Kapitel XIII bis XVII

XIII

Meine liebe Mutter hatte bis auf den Weinberg alles verkauft, was ihr an Boden geblieben war, um mir 1865 die Schule auf Montmartre kaufen zu können. Die arme Frau zahlte sie in dem Maße ab, wie sie selbst das Geld für den verkauften Boden bekam.
Mme Vollier und ich lebten dort von der Rente, die sie von ihren Söhnen bekam, und da die Zahl der Schülerinnen beständig stieg, sahen wir den Augenblick gekommen, da wir als Lehrerinnen fast im Wohlstand gelebt hätten. Was für Pläne wir schmiedeten!
Meine Großmutter lebte noch, und ich erhielt gute Nachrichten von ihr und meiner Mutter. Manchmal war mein Herz von einer tiefen Freude erfüllt... Ich weiß nicht warum.
Und so endete sie. Eines Abends waren Julie L... und Adele Esquiros zum Essen zu uns gekommen. Mme Vollier hatte ihre Pension bekommen, wir waren bei Kasse und hatten davon gesprochen, ein kleines Geschenk in die Haute-Marne zu schicken.
Julie brachte ich weiß nicht was vom Land mit. Adele Esquiros war mit Leckereien beladen.

Es war unser freier Tag, und in dem kleinen Zimmer oben wurde uns allen vier recht warm. Wir plauderten fröhlich, besonders Mme Vollier hatte ich nie so heiter gesehen.
Ich hatte erzählt, wie ich am vorigen Tag einem Polizisten ein republikanisches Plakat auf den Rücken geklebt hatte. Es war übrig, da mußte ich es noch irgendwo anbringen.
Auf dem offenen Klavier lief die dicke schwarze Katze hin und her und horchte auf das Motiv, das unter ihren Pfoten erklang; dem dicken Raton schwirrte ein wenig der Kopf, denn er hatte eine ganze Schale Milchkaffee geschleckt, wovon ich nichts sagte.
Mme Vollier erzählte, wie sie im Interesse des Hauses die Schlüssel in ihre Tasche gesteckt hatte; sie klapperte mit ihnen und hatte dabei dieses Lächeln in den Augen, das ich bei meiner Großmutter und so oft bei meiner Mutter gesehen hatte, wenn sie mich bei meinen kleinen Diebstählen erwischten.
Unsere Freundinnen spendeten Beifall, aber es wurde noch mehr gelacht, als ihr aus Gewissensbissen das Portemonnaie wiedergab, das ich am Morgen aus der Kommode gemaust hatte. Es fehlte fast nichts.
Ich weiß nicht, was plötzlich mein Herz bedrückte; wir waren glücklich, es konnte nicht von Dauer sein. Schließlich hatte ich jedoch diesen Gedanken noch einmal verscheucht.
Ziemlich spät begleitete ich meine Freundinnen bis zur Omnibushaltestelle in der rue Marcadet.
Die Nacht war düster und traurig, und im Schatten heulte ein Hund; auf dem Rückweg folgte er mir.
Der Zufall, der dieses unheilverkündende Tier auf meinen Weg geführt hatte, war in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit.
Ich hütete mich, Mme Vollier, die noch immer heiter war, meine Traurigkeit merken zu lassen. Ihre Fröhlichkeit sollte nicht mehr lange andauern. In der Nacht hatte sie ihren zweiten Schlaganfall.
Ihr Bild hing neben meinem Bett gegenüber einem roten Nelkenstrauß. - Ihre Söhne überließen mir wie einer Schwester meinen Teil an Andenken.
Nach dem Tod Mme Volliers überkam mich eine große Traurigkeit; aber man hatte nicht die Zeit, auf sein Leid zu horchen: je mehr sich das Kaiserreich seinem Ende näherte, um so bedrohlicher wurde es, und um so entschlossener waren wir.
Die erste Lehrerin, die sich auf Montmartre niedergelassen hatte, und die, wie sie zu Recht sagte, dem ganzen Viertel das Lesen beigebracht hatte, unterrichtete noch einige Schülerinnen, obwohl sie schon verkrüppelt und alt war; eines Tages brachte sie mir diese Schülerinnen und zog zu mir. Sie war eine gebrochene Frau.
Haben Sie die Legenden des Nordens gelesen? Man hätte sie für eine der Nornen gehalten, so leise ging sie. Blaß, mit ihren langen weißen Haaren, die mit einer langen altertümlichen Nadel zusammengehalten wurden, war sie von etwas Schicksalhaftem umgeben.
Tief in ihrem Leben verankert ruhte auch eine heldenhafte Legende.
Es gab nichts Anmutigeres als diesen weichen und gleichzeitig stolzen Charakter!... Auch sie ist gestorben!
Arme Mutter! Sie hat mit mir recht wenige friedliche Tage erlebt. Als sie, noch ganz erschüttert durch den Tod meiner Großmutter, nach Montmartre kam, war die Revolution an der Tür, und ich ließ sie lange Abende allein; und danach wurden es Tage, dann Monate, Jahre. Arme Mutter! Ich liebte sie dennoch so sehr, daß ich erst glücklich sein werde, wenn ich mich zu ihr gesellen werde in der Erde, wo sie ruht.
Können unsere Mütter denn glücklich sein?
Einige hingeworfene Sätze haben mich begreifen lassen, welche Opfer sich die armen Frauen auferlegt hatten, um die Tagesschule von Montmartre zu bezahlen.
In der Gärung des niedergehenden Kaiserreichs keimte die Idee, sie wuchs und legte, zu Funkengarben geschüttelt, das Feuer wie eine Fackel. Man hatte genug Schweinereien gesehen, aber den Krieg noch nicht. Er brach aus, um Bonaparte mit Bergen von Leichen zu stützen.
Immer häufiger fanden die Versammlungen am hellichten Tag statt, der Aufstand stieg aus dem Dunkel der Erde ins Sonnenlicht.
Obwohl die kaiserlichen Banden sich als Schrittmacher betätigten, konnte der Krieg nicht Fuß fassen; um das Volk zu berauschen, mußten der Marseillaise die Flügel gestutzt werden.
Nicht einmal die stets allzu fügsame Armee konnte zu den Klängen des Beau Dunois[1]     marschieren.
Verse, die ich in dieser Zeit schrieb, umreißen die Lage, ich werde diesen Kapiteln, die einen allgemeinen Überblick geben sollen, noch einige hinzufügen:
DIE ROTEN NELKEN
In diesen Zeiten setzten wir uns nachts ins Dunkel
- Empört - rüttelten an dem schaurigen schwarzen Joch
Des Mannes vom Dezember,[2] und wir schauderten, finster.
Wie das Tier im Schlachthaus.
 
Das Kaiserreich starb langsam. Genüßlich tötete es,
An der Tür seines Zimmers roch es nach Blut.
Es herrschte, aber es wehte die Marseillaise.
Rot ward die aufgehende Sonne.
Oft umarmte uns der Duft
Eines alten Liedes, und unser Herz zitterte.
Dem, der dieses heroische Buch sang.
Warfen wir manchmal Blumen.
 
Ihr, rote Nelken, die wir alle trugen,
Um uns zu erkennen, blüht wieder auf, rote Blumen.
Andere werden Euch aufnehmen in den neuen Zeiten,
Und diese werden die Sieger sein.
Das zweite Gedicht der roten Nelken  wurde während des Massakers von 1871 geschrieben und Ferre zugeschickt, der zum Tode verurteilt war. Hier ist es:
 
Gefängnis von Versailles, 4. September 1871
FÜR TH. FERRE
Ginge ich in den schwarzen Friedhof,
Brüder, so werft auf Eure Schwester,
Wie eine letzte Hoffnung,
Rote Nelken, ganz in Blüten.
 
In den letzten Zeiten des Kaiserreichs,
Als das Volk aufwachte,
Rote Nelke, es war Dein Lächeln,
Das uns sagte, daß alles auflebte.
 
Heute, geh blühen im Schatten
Der schwarzen und traurigen Gefängnisse.
Geh neben dem düsteren Gefangenen blühen
Und sag ihm, daß wir ihn lieben.
Sag ihm, daß in dieser schnellen Zeit
Alles der Zukunft gehört;
Daß der Sieger mit blasser Stirn
Mehr als der Besiegte kann sterben.
Wie viele Blumen in meinem Leben: die roten Rosen am Ende des Weinbergs, die voll von Bienen waren, der weiße Flieder, den Marie auf ihrem Sarg wünschte, und die mit Blutstropfen befleckten fleischfarbenen Rosen, die ich meiner Mutter aus Clermont schickte!
Lassen wir uns noch einmal durch Verse in die Vergangenheit zurückführen:
 
Die Manifestation des Friedens
In der Nacht marschieren wir in langen Reihen
Die Straßen lang und rufen: Frieden! Frieden!
Und spüren hinter uns die Sklavenmeute.
O Freiheit, wird dein Tag niemals kommen?
 
Die Speere schlagen schwer auf das Pflaster.
- Ein dumpfer Lärm -; der Bandit will leben.
Um seinen nahen Sturz zu verzögern,
Braucht er Kriege, und würde Frankreich vernichtet.
 
Verdammter! Hörst du vor deinem Palast die Männer vorbeiziehn?
Es ist dein Ende! Siehst du sie in einem scheußlichen Alptraum?
Sie dringen in Paris ein, den Geistern gleich:
Hörst du? In Paris, dessen Blut du trinken wirst.
Und der rhythmische Marsch mit dem seltsamen Schritt,
eine große Herde durch das Gemetzel zieht.
Und der Bandit Cäsar verhundertfacht seine Schlachtreihen,
Und um Frankreich zu erdolchen, poliert er seine Messer.
 
Da sie den Kampf wollen, da sie den Krieg wollen, 
Völker mit der gebeugten Stirn, trauriger als der Tod,
Müssen wir ihn zusammen gegen die Tyrannen führen: 
Wilhelm und Bonaparte erwartet dasselbe Los.
Eines Abends, als ich gerade, um meiner Mutter keine Sorgen zu machen, vorgegeben hatte, daß ich mich an nichts aktiv beteiligen würde, kamen zwei Freunde, um mich zu einer Versammlung abzuholen; sie waren draußen geblieben, damit meine Mutter keinen Verdacht schöpfe, worum es sich handelte.
- Es ist doch nicht möglich, sagte die arme Frau, daß du um 
diese Zeit noch Unterricht gibst!
- Julie hat nach mir geschickt.
 Aber sie stellte sich ans Fenster.
- Ich habe es gleich gewußt, sagte sie, daß es wegen eurer
 Versammlungen ist!
Und als sie uns lachend davongehen sah, mußte sie unwillkürlich selber lachen.
Diese Versammlungen fanden meist außerhalb von Paris statt.
Worüber wurde nicht alles gesprochen, wenn wir auf den Feldwegen heimkehrten! Aber mitunter schwiegen wir auch, geblendet von der Idee, die aufstieg und die Schande dieser zwanzig Jahre hinwegfegte.
0 meine Freunde, ich glaube, ein wenig waren wir alle Poeten! Wir haben viel gelitten, aber wir haben auch Schönes erlebt!
Wie könnte ich jene Tage besser aufleben lassen als durch ein paar Zeilen, die mir davon geblieben sind!
 
DIE NACHTWÄCHTER
I
Unter der Erde wird zum Sturm geblasen.
Vorwärts! Vorwärts! Marschieren wir!
Quatre-vingt-treize am Banner.
0 meine Freunde, gehen wir! Gehen wir!
Was! Solange der verfaulende Adler
Einen Wurm ernähren könnte.
Wer würde sich verbeugen
Vor diesem unreinen Aas? 
Zu den Waffen, Genossen! Bildet die Bataillons. 
Marschieren wir; unreines Blut tränke unsere Furchen.
II
Bevor das Kaiserreich stürzt.
Bevor das morsche Skelett
In der hohen See zerbröckelt,
Wissen wir, das Volk hat es gewollt.
Brechen wir die unrechte Sklaverei;
Wären wir alle vor Tiberius
Zwanzig Jahr auf den Knien gerutscht?
Freunde, es lebe die Republik!
Zu den Waffen, Genossen! etc.
15. August 1870
Vorwärts! schrien wir! Es lebe die Republik!
Paris wird antworten, ganz Paris, das im Zorn
Endlich aufsteht, Paris stolz, heroisch.
Und in seinem edlen Blut das Kaiserreich fortschwemmt.
So glaubten wir fest; die Stadt blieb stumm.
Noch sehe ich diesen Tag im Dunst der Ferne.
Die Läden sind geschlossen, die Straßen sind verlassen.
Unseren tapferen Freunden schrie man zu: die Preußen!
Ja, in Paris, das vor den Verbrechen des Kaiserreichs zitterte, in Paris, das antworten sollte: Es lebe die Republik!, herrschte plötzlich ein großes Schweigen.
Alle Fensterläden wurden geschlossen, der Boulevard de la Villette lag verlassen, und um den Wagen, die Eudes und Brideau gefangen hielten, schrie man: Preußen!
Denn Paris ließ sich immer wieder täuschen durch das befremdliche Gebot, abzuwarten, bis alles vorüber sei und die Berge an Schändlichkeiten und Verbrechen in den Himmel reichen, statt den Verbrechen einen Riegel vorzuschieben und die Schande abzuwaschen.
Als unsere Freunde zum Tode verurteilt wurden, weil sie die Republik hatten ausrufen wollen, bevor Bonaparte sein Werk vollendet hatte, erhielten Andre Leo, Adele Esquiros und ich den Auftrag, eine Protesterklärung mit Tausenden von Unterschriften zu Trochu zu bringen.
Der größte Teil dieser Unterschriften wurde in der ersten Hitze der Empörung gegeben; zwei oder drei Listen, die ich in Händen hatte, wurden mir wieder abverlangt unter dem Vorwand, es ginge schließlich um den Kopf - einige Schüchterne  hatten nachgedacht.
Ging es denn nicht um den Kopf unserer Freunde? Ich gebe zu, daß ich diese paar Unterschriften Überängstlicher nicht löschen wollte.
- Nun, um so besser, sagte ich ihnen, wir werden gemeinsam den Kopf riskieren.
Es war nicht einfach, bis zum General Trochu vorzudringen; um es zu schaffen, bedurfte es der ganzen weiblichen Hartnäckigkeit.
Nachdem wir nahezu im Sturmangriff eine Art Vorzimmer betreten hatten, wollte man uns fortschicken, ohne den Gouverneur von Paris gesehen zu haben. Die Worte: »Wir kommen im Namen des Volkes«, klangen schlecht an diesem Ort. Auf die Bitte, uns doch zurückzuziehen, antworteten wir, indem wir uns auf eine Bank an der Wand setzten und erklärten, ohne Antwort nicht gehen zu wollen.
Ein Sekretär, der es leid war, uns warten zu sehen, holte eine Person, die Trochu zu vertreten behauptete, und nachdem sie das umfangreiche Heft mit den Unterschriften gewogen hatte (das sie zu beunruhigen schien), erklärte sie uns, daß die Unterschriften in Anbetracht ihrer Zahl Beachtung finden würden.
Dieses Versprechen hätte wenig Gewicht gehabt, wäre das Kaiserreich nicht am Zusammenbrechen gewesen; verfault wie es war, streckte der Schlag von Sedan diesen Leichnam zu Boden.
Eine einzige rote Schärpe war im Rathaus, die von Rochefort.
Aber man sagte sich: Das Volk ist vertreten.
Leider war dies nach dem 4. September stets die Methode des Kaiserreichs! Und das Volk ließ es lange Zeit so geschehen.
Wie viele Erinnerungen! Die Kämpfe, von denen man mit soviel Mühe richtige oder falsche Nachrichten bekam, nur der Name hatte sich geändert, die Dinge blieben die gleichen!
Die Versuche, verzweifelte Ausfälle zu wagen, wurden verwehrt; man wartete immer noch auf die Befreiungsarmee, von der wir genau wußten, daß sie nicht kommen konnte. Niemals, hieß es, hat sich eine Stadt selbständig von einer Blockade befreit. Was nicht unmöglich ist, hat, wenn es auch noch niemals geschehen ist, doch Aussicht, wenigstens einmal zu geschehen.
Am 31 . Oktober wurde im Rathaus die Kommune ausgerufen; sie wurde wie durch einen Taschenspielertrick wieder abgesetzt. Es müssen solche Dinge stattfinden, damit man weiß, mit welchen Feinden man es zu tun hat.
Flourens bezahlte diesen törichten Edelmut als Vorhut der Kommune mit dem Leben, als Versailles ihn in eine Falle lockte und ermordete.
Wessen Schuld ist es, wenn wir im nächsten Kampf unversöhnlich sind?
Am 19. Januar wurde der Nationalgarde endlich der Versuch gestattet, Montretout und Buzenval zurückzuerobern.
Die Festungen wurden zunächst genommen; aber da die Männer bis zu den Knöcheln in der aufgeweichten Erde versanken, konnten sie die Geschütze nicht auf die Hügel bringen und mußten sich zurückziehen.
Bei diesen Kämpfen fielen Hunderte von Nationalgardisten, die ihr Leben ohne Bedauern geopfert hatten: Männer aus dem Volk, Künstler, Jünglinge; die Erde trank das Blut dieses ersten Pariser Gemetzels, und damit sollte sie noch mehr getränkt werden.
Aber Paris wollte sich nicht ergeben.
Am 22. Januar stand die Menge vor dem Rathaus, in dem Chaudey das Kommando führte.
Hinter den Beteuerungen, daß man nicht daran denke, sich zu ergeben, spürte das Volk, daß das Gegenteil gemeint war.
Da man der Kundgebung den friedlichen Charakter belassen wollte, der stets zur Vernichtung der Menge führt, entfernten sich die Bewaffneten aus der Menge.
Und als dann nur noch die unbewaffnete Menge zurückblieb, prasselte aus den Fenstern, wo man die bleichen Gesichter der Bretonen sah, ein kleiner Hagelschauer auf den Platz, wo Lücken entstanden.
Ja, ihr Wilden aus Armor, ihr Wilden mit den blonden Haaren, ihr habt das getan; aber ihr seid wenigstens Fanatiker und keine Mietlinge.
Ihr tötet uns! Aber ihr glaubt, es tun zu müssen, und eines Tages werden wir für euch die Freiheit erobern. Ihr werdet die gleiche ungezähmte Überzeugung mitbringen und mit uns gemeinsam werdet ihr die alte Welt stürmen.
Razoua befehligte die Bataillone von Montmartre.
Von Seiten des Volkes wurde kein Gewehrschuß abgegeben, bevor die Bretonen feuerten. Dann aber waren die, die sich um den Square de la Tour-Saint-Jacques aufgereiht hatten, empört; immer noch regnete es Kugeln, mit der Errichtung einer Barrikade wurde begonnen.
Ein Alter, mit Namen Malezieux, der noch den Juni 1848 mitgemacht hatte, und dessen Rock von Kugeln durchlöchert war, worum er sich kaum scherte, besann sich auf jene Tage und beherrschte die Situation, als wäre er, der Tapfere, mit seiner Junifahne eingehüllt.
Gedankenverloren stand ich mitten auf dem Platz, den Blick auf die verfluchten Fenster gerichtet, und dachte: Wir werden euch kriegen, ihr Banditen.
Der Kugelschauer prasselte weiter, der Platz hatte sich geleert.
Die aufs Geratewohl aus dem Rathaus gefeuerten Geschosse töteten Spaziergänger.
Neben mir brach eine Frau von meiner Größe, ebenfalls schwarz gekleidet und mir ähnlich, unter einer Kugel zusammen; sie war in Begleitung eines jungen Mannes, auch er wurde getötet; wir haben nie erfahren, wer sie waren, - der junge Mann hatte das kühne Profil der Südländer.
Viele wollten es nicht dabei bewenden lassen. Doch es wurde beschlossen, diesmal noch abzuwarten.
Am  22. Januar wurden Sapia und andere getötet; P..., von der Gruppe Blanqui, wurde der Arm gebrochen. Passanten wurden wie die Unsrigen getötet, und über ihren Gräbern schwor man Vergeltung und Freiheit.
Ich hatte, zum Zeichen der Herausforderung, meinen roten Schal über eine Gruft geworfen; ein Genosse band ihn an die Zweige einer Weide.
Nachdem das Volk niederkartätscht und mit der Versicherung beschwichtigt war, man wolle sich keineswegs ergeben, und allein die Preußen könnten derartige Beschuldigungen vorbringen, wurde sechs Tage nach dem 22. Januar die Übergabe vollzogen. Diesmal war der Zorn von Paris nicht zu besänftigen.
 
XIV.
Das Comité de Vigilance von Montmartre wird seine eigene Geschichte haben; wir sind nur wenige Überlebende; während der Belagerung erzitterte vor ihm die Reaktion. Aus der Chaussee Clignancourt Nr. 41 entschlüpften wir jeden Abend nach Paris;; bald zertrümmerten wir einen Klub von Feiglingen, bald ließen wir den Atem der Revolution spüren, denn die Zeit der Verdummung war vorbei. Wir wußten, wie wichtig für eine untergehende Macht die Versprechungen und das Leben der Bürger waren.
Auf Montmartre gab es zwei Comites de Vigilance, das der Männer und das der Frauen.
Ich ging immer zu dem der Männer, weil es immer die Linie der russischen Revolutionäre vertrat. Ich besitze noch einen alten Plan von Paris, der an der Wand des zweiten Saals hing; ich habe ihn als Andenken über den Ozean mitgenommen und wieder zurückgebracht. Mit Tinte hatten wir die Wappen des Kaiserreichs, die ihn schmückten, überdeckt; sie hätten unseren Schlupfwinkel beschmutzt.
Nie wieder habe ich so aufrechte, so schlichte und edle Geister kennengelernt und Menschen mit solch einer ausgeprägten Persönlichkeit. Ich weiß nicht, wie diese Gruppe es schaffte, es gab dort keine Schwächen; irgend etwas Starkes und Gutes ging von diesen Menschen aus und wirkte beruhigend.
Bei den Bürgerinnen war derselbe Mut; auch dort bemerkenswerte Persönlichkeiten; aber ich war zuerst mit den Männern zur Chaussee Clignancourt gegangen, ich gehörte weiterhin den beiden Comités, die dieselben Tendenzen vertraten, an. Das der Frauen wird auch seine Geschichte haben, vielleicht werden beide ineinandergreifen, denn wenn es um die Pflicht ging, kümmerte man sich kaum darum, welchem Geschlecht man angehörte. Mit dieser albernen Frage war Schluß.
Abends fand ich Mittel und Wege, bei beiden Klubs anwesend zu sein, da der Frauenklub in der rue de la Chapelle, am Friedensgericht, als erster geöffnet wurde. So konnten wir hintierher noch der Hälfte der Sitzung in dem Saal Perot - manchmal sogar der ganzen Sitzung - beiwohnen; beide trugen den Namen Club de la Revolution, zur Unterscheidung mit dem der Grandes-Carrieres.
Ich höre noch den Appell und könnte noch alle Namen nennen. Heute ist es ein Appell der Geister.
Die Comites de Vigilance von Montmartre ließen niemanden ohne Obdach, niemanden ohne Brot. Dort aß man zu viert oder fünft an einem Hering, doch wenn es um die Bedürftigen ging, wurde weder an öffentlichen Mitteln gespart, noch an den revolutionären Möglichkeiten, Beschlagnahmen zu verfügen.. Das XVIII. Arrondisse-ment war der Schrecken der Wucherer und ihresgleichen. Wenn es hieß: Montmartre kommt! verkrochen sich die Reaktionäre in ihren Löchern, und wie gejagte Tiere ließen sie ihre Verstecke fahren, in denen die Lebensmittel verfaulten, während Paris am Hunger krepierte.
Wir lachten aus vollem Herzen, wenn einer von uns irgendeinen Spitzel mitgebracht hatte, den er für einen guten Bürger gehalten hatte.
Wie alle revolutionären Gruppen hat man auch das Comité de Vigilance niedergemäht: die wenigen Überlebenden, Hippolyte F..., Bar..., Av..., Viv..., Louis M..., wissen, wie stolz wir dort waren, und wie wir die Fahnen der Revolution trugen.
Es kümmerte sie kaum, ob sie unbekannt im Kampf oder am helllichten Tag zermalmt wurden.
Einerlei, wie der Mühlstein mahlt, Hauptsache, das Brot wird gebacken!
 
Manchmal fragt man sich, wie das Leben in den letzten fünfzehn Jahren so viele Ereignisse enthalten konnte. Man könnte schreiben, soviel man wollte; zunächst über den Rahmen, damit man das Buch zuklappen kann, an welcher Stelle man will.
Dies hier ist kein Werk für Sensationslüsterne, es ist ein rascher Überblick auf das Leben und die Gedanken einer Frau der Revolution. Es hat kaum mit Sensation zu tun, wenn man uns zermalmt; doch da endet für uns jedes Bedenken, nützliche Geschosse für den revolutionären Kampf zu sein. Da niemand mehr darunter leidet, was mit uns geschieht, hält uns nichts mehr auf, so weit bin ich gekommen! Für die Sache ist es besser.
Es ist nun egal, daß Federkiele in dem aus der Brust herausgerissenen blutenden Herzen wie Rabenschnäbel wühlen; es ist niemand mehr da, der unter den Verleumdungen leidet; meine Mutter ist ja tot!
Wenn sie noch einige Jahre, einige Monate, gelebt hätte, hätte ich diese Zeit bei ihr verbracht; wen kümmern heute Gefängnisse, Lügen und alles andere? Was würde mich der Tod kümmern? Er wäre eine Erlösung; bin ich nicht bereits tot?
Wenn ich hier herauskomme, dann, um in die Feuerglut zu treten, in der man den Atem des Unbekannten spürt, der einem ins Gesicht schlägt.
Wer spricht hier von Mut? Habe ich es nicht eilig, meiner Gefährtin Marie und meiner Mutter nachzukommen! Meine arme Mutter, die noch leben würde, wenn ich voriges Jahr nach Saint-Lazare gekommen wäre. Sie hätte mich neben sich gefühlt; meine Ankunft hat ihr Leben um einen Monat verlängert.
Nach Saint-Lazare kommen? Ich habe erst danach gefragt, als sie in den letzten Atemzügen lag, und ich versprach, dafür nach Kaledonien zu gehen, um dort die Schule zu gründen, die ich den Kanaken versprochen hatte.
Man hat es nicht erlaubt, es ist nicht meine Schuld; ich bin bei meiner sterbenden Mutter angekommen: die Herrschenden sind, wie es immer wieder geschieht, weniger schlecht als ihre Gesetze gewesen; ich durfte einige Tage bei ihr sein.
Der Mensch ist immer gezwungen, das Gesetz zu brechen, mit dem er sich wie mit einem Netz umhüllt, das er über die anderen ausbreitet.
Ohne die Macht, die die einen den anderen zum Verderb aller geben, wäre kein Mensch ein Ungeheuer oder ein Opfer.
Sollte dieses Buch mein Testament werden, so möge aus jedem Blatt ein Fluch auf die alte Ordnung fallen.
Ich wäre schon längst tot, wenn ich nicht glauben würde, daß wir bald den großen Schlag führen werden, den Schlag, bei dem die roten und die schwarzen Banner gemeinsam wehen werden.
Noch an einem haben die Herrschenden recht getan: denen nicht zugehört, die nur an ihrer Empfindsamkeit horchten und nach meiner Entlassung fragten, als meine Mutter noch warm war!
Meine arme Mutter, gestorben, weil ich nicht da war! Die Freiheit, als wäre es der Preis für ihren Leichnam! Man hat es nicht zugelassen, und es war recht so!
Kann mich noch etwas berühren, seitdem sie nicht mehr leidet?
Ich erwarte weder Schmerz noch Freude, ich bin für den Kampf tauglich.
Schlagen wir noch einmal schnell zurück, da ich von jedem Ereignis noch berichten möchte: vom 22. Januar, vom 18. März, vom Kampf, der Niederlage, den Männer- und Frauenkomitees, der Deportation, der Rückkehr; den Gefängnissen vor und nach meiner Rückkehr.
Am 18. März glichen die Hügel von Montmartre im ersten Tagesschimmer, der alles wie hinter einem Regenschleier verschwimmen läßt, einem wimmelnden Ameisenhaufen (aus Männern und Frauen); die Anhöhe war überfallen worden, und wer darauf stieg, dachte, daß ihn der Tod erwarte.
Daß Montmartre das Ziel der Reaktion war, hatte folgenden Grund: die von den Nationalgarden bezahlten Kanonen waren in dem den Preußen überlassenen Gebiet auf unbebautem Gelände zurückgeblieben.
Paris wollte es aber nicht, man holte sie aus dem Park Wagram zurück.
Die von einem Bataillon des sechsten Arrondissements ausgehende Begeisterung griff um sich; der Gedanke lag in der Luft, jedes Bataillon holte seine Kanonen wieder; sie wurden hinter der voranwehenden Fahne von Männern, Frauen und Kindern getragen.
Matrosen schlugen vor, die Festungen wie Schiffe zu entern; diese mit der Luft eingeatmete Idee berauschte uns.
Alles verlief ohne Zwischenfall, obwohl die Geschütze geladen waren.
Wie Belleville und Batignolles hatte Montmartre seine eigenen Kanonen; die auf dem Platz des Vosges aufgestellten wurden ins Faubourg Antoine gebracht.
Die Klubs waren seit dem 22. Januar geschlossen, die Zeitungen eingestellt; hatte man nicht gespürt, wie das Volk aufwachte, so ist es wahrscheinlich, daß der 18. März den Triumph irgendeines Königs bedeutet hätte, statt den Triumph des Volkes.
Der Sohn Napoleons III. war noch nicht tot; und wenn Montmartre ohne Waffen gewesen wäre, hätten die irregeführte oder mitwissende Armee und die in den Festungen sitzenden Preußen den Einzug des Herrschers, Bonapartes oder D'Orleans, beschützt.
Diesmal wollte die Armee, die man drei Monate später holte, um Paris zu vernichten, kein Komplize sein.
Die Armee drehte das Gewehr um, statt den Nationalgarden die französischen Kanonen zu entreißen und vor allem den Frauen, die sich schützend vor sie stellten; diesmal verstanden die Soldaten, daß das Volk die Republik verteidigte, wenn es die Waffen verteidigte, die die Royalisten und die kaiserlichen Truppen im Einvernehmen mit den Preußen auf Paris gerichtet hätten.
Ja, der 18. März konnte nur einem gehören: entweder dem Ausländer, dem Verbündeten der Herrschenden, oder dem Volk; er gehörte dem Volk.
Als der Sieg für uns beschlossen war, blickte ich mich um und sah meine arme Mutter, die mir gefolgt war, da sie dachte, ich würde sterben.
Als Clement Thomas den Befehl gab, auf das Volk zu schießen, wurde er zusammen mit Lecomte festgenommen.
Über beide war durch ihre Taten längst das Urteil gesprochen; das lag weit zurück, für Clement Thomas war es im Juni 1848 gefällt worden. Er hatte uns daran erinnert, als er während der Belagerung die Nationalgarde beleidigte.
Auch Lecomte hatte eine alte Schuld zu zahlen: seine Soldaten hatten nicht vergessen.
Die Vergeltung kam ungeplant aus der Vergangenheit: die Stunde hatte geschlagen.
Sie wird noch für viele andere schlagen, ohne daß sich die Revolution dadurch aufhalten läßt, die Vergeltung herbeizuführen oder zu verhindern.
Man zählt die, die durch die Volksrache sterben, aber nur die auf dieser Seite; die Toten auf der anderen Seite zählt man nicht, man könnte es nicht.
Sie sind die Halme unter der Sichel, das gemähte Gras in der Sommersonne.
Auch von den Unseren wurden einige dahingerafft; Turpin stand neben mir, als er bei dem nächtlichen Angriff auf die Nr.6 in der rue des Rosiers getroffen wurde, und er starb ein paar Tage darauf im Lariboisiere.
Er hatte mich gebeten, seine Frau Clemenceau zu empfehlen; der Wille des Toten wurde getreu erfüllt.
Von der Absetzung Clemenceaus während der Untersuchung vom 18. März habe ich nie etwas gewußt; wir lasen keine Zeitungen.
Die Unentschlossenheit, die ihm vorgeworfen wird, kommt von seiner Illusion, von dem erstarrten Parlamentarismus seien noch irgendwelche Fortschritte zu erwarten; diese Illusion ist der Bazillus, den er aus der Nationalversammlung mitgebracht hat, obwohl er vor der Nationalversammlung von Bordeaux geflüchtet war.
Sein Platz ist auf der Straße, und am Tag der Empörung werden ihn die Umstände dahinziehen; denn das ist ihm von seinem revolutionären Temperament übriggeblieben.
Die nüchterne Empörung des Aufständischen am Tag eines großen Verbrechens, das ist es, was ihn herauslocken wird, so wie er die Nationalversammlung von Bordeaux verließ.
Nun! Ihr, die letzten im Parlament, die noch ehrlich geblieben sind, ist es nicht besser, dem großen Jakobiner Delescluze zu folgen, der euch den Weg weist!
Es dauert schon lange genug, und vom Verwesenden ist nichts mehr zu erwarten. Da mögt ihr noch so viel säen und alles mit Blut tränken, es ist vorbei, endgültig vorbei.
Was nützen die Namensänderungen, wenn man im Elysee oder im Rathaus den Verwundeten nicht zu Hilfe kommen kann, ohne auf Leichen zu tanzen, während das Volk, das am Hunger krepiert, die Raketen in die Luft steigen sieht wie einst am 15. August?
Die MachtI Das ist wie das Benutzen einer gläsernen Schere für das Bildhauen in Marmor. Ach was! Herrschen heißt Tyrann seinl Beherrscht werden heißt feige sein! Möge das Volk also aufstehen; der alte Löwe wird lange genug ausgepeitscht, um seinen Maulkorb endlich zu durchbeißen.
Und morgen? fragt man.
Nun, morgen bedeutet die neue Menschheit, in der neuen Welt wird sie sich einrichten: können wir dieses 'Morgen' schon begreifen?
Mag die neue Menschheit über uns hinwegschreiten wie über eine Brücke, das ist das einzige, Wozu wir taugen. Stellen wir nicht, Blinde, die wir sind, die aufsteigende Morgenröte in Frage.
In Revolutionszeiten sind die, die Altes riachahmen, verloren, man muß vorwärts. Die von allen Seiten eingekeilte Kommune hatte als Aussicht nur den Tod, sie konnte nur noch tapfer sein, sie war es.
Sie hat der Zukunft das Tor weit aufgestoßen; die Zukunft wird hindurchschreiten.
Das Schiff Paris liegt auf der Reede, fest auf der Reede des neuen Ufers, es tanzt an seinen Ankern; zwar wurden die Besten der Mannschaft den Haien vorgeworfen, aber es wird an Land kommen.
Und wie schön ist dieses Schiff mit seinen roten und schwarzen Fahnen, die über unserer Trauer und unserer Hoffnung wehen! Das ist die Vergeltung der ganzen Menschheit für die ewigen Maitage.
Auf dem Blut blüht die Rache, wie das Wasser den Rasen zum Wachsen bringt, sagten die Tapferen.
Die persönliche Rache wird verschwinden wie die Wassertropfen in den entfesselten Wogen.
Man zählt nicht die Schicksalsschläge der einzelnen Sandkörner; sie rollen im Strom mit den anderen, aber sie sind alle da.
 
XV.
In der ganzen Zeit der Kommune habe ich nur eine einzige Nacht bei meiner armen Mutter verbracht. Ich legte mich sozusagen nie ins Bett, ich schlief irgendwo, wenn es nichts Besseres zu tun gab; viele andere taten es auch. Wer die Befreiung wollte, setzte sich voll und ganz dafür ein.
Wenn die Reaktion so viele Feinde unter den Frauen wie unter den Männern gehabt hätte, wäre Versailles auf größere Schwierigkeiten gestoßen; wir müssen unseren Freunden die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie dem Mitleid zugänglicher sind als wir; die Frau, dieses Wesen mit dem angeblich weichen Herzen, ist eher als der Mann imstande, zu sagen: Es muß sein. Mag sie sich auch bis ins Innere zerrissen fühlen, sie bleibt gelassen. Ohne Haß, ohne Zorn, ohne Mitleid weder mit sich noch mit anderen, es muß sein, ob das Herz blute oder nicht.
So waren die Frauen der Kommune...
Außer meinen Frauenkleidern besaß ich noch die Uniform eines Liniensoldaten und die eines Nationalgardisten; ich hatte Legitimationen in der Tasche, um allen, die ein Recht auf Kontrolle hatten, zu beweisen, woher ich kam; so ging ich umher, ohne daß ich je größeren Schaden davontrug als einen Streifschuß am Handgelenk, einen durchlöcherten Hut und eine Fußverstauchung, die mich schließlich zwang, drei oder vier Tage nicht mehr zu Fuß zu gehen und einen Wagen aufzutreiben. Es war eine Kalesche, die einigermaßen ordentlich aussah; davor hatten wir mehr oder weniger gut ein Pferd gespannt, das leider an Prügel gewöhnt war; das abscheuliche Tier wollte nicht laufen, wenn man es anständig behandelte.
Solange es darum ging, im Schritt einem Trauerzug zum Friedhof Montmartre zu folgen, lief alles vorzüglich, aber hinterher mußten wir woanders hin; das verfluchte Vieh, nicht zufrieden mit seinem Trott zum Einschlafen, hielt abrupt an und ließ einem Haufen Dummköpfe Zeit, ringsherum zu zischeln: »Sieh mal einer an, eine Kalesche haben sie! Die lassen aber das Geld springen! Allerhand muß das kosten, sich so einen Wagen zu halten!« Warten Sie, sagte ein Freund, bleiben Sie sitzen! Ich bringe den Gaul schon in Trab! Er gab dem Scheusal ein Stück Brot und ermutigte es, worauf es langsam zu kauen begann und dabei die Lippen aufwarf, als lache es uns ins Gesicht, und so stocksteif stand wie eine Bildsäule.
Mit gütiger Erlaubnis all jener, die wie ich Sklaven der armen Tiere sind, wandte ich dann das Gebot der Notwendigkeit in Form eines wohlgezielten Peitschenhiebes auf das unsere an, das nun mit den Ohren wackelte und sich in Richtung auf die Barrikade Perronet in Neuilly in Bewegung setzte.
Auf dem Weg nach Montmartre hatte ich nicht gewagt, bei meiner armen Mutter haltzumachen, weil ihr meine Fußverstauchung nicht entgangen wäre.
Ein paar Tage vorher hatten wir uns plötzlich beim Bahnhof von Clamart, in den Lauf grabern,  gegenübergestanden. Sie war gekommen, um sich zu überzeugen, was an den Lügen Wahres sei, die ich ihr schrieb, um sie zu beruhigen; zum Glück endete es immer so, daß sie mir glaubte...
Im folgenden berichte ich von unseren Kämpfen.
In der Provinz pflegte man den amtlichen Märchen Glauben zu schenken. Die Staatsraison gebietet, die verschiedenen Schichten dieses Pöbels gegeneinander aufzuhetzen, dem man genug Bewegungsfreiheit für die Arbeit, aber zu wenig für den Aufstand läßt. Doch nach jedem planmäßigen >Holzschlag< schießt er wieder reich und stark empor wie die gallischen Eichen.
Einige der Ergebensten aus Paris gingen in die Provinz; auch Frauen, unter ihnen Paule Mink. Wir versuchten, unsere Anzahl so gut wie möglich zu vergrößern. Hätte die Provinz begriffen, so wäre sie auf unserer Seite gewesen.
Wir versuchten es mit Ballons, die mit Aufrufen an das französische Volk gefüllt waren. Einige fielen günstig nieder.
Im übrigen ließen sich nicht alle durch die Versailler Lügen täuschen. Lyon, Marseille, Narbonne hatten ihre Kommunen, die wie die unsere mit revolutionärem Blut getränkt waren; von daher sind unsere Banner immer rot; warum also jagen sie denen, die sie rot färben, Angst und Schrecken ein?
Das Leiden der Bauern sieht noch düsterer aus als das unsere; stets gebeugt über den undankbaren Boden, holen sie nur den Überschuß des Herrn heraus, und sie haben noch weniger als wir den Trost des Gedanken.
Dir, Bauer, ist dieses Lied des Zorns gewidmet; möge es in deinen Furchen keimen; es ist ein Andenken an die Zeit unseres Kampfes.
DAS LIED DES HANFS
Der Frühling lacht in den grünen Zweigen, 
Tief im Wald zwitschern die Nester, 
Alles lebt und singt mit schwingenden Flügeln, 
Alle Vögel brüten aus ihre Kleinen. 
Aber das Volk hat weder Geld noch Kleid, 
Und kein Dach und keinen Heller; 
Hunger und Kälte nagen an seinen Eingeweiden. 
Geh deinen Hanf säen, Bauer! Geh deinen Hanf säen, Bauer!
Es täte gut, wenn Jacques Elend 
Könnte lieben - zu zweit zu gehen! 
Aber uns fern Liebe und Licht! 
Sie sind nicht für die Elenden! 
Überlassen wir die Witwe nicht der Folter, 
Überlassen wir den Sohn nicht dem Tyrannen, 
Wir wollen nicht Komplizen sein. 
Geh deinen Hanf säen, Bauer! Geh deinen Hanf säen, Bauer!
Schmiede, baue Ketten, Festungen. 
Gib alles her, wie die Schafherde, 
Schweiß und Blut, Arbeit und Not. 
Die Fabrik erringt die Stelle der Schlösser. 
Sieh, Jacques, wie nachts unter den Türen, 
Wie in einem glühend schwebenden Traum, 
Das Flimmern der roten Fackeln irrt. 
Geh deinen Hanf säen, Bauer! Geh deinen Hanf säen, Bauer!
Sie sehen es, Freunde, ich bin zu allem fähig, Liebe oder Haß; macht mich nicht besser, als ich bin und als ihr seid!
Als menschliche Insekten, die wir sind, nagen wir an denselben Abfällen und wälzen uns in demselben Staub, erst in der Revolution werden wir mit unseren Flügeln schlagen. Dann wird die Schmetterlingspuppe ihre Umwandlung hinter sich haben, alles wird für uns vorbei sein, und bessere Zeiten werden Freuden kennen, die wir nicht begreifen.
In unserem Menschengeschlecht sind die Sinne für Kunst und für Freiheit erst in den Anfängen; sie müssen sich entwickeln und produzieren. Dann wird die Ernte in wunderbaren Garben wachsen.
Dort, im lauen Dunkel einer Frühlingsnacht, sehe ich den roten Flammenschein, das ist Paris, wie es im Feuer der Maitage brennt.
Diese Feuersbrunst ist eine Morgenröte; beim Schreiben habe ich sie vor Augen.
Wenn unsere verfluchte Zeit abgelaufen ist, wird der Tag kommen, da der bewußte und freie Mensch weder Mensch noch Tier quälen wird. Diese Hoffnung ist es wert, durch das Grauen des Lebens hindurchzugehen.
Immer wieder vergesse ich, daß ich meine Memoiren schreibe. Könnte man doch zuletzt auch noch das Leben vergessen!
Bevor ich von meiner dritten Verhaftung (in den Maitagen) spreche, muß ich von den beiden ersten erzählen.
Es war zur Zeit der Belagerung, ich war zusammen mit Mme Andre L... Wir hatten Freiwillige aufgerufen, allen Hindernissen zum Trotz in das mit dem Tode ringende Straßburg zu eilen, einen letzten Versuch zu wagen - oder mit Straßburg zu sterben. Die Freiwilligen waren in großer Anzahl gekommen. In einem langen Zug durchquerten wir Paris und riefen: Nach Straßburg! Nach Straßburg! Wir zeichneten uns in das auf den Knien der Statue liegende Buch ein und zogen von dort zum Rathaus, wo wir verhaftet wurden: Mme A.L..., ich und eine arme kleine Alte, die den Platz überquert hatte, weil sie öl holen wollte, und auf diese Weise in die Kundgebung geraten war. Die ganze Zeit ließ sie ihren Krug nicht aus den Händen; als man sie endlich gehen ließ - auf unsere Aussagen hin und vor allem, weil sie den Krug, einen beredten Zeugen, bei sich hatte -, tropfte ihr Öl auf das Kleid, so sehr zitterten ihre Hände. Einem Dicken, der hereinkam, versuchte ich zu erklären, worum es ging. - Was geht Sie das an, ob Straßburg zugrunde geht, wo Sie doch gar nicht dort sind? sagte mir dieser unwissende Lackaffe, der aus Neugierde - um uns zu sehen - gekommen war.
Ein Mitglied der provisorischen Regierung veranlaßte, daß wir freigelassen wurden.
Zur selben Stunde fiel Straßburg.
Meine zweite Verhaftung fand ebenfalls während der Belagerung statt. Frauen mit mehr Mut als Überblick wollten der Regierung irgendeinen Weg zur Verteidigung vorschlagen und dabei eingesetzt werden.
Ihr Eifer war so groß, daß sie im Namen einer Bürgerin und einer Gruppe, der sie vergessen hatten Bescheid zu sagen, in den Klub der Frauen von Montmartre kamen.
Auch wenn sie sich nicht auf eine Gruppe berufen hätten, hätten wir nicht gezögert, uns am nächsten Tag mit ihnen zu treffen. Wobei wir allerdings den Vorbehalt machten, sie als Frauen zu begleiten, um ihre Gefahren zu teilen, jedoch nicht als Bürgerinnen .
Wir erkannten die Regierung nicht mehr an, da sie nicht einmal in der Lage war, Paris seine Verteidigung zu überlassen.
Gefaßt auf das, was dann auch geschah, gingen wir zu dem Treffen im Rathaus - ich wurde wegen des Organisierens einer Kundgebung festgenommen.
Ich antwortete, daß ich keine Kundgebung organisieren könnte, um mit einer Regierung zu sprechen, die ich nicht mehr anerkennen würde, und wenn ich auf eigene Faust ins Rathaus käme, dann mit dem bewaffneten Volk. Meine Erklärungen schienen nicht befriedigend zu sein, ich wurde eingesperrt.
Am nächsten Tag jedoch kamen die vier Bürger Th. Ferre, Avronsart, Burlot und Christ, um im Namen des XVIII. Arrondissements meine Entlassung zu fordern.
Als dieser Satz, die Vogelscheuche für die Reaktion, fiel: Montmartre kommt!... wurde ich ihnen übergeben.
Auch Mme Meurice kam und forderte meine Freilassung im Namen der Societe des femmes pour les victimes de la guerre (Vereinigung der Frauen für die Opfer des Krieges); sie kam, als wir die Präfektur bereits verlassen hatten; ich wiederhole es, die Frauen sind nicht feige gewesen: es kommt daher, daß wir, weder die einen noch die anderen, uns gern die Pfoten schmutzig machen. Vielleicht gehören wir doch irgendwie zur Spezies der Katzen.
Dreihunderttausend Stimmen hatten die Kommune gewählt.
An die fünfzehntausend hielten in der blutigen Woche dem Angriff einer Armee stand. Es wurden etwa fünfunddreißigtausend Erschossene gezählt; und die, von denen man nichts weiß? Es gibt Tage, wo die Erde ihre Leichen zurückgibt.
In den Maitagen bauten die Frauen die Barrikade der Place Blanche auf und verteidigten sie. Bis zu ihrem Tode hielten sie durch.
Eine von ihnen, Blanche Lefebre, besuchte mich auf der Barrikade von Delta. Wir glaubten noch an den Sieg.
Durch einen Aufstand wird viel gewonnen. Aber durch den alten Fuchs Foutriquet, den General der Versailler Armee, wurde die Revolution an ihrer Lebensader getroffen.
Traurig ging Dombrowski an uns vorbei, er ging in den Tod. - Es ist zu Ende, sagte er zu mir!
Ich antwortete ihm: - Nein, nein. Und er streckte mir beide Hände entgegen.
Ich kam immer heil davon, ich weiß nicht wie; schließlich führten die, die mich schnappen wollten, meine Mutter ab, um sie zu erschießen, falls man mich nicht finden würde. Ich holte sie heraus, indem ich ihren Platz einnahm. Sie wollte es nicht, die arme liebe Frau; ich mußte ihr eine ganze Menge vorlügen, um sie umzustimmen; es endete stets so, daß sie mir schließlich glaubte.
So erreichte ich, daß sie heimkehrte.
Ich war bei der Bastion 37, unweit der Eisenbahn von Montmartre; dort wurden die Häftlinge untergebracht.
Verbrannte Papierfetzen flatterten wie schwarze Schmetterlinge aus dem brennenden Paris bis hierhin.
Über uns schwebte wie ein roter Schleier die Morgenröte der Feuersbrunst.
Man hörte immer noch die Kanone, man hörte sie bis zum 22., und bis zum 22. sagten wir: Die Revolution wird sich revanchieren.
Naiv wie wir sind, rechnen wir nie mit dem Verrat.
In dieser Bastion liegen vor dem großen staubigen Gehege, in dem wir zusammengepfercht waren, unter einem mit grünem Rasen bedeckten Hügel die Kasematten.
Dort wurden nach der Ankunft Monsieur de Gallifets vor unseren Augen zwei Unglückliche erschossen, die sich wehrten, weil sie nicht sterben wollten.
Vielleicht hatten sie das Haus verlassen, um uns zu beschimpfen, waren auf der Straße festgenommen worden und hatten sich nicht weiter darüber aufgeregt, weil sie, wie sie sagten, sicher waren, wieder freigelassen zu werden.
Die Ansprache von Monsieur de Gallifet, der Befehl, in den Haufen zu schießen, wenn sich jemand von der Stelle zu rühren schien, hatten ihnen einen Schrecken eingejagt und von wahnsinniger Angst gepackt, flohen sie.
Obwohl wir alle geschrien hatten: »Wir kennen sie nicht, sie gehören nicht zu uns«, wurden sie erschossen; sie wollten nicht einmal stehen, die Unglücklichen; sie sagten, sie seien Kaufleute aus Montmartre und konnten sich in ihrer Kopflosigkeit, die ihnen das Gedächtnis trübte, nicht einmal an ihre Adresse erinnern, um denen die zurückbleiben würden, ihre Kinder ans Herz zu legen.
Wir glaubten nicht, heil davon zu kommen. Diese Männer waren sich ähnlich und waren vermutlich Brüder. Man glaubte, daß einer von ihnen sagte: hélas!, ich selbst habe immer gemeint, daß er sagte: Anne, und daß es seine Tochter sei!
Wie viele, die Feinde der Kommune waren, wurden wie diese beiden Unglücklichen der Bastion 37 auf diese Weise verhaftet!
Es geschahen seltsame Dinge.
Später, als man uns von Satory nach Versailles führte, eilte uns eine Frau wütend entgegen und schrie, wir hätten ihre Schwester getötet, sie wüßte es genau, es gäbe Zeugen. Plötzlich ein zweifacher Aufschrei; ihre Schwester war unter uns, die Versailler hatten sie gefangengenommen.
Satory! Als wir im strömenden Regen auf dem glitschigen Hang ankamen, wurde uns zugerufen: Los! Macht, daß ihr raufkommt, wie beim Sturmangriff! Und im Sturmschritt eilten wir hinaus, den auf uns zurollenden Kartätschen entgegen, wobei wir einer Alten, die bei uns war, weil man ihren Mann erschossen hatte, und die drauf und dran war zu schreien, sagten: Es wäre eine Formalität, die jedesmal, wenn neue Gefangene kämen, wiederholt würde.
Sie schwieg.
Wir waren sicher, daß ein einziger Schrei zu hören sein würde: Es lebe die Kommune!
Die Kartätschen wurden zurückgenommen. Als wir durch Versailles zogen, hatten kleine Weichlinge auf uns geschossen wie auf Kaninchen; einem Nationalgardisten wurde der Kiefer gebrochen; ich muß den Reitern, die uns führten, zugute halten, daß sie die Weichlinge und ihr Weiberpack zurückdrängten, die zur Häftlingsjagd kamen.
Satory! Nachts wurden die Häftlinge gruppenweise aufgerufen.
Sie erhoben sich aus dem Schlamm, in dem sie im Regen lagen und folgten der vorangehenden Laterne; man packte ihnen eine Schaufel und eine Hacke auf den Rücken, damit sie ihr Grab ausheben konnten, und dann wurden sie erschossen.
Die Salve prasselte in die Stille der Nacht.
Nachdem man mir erst gesagt hatte, man werde mich am Tage nach meiner Ankunft erschießen, bekam ich zu hören, es werde am Abend geschehen, dann hieß es: am folgenden Tag, und dann wieder: am nächsten Tag, und ich weiß wirklich nicht, warum sie es nicht taten, denn ich war frech, wie man es als Verlierer gegen grausame Sieger ist.
Wir, etwa dreißig Frauen, wurden in die Chantiers de Versailles geschickt.
Tagsüber saßen wir dort in einem großen quadratischen Raum im ersten Stock auf der Erde, nachts lagen wir, so gut es eben ging.
Nach etwa vierzehn Tagen bekamen wir ein Strohbündel für zwei.
Durch eine Luke in der Decke stieg man in den Vernehmungssaal hinauf, eine andere Luke führte ins Erdgeschoß, wo die gefangenen Kinder waren; nachts erhellten zwei Lampen dieses Leichenhaus; durch die mit Bindfaden über den Körpern aufgehängten Lumpen wurde der Eindruck vervollständigt.
Lange Zeit wurde es mir verboten, meine Mutter zu sehen, die oft aus Montmartre kam, um mich sprechen zu können.
Als man sie eines Tages zurückstieß, während die arme Frau mir eine Flasche mit Kaffee reichte, warf ich dem Gendarm, der sie zurückgestoßen hatte, die Flasche an den Kopf.
Auf die Vorwürfe eines Offiziers erwiderte ich, daß ich nur bedaure, mich an ein ausführendes Organ gewandt zu haben, statt nach oben zu schlagen, wo die Befehle erteilt werden.
Endlich wurde meiner Mutter gestattet, mich zu besuchen, aber es war erst lange danach.
Im Gefängnis der Chantiers, wie überall, gab es komische Episoden.
Eine Taubstumme verbrachte dort mehrere Wochen, weil sie geschrien hatte: »Es lebe die Kommune!«, eine an beiden Beinen gelähmte Frau, weil sie Barrikaden gebaut hatte!
Noch eine andere ging, den Korb an einem Arm, den Regenschirm unter dem anderen, drei Tage im Saal herum.
In diesem Korb waren Lieder, die ihr Herr zum Lob der Sieger verfaßt hatte und die man irrtümlich für Lobgesänge auf die Kommune gehalten hatte, mit Versen dieser und ähnlicher Art.
Ihr guten Herren aus Versailles, tretet in Paris ein.
Doch rasch erstarb das Lachen auf unseren Lippen.
Die Schreie der Wahnsinnigen, die Sorge um die Angehörigen, um die Freunde, von deren Schicksal man nichts wußte, und um die armen Mütter, die allein am Herd saßen...
Aber man bewahrt seinen Stolz in der Niederlage, und die Kerle und Weiber, die sich die Besiegten von Paris ansehen wollten, wie man sich die Tiere im Jardin des Plantes ansieht, erblickten keine Träne in unseren Augen, nur ein spöttisches Lächeln für ihre dummen Fratzen.
Im Erdgeschoß wurden Kinder gefangen gehalten, deren Väter man nicht habhaft werden konnte; einige, wie Ranvier, waren schon stolz, und wir waren es auch auf sie.
Auf der Erde schlängelten sich silbrige Fäden zu einer Art Ameisenhaufen hin. Es waren riesige Läuse mit borstigem, etwas gewölbtem Rücken, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Wildschweinen hatten (mit mückengroßen Wildschweinen natürlich); und es waren so viele, daß man bei ihrem Herumwimmeln ein leises Geräusch zu vernehmen glaubte.
Da uns Soldaten bewachten, war es für die Frauen nicht leicht, die Wäsche zu wechseln (sofern sie welche hatten); ich konnte mir schließlich welche verschaffen. Meine arme Mutter, die sie mir durch die Gittertür im Hof reichte, sah sehr traurig aus; aber das war erst der Anfang.
Meine Nächte verbrachte ich damit, neugierig die Ausstattung dieses Leichenschauhauses zu betrachten. Solche Szenen haben mich stets gefesselt, so sehr, daß ich über der grausigen Beredsamkeit der Dinge die lebendigen Geschöpfe vergesse.
Manchmal wirkte das Leichenschauhaus wie eine im Abenddämmern oder Morgengrauen gemähte Ernte. Hohle Ähren und magere Strohbündel leuchteten golden wie das Getreide unter der Sonne; ein andermal war alles von einem starken Widerschein erfüllt, als hätte man Sterne geerntet; das war der anbrechende Tag, in dessen Schein die Lampen verblichen.
Bei der Ankunft von Marcerou wurden die vierzig Schlimmsten aus den Chantiers ins Zuchthaus von Versailles gebracht; ich gehörte dazu.
Als wir im prasselnden Regen im Hof warteten, sprach uns ein Offizier sein Bedauern darüber aus; ich konnte mir die Antwort nicht verkneifen, es wäre günstiger, wenn die Angehörigen Ihres Lagers in allem übereinstimmten, und mir wäre es auch lieber.
Im Zuchthaus von Versailles erfuhren die vierzig Schlimmsten seltsamerweise eine mildere Behandlung. Was sich in den Chantiers nach unserem Fortgehen ereignete, haben Mme Cadolle und Mme Haudouin erzählt.
Als eine Art Probe für den Prozeß der Kommune waren unglückliche Frauen vor Gericht gekommen, die nur Pflegerinnen gewesen waren und trotzdem zum Tode verurteilt wurden. Zwei von ihnen, Retif und Marchais, waren einander niemals begegnet; man wies ihnen nach, sie hätten gemeinsam eine Menge Dinge ausgeführt.
Eulalie Papavoine wurde, weil sie zufällig diesen Namen trug, zu Zwangsarbeit verurteilt; sie war mit dem legendären Papavoine nicht einmal verwandt, aber man war allzu glücklich, diesen Namen ausposaunen zu können.
Suetens, ebenfalls eine Pflegerin, kam mit ihnen nach Cayenne.
Man hütete sich, die kühnsten Frauen abzuurteilen, und so wagte man weder Elisabeth Retif noch Marchais hinzurichten.
Am 4. September, also einen Tag vor dem Jahrestag der Proklamation der Republik, wurde der Prozeß gegen die Kommunemitglieder abgeschlossen.
Aufgrund eines zum Tagesbefehl der Armee erhobenen Erlasses des Generalgouverneurs von Paris, des Oberkommandierenden der 1. Militärdivision, setzte sich das Kriegsgericht aus folgenden Personen zusammen:
 
MERLIN, Oberst, Präsident;
GAULET, Bataillonskommandeur, Richter;
DE GUIBERT, Hauptmann, Richter;
MARIGUET, Richter;
CAISSAIGNE, Oberleutnant, Richter;
LEGER, Leutnant, Richter;
LABBAT, Feldwebel, Unteroffizier;
GAVEAU, Kommandeur des 68. Linienbataillons;
SENART, Hauptmann, Beisitzer.
 
Die Angeklagten waren in folgender Reihenfolge aufgelistet:
FERRÉ - ASSI - URBAIN - BILHORAY - JOURDE - TRINQUET - CHAMPY -  REGERE - LISBONNE -
LULLIER - RASTOUL - GROUSSET - VERDURE - FERRAT - DESCHAMPS - CLEMENT - COURBET - PARENT.
 
Ferré wollte keinen Verteidiger; aufgrund der Gesetze bestimmte der Präsident ihm Maitre Marchand als Pflichtverteidiger.
Nachdem Ferré den von den Feinden der Republik vorbereiteten Staatsstreich dargestellt hatte, der darin gipfelte, daß sie Paris sogar die Wahl seiner Stadtabgeordneten verweigerten, erklärte er die Rolle der Kommune:
 
»Die ehrlichen und aufrichtigen Zeitungen waren verboten,
»die besten Patrioten zum Tode verurteilt. Die Royalisten bereiteten
»die Teilung Frankreichs vor. Schließlich in der Nacht zum 
»18. März glaubten sie bereit zu sein und versuchten, 
»die Nationalgarde zu entwaffnen und die Republikaner in Massen zu verhaften; 
»ihr Versuch scheiterte an dem einmütigen Widerstand von 
»Paris und daran, daß selbst ihre Soldaten sie im Stich ließen; 
»sie flohen und zogen sich nach Versailles zurück. 
»In dem sich selbst uberlassenen Paris versuchten energische und mutige
»Bürger unter Lebensgefahr, die Ordnung und Sicherheit wiederherzustellen.
»Einige Tage später wurde die Bevölkerung zur Wahl aufgerufen, 
»und so wurde die Pariser Kommune konstituiert.
»Pflicht der Regierung von Versailles wäre es gewesen, 
»die Gültigkeit dieser Abstimmung anzuerkennen und 
»mit der Kommune zu verhandeln, um die Eintracht wieder herbeizuführen;
»aber ganz im Gegenteil, und als hätte der Krieg gegen 
»eine fremde Macht nicht schon genug Elend und Ruinen hinterlassen, 
»fügte sie ihm noch den Bürgerkrieg hinzu; 
»sie spürte nur noch den Haß des Volkes und seine Rachegedanken; 
»griff Paris an und ließ es eine zweite Belagerung erleben.
»Zwei Monate lang leistete Paris Widerstand und wurde dann erobert; 
»zehn Tage lang erlaubte die Regierung die Ermordung der Bürger und 
»die Erschießungen ohne Urteil.
»Diese unseligen Tage versetzten uns zurück in die Zeit der Bartholomäusnacht;
»es ist gelungen, den Juni und den Dezember zu übertreffen!
»Wie lange soll das Volk noch niederkartätscht werden?
»Als Mitglied der Pariser Kommune bin ich in den Händen der Sieger:
»sie wollen meinen Kopf, sollen sie ihn nehmen!
»Frei habe ich gelebt, und ebenso werde ich zu sterben wissen. 
»Nur noch ein Wort: das Glück ist launisch, 
»ich vertraue der Zukunft die Sorge um mein Andenken und um meine Rache an.
TH. FERRÉ"«
 
Die Urteile lauteten folgendermaßen:
Zum Tode verurteilt Th. FERRÉ
 LULLIER
Zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt
URBAIN
TRINQUET
ASSI
BILDHORAY
CHAMPY
Zur Deportation an einen Festungsort
REGÉRE
FERRAT
VERDURE
GROUSSET
Zur einfachen Deportation
JOURDE
RASTOUL
Zu sechs Monaten Gefängnis und 500 Francