog, machte ich von meiner Autorität Gebrauch, und er war doch genötigt, mich mitten durch die Schar der Herren Schüler zurückzufahren, die uns bis zum Versammlungssaal mit Steinwürfen begleiteten. Die Wagenfenster waren zersplittert, das Pferd bewegte sich kaum von der Stelle, und ab und zu tauchte aus dem Dunkel der Nacht ein vom Jagdfieber gerötetes junges Gesicht an den Wagenschlägen zwischen den Scherben auf und brüllte eine Beleidigung. Düster und schwarz lag die Stadt, die alte gespenstische Stadt.
Ich war um meine Freundin Jeanne besorgt und dachte mitunter an die frühen Tage eines Artevelde,[3] als die Gilden jeden, der nach der Macht zu streben schien, mit einem Beilhieb töteten. Ich betrachtete die dunklen Ufer des Kanals; es war ein herrliches Bild in dem unendlichen Rahmen der Nacht und des Wassers.
Vor dem Versammlungshaus war noch immer die Schar der Studenten und ihrer Beschützer; das Mittelalter stand.
Als ich ausstieg und sie ernstlich beunruhigt fragte, ob sie die große Brünette gesehen hätten, und was sie mit ihr gemacht hätten, denn nur mich wollten sie doch umbringen, wurden einige von ihnen vernünftig und forschten nach.
Bei den Nachforschungen half mir dann ein Polizist, ein Kommissar der Genter Polizei, der mir sagte, er wolle sich durchaus nicht in das Geschehen einmischen, sondern mir nur bei meiner Suche behilflich sein, und das tat er auch.
Ich erinnere mich sogar, daß er sich, weil er das Verhalten der Studenten wenig anständig fand, zu meinem großen Erstaunen schützend vor mich stellte - denn ich erwartete, ins Gefängnis geführt zu werden, und zwar mit dem Grund, daß ich beleidigt wurde. So hätte man es jedenfalls in Paris gemacht.
Abgesehen von unseren Freunden, die ich in guter Erinnerung habe, und von den Gelehrten, die neugierig und aus nächster Nähe sehen wollten, was für Tiere die Revolutionäre sind, und die ihre Forschungen mit Gewissenhaftigkeit treiben, habe ich in Holland aufrichtige Feinde getroffen, die uns nur dank der Gerüchteküche der reaktionären Zeitungen kannten und die recht erstaunt darüber waren, daß sie getäuscht worden waren, und die schließlich so weit kamen, die Revolutionäre zu verstehen.
London! O ja, ich liebe London, wo meine verbannten Freunde stets aufgenommen wurden. London, wo das alte England im Schatten der Galgen noch liberaler ist als die angeblich republikanischen Bürger, die es vielleicht zu sein glauben.
Glaubt ihr, daß sich jene, die Verbrechen an den Völkern verüben, immer dessen bewußt sind, was sie tun? Manche von ihnen machen sich Illusionen und würden gern Preise für die Tugend und... Intelligenz verleihen!
Unsinn! Die Intelligenz, sie wohnt in den Massen! Sie sind nicht im Besitz der Wissenschaft, das stimmt; ohnehin, das ist eine schöne Wirtschaft heute, die Wissenschaft! Sie öffnet gerade erst ihre Knospen; morgen, glückliche Zeit! Morgen wird sie allen gehören.
Wenn das Volk gewisse Dinge nicht weiß, so versteift es sich nicht darauf, zu behaupten, die Glühwürmchen seien Sterne; das ist immerhin etwas. Vor dem Londoner Kongreß hatten Gautier und ich manche anonymen Warnungen über einige Agenten Monsieur Andrieux' erhalten. Doch wer glaubt schon anonymen Briefen?
Für meinen Teil hatte ich einige Londoner Freunde gebeten, eine Dame zu besuchen, die, wie man sagte, Monsieur Seraux Geld vorgestreckt hatte. Unsere Freunde fanden die Dame in einer Wohnung, die den Eindruck machte, sie sei auf die Schnelle eingerichtet worden; jedoch konnten sie ohne Beweise und nur aufgrund dieses Eindrucks keine Anklage erheben. Die Dame gab ihnen glaubhafte Erklärungen; weder die Freunde noch ich konnten uns vorstellen, daß sie Monsieur Andrieux vertrat.
Was soll's! Die Falle, die uns gestellt worden war, schadete denen, die sie stellten, mehr als uns selbst.
Seht die Sandkörner und die Haufen des reifen Korns und im Himmel die zusammengedrängten Gestirne; ist nicht alles gleich? Wo man das alles gesehen hat, dahin gehen wir; und die große Ernte kommt näher, im Blut unserer Herzen gewachsen; deren Ähren werden um so schwerer sein, sie wird um so höher wachsen.
Refrains kehren immer wieder in mein düsteres Leben ein, die einen gleichzeitig aufwühlen und bezaubern, und sie wiegen die traurigen Tage.
Fließ, fließ, Blut des Gefangenen!
Sprechen wir, ihr Bagauden, ihr die Jacques, die am Hals das Eisen tragen, und warten wir auf unsere Stunde.
Der Traum entflieht aus den Düften des Frühlings, das ist der Morgen der neuen Legende.
Bauer, hörst du diesen Hauch, der die Luft durchfährt? Es sind die Lieder deiner Väter, der alten gallischen Barden.
Fließ, fließ, Blut des Gefangenen!
Sieh diesen roten Tau auf der Erde, es ist Blut.
Über den Toten wächst das Gras höher und grüner.
Auf der Erde, diesem Schlachthaus der Völker, muß es dicht wachsen, aber das Volk hat nicht einmal immer Gras, wenn es verhungert; es wächst nicht zwischen den Pflastersteinen der Städte.
Solange es dem Menschen gefallen wird, der Ochse des Schlachthauses oder des Karnevals zu sein, der Ochse, der die Furchen öffnet oder den man zum Karneval schleppt, wird man ihn singen, diesen schrecklichen Refrain, der einen aufwühlt und bezaubert:
Fließ, fließ, Blut des Gefangenen!
IV.
Einundsiebzig! Ich schlage ein schwarz eingeschlagenes Heft auf, in das Marie einige meiner Gedichte geschrieben hat.
Manche sind mit roter Tinte, noch leuchtend wie Blut.
Dieses Heft hatte Marie ihrem Bruder Hippolyte gegeben, der es mir dann auslieh; er wird es erst nach meinem Tod zurückerhalten, und es werden dann ein paar leer gebliebene Seiten beschrieben sein.
Hier sind einige der Gedichte, die mit roter Tinte geschrieben wurden:
 
AN MEINE BRÜDER
Gefängnis von Versailles, 8. September 1871
 
Eilet dahin, ihr Stunden und Tage!
Über die Toten wachse nun Gras!
Es falle, was kaum geboren;
Schiffe, entfernt euch vom Hafen;
Eilet dahin, ihr tiefen Nächte.
Zerbröckelt, o alte Berge;
Aus den Kerkern, den Gräbern, den Wogen,
Werden wir wiederkehren, geächtet oder tot.
 
Wir werden wiederkehren als zahllose Menge; 
Wir werden kommen auf allen Wegen, 
Rächende Geister, dem Schatten entstiegen. 
Wir werden kommen und uns die Hände reichen, 
Die einen im fahlen Leichentuch, 
Die anderen noch blutend. 
Bleich unter den roten Bannern, 
Mit den Kugellöchern in der Brust.
 
Alles ist vorbei! Die Starken, die Tapferen,
Alle sind gefallen, o meine Freunde,
Und schon kriechen die Sklaven,
Die Verräter und die Entwürdigten.
Gestern sah ich euch, meine Brüder,
Söhne des siegreichen Volkes,
Stolz und tapfer wie unsere Väter,
Wie ihr geht, die Marseillaise in euren Augen.
 
Brüder, in dem riesigen Kampf
Liebte ich euren hitzigen Mut,
Mit den Kartätschen rot und donnernd,
Mit den Bannern im Wind.
Auf den Wogen, auf der hohen See,
Ist es schön das Schicksal zu erproben;
Das Ziel ist die Rettung der Masse,
Die Belohnung ist der Tod.
..................................................
Unheilvolle, schwachsinnige Greise, 
Da ihr unser ganzes Blut haben müßt, 
Verschüttet diese fruchtbaren Fluten, 
Trinkt alle aus dem roten Ozean; 
Und wir, in unsere roten Banner 
Hüllen wir uns ein zum Sterben; 
Zusammen, in diesen schönen Leichentüchern, 
Täte es wohl, zu schlafen.
Eins dieser Gedichte habe ich dem langen Kriegsgericht geschickt, das die Mitglieder der Kommune abgeurteilt hatte; aber die Gnadenkommission, und besonders sie, ist für die kaltblütigen Erschießungen verantwortlich. Wenn die vom Blut berauschten Soldaten bis zu den Knöcheln darin wateten, so reichte es der sogenannten Gnadenkorrmission bis zum Bauch.
 
AN DAS 3. KRIEGSGERICHT
4. September 1871, Gefängnis von Versailles
 
Da stehen sie, gelassen und erhaben,
Sie, die Gewählten des befreiten Paris,
Und ihr klagt sie nun der eigenen Verbrechen an,
Über ihren Stolz und ihre Verachtung wütend.
Nichts, dessen sie sich rechtfertigen müßten,
Denn feige seid ihr geflohen.
Sie aber haben kühn verteidigt,
Was ihr gerade verschachert hattet.
 
Cassaigne, Manguet, Guibert, Merlin, Bourreau!
Gaveau! Gaveau! 
Merlin, Gaulet, Labat, es ist schön, zu richten.
 
Was diese Zeiten brachten, das ist euer Werk, 
Und wenn bessere Tage kommen werden, 
Wird die Geschichte taub sein gegen eure Wut 
Und über euch, Lügenrichter, selbst richten. 
Und alle, die nach Beute gieren, 
Die euren Attentaten applaudieren, 
Werden den Rücken kehren und euch folgen müssen, 
Spitzel, Banditen, Freudenmädchen. 
Cassaigne, Manguet, Guibert, Merlin, Bourreau! 
Gaveau! Gaveau! 
Merlin, Gaulet, Labat, es ist schön, zu richten.
Die Vergeltung ließ nicht lange auf sich warten. Der Kommandant Gaveau, dessen leidenschaftliche Anklagereden jedermann kannte - so sagte zumindest die Republique Francaise - starb im Wahnsinn. Seit einiger Zeit hatte man sich gezwungen gesehen, ihn einzusperren.
Er hatte, wie die damaligen Zeitungen berichteten, den schrecklichsten Todeskampf durchzustehen, den man sich vorstellen kann: den ganzen Tag vor seinem Tod glaubte er, phantastische Gestalten zu sehen, die vor seinen Augen herumwirbelten; ihm war, als werde ihm mit einem Hammer auf den Schädel geschlagen.
Der Sachverständige Delarue, der durch sein Gutachten fälschlich bezeugt hatte, daß die Losung: Verschwendet die Staatseinkünfte! von Ferré sei, wurde später wegen eines falschen Gutachtens verurteilt, aufgrund dessen ein Mann für fünf Jahre ins Bagno geschickt wurde.
Soviel kostete es nicht, die Unseren zur Mauer von Satory zu schicken!
Der Bauernhof von Donjeu, der Monsieur Peltereau de Villeneuve gehörte, brannte durch Zufall ab.
Ich weiß nicht, welchem Zufall Oberst Merlin zum Opfer fiel, der im Prozeß gegen die Mitglieder der Kommune Richter gewesen war und dann die Truppen befehligte, die den Mord vom 28. November überwachten.
Warum sollen die Verbrecher den Folgen ihrer Taten eher entkommen als die anderen? Bereitet sich nicht jeder selbst sein Schicksal? Hatte nicht Clément Thomas im Jahre 1848 das vorbereitet, was ihn 1871 ereilte?
Der Prozeß gegen die Mitglieder der Kommune strotzte von formalen Unkorrektheiten. Das durch die Herren Ducoudray, Marchand und Dupont de Bussac eingebrachte Kassationsgesuch [1] hatte jedoch vor allem den Zweck, zu sehen, wie weit die Versailler Justiz noch gehen würde; keiner der Verurteilten rechnete mit einem Erfolg.
Monsieur Gaveau hatte Ferre im Laufe des Prozesses mit den Worten beleidigt: »Die Erinnerung eines Mörders!« Im Augenblick des Urteils wurde dieser Spruch bestätigt, sogar noch verschärft.
Derselbe Monsieur Gaveau ließ den Platz der Staatsanwaltschaft zweimal unbesetzt, erschien beim Termin des 2. Septembers überhaupt nicht und wohnte nicht einmal der Verlesung des Urteils bei, das Fälschungen enthielt.
Die Mitglieder der Kommune verschwiegen ihre Taten nicht; Ferre trug vollends die Verantwortung dafür am Richtpfahl von Satory, und die anderen im Bagno und in der Deportation. Man wollte sogar die Fälschungen hinzufügen, die zum Zweck des Prozesses vorbereitet worden waren (Fälschungen, die nicht einmal in französischer Sprache abgefaßt waren!).
Idiotischer Haß, der sich gegen uns richtet, uns, erbärmliche Sandkörner, ohne den Sturm zu sehen, der uns alle miteinander gegen die alte Welt fegt!
Es war nicht leicht, eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen, wenn man nichts getan hatte, und es war ebenso schwer, ein Urteil zu erlangen, wenn man sich für seine Taten verantwortlich fühlte!
Ich habe schon erzählt, wie ich durch ein Manöver der Polizeipräfektur nach Arras geschickt wurde, statt vor Gericht gestellt zu werden. Aus der Liste mit den Namen derer, die man in entfernte Gefängnisse schickte und warten ließ, wurde ein Name gestrichen und an dessen Stelle der meine gesetzt. Ich muß dazu sagen, daß das Kriegsgericht nichts davon wußte und es nicht einmal billigte.
Der Brief von Monsieur Marchand wird dieses wohlbedachte Hinauszögern besser zeigen, als ich es tun könnte.
Den Protest, von dem Monsieur Marchand in diesem Brief spricht, habe ich vor der Abreise nach Arras in das Beschwerderegister von Versailles geschrieben.
Mein Protest richtete sich nicht gegen das Gefängnis, in dem wir eine ganz andere Behandlung erfahren hatten als in Satory und in den Chantiers, sondern gegen die niederträchtigen Machenschaften, die zu meiner Verlegung führten, denn für mich waren schließlich die Kriegsgerichte zuständig und nicht die Polizeipräfektur, die meinen Prozeß in alle Ewigkeit hinausschieben wollte, während sie in den Verhandlungen gegen andere Frauen (Prozess Retif und Marchais) über mich herfiel.
Hier der Brief von Monsieur Marchand:
 
  • »Mademoiselle,
    ​Ihren Brief habe ich erhalten und beantworte ihn sogleich. Monsieur Ducoudray, an den Sie gestern, den 15., geschrieben haben, ist vorgestern in der Zelle Ferrés, den er besuchte, plötzlich an Herzschlag gestorben.
    ​Ihr Einspruch ist zweifellos besser als eine Gewaltszene. Wenn Sie recht schnell vor Gericht gestellt werden wollen, müssen Sie sich an General Appert oder an Oberst Gaillard wenden, notfalls durch Einschreiben mit Empfangsbestätigung, damit der Brief bei der Post nicht abhanden kommt.
    ​H. MARCHAND, Rechtsanwalt
    Am 16. November 1871.
Es waren wohl noch nicht genug der Maitage, da die Straßen, wie die Apfelbäume im Frühling, mit weißem Blütenflaum bedeckt waren; aber es waren keine Bäume, es war Chlorkalk auf den Leichen.
Eine riesige Zahl vermißter Leute bewies, wie sehr die wirkliche Anzahl der Opfer des Gemetzels verringert wurde; die Soldaten waren der Sache überdrüssig geworden; vielleicht funktionierten die Kartätschen auch nicht mehr so recht; die aus der Erde gereckten Arme, die Todesschreie der ohne Urteil Hingerichteten, die Sterblichkeit der Schwalben, die durch die Fliegen des unendlichen Schlachthauses vergiftet wurden, all das trug dazu bei, daß man von dem heißen Gemetzel zum kalten überging.
Die, die all das anrichteten, sind vielleicht - mit Gaveau - näher an Charenton[2] als an irgend etwas anderem.
Aber ich kann im Augenblick mit meinem Bericht nicht fortfahren, ohne vorher in einigen alten Papieren zu blättern. Darunter sind Ausgaben der Revolution sociale.
 
V.
Nach alldem, was ich über mich enthüllt habe, bin ich es meiner Ehre schuldig, einige meiner Artikel aus der Zeitung La Revolution sociale meinen Memoiren hinzuzufügen.
Die Mausefalle hat sich weitgehend gegen die gewandt, die sie aufgestellt hatten, indem sie den Briefwechsel zwischen den Revolutionären vervielfachen half.
Aber erst heute früh habe ich ein kleines Manöver bemerkt, das darin bestand - wenn bestimmte Artikel speziell Personen statt Ideen angriffen (was meiner Art entgegengesetzt ist) - Sätze von mir herauszuheben, die ziemlich geschickt ausgewählt waren, damit bestimmte Leute mir auch den Rest des Artikels zuschrieben.
Das Ergebnis waren persönliche Haßgefühle (gegen meine Person), deren Ausbruch zu der Verurteilung beitrug, die mich von meiner Mutter trennte und die sie zwei Jahre lang, fern von mir, im Sterben liegen ließ, wobei sie bei jeder Besuchserlaubnis wieder zum Leben erwachte, bis zu dem Augenblick, da ich ihr gestehen mußte, daß ich nicht zu einem Jahr, sondern zu sechs Jahren verurteilt worden war; daß ich in Clermont war statt bei ihr in Saint-Lazare.
Von diesem Augenblick an hat sie nicht einmal mehr durchs Fenster schauen wollen und ist nur aus ihrem Sessel aufgestanden, um sich auf das Bett zu legen, aus dem sie nur noch für den Sarg herausgekommen ist.
Ja, ich hätte ins Ausland ziehen und sie mitnehmen können, statt zu kommen und meine Verurteilung entgegenzunehmen, wie wir es üblicherweise tun.
Ich hätte auch die täuschen können, die mich ausfragten, um zu wissen, ob ich verantwortlich sei, und ich hätte ihre allzu offensichtlichen Fallen zum Besten halten können; doch wir lehnen die Verantwortung nicht ab, wir anderen, und ich habe den achtbaren Gelehrten Rede und Antwort gestanden, als würde ich nichts ahnen; dennoch wußte ich genau, woher die Rache kam.
Ich komme nun auf La Revolution sociale zurück. In derselben Zeitung habe ich oft gegen Dinge protestiert, die ich nicht für sehr klug hielt; je mehr anonyme Anklagen es gegen den Gründer der Zeitung, Monsieur Serraux, gab, um so weniger glaubte ich, daß die Zeitung polizeifreundlich sei.
Die anarchistische Idee ist nicht neu. Noch vor Saint-Just finden die alten Autoren in französischer Sprache, daß, wer sich zum Führer ernennt, ein Verbrechen begeht.
Vor der freien Wüste der Wogen bin ich nicht die einzige, die über das Ewige nachgedacht hätte: »Je mehr es sich ändert, um so eher ist es dasselbe.«
Als ich bei meiner Rückkehr eine anarchistische Zeitung vorfand, müßte ich also blindlings auf die erste Aufforderung zur Mitarbeit stürzen.
Ich kannte das Programm der Revolution sociale. Hier ist ein Ausschnitt daraus. Wer hätte ahnen können, daß Monsieur Andrieux im Redaktionskomitee saß!
Die revolutionäre Partei organisiere sich fest auf ihrem eigenen Boden und mit ihren eigenen Waffen, ohne etwas von ihren Feinden zu entlehnen, weder von ihren Institutionen, noch von ihren Sophismen, noch von ihren Methoden; sie bereite sich darauf vor, wenn die "heroischen Zeiten" wiederkehren, den Staat zu belagern, diese Festung, die den Zugang zu den Privilegien verteidigt und schützt, und keinen Stein auf dem anderen zu belassen!
 
  • JEDER NACH SEINEN FÄHIGKEITEN, JEDEM NACH SEINEN BEDÜRFNISSEN
    Da die Gesellschaft in keiner Weise etwas Angeborenes oder Wesenhaftes, sondern eine Erfindung des Menschen ist, zu dem Zweck, die Schicksalsfügungen der Natur zu bekämpfen, glauben wir nämlich, daß sie vor allem den Schwachen nützlich sein und sie mit besonderer Fürsorge umgeben muß, um ihre Unterlegenheit auszugleichen. Infolgedessen ist das Ziel, das wir unseren Erwartungen setzen müssen, die Errichtung einer sozialen Ordnung, in der das Individuum, vorausgesetzt, daß es alles gibt, was es an Aufopferung und Arbeit zu geben vermag, alles erhält, was es braucht. Möge der Tisch für alle gedeckt sein, möge jeder das Recht und die Mittel haben, sich an die Tafel der Gesellschaft zu setzen und dort nach seiner Wahl und seinem Appetit zu essen, ohne daß man ihm die Portion nach der Zeche zuteilt, die er bezahlen kann!
La Revolution sociale, Nr. 1
 
Manche Leute werden wohl sehr erstaunt sein, nichts von dem unsinnigen Zeug darin zu finden, das mir zugeschrieben wurde. Vielleicht enthält es noch anderen Unsinn, aber auf jeden Fall nicht den, den man erwartete.
In diesem Kapitel greife ich dem Bericht der Ereignisse voraus, weil der Augenblick gekommen ist, diese Ausschnitte zu zitieren. So aufrichtig das Geständnis von Monsieur Andrieux auch noch sei, so bin ich uns die folgenden Zitate schuldig:
 
Wenn wir reaktionäre Zeitungen gründen würden, damit sie über uns herfallen, würde man uns für Charenton würdig betrachten.
Als mir Monsieur Serraux anbot, an der Revolution sociale mitzuarbeiten, wehte der Wind unheilvoll, und ich dachte daran, daß unter der Erde zum Sturm geblasen wurde. Ich wäre imstande gewesen, ihm meine Mitarbeit selbst anzubieten; ich gestehe auch, daß ich ein großes Vertrauen zu Serraux hatte, und daß es mir erst vor kurzem klar wurde, daß es sich um eine Falle handelte.
Monsieur Andrieux hätte lügen und meine Freunde und mich beschuldigen können. Er hat es nicht getan; es war ein weniger opportunistisches Benehmen, als viele andere aus derselben Partei es gezeigt hätten, das muß ich anerkennen.
 
Hier noch zwei in der Revolution sociale erschienene Artikel.
 
DIE ILLEGALE KANDIDATUR[1]
  • Bürger,
    Ihr fragt uns, Paule Mink und mich, was wir von den toten Kandidaturen halten.
    Während wir noch auf die Antwort der Bürgerin Mink warten, die wohl kaum von der meinigen abweichen wird, hier meine Antwort.
    Die toten Kandidaturen sind eine Fahne und eine Forderung zugleich.
    Sie sind die reine Idee der sozialen Revolution, die ohne Rücksicht auf Individualität gleich macht; - die Idee, die man weder schlagen noch zerstören kann; - die Idee, die so unbesiegbar und unversöhnlich ist wie der Tod.
    Die illegale Kandidatur ist berechtigt.
    Die tote Kandidatur ist groß, wie die Revolution selbst.
    Was die Kandidatur der Frauen betrifft, so sind sie auch eine Forderung,die Forderung der ewigen Sklavin Mutter, die doch gerade die Männer zu dem erziehen muß, was sie sind; doch das ist unwichtig, sind wir nicht ein Teil der allgemeinen Sklaverei? Wir bekämpfen den gemeinsamen Feind.
    Ich selbst kümmere mich kaum um Einzelfragen, denn, ich wiederhole es, ich gehe mit allen Gruppen, die das verfluchte Gebäude der alten Gesellschaft angreifen, sei es mit Beil, mit der Mine oder mit dem Feuer!
    Gruß dem Erwachen des Volkes und denen, die gefallen sind und dabei die Tore der Zukunft so weit aufgestoßen haben, daß die ganze Revolution hindurchpaßt!
    LOUISE MICHEL
Hier ein zweiter Artikel:
 
  • Da ich meinen Namen unter den zur Kandidatur Vorgeschlagenen finde, fühle ich mich zu einer Antwort verpflichtet.
    Ich kann mich den Frauenkandidaturen als Ausdruck der Gleichheit von Mann und Frau nicht entgegenstellen. Angesichts der ernsten Lage aber muß ich wiederholen, daß die Frauen ihre Sache nicht von der der Menschheit trennen dürfen, sondern kämpfender Teil der großen revolutionären Armee sein müssen.
    Wir sind Kämpfer und keine Kandidaten.
    Kühne und unversöhnliche Kämpfer, das ist alles!
    Die Frauenkandidaturen sind vorgeschlagen worden, das genügt für das Prinzip; da sie nicht zum Erfolg führen würden, und selbst wenn sie zum Erfolg führen sollten, änderten sie nichts an der Situation. Ich muß also unsere Freunde bitten, meinen Namen zurückzuziehen.
    Wir wollen keine vereinzelten Rufe um eine Gerechtigkeit, die man ohne Gewalt niemals gewähren wird, sondern brauchen das ganze Volk und alle sich erhebenden Völker für die Befreiung aller Sklaven, und ob sie sich Prolet oder Frau nennen, das ist unwichtig. Wer also noch auf ein Ergebnis durch Abstimmung hofft, mag Namen von Arbeitern einsetzen; wessen Herz voll ist vom Ekel für diese Regierung des Bas-Empire,[2] die man Republik nennt, der möge, statt sich der Stimme zu enthalten, weil es ihm nicht gefällt, dem geheiligten Prinzip der sozialen Revolution zujubeln, indem er die Namen ihrer im Jahre 1871 ermordeten Abgeordneten wiederauferstehen läßt: dann erwacht er doch wenigstens aus dem Schlummer - diesem unheilvollen Schlummer, in dem wir das Volk nicht lassen dürfen, denn während jener Schlummerzeiten entstehen Kaiserreiche, wächst der Opportunismus...
    Mag es gewissen Leuten noch so zweckdienlich erscheinen, wenn Mädchen aus dem Volke in Regen und Schande auf der Straße stehen, damit die Töchter der Reichen bewahrt bleiben; mag es diesen Leuten gefallen, in ganzen Herden die Männer ins Schlachthaus und die Frauen ins Hurenhaus zu bringen; wir, die den An-und Verkauf des menschlichen Fleisches nunmehr ablehnen, sowohl als Kanonenfutter wie für die Gelüste der Parasiten, wir rufen ganz laut: - Keine persönlichen Fragen mehr, auch keine Fragen des Geschlechts! Keine Selbstsucht, keine Furcht! Vorwärts, die Tapferen! Und da wir wissen, wohin wir wollen, mögen uns die anderen gehen lassen
    LOUISE MICHEL.
 
Hier ist noch ein Ausschnitt aus meiner Artikelserie über den Streik.
 
DER STREIK DER KONSKRIBIERTEN [3]
  • Ach, es gibt keine soziale Frage!
    Deshalb wohl werden die kleinen Kinder in demselben Bett geboren, in dem ihr Vater stirbt, und deshalb hat die Sozialhilfe für dieses grauenhafte Elend nur einen Franc pro Person übrig.
    Deshalb wohl kostet die Ankündigung eines Vortrags durch Plakate das Volk vierunddreißigtausend Francs.
    Denn es ist das Volk, das bezahlt, immer das Volk.
    Aber es hat zufrieden zu sein, denn man sagt ihm, es sei »souverän«, ein bequemes Wort, mit dem das Wort von morgen verborgen wird, das nicht weniger bequem ist: die gemeine Menge....
    Denn das Gesetz der Mehrheit findet positive Anwendung, wenn die menschliche Herde Badinguet III.[4] oder Opportun I.[5] wählen soll, und eine negative, wenn es darum geht, daß sich die »souveräne« Menge das Recht herausnehmen könnte, die soziale Frage anders zu lösen als durch den Verkauf der Mädchen aus dem Volk an das Hurenhaus und die Ermordung seiner Söhne auf den Schlachtfeldern um all der guten bequemen Annehmlichkeiten willen und durch den Tod der alten Arbeiter, denen es ebenso ergeht wie den alten Pferden von Montfaucon.
    Ach, es gibt keine soziale Frage!
    Aber sie würde sich schon in einem einzigen Willensakt dieses Volkes kundtun, das man in Ketten legt, während man ihm einredet, es sei frei!
    In einem rein passiven Akt, der auch nicht unterdrückt würde, denn man kann wohl eine Armee erschießen, eine Stadt erwürgen, aber man wagt es nicht, sich an einer ganzen Nation zu vergreifen.
    Wenn ein heldenhaftes Volk in seiner ganzen Autorität die polizeilichen »Sitten«register zuklappte, deretwegen sich junge Mädchen lieber umbringen (und sie haben recht), als daß sie darin eingetragen wären...;
    wenn sich ein ganzes Volk weigerte, seine Söhne den gefährlichen Unternehmungen zu überlassen, die auf künftige Sedans hinauslaufen;
    wenn dieser Streik der Konskribierten den Machthabern, die behaupten, den fruchtbaren Boden nur in deren Interesse mit Blut zu düngen, Schweigen gebieten und die Könige und Diktatoren zwingen würde, das Feldzeichen von Boulogne,[6] Membrins Helm,[7] oder Marlboroughs Säbel"[8] zu nehmen und selber in den Krieg zu ziehen, dann wären diese Fragen, von denen sich diese Machthaber Vorteile erhoffen, bald entschieden, denn sie würden sich hüten, ihr ruhiges, bequemes Fettwerden aufzugeben!...
    Nun ja! Jetzt steht der Wind auf Krieg, und sollte man mich im Namen des neuen Gesetzes über die Pressefreiheit am Bett meiner kranken Mutter verhaften, so würde ich, die ich den preußischen Krieg mit den verkauften Generälen und den mutigen Bataillons erlebt habe, deren Begeisterung durch Eilmärsche etc. gedämpft wurde, laut rufen, was mir mein Gewissen befiehlt:
    STREIK DER KONSKRIBIERTEN
    LOUISE MICHEL.
Erlauben Sie mir, noch einen von mir in La Revolution sociale veröffentlichten Zwischenartikel zu zitieren. Er trug einfach den Titel: AN MONSIEUR ANDRIEUX. Ich weiß nicht, wer (vielleicht Andrieux selbst) diesen Titel durch einen anderen ersetzte: DER EHRLOSE SCHWEIGE!
 
DER EHRLOSE SCHWEIGE!
  • Der Renegat Andrieux hat, indem er mich in l'Arbresles anzeigte, eine Stellungnahme herausgefordert; der Verbrecher hat wertvolle Geständnisse gemacht; er hat zugegeben, daß er meine Genossen und mich hat zurückkommen lassen, um uns in seinen Henkerklauen zu haben, um uns durch Schandurteile zu entehren, um uns langsam zu Tode zu quälen.
    Numea lag für Andrieux zu weit, um seinen Haß gegen die Überreste der Kommune zu befriedigen; in Lyon hat er sie selbst verhaftet oder durch seine Soldaten ermorden lassen; heute braucht er Opfer für den Totschläger, deshalb hat er für die Amnestie gestimmt. Er sagt es offen, er brüstet sich damit. Nicht abgesetzt, sondern vor Gericht gestellt muß dieser Mensch werden, den man sich als höchsten Scharfrichter und Henkersknecht aller Tyranneien aufgespart hat. Glaubt man denn, daß die Franzosen dulden werden, was die Muschiks stolz abschütteln? Nein; auch wir wissen zu sterben, aber wir können nicht unter der Peitsche leben. Es gibt Beleidigungen, die die sogenannten Politiker nicht empfinden; andernfalls hätte der Galgenlieferant Andrieux so viele Ohrfeigen eingesteckt, wie Hände in der Stadtverordneten Versammlung sind. Da er für die Staatsbeamten unverletztlich ist, müssen sich die, die unabhängig sind, ihr Recht selber verschaffen!
    LOUISE MICHEL.
Die letzten Nummern der Revolution sociale fehlen mir; ich hätte gern die letzten zwei, drei Artikel gehabt, besonders den allerletzten, den ich in der Absicht geschrieben hatte, die Zeitung durch einen Urteilsspruch auffliegen zu lassen, was ich Monsieur Serraux auch mitgeteilt hatte. (Ich verstehe, daß man das nicht gewollt hat: wer, zum Teufel, konnte auch ahnen, daß der Polizeipräfekt im Redaktionskomitee saß?)
Im übrigen genügt nun das Angeführte, um zu zeigen, daß 
  • 1. Ich mein Anliegen nie mit persönlichen Anspielungen verquickt habe;
  • 2. mich diese Sache mit dem Denkmal Foutriquets recht kaltgelassen hat, da ich ein unmündiges Kind für diesen Blödsinn verantwortlich machen wollte, damit er keinem Erwachsenen zugeschrieben werde.
Wenn die Hand in diesem Alter auch nicht sicher ist, so entrüstet man sich aber leicht, und was liegt außerdem schon daran? Wenn wir hintergangen werden sollen, scheitert oft die Absicht gerade an unserer Aufrichtigkeit, und die Revolution wird dadurch nicht besudelt!
 
VI.
Da ich gerade dabei bin, mit mehreren Themen abzuschließen, möchte ich, bevor ich weiter fortfahre, ein letztes Mal, ein für allemal, von dem Mut in den Gefängnissen sprechen und damit einen Schlußstrich unter das Thema »Heroismus« ziehen! Es gibt keinen Heroismus, es gibt nur die revolutionäre Pflicht und die revolutionäre Leidenschaft, aus denen man nicht mehr eine Tugend machen sollte, als man es aus der Liebe oder dem Fanatismus tut.
Was meine Person betrifft, so war der Aufenthalt im Gefängnis leicht, so wie er es für jede andere Lehrerin wäre.
Die Einsamkeit beruhigt, besonders wenn man einen großen Teil seines Lebens immer wieder eine Stunde der Stille brauchte, die man nie fand, es sei denn nachts. Das trifft für viele Lehrerinnen zu. Ohnehin sieht man nachts unter diesen Umständen zu, daß man denkt, sich leben fühlt, liest, schreibt, ein wenig ein freier Mensch ist. Bei der letzten Stunde fühlte man sich zum übermüdeten Arbeitstier werden, dennoch das noch stolze Tier, das den Kopf hebt, um ohne Schwäche bis zum Ende der Stunde den Unterricht zu beenden. Nun ist man von der Stille umgeben, jede Müdigkeit ist verschwunden, man lebt, man denkt, man ist frei. (Diese wenigen Ruhestunden, die ich während langer Jahre mühsam erkauft habe, habe ich im Gefängnis gefunden: das ist alles.)
Es ist das Beste, was mir passieren kann in diesen ersten Monaten, da meine Mutter, an die ich während der zwei Jahre ihres langsamen Todeskampfes stets gedacht habe, gerade gestorben ist, und gerade in dem Augenblick, da Gegner und Freunde meine Entlassung gutheißen würden, als würde mir ihr Tod einen Titel verleihen.
Die Leichen wurden einem unter der Herrschaft von Bonaparte und vielen anderen bezahlt; es wäre Zeit, dem ein Ende zu bereiten; die Gegner haben es bemerkt.
Vielleicht ist in diesem schönen französischen Land die Sitte völlig eingebürgert, jede Frau, die einen ein wenig männlichen Charakter besitzt, unter der Kategorie pathologischer Fall einzuordnen; es bleibt nur zu wünschen, daß sich diese pathologischen Fälle unter den kleinen Herrchen und anderen Konsorten des starken Geschlechts in großer Anzahl vermehren.
Lassen wir das. Ich bin der Regierung sehr verbunden, bemerkt zu haben, wie widerwärtig die Beleidigung war, die man mir erteilen wollte.
Ich besitze keine Abschrift des Briefes, den ich schrieb, um diese Beleidigung zurückzuweisen. Aber hier sind einige zusammenfassende Zeilen, die ich an Lissagaray gerichtet hatte, von dem ich wußte, daß er protestiert hatte.
Anscheinend haben es auch die anderen Freunde getan; da ich die Zeitungen nicht las, wußte ich nichts davon, und ich danke ihnen an dieser Stelle. Hier ist der Brief.
 
4. Mai 1885 Bürger Lissagaray,
  • Ich danke Ihnen. Es scheint, daß Sie gespürt haben, daß ich nicht ohne Schande eine Gnade annehmen konnte, auf die ich nicht mehr Recht habe als andere.
    Alle oder keiner.
    Ich will nicht, daß man mir die Leiche meiner Mutter bezahlt. Ich möchte mich auch bedanken bei den Freunden, die mich rechtzeitig gewarnt haben.
    Ich stehe vollkommen hinter dieser Verweigerung, und wenn die Freunde nachdenken, werden sie fühlen, daß, da man nichts mehr für mich tun kann, man zumindest keine Beleidigung hinzufügen sollte.
    Die Gegner haben es gefühlt.
    Ich reiche Ihnen die Hand.
    LOUISE MICHEL.
    Hätte man mir nicht zugehört, so wäre ich sofort nach Rußland oder Deutschland gezogen. Dort tötet man die Revolutionäre, man beschmutzt sie nicht.
    Man lasse mich in Frieden.
    L.M.
Alle oder keiner. Ich hoffe, daß man es stets so empfinden wird und daß man die Beleidigung nicht wiederholen wird, die man dann freundlicherweise von mir fernhielt und die ich nicht verdient hatte.
Ein gefangener Mann hat nur gegen seine Situation zu kämpfen, wie sie seine Gegner gestaltet haben; eine gefangene Frau kennt nicht nur dieselbe Situation, sondern auch die Komplikationen durch das Eingreifen ihrer Freunde, die ihr alle Schwächen, alle Dummheiten, alle Verrücktheiten unterstellen! Genossinnen, die Männer überlasten uns gern und akzeptieren um dieser Belastung willen alle niederträchtigen Feigheiten, die jeder aufrichtige Geist nicht überleben würde; so ist die Sitte!
Ihr wart sehr gütig zu meiner armen Mutter und zu mir, meine lieben Freunde, aber ihr müßt euch angewöhnen, es nicht als Wahnsinn zu betrachten, daß der vor meinen Augen gegenwärtige Tod meiner Mutter mich erschreckte. Erinnert euch daran, daß, als die arme Frau nicht mehr litt, ich sie selbst begraben habe, ohne eine Träne zu vergießen, und daß ich nach meiner Rückkehr nach Saint-Lazare, sogleich am Tag nach ihrem Tode, die Arbeit wieder aufgenommen habe, und daß man mich weder weinen noch einen Augenblick die Ruhe verlieren sah.
Was will man noch mehr?
Ich werde für den Kampf leben, aber ich will weder für die Schande noch unter schandhaften Zuständen leben.
Nach dieser notwendigen Abschweifung fahre ich in meinem Bericht fort und komme zu dem Kapitel Kaledonien, von dem ich kaum gesprochen habe.
Ich war niemals weiter gereist als von Chaumont bis nach Paris; das Meer wurde für mich zu einem der überwältigendsten Schauspiele, obwohl ich von Kindheit an durch Stiche, Schilderungen und vor allem meine Einbildung vom Ozean übersättigt war.
Im Traum sieht man ihn wohl so, wie er ist, dieser Ozean, aber wenn man ihn wirklich vor Augen hat, ist man bezaubert und wird von der Weite magnetisch angezogen.
Wie lange schon liebte ich das Meer! Ich hatte es immer geliebt.
Als erstes Spielzeug baute mir mein Großvater Schiffe, schöne Schiffe, deren Segel mit Tauen aus dickem Garn gerefft werden konnten.
Ich besitze noch Bruchstücke aus einem der ersten Berichte meines Lebens, in dem ich davon erzählte.
Als mein erstes Spielzeug baute er mir Schiffe,
Schöne Schiffe, mit Deck und Wanten und Mastkorb,
Und im Brunnenbecken ließen wir sie zu Wasser,
Zwischen den dicken, abscheulichen Kröten,
Die manchmal mit riesigen Schritten über das Deck sprangen.
Das war bei der alten Ulme, bei den Bienenkörben.
Rosen aus Provins mit ihren leuchtenden roten Blüten
Reckten die Zweige über blasse Reseden.
...........................................................
Oh! Wie viele weiße Segel habe ich als Kind gesehen.
Die auf den Wogen meiner Träume am Abend fortzogen.
Und stets sah ich eines, das einsam unter den Sternen
Gleich einem großen weißen Vogel am schwarzen Horizont entlangglitt.
Als ich es malte mit dem lebendigen Aussehen
Und dem stolzen Wald seiner hohen Masten,
Sagte mir mein Großvater: Wir werden dein Schiff bauen
Aus dem Kernholz der Eiche, und es wird sehr schön sein.
Denn das ist eine Fregatte.
Aber wir bauten sie nicht aus dem Kernholz der Eiche, die Traumfregatte, die im Brunnenbecken nahe den roten Rosenstöcken segeln sollte mit den Bienen, die um ihre Masten summten. Sie wurde nie gebaut! Doch nach der Niederlage habe ich sie auf den weiten Wogen in der Virginie wiedererkannt.
Erkläre wer will diesen Traum meiner Kindheit. Ich traf mein Traumschiff in der Wirklichkeit wieder; ich hatte schon zuviel gesehen, um bewegt zu sein!
Ich habe zu Anfang von bestimmten Umständen gesprochen, die an Edgar Poe, an Baudelaire, an die Erzähler seltsamer Begebenheiten denken lassen; ich will hier nicht näher darauf eingehen; vielleicht wird sogar die Geschichte mit der Virginie, die wie in meinem Traum mit vollen Segeln auf dem Wasser glitt, die einzige dieser Art in meinem Buch sein.
Ich sage vielleicht, denn oft läßt man sich beim Schreiben hinreißen, und man geht und geht und geht durch seine Erinnerungen... ohne noch daran zu denken, daß man schreibt. Besonders bei solchen Gelegenheiten bleibt einem der Schluß des Satzes in der Feder stecken. Man ist immer weit, sehr weit von der Linie, die man gerade zeichnet.
Besser als alles andere werden noch einmal Verse unsere Reise nachzeichnen (meine erste Reise). Man muß zugeben: wenn der Staat es sich in den Kopf setzt, die Reisekosten zu übernehmen, nimmt er es nicht so genau! Eine lange Reise auf einem Kriegsschiff, von solch einer guten Gelegenheit hätte ich nie zu träumen gewagt!
Es kam uns allerdings teuer: es kostete uns die Unseren, die zu Tausenden im Gemetzel gefallen waren, und unsere Mütter, die glaubten, uns nie wiederzusehen.
 
AUF DEM EISMEER
An Bord der Vivginie.
Der Schnee fällt, die Woge rollt.
Die Luft eiskalt, der Himmel schwarz;
Das Schiff knarrt in der Dünung,
Und der Morgen vermengt sich mit dem Abend.
 
In einer schwerfälligen Runde 
Tanzen und singen die Matrosen; 
Wie eine Orgel mit Donnerstimme 
Weht der Wind in den Segeln.
 
Aus Angst vor der durchdringenden Kälte 
Sprechen sie dem eisigen Pol 
Ein Lied der bretonischen Heide, 
Ein Bardenlied der alten Zeit.
 
Und der lärmende Wind in den Segeln, 
Und dieses Lied, so naiv und so alt. 
Der Schnee, der Himmel ohne Sterne, 
Füllen die Augen mit Tränen.
.............................................
Ist dieses Lied ein magisches, 
daß es das Herz so ergreift?
Nein, das ist der Atem von Armorique [1] 
Voll des blühenden Ginsters.
 
Und der Wind in dem Eismeer 
Bläst mit seinen ehernen Hörnern 
Die neuen Bardenlieder des Volkes, 
Die Legende von morgen.
O Meer! Unbewegt wie ein riesiger Ölfleck, in dem sich still die Schatten der hohen Rahen widerspiegeln.
O aufgewühltes Meer vom Kap! Mit den von Gischt weißen Bergen der Wogen, mit den von der Tiefe schwarzen Fluten, mit der aufgehenden Sonne auf dem Wasser, mit den Millionen auf der Nachtflut leuchtenden Sternen, mit dem wie eine Orgel lärmenden Wind in den Segeln; wie wunderschön war das alles!
Und die Schafherde des Kaps, diese armen Albatrosse, die auf das Schiff niederschlugen, oder die man mit Angelhaken fing, um sie, arme Albatrosse, an dem Schnabel bis zum Tode aufzuhängen, aus Angst, ein einziger Blutstropfen könne das Weiß ihrer Federn beflecken; und die so traurig den Kopf hoben, solange sie konnten, ihren Schwanenhals rundeten, um ihren erbärmlichen Todeskampf um einen Augenblick zu verlängern, wobei sie mit einem Ausdruck des Schreckens ihre großen Augen mit den schwarzen Wimpern öffneten.
Fliegt, Vögel, das Meer ist schön.
Die Fluten donnern, der Wind tobt;
Bequem kann man die Flügel schlagen
Um das fliehende Schiff.
Schwebt über dem schäumenden Meer,
Wie eine irrende Flotte,
Weiß unter der glühenden Sonne!
 
Fliegt, fröhlich, nahe des Schiffs;
Bald seid ihr Gefangene.
Müßt ihr nicht alles beherrschen,
Männer, für euer Vergnügen?
Für ein noch weißeres Gefieder
Setzt man das Tier unter Qualen.
Arme Vögel, seid furchtsam.
Diese Todesart wird nicht nur den Albatrossen reserviert; bei manchen Menschen würde man auch die Blutstropfen scheuen.
Viele Briefe und viel Verse wurden auf der Virginie zwischen den Gittern der Käfige ausgetauscht; denn man kommt dem Briefwechselverbot nie nach; die anderen Vorschriften wurden respektiert, da man uns rücksichtsvoll behandelte.
Bis zur Rückkehr habe ich viele meiner Briefe bewahrt; inzwischen sind sie mit vielen anderen Dingen verschwunden.
Ich habe ihnen nachgetrauert; es gab schlichte und erhabene Briefe, Verse von vielen Deportierten und eine recht hübsche Widmung, die ein Genosse, ein fanatischer Protestant, auf die erste Seite eines frommen Buches geschrieben hatte; ich warf das Buch über Bord und behielt die Widmung; sie roch nach Myrrhe und Zimt.
Einige Briefe, oder sogar viele, waren erfüllt von der Erinnerung an die Abwesenden; wir hatten sie, unter der Rückflut der triumphierenden Reaktion, weniger frei zurückgelassen, als wir es selbst in den kaledonischen Wüsten sein würden.
Die einzigen Bruchstücke, die übrig geblieben sind, sind einige Strophen von mir und ein Gedicht von Rochefort, das hier folgt:
 
AN MEINE NACHBARIN VON STEUERBORD HINTEN
Ich habe Louise Michel gesagt:
Wir durchqueren Regen und Sonne
Unter dem Kap der guten Hoffnung.
Bald sind wir weit weg.
Nun, ich merke nicht,
Daß wir Frankreich verlassen haben!
 
Waren wir weniger seekrank
Vor dem Eintritt in den Abgrund?
Gleiche Wirkung mit anderen Gründen.
Wenn mein Herz springt, bei jedem Sprung,
Höre ich die Antwort des Landes:
Und ich, bin ich denn auf Rosen gebettet?
 
Unweit des Pols, wo wir vorbeiziehen, 
Reiben wir uns an den Eiszapfen, 
Mit Schnelligkeit fortgetrieben. 
Ich denke dann an die Sieger: 
Wissen wir nicht, daß ihr Herz 
Härter ist als die Eisbank?
 
Der am Morgen erblickte Seehund
In der Ferne hat mich erinnert
An den kahlen Rouher mit den dicken Händen;
Und die Haie, die gefangen wurden,
Schienen abgerissene Glieder
Der Begnadigungskommission zu sein.
 
An dem Tag, dem Tag der großen Hitze,
Als man die Fahnen ausbreitete
Von dem Besan bis zum Fock,
Glaubte ich - kann mir verziehen werden?
Versailles sich beflaggen zu sehen
Zum Freispruch von Bazaine!
 
Wir ziehen, an anderen Ufern zu sehen, 
Wie die Starken die Schwachen zerren. 
Wie es unsere Gesetze predigen. 
Das Gesetz ist: Schande dem Besiegten! 
Vor meiner Reise zum Ende der Welt 
War ich davon schon überzeugt.
 
Wir haben, wir Unvorsichtigen, 
Noch anderen Tatzenhieben getrotzt, 
Denn die ihre Hand gerötet haben 
In den Massakern von Karnak, 
Würden dem ältesten Kanaken.
Unterricht in Anthropophagie [2] geben!
 
Wird man jemals den Oger [3] vergleichen,
Der seine Gerichte bereitet
Aus einem im Hafen gefundenen toten Körper,
Mit diesen Freunden des Cäsar selig,
Die sich für die kleinste Schwelgerei
Dreißigtausend Leichen schenkten?
 
Der Oger, das kann man nicht verneinen, 
Befriedigt durch seinen Gefangenen 
Eine oft heftige Hungersnot; 
Aber ehe er gargekocht wird, 
Verleiht er ihm eine Leibesfülle, 
Die seine Gäste ehrt.
 
Ich kenne einen nicht weniger gierigen.
Aber grausameren Pantagruel.[4]
Die Kinder, die Greise, die Frauen,
Denen du für dein Mahl auflauerst,
Ehe du sie ermordest,
o Mac-Mahon, du hungerst sie aus!
 
Da das Schiff des Staates
Von Verbrechen zu Attentat schwimmt
In einem Meer der Schmach;
Da er die Rechtsordnung ist,
Begrüßen wir den südlichen Ozean
Und bleiben auf der Virginie!
 
Dort ist es zu warm oder zu kalt, 
Ich kann nicht behaupten, 
Sie sei besonders gastfreundlich. 
Wenn wir durch die Graupeln gehen, 
Neben dem Soldaten, dessen Gewehr 
Uns vorne und hinten bedroht.
 
Dieser Mast, den ein Windstoß sich beugen läßt.
Der Wind kann ihn entwurzeln,
Das Wasser kann den Kielraum überfluten;
Aber diese farblosen und fahlen Herzöge,
Glaubst du, daß sie kein Schwanken verspüren,
Auf ihren vergoldeten Thronen?
 
Ob wir Träumer oder Verrückte sind. 
Wir gehen unseren Weg geradeaus, 
Und wenn wir ihre Unruhe sehen. 
Ahnen wir, daß ohne Zweifel 
Sie den Kopf verlieren, 
Und das ist unser Trost.
 
Unterwegs können wir versinken, 
Aber, ohne mich als Orakel auszugeben, 
Ich prophezeie euch, daß vor morgen 
Ihr Schicksal immer dasselbe bleibt. 
Wer gegen den Strom schwimmen will, 
Wird von der Flut fortgeschwemmt.
Dezember 1873, an Bord der Virginie.
HENRI ROCHEFORT.
 
All das habe ich wieder vor Augen; ich rieche den beißenden Geruch der Fluten; ich höre die Orgeln des Windes in den Segeln pfeifen, und das Zurren der Hängematten und das Geräusch der Manöver, und den Pfiff, wenn die Matrosen die Anker ziehen, sich unterbrechen und festhalten; und das harte Rollen des Kabels, den Klang des Kupfers, die Lieder der Matrosen, die am Spill ziehen. Die Übereinstimmung wird zu einer Kraft, ohne die es ihnen unmöglich wäre, die Anker zu werfen oder zu lichten.
Ich sehe die Zwischenhäfen wieder, die kanarischen Inseln, Sainte-Catherine etc., wo das Schiff sich um sich selbst drehte.
Man breitet die Toppsegel aus, man schlägt den Rand um, man hißt sie hoch; die Matrosen steigen auf die Rahen und breiten die Brecherstreifen aus; das aufgeblähte Segel gleitet ihnen aus den Händen, die Segel öffnen sich vor dem Wind, und das Land verschwindet.
 
Ich zitiere noch ein Gedicht, weil es unter dem ersten Eindruck geschrieben wurde und ihn besser wiedergeben wird.
 
AN BORD DER VIRGINIE
15. September 1873.
Seht von den Wogen zu den Sternen 
diese irrenden Blässen spießen! 
Flotten mit vollen Segeln sind 
In den unendlichen Tiefen: 
In dem Himmel, Flotten der Welten; 
Auf den Wogen, die blonden Facetten 
Phosphoreszierender Lichter.
 
Und die treibenden Funken,
Und die in der Ferne verlorenen Welten,
Schauen, als hätten sie Augen.
Überall vibrieren verwirrte Lieder
Und singen den neuen Morgen:
Der gallische Hahn schlägt mit den Flügeln.
Es lebe das neue Jahr, Brennus! Brennus!
 
Der Anblick dieser Abgründe berauscht.
Höher, ihr Wogen! Stärker, ihr Winde!
Es beengt einen, zu leben,
So groß sind hier die Träume!
Ach, wäre es nicht besser,
Im Getöse der Elemente zu sein,
Sein Leben dem Ursprung wiederzugeben,
Sich in den lebenden Strömen verlieren?
 
Bläht die Segel auf, o Stürme!
Höher, ihr Wogen! Stärker, ihr Winde!
Es leuchtet der Blitz über unseren Köpfen.
Schiff, vorwärts, vorwärts!
Warum dieser eintönige Hauch?
Öffnet eure Flügel, Orkane!
Wir ziehen zu den Zyklonen;
Schiff, vorwärts, vorwärts!
Vielleicht gibt es viele Verse in meinen Memoiren; aber das ist die Form, die manche Eindrücke am besten wiedergibt, und wo würde man das Recht haben, man selbst zu sein und auszudrücken, was man empfindet, wenn nicht in seinen Memoiren?
Ich besitze noch zwei oder drei Seiten aus meinem Bordtagebuch; dort lese ich nach, daß wir am Dienstag, den 24. August 1873, zwischen sechs und sieben Ohr morgens von Auberive ausgelaufen sind.
Einen Tag vorher hatte ich meine Mutter gesehen und zum ersten Mal bemerkt, daß ihr Haar weiß wurde.
Arme Mutter!
Als wir durch Langres fuhren, traten fünf oder sechs Arbeiter aus ihrer Werkstatt und lüfteten ihre Mützen; es waren Stahlarbeiter, Messerschmiede. Ihre bis zum Ellbogen nackten Arme waren schwarz.
Einer von ihnen, dessen Kopf weiß war, schwang seinen Hammer und rief uns etwas zu, was durch den fahrenden Wagen zum Teil überlagert wurde. Er schrie: Es lebe die Kommune!
Durch das Herz fuhr mir etwas wie ein Versprechen, dieses Zurufs würdig zu bleiben.
Am Abend kamen wir in dem Gefangenenwagen an, der vom Ostbahnhof zum Bahnhof von Orleans fuhr; ich ahnte den kleinen Laden in der rue Saint-Honore, in dem meine Mutter nach meiner Abreise bei einer Verwandten Unterkunft finden sollte.
Am Mittwoch gegen vier Uhr nachmittags kamen wir in dem Untersuchungsgefängnis von La Rochelle an.
Die Comète, auf der wir als Besiegte und nicht als Verbrecher behandelt wurden, brachte uns von La Rochelle nach Rochefort, wo wir an Bord der Virginie gingen.
Kähne mit Freunden hatten den ganzen Tag die Comète begleitet; von fern erwiderten wir ihren Gruß.
Als wir sie verließen, hätte ich gern als letzten Abschied meinen roten Schal geschwenkt, aber er war in meinem Gepäck, und ich mußte mit meinem schwarzen Schleier vorliebnehmen.
Dieser Schal, der allen Durchsuchungen verborgen geblieben war, dieser rote Schal der Kommune wurde dort in zwei Teile gerissen, als sich eines Nachts zwei Kanaken von mir verabschieden wollten, bevor sie sich den Ihrigen anschlössen, die sich gegen die Weißen erhoben hatten.
Die See war bewegt, sind sie überhaupt am anderen Ufer angelangt? Oder sind diese Unglücklichen, die hinüberschwammen, getötet worden? Ich weiß nicht, welche dieser beiden Todesarten sie mitgenommen hat.
Sie waren Tapfere; sie gehörten zu denen, die Weiße und Schwarze mögen, zu den Valkinis.
Ich komme auf mein Bordtagebuch zurück. Bis zum Montag fuhren wir längs der französischen Küste, dann kam die hohe See; erst zwei oder drei Schiffe am Horizont, dann ein einziges, und dann nichts mehr.
Gegen den 14. verschwanden die letzten großen Meeresvögel; zwei von ihnen begleiteten uns noch eine Zeitlang.
Am 16. geht die See hoch, der Sturm heult, die Sonne glitzert durch tausend Facetten auf den Wogen; zwei Ströme von Diamanten scheinen an den Flanken des Schiffes entlangzugleiten.
Das ist wirklich meine Fregatte, einsam unter dem Himmel!
Am 19. August kommt ein schwarzes Schiff immer nur für Augenblicke in Sicht, das dem Gespensterschiff des Nordens, dem N&gle fare, gleicht und die Segel bald setzt, bald einholt. Es bewegt sich, als läge es auf der Lauer. Sollten es Befreier sein?...
Mit Unterbrechungen folgt es uns zwei Tage lang: am Abend wird ein Übungsmanöver durchgezogen; während dieses Manövers geben die Kanonen zwei Warnschüsse ab.
Das seltsame Schiff verliert sich in der Nacht; es lauert noch ein wenig, seine weißen Segel blinken wie Sterne in der tiefen Dunkelheit.
Es kam nicht wieder!
Am 22. August setzen sich Seeschwalben auf die Rahen. Palma und Gran Canaria sind in Sicht.
Sie sind vielleicht die Überreste von Antlantis; warum nicht? Noch heute bebt der umgewühlte Boden.
Berge und immer Berge, hoch in den Wolken aufgetürmt.
Am 24. um neun Uhr morgens wird der Anker gelichtet. Längs der Küste sehen wir zahllose und endlose Gipfel, und in den tiefen Schluchten Wälder oder Pflanzungen von dunklem Grün, mit Tupfen von zartem Grün.
Buchten, die sich dem Nordwestwind öffnen; in der Ferne die Bergspitze von Teneriffa; noch weiter hinten ein bläulicher Gipfel, der sich im Himmel verliert. Ist es die Insel Alegranza
mit dem Berg Caldera? Nein, das müssen Wolkengipfel sein.
Von der Reede auf Palma haben wir zwei Häfen gesehen, den von Euz und den von Santa-Catharina; rauhe Felsen und Ruinen, die einstmals Zollposten gewesen sein sollen, wie man uns sagt.
Die weißen Häuser auf Palma scheinen aus dem Wasser aufzusteigen; im Norden liegt auf einem Hügel die Zitadelle Plate-Forme.
Bewohner kommen in Barken, die mit riesigen Trauben beladen sind, und machen uns mit dem Geld des Landes vertraut: die Goldmünzen oder Quadrupeln (um die sich keiner von uns Gedanken zu machen braucht) haben einen Wert von 84 Francs 80.
Über die Viertel-, die Achtel-, die Sechzehntelpiaster, die Peseten und halben Peseten kann man sich annähernd verständigen; ihr Wert liegt zwischen einem Franc und 53 Centimes; dann gibt es noch den Real - neun Realen entsprechen etwa 5 Francs - und andere Münzen.
Am interessantesten sind die Bewohner, es gibt unter ihnen zwei Typen, die wunderschön aussehen. Möge mir die Wissenschaft verzeihen, aber wenn ich mir eine Unmenge Lektüre ins Gedächtnis zurückrufe, glaube ich mich nicht zu täuschen: es sind Guanchen,[5] und ihre Vorfahren bewohnten Atlantis.
Von den Kanarischen Inseln bis Santa-Catharina wird das Meer öder; von Santa-Catharina bis Numea wird es noch öder und verlassener, und dann ist es gänzlich verlassen.
Durch die enge Passage, das heißt durch eine der Breschen in dem doppelten Festungswall aus Korallen, der Neukaledonien umschließt, gelangen wir nach Numea.
Numea liegt wie Rom auf sieben bläulich schimmernden Hügeln unter dem tiefblauen Himmel; etwas weiter liegt der Mont d'Or mit den roten Spalten goldhaltiger Erde, und ringsum Berggipfel.
Ich glaube, ich bin mehr als nur eine halbe Wilde, denn diese unfruchtbaren Gipfel, diese von einem Erdbeben aufgerissenen noch klaffenden Schluchten, diese Kegel, aus denen die Flammen emporschlugen oder noch emporschlagen werden, diese ganze Wüstenlandschaft gefällt mir.
Ein Berg wurde in zwei Hälften gespalten; er bildet ein V, dessen Schenkel, wenn sie sich wieder schlössen, die überhängenden Felsen in den Schlund zurückholen würden.
Wie immer, versucht man auch hier, den Frauen ein besonderes Los zu bereiten. Man möchte uns nach Bourail schicken, unter dem Vorwand, daß die Verhältnisse dort günstiger sind, aber gerade deshalb wehren wir uns energisch dagegen.
Wenn die Unseren auf der Halbinsel Ducos schlimmer dran sind, wollen wir mit ihnen dort sein.
Nachdem sich der Kommandant der Vivginie dafür eingesetzt hat, werden wir schließlich mit der Schaluppe des Schiffes auf die Halbinsel gebracht; der Kommandant hat begriffen und den anderen begreiflich gemacht, daß wir recht hatten.
Die Männer, die mit uns gekommen sind und schon vor einigen Tagen an Land gegangen waren, erwarteten uns mit den anderen Kameraden am Ufer.
Mehr als acht Tage lang wurden wir von Hütte zu Hütte gefeiert; das erste Essen fand bei dem alten Malezieux statt, dem Juniveteranen, dem die Kugeln vom 22. Januar den Waffenrock über und über durchlöchert hatten, und der seitdem - er wußte kaum wie, und ebensowenig wußten wir es - dem Kampf und dem Blutbad entronnen war; ich glaube, je weniger man auf sein Leben gibt, um so eher bleibt es einem; es ist damit so wie mit vielen Dingen.
Lacour bereitete den Braten in einem Loch, nach kanakischem Brauch.
Derselbe Lacour, der in Neuilly bei der Barrikade Perronnet eines Nachts hörte, wie jemand auf der Orgel der protestantischen Kirche den Versailler Geschützen auf seine Weise Bescheid gab, was bald wie eine Herausforderung, bald wie eine möglichst getreue Nachahmung des von der Artillerie veranstalteten Höllenlärms klang, und der daraufhin mit fünf, sechs Nationalgardisten antrat und dem Übeltäter drohte, der mit seinem Spiel das Feuer der Granaten auf die Barrikade lenkte.
Der Übeltäter war ich! Man hatte mir befohlen, mich auszuruhen, das Bethaus stieß an die Barrikade, die Orgel war gut erhalten, sie hatte erst ein paar zerbrochene Pfeifen, und niemals hatte ich mich so in Stimmung gefühlt; jeder ruht sich eben auf seine Art aus.
In Clermont habe ich im Brausen des Windes, der meine Orgel war, aus dem Gedächtnis ein paar Takte dieses Bombentanzes niedergeschrieben.
Zu dem Essen, das uns zu Ehren bei Rochefort gegeben wurde, kam Daoumi, ein Kanake aus Sifou, in europäischer Kleidung, mit einem Zylinder - der seinen stolzen Kopf verunstaltete - und über seinen breiten Händen Lederhandschuhe; damit war er dem üblen Rat von Balzenq gefolgt - eine Art Alchimist-, der sich in seiner von Tiegeln überladenen Höhle mit der Kunst der Kesselschmiede und mit der Herstellung von Niaouli-Essenz [6] beschäftigte, und der sich als Blechschmied ausgab, weil er in der Auvergne geboren war - er war der ehemalige Redakteur der Zeitung Blanquis.
Dieser Löwe von Daoumi, der mit seinen nun eingezwängten Pranken recht unbeholfen war, konnte weder Olivier Pain bei der Zubereitung des Bratens helfen, noch - wie alle anderen - irgendwo (an was es auch sei) Hand anlegen; darum gelang es mir auch, ihn zu bewegen, ein Kriegslied zu singen; dabei konnte ich es nicht unterlassen, die am Rizinusbaum festgebundene Ziege mit Blättern zu füttern.
Dieses Lied, das Daoumi mit der weichen Stimme der Kanaken sang, und das er mir mit unbeirrbarer Sicherheit übersetzte, fand ich sehr schön; hier ist der Text:
Was die Melodie betrifft, so ist sie eine in Vierteltönen geheulte Drohung, der Abschied am Ende schwingt sich zu einem
gellenden Schrei. Diese Vierteltöne haben ihnen die Zyklonen eingegeben. Die Araber haben sie aus dem Samum [7] entnommen.
 
KRIEGSLIED
Sehr schön, sehr gut Ka kop        
Roter Himmel Mea moa
Rotes Beil Mea ghi
Rotes Feuer Mea iep
Rotes Blut Mea rouia
Salut adieu
Männer - Tapfere - !
 
Anda dio poura
Mateh malch kachmasl
Ich habe nur noch diese Strophe. Zuerst wird sie dreimal wiederholt, wie ein Refrain, dann werden die einzelnen Zeilen wiederholt.Die Melodie wechselt mit jeder Strophe und wird ebenfalls nach Art eines Refrains dreimal wiederholt. Aus vielen Wörtern ist schon das Umherziehen der alten Stämme Neukaledoniens ersichtlich. Anda dio klingt anders als die anderen Wörter.
Daoumi selbst ist zwar der Sohn eines Theama [8] aus Lifon, doch beinahe ein Europäer, weil er stets mit den Weißen lebt. Er kann ausgezeichnet lesen, schreibt nicht schlechter als viele andere und sieht sogar unter diesem unseligen Zylinder, mit dem er sich in seiner Einfalt herausgeputzt hat, ein wenig wie Othello aus.
Es wird behauptet, daß eine Weiße ihn geliebt hat und vor Kummer fast gestorben ist, weil die Eltern ihre Neigung nicht billigten.
Ich habe nach diesem ersten Mal Daoumi oft wiedergesehen. Er hatte in der Kantine der Halbinsel Ducos Arbeit angenommen, um sich in der europäischen Lebensweise zu üben. Er hat mir Stammeslegenden erzählt, mich seinen Wortschatz gelehrt, und ich habe meinerseits versucht, ihm alles beizubringen, was er meiner Meinung nach wissen mußte.
Er hat mir seinen Bruder vorgestellt, einen prachtvoll aussehenden Wilden mit blitzenden Zähnen und großen leuchtenden Augen, der von Kopf bis Fuß nach Art der Kanaken gekleidet, das heißt gar nicht gekleidet war, und der sich mit unserer Sprache schwertat, die weniger weich ist als ihre Dialekte.
Als die fünf Jahre, die ich auf der Halbinsel verbringen mußte, vorüber waren, und ich nach Numea durfte wie alle, die einen Beruf hatten und sich dadurch selbst ernähren konnten, da war nicht das weiße junge Mädchen gestorben, sondern Daoumi.
Sein Bruder setzte sein durch seinen Tod unterbrochenes Vorhaben fort; nun wird er mit einer bestimmten Menge an Kenntnissen zu seinem Stamm zurückkehren und die Seinen davon profitieren lassen.
Der schöne Wilde ist nun auf eine etwas befremdliche Art als Europäer gekleidet, er kann lesen und kam zu mir zum Schreibunterricht; wir sprachen von Daoumi, von der langen, im Dunkeln liegenden Vergangenheit der Stämme und der kurzen Zukunft, die die unwissenden und ungerüsteten Menschen bei unserer Habgier und unseren zahllosen Zerstörungsmitteln erwartet. Angesichts seiner hohen, lebhaften Intelligenz und seines tapferen, guten Herzens fragte ich mich, welcher nun wohl das höhere Wesen sei: der, der sich ungeachtet tausender Schwierigkeiten Kenntnisse aneignet, die seinem Volk fremd sind, oder derjenige, der wohlgerüstet die Ungerüsteten vernichtet?
Wenn es ein Beweis von Überlegenheit ist, daß die anderen Rassen vor der weißen Rasse zurückweichen, wie überlegen müßten uns dann die Tiger, Elefanten und Löwen vorkommen, wenn sie plötzlich in Legionen Europa überschwemmten und ihre Pranken auf uns legten! Bei diesem Triumph der Vernichtung wären die primitiven Bestien wahrlich unsere Herren!
Die Hirne werden nicht gepflegt, und für die Menschenrassen gilt das gleiche wir für den Boden: es gibt guten Boden, der brachliegt, wie es alte, vollkommen ausgeschöpfte Kulturen gibt.
Der Unterschied zwischen denen, die nichts wissen, und denen, die Falsches wissen - weil sie seit Tausenden von Generationen durch all die Unfehlbarkeiten, die Irrtümer sind, fehlgeleitet werden - ist nicht so groß, wie man glaubt; derselbe Windstoß der echten Wissenschaft wird über alle hinwegfegen.
In der ersten Zeit auf der Halbinsel hatten nur wenige Schiffe verurteilte Angehörige der Kommune gebracht. Bis zum Ende jedoch kamen welche.
Die letzten Urteile wurden noch kurz vor der Amnestie ausgesprochen, die das Volk von der Regierung erzwang.
Vom ersten Tag an brachte jede Post denen, die Heimweh hatten, Illusionen, von denen sie sich wiegen ließen, bis sie für den Friedhof reif waren; viele hätten ihr brennendes Verlangen, heimzukehren, bezwungen, wenn diesem Schimmer einer verfrühten Hoffnung nicht gleich die Enttäuschung gefolgt wäre.
So nachdrücklich wir ihnen auch sagten, daß eine Deportation gewöhnlich zehn Jahre dauert, und daß zuviel von unserem Blut geflossen sei, als daß wir damit rechnen dürften, vor der Zeit zurückgerufen zu werden - sie glaubten lieber den lügnerischen Worten, die sie töteten, als der Stimme der Vernunft.
Oft gingen wir, mit einem weißen Leinenhemd bekleidet und mit einer Blüte der wilden Baumwolle im Knopfloch, auf den Gebirgswegen, denn die ersten, die den befreienden Tod fanden, waren die Familienväter, die kleine Kinder hatten.
Nach und nach entstand die Stadt Numbo, jeder Neuankömmling baute seine grasbedeckte Erdhütte zu den anderen hinzu. Numbo lag im Tal und hatte die Form eines C, an dessen Spitze das Gefängnis, die Post, die Kantine waren; an der Westspitze ein Wald auf den mit Seepflanzen bedeckten Hügeln; in der Mitte und längs der Buchten von Ost nach West standen die Hütten. Bauers Hütte sah von weitem wie ein reizender Pavillon aus; davor wuchsen in Körben Euphorbien, die hier zuweilen angepflanzt wurden.
Oberhalb lag das Theater, ein richtiges Theater, das seine Direktoren hatte, seine Schauspieler, seine Bühnenarbeiter, seine Dekorationen, sein Direktionskomitee.
Dieses Theater war unter den gegebenen Bedingungen ein Meisterwerk. Es wurde dort alles gespielt, Dramen, Schwanke, Operetten. Eine Opfer, Robert der Teufel, kam in Bruchstücken zur Aufführung; die Partitur war nicht vollständig.
Ich muß gestehen, daß unsere ersten Liebhaberinnen gewaltige Stimmen hatten und immer die Hände in den Rocktaschen, als suchten sie dort eine Zigarre, und daß selbst mein sehr langes Kleid, das ich bei der Verhandlung vor dem Kriegsgericht getragen hatte, ihre Knöchel nicht einmal bedeckte, denn sie waren sehr stattliche junge Leute.
Schließlich verlängerten sie ihre Röcke, und am Ende waren ihre Kostüme ohne Fehl. Jeden Sonntag gingen wir ins Theater. Wolowski hatte die Chöre einstudiert, und als ich nach Numea ging, war von einem Orchester die Rede.
Lange schon hatte ich überlegt, daß man Palmwedel schütteln, Bambusstäbe aneinanderschlagen, Noten auf einer hornförmigen Muschel blasen, durch ein Blatt summen und Töne erzeugen, kurzum, ein Kanakenorchester mit Vierteltönen zustandebringen könnte.
Ich glaubte, es mit Hilfe der Ratschläge von Daoumi und den Kanaken versuchen zu können. Aber meine Absicht wurde durch das Theaterkomitee, das einen leicht klassischen Einschlag hatte, vereitelt; man beschuldigte mich der Verwilderung.
Das geschah ausgerechnet zu der Zeit, als die Stämme aufständisch wurden, und ich wurde von den Kameraden für kanakischer als die Kanaken selbst gehalten. Wir waren am Strand und stritten uns ein wenig, und um die Situation zu verschlimmern, sprach ich von einem kanakischen Stück, das dabei war, in meiner Tasche zu verkommen, geradeso, als hätte ich die Idee, es in schwarzen Trikots zur Aufführung zu bringen. Diese Kostümdetails ergänzte ich noch durch einen Haufen anderer haarsträubender Vorschläge, und die Geschichte ging ihren Gang weiter, indem sie meine Gegner erhitzte und mir boshaftes Lachen entlockte.
- Man sagt, fragte mich Bauer, daß Sie ein kanakisches Stück spielen lassen wollen?
Ich hütete mich, dies abzustreiten, eher im Gegenteil, und es muß dies das eine Mal gewesen sein, als der Wachtposten herunterkam, weil er glaubte, eine Meuterei sei im Gange; aber es waren nur Bauer und ich, die über die kanakische Frage sprachen!
Wir waren nichtsdestoweniger gute Kameraden, und nachdem wir im Gespräch über die Kanaken auf den intelligentesten Typ zu sprechen gekommen waren, gab mir Bauer, um unseren Streit beizulegen, eine Studie über Othello, die er gerade geschrieben hatte und die von Shakespeares Desdemona [9] bis zu Dantes Francesca da Rimini[10] reichte. Eine Studie, die sich bis vor zwei Jahren noch unter meinen Papieren befand. Ich erinnere mich an diesen
die Studie zusammenfassenden Satz: »Eigenartig, zu sehen, wie sich der Grundgedanke des Othello ändert bei einer Natur, der der erhabene Atem des Dramatischen fast völlig abgeht, in der aber dagegen das geniale Komische herausragt. Wenn wir bei Moliere nach einer Situation suchen, die der des Mohren entspricht, stoßen wir auf Sganarelle.[11]
Ich glaube, es war im gleichen Jahr, als Caulet de Taillac von dem unwiderstehlichen Verlangen gepackt wurde, seine Mutter wiederzusehen, weil er fühlte, daß es mit ihr zu Ende ging; er wurde schwach und bat, nach Frankreich heimkehren zu dürfen; als er hinkam, war seine Mutter gestorben, und er fand selbst den Tod.
Wie viele traurige Geschichten! Ich habe Verdure erwähnt, der vor Kummer starb, weil er keine Nachricht bekam, und das einige Tage, bevor ein Paket Briefe für ihn eintraf - die Post kam noch sehr unregelmäßig.
Ich hatte Verdure seit dem 4. September nur ein einziges Mal gesehen, als wir gemeinsam aus dem Garten der Tuilerien[12] Ableger von Freiheitsbäumen holten; einer hielt sich bei meiner Mutter jahrelang; in dem eisigen Winter kurz vor unserer Rückkehr ging er ein.
Armer Verdure! In der Kampfzeit hatte man kaum Gelegenheit, seine Freunde zu besuchen. Ich hätte ihn gern dort wiedergetroffen und ihm geholfen, statt seine Schüler zu übernehmen.
Die Genossen bestellten die Gräber mit Blumen. Henry Lucien schuf für das Grab von Eugenie Tiffaut, einem schönen Mädchen mit dunkelblauen Augen, das mit sechzehn Jahren starb, eine Statue aus Terrakotta, die bis zu unserer Abreise von den Zyklonen verschont blieb.
Passedouet hat Kränze aus Frankreich; auf dem Grab eines kleinen Kindes, Theophile Place, wächst ein Eucalyptus.
Ein Selbstmörder, Muriot, schläft unter dem Niaouli, der seine weißen traurigen Äste wie Gespensterarme windet. Unterhalb des Friedhofs verflechten sich Wurzelbäume, die bald über den Ozean triumphieren, bald von den Wogen zurückgedrängt werden; oberhalb erhebt sich der Felsen aus rosa Marmor, in den ich so gern die Namen eingraviert gesehen hätte. Vielleicht werde ich es eines Tages selber tun, ohne dem schroffen, halb mit Buschwerk bewachsenen Felsen Gewalt anzutun.
Als wir in Numbo in den Baracken unterhalb des Hospizes wohnten, hatte ich die unbewohnte Baracke halb niedergerissen, um ein Gewächshaus daraus zu machen; die Wachen waren entsetzt über meine Kühnheit: Sie wagt es, ein staatliches Gebäude anzutasten! Selbst die Deportierten fanden mich reichlich dreist und fragten sich, was mir beim Besuch des Gouverneurs passieren würde.
Nun, es passierte, daß ich ihm Bäume zeigte, die in dem am meisten dem Licht ausgesetzten Winkel in Behandlung waren, und die ich bis zum vollen Erfolg des Versuchs verstecken wollte. Es handelte sich um vier Papayabäume, die ich am Fuß mit dem Saft anderer, an Gelbsucht erkrankter Papayabäume geimpft hatte.
Der Gouverneur, es war La Richerie, begriff die Bedeutung des Versuchs und befahl, daß mir das Gewächshaus überlassen bliebe. Meine vier Papayabäume bekamen die Gelbsucht und erholten sich wieder; sie waren vielleicht die einzigen, die in jenem Jahr, als besonders die Papayabäume der Halbinsel befallen wurden, an dieser Krankheit nicht eingingen. Aber da Monsieur Aleyron, schrulligen und rohen Angedenkens, die Frauen in den Westwald schickte, weiß ich nicht, was aus meinen Bäumen geworden ist.
Ehe ich mich dazu äußern wollte, hätte ich gern bei etwa zwanzig Bäumen den Erfolg abgewartet, und das um so lieber, da selbst dort, wo alle für die Freiheit litten, die Macht der Vorurteile noch so mächtig war, daß man Dinge zu hören bekam wie etwa folgende: »Wenn man tatsächlich gegen alle Krankheiten impfen könnte, dann hätten es die Zuständigen bereits getan! Sind Sie etwa Arzt, daß sie sich um solche Sachen kümmern? etc.« Als ob man, wenn ein Weg gut ist, unbedingt erkundschaften müßte, ob ihn ein Esel oder ein Ochse als erster betreten hat.
Stellt Euch vor, was mir meine Ultra-Universitätsgebildeten erwidert hätten, wenn ich behauptet hätte, daß die Impfung auch bei Pflanzen anzuwenden sei!
Nichtsdestoweniger werden Impfversuche gegen die Tollwut, die Pest und die Cholera durchgeführt, und zwar auf ähnliche Weise, wie ich dort experimentierte, und da der Saft das Blut der Pflanzen ist, kann man diese Versuche auch auf die Erkrankungen der Pflanzen übertragen.
Was die Versuche angeht, so ist der Mut dazu nützlich, und zwar besonders, wenn er als Grundlage die Analogien nimmt, die zwischen allem Lebenden bestehen.
Ich habe schon erwähnt, daß nach der Abreise Rocheforts die Herren Aleyron und Ribourt auf die lächerliche Idee kamen, eine Zeitlang um uns herum den Tour de Nesle (Turm von Nesle) mit grandiosen Dekorationen aufführen zu lassen. In den hellen Nächten hörte man auf den Berggipfeln: »Wachen, stillgestanden!« Und die schwarzen Schatten der Wachtposten glitten aufrecht im hellen Mondlicht über die Gipfel.
Auf das Lächerliche folgte das Gehässige: den Deportierten wurde das Brot verweigert. Auf einen Unglücklichen, der nicht einmal im vollen Besitz seiner Geisteskräfte war, wurde gezielt, als wäre er ein Kaninchen, weil er ein wenig nach der festgesetzten Zeit in seine Behausung zurückkam.
Ein paar Briefe, die ich hatte schmuggeln können - unter Aleyron und Ribourt genierten wir uns da nicht - wurden mir zu der Zeit zurückgegeben, als ich um eine Geschichte der Deportation ersucht wurde, Geschichte, die nur mit Hilfe der Dokumente aller entstehen konnte; hier sind zwei solche Briefe:
 
Halbinsel Ducos, 9. Juni 1875
Liebe Freunde,
 
  • Anbei die offiziellen Schreiben, die die erwähnte Überführung betreffen.
    Überführung, in die wir erst eingewilligt haben, nachdem unserem Protest stattgegeben wurde: 1. gegen die Form, in der der Befehl erlassen wurde; 
    2. dagegen, wie wir in diesem neuen Barackenlager hausen sollten.
    Es ist natürlich wahr, daß uns vollkommen gleichgültig ist, in welchem Winkel der Halbinsel wir wohnen, aber die beleidigende Art der ersten Bekanntmachung konnten wir nicht dulden, und wir mußten Bedingungen stellen und auf den Wechsel des Wohnsitzes erst eingehen, wenn die Bedingungen erfüllt waren.
    Und so verhielt es sich dann auch.
Hier die Abschrift der ersten Bekanntmachung vom 19. Mai 1875 in Numbo; die Anordnungen der Regierung wurden uns nämlich in Form von Anschlagzetteln übermittelt:
 
BESCHLUSS 19. Mai 1875.
  • Auf Anordnung der Direktion haben die im folgenden namentlich aufgeführten deportierten Frauen am 20. dieses Monats das Lager Numbo zu verlassen und in der Westbucht das Quartier zu beziehen, das ihnen angewiesen wird: Louise Michel, Nr.1; Marie Schmit, Nr.3; Marie Cailleux, Nr.4; Adèle Desfossés, Nr.5; Nathalie Lemel, Nr.2; die verehelichte Dupré, Nr.6.
Hier unsere Protestschreiben:
 
  • »Numbo, 20. Mai 1875.
    Die Deportierte Nathalie Duval, verehelichte Lemel, weigert sich nicht, in dem Barackenlager zu wohnen, das ihr von der Verwaltung angewiesen wurde, gibt jedoch zu bedenken:
    1. daß es ihr unmöglich ist, ihren Umzug selbst zu bewerkstelligen;
    2. daß sie sich nicht das Holz beschaffen und kleinmachen kann, das sie zum Kochen braucht;
    3. daß sie zwei Hühnerställe errichtet und ein Stück Land bebaut hat;
    4. aufgrund des Gesetzes über die Deportation, das besagt: »Die Deportierten können in Gruppen oder Familien leben«, und das ihnen die Wahl überläßt, mit welchen Personen sie Beziehungen aufnehmen wollen, daß die Deportierte Nathalie Duval, verehelichte Lemel, das Gemeinschaftsleben ablehnt, wenn diese Bedingungen nicht eingehalten werden.
    Nathalie DUVAL, verehelichte LEMEL, Nr. 2.
Zweites Protestschreiben:
 
  • »Numbo, 20. Mai 1875.
    Die Deportierte Louise Michel, Nr.1, protestiert gegen die Maßnahmen, durch die den weiblichen Deportierten ein vom Lager entfernter Wohnsitz zugewiesen wird, als sei ihre Anwesenheit im Lager ein Skandal. Die männlichen wie die weiblichen Deportierten unterliegen demselben Gesetz, man darf ihnen keine unverdiente Beleidigung zufügen.
    Was mich betrifft, so ist es mir unmöglich, den neuen Wohnsitz zu beziehen, wenn die Motive für unsere Übersiedlung - falls sie redlich sind - nicht durch Anschlag öffentlich bekanntgegeben werden, ebenso wie die Behandlung, die wir dort erfahren werden.
    Die Deportierte Louise Michel erklärt, daß sie, falls diese Motive eine Beleidigung darstellen, sich genötigt sehen wird, bei ihrem Protest zu bleiben, was ihr auch geschehen mag.
    Louise MICHEL, Nr. 1.«
    Am Tag nach unserem Protest setzte man uns in Kenntnis, daß wir heute noch umzuziehen hätten, eine Forderung, der nachzukommen wir uns nicht beeilten, da wir fest entschlossen waren, Numbo nicht zu verlassen, ehe nicht unserem berechtigten Protest stattgegeben wurde, und da wir erklärt hatten, daß wir bereit wären, ins Gefängnis zu gehen, für den Umzug aber keinen Finger rühren würden.
    Wir hatten außerdem erklärt, daß, sobald uns für den beleidigenden Anschlag Genugtuung gegeben sei und sofern unsere Behausungen so gelegen seien, daß keiner den anderen stören würde, wir keinen Grund sähen, dem einen Ort vor dem anderen den Vorzug zu geben.
    Kommen und Gehen, Drohungen des Oberaufsehers, der ziemlich verdrossen am Abend auf seinem Pferd geritten kam, um uns ehrfurchtgebietender zu erscheinen; unruhiges Scharren des Pferdes, das, von der langen Rast seines Herrn vor unseren Hütten gelangweilt, diesen schneller ins Militärlager zurückbefördert als ihm lieb ist.
    Drei oder vier Tage später, Ankunft des Deportationsdirektors in Begleitung des Gebietskommandanten, die versprechen, unseren Forderungen durch einen zweiten Anschlag nachzukommen und das Barackenlager an der Westbucht in kleine Hütten aufzuteilen, in denen wir nach Wunsch zu zweit oder dritt wohnen können, damit sich die zusammentun können, die zusammenpassenden Beschäftigungen nachgehen.
    Zunächst wurde ein Teil der Zusagen erfüllt, aber solange sie nicht vollkommen erfüllt waren, blieb es unmöglich, uns dazu zu bewegen, Numbo zu verlassen, und da im Gefängnis kein Platz für uns war, entschloß man sich, die Bedingungen ganz zu erfüllen.
    Jetzt sind wir an der Westbucht; für Mme Lemel ist es traurig, weil sie so leidend ist, daß sie kaum gehen kann; deshalb wage ich nicht, mich über die Nähe des Waldes zu freuen, den ich sehr liebe.
    Das ist, ohne Leidenschaft oder Zorn, der Bericht unserer Überführung.
    Louise MICHEL, Nr. 1
    Westbucht, 9. Juni 1873.
Ich hätte, wenn es nach der Reihenfolge der Daten ginge, den Brief, der dieses Kapitel abschließt, zuerst bringen müssen, jedoch wollte ich den angefangenen Bericht unserer Überführung nicht unterbrechen. Der folgende, der nach Sydney geschickt wurde, erreichte die Revue australienne.
 
18. April 1875, Numbo, Neukaledonien
  • Liebe Freunde,
    Durch die verschiedentlichen Ausbrüche, die vor kurzem stattgefunden haben, müßt Ihr wohl annähernd vertraut sein mit der Lage, in der sich die Deportierten befinden, daß heißt mit den Schikanen und dem Autoritätsmißbrauch, deren sich die Herren Ribourt, Aleyron und Konsorten schuldig gemacht haben.
    Ihr wißt, daß unter dem Admiral Ribourt das Briefgeheimnis verletzt wurde, als jagten die paar Menschen, die das Blutbad von 1871 überlebt haben, den Mördern selbst jenseits des Ozeans Angst ein.
    Ihr wißt, daß unter Oberst Aleyron, dem Helden der Kaserne Lobau [13] ein Wachtposten auf einen Deportierten in dessen Haus schoß; dieser Deportierte hatte, ohne es zu wissen, beim Holzsammeln die Grenzen übertreten; einige Zeit vorher hatte ein anderer Wachtposten auf den Hund des Deportierten Croiset geschossen, der zwischen den Beinen seines Herrn saß. Auf wen hatte man gezielt, auf den Menschen oder auf den Hund?
    Was ist nicht seitdem alles geschehen! Mir scheint, ich werde eine Menge davon vergessen, so zahlreich sind diese Vorfälle... Aber unsere Wege werden sich wieder kreuzen.
    Ihr habt bereits gewußt, daß allen, die sich ganz einfach an das Deportationsgesetz halten und beim Appell erscheinen, ohne sich militärisch in zwei Reihen auszurichten, das Brot entzogen wurde; unser Protest bei dieser Gelegenheit war energisch und ruhig und zeigte, daß die Deportierten keineswegs die Solidarität vergessen haben, trotz der Leute, die unserer Sache fremd gegenüberstanden und die Uneinigkeit in unsere Reihen trugen, wozu sie absichtlich unter uns gebracht worden waren.
    Inzwischen hat man fünfundvierzig Deportierten alle Lebensmittel außer Brot, Salz und Trockengemüse entzogen, weil sie sich angeblich gegen eine nur in der Phantasie der Regierung existierende Arbeit ablehnend verhalten haben.
    Auch vier Frauen wurden auf diese schmale Ration gesetzt, weil sie in Bezug auf Benehmen und Moral zu wünschen übrigließen, was schlichtweg nicht stimmt. Der Deportierte Langlois, der mit einer dieser Damen verheiratet ist, verwahrte sich aufs Energischste, da ihm seine Frau keinen Anlaß zur Unzufriedenheit gegeben hat, und wurde daraufhin zu achtzehn Monaten Gefängnis und 3000 Francs Geldstrafe verurteilt.
    Der Deportierte Place, genannt Verlet, antwortete für seine Gefährtin, deren Verhalten die Achtung aller Deportierten verdient, und wurde zu sechs Monaten Gefängnis und 500 Francs Geldstrafe verurteilt, überdies starb ihm sein während der Untersuchungshaft geborenes Kind - ein Verlust, den ihm niemand ersetzen kann - infolge der Qualen, die seine Mutter, die es ernährte, erlitten hatte.
    Es wurde ihm nicht erlaubt, sein Kind noch lebend zu sehen.
    Andere Deportierte, darunter Cipriani, dessen Würde und Mut bekannt sind, wurde zu achtzehn Monaten Gefängnis und 3000 Francs Geldstrafe verurteilt; Nourny erhielt etwa das gleiche Strafmaß für unverschämte Briefe, die die Obrigkeit gut und gern verdient.
    Der Bürger Malezieux, der Älteste der Deportierten, der kürzlich abends mit anderen Deportierten vor seiner Hütte saß, wurde von einem betrunkenen Wachtposten der nächtlichen Ruhestörung beschluldigt, geschlagen und ins Gefängnis gebracht.
    Bei unseren liebenswerten Siegern vermischt sich der Ernst der Sache mit dem Angenehmen: Es verhält sich dann so, daß die Leute, die seit ihrer Ankunft am meisten gearbeitet haben, auf der Liste der Rationsgeschmälerten stehen. Ein Deportierter entdeckte seinen Namen gleichzeitig auf zwei Listen. »Der Beweis findet sich in in der offiziellen Zeitung von Numea«: in einer Liste ist er als bestrafter Arbeitsverweigerer eingetragen, in der anderen als Belohnter für seine Arbeit.
    Unerwähnt lasse ich eine Provokation, die beim Abendappell einige Tage vor der Ankunft von Monsieur Pritzbuer geschah. Eine andere bestand darin, daß ein Wachtposten, der für seine Unverschämtheit bekannt war, mit dem Revolver in der Hand die Deportierten bedrohte. Tiefste Verachtung bestrafte diese Provokation und inzwischen auch viele andere. Die Herren Aleyron und Ribourt machten den krampfhaften Versuch, sich zu rechtfertigen.
    Wahrscheinlich werden der ersten Liste der auf schmale Ration Gesetzten noch weitere folgen, und da es keine Arbeit gibt, weil man zu lange die Beziehungen unterbunden hat, als daß man hätte Arbeitsgebiete zusammen versuchen können, und weil außerdem der Beruf bestimmter Deportierter für den Anfang Auslagen erfordert, die sie unmöglich aufbringen können, wird es Euch nicht schwerfallen, Euch ein Bild von unserer Situation zu machen.
    Auf jeden Fall werden diese Vorfälle dazu gedient haben, vollständig zu enthüllen, wie weit der Haß der Sieger gehen kann, und es ist gut, das zu wissen.
    Nicht um es ihnen gleichzutun: wir sind weder Schlachter noch Gefängniswärter, sondern um die großartigen Taten der Partei der Ordnung zu erkennen und bekanntzugeben, damit ihre erste Niederlage eine endgültige sei.
    Auf Wiedersehen, vielleicht auf bald, falls es die Situation erfordern sollte, daß die, die nicht am Leben hängen, es aufs Spiel setzen, um dort Euch von den Verbrechen unserer Herren und Meister zu berichten.
    Louise MICHEL, Nr. 1.
Nach diesen wenigen Angaben wird jeder mühelos begreifen, warum ich die Bitte um Aussagen, die bei meiner Rückkehr an mich herangetragen wurde, folgendermaßen beantwortete:
 
Abgeordnetenkammer Kommission Nr. 10.
An den Herrn Präsidenten der Untersuchungskommission über die Strafordnung in Neukaledonien.
 
Paris, 2. Februar 1881.
  • Herr Präsident,
    Ich danke Ihnen für die Ehre, die Sie mir mit Ihrer Aufforderung erweisen, über die strafrechtlichen Einrichtungen in Neukaledonien auszusagen.
    Obwohl ich dem zustimme, was unsere Freunde über die fernen Peiniger ans Licht bringen, werde ich in diesem Augenblick, da Monsieur Gallifet, den ich Gefangene habe erschießen sehen, im Palais Bourbon beim Staatsoberhaupt diniert, nicht gegen die Banditen Aleyron und Ribourt aussagen.
    Wenn sie den Deportierten das Brot entzogen; wenn sie die beim Appell durch Aufseher mit dem Revolver in der Faust herausfordern ließen; wenn auf einen Deportierten geschossen wurde, der abends in seine Behausung zurückkehrte, so waren diese Leute schließlich nicht dorthin geschickt worden, um uns auf Rosen zu betten.
    Wenn Barthelemy-Saint-Hilaire Minister ist; wenn Maxime du Camp in der Akademie sitzt; wenn Dinge geschehen wie die Vertreibung Ciprianis und des jungen Morphy und so viele andere Niederträchtigkeiten; wenn Monsieur de Gallifet erneut sein Schwert über Paris schwingen kann, und wenn dieselbe Stimme, die die ganze Strenge des Gesetzes gegen die Banditen von La Villette forderte, sich bald erheben wird, um Aleyron und Ribourt freizusprechen und zu beweihräuchern, so erwarte ich lieber die Stunde der grossen Gerechtigkeit!
    Ich versichere Sie, Herr Präsident, meiner vorzüglichen Hochachtung.
    LOUISE MICHEL.
Der Schluß meines Briefes vom 18. April 1875 bezog sich auf einen Plan, über den Mme Rastoul und ich korrespondierten, und zwar mit Hilfe einer Schachtel voll Garn, Nähzeug und ähnlichen Kleinigkeiten, die zwischen der Halbinsel und Sydney hin und her ging. Unsere Briefe lagen unten in der Schachtel zwischen zwei zusammengeklebten Bogen Papier.
Es handelte sich darum, daß ich mich eines Nachts, nach dem Appell, über die Berggipfel zum Nordwald durchschlagen sollte, auf einem Weg, auf dem man, wenn ein paar ziemlich gewagte Vorsichtsmaßregeln beachtet wurden, über den Friedhof nach Numea gelangen konnte.
Von dort hätte mich dann jemand nach vorheriger Absprache mit Mme Rastoul auf das Postschiff gebracht.
Einmal in Sydney, hätte ich versucht, die Engländer mit Berichten über die Heldentaten von Aleyron und Ribourt zu erweichen, und hoffte, eine Brigg mit kühnen Matrosen werde dann mit mir zurückkehren, um die anderen zu holen.
Andernfalls wäre ich selbst zurückgekommen.
Aber es war unsere Schachtel, die nicht mehr zurückkam; und auf der Rückfahrt über Sydney habe ich von Mme Rastoul, jetzt Mme Henry, erfahren, daß genau in dem Augenblick, als ich die verabredete Nachricht zur Ausführung unseres Plans erhalten sollte, Brief und Schachtel ausgeliefert wurden.
Ich habe nie gewußt, warum die Verwaltungsbehörde von Neukaledonien nie davon gesprochen hat.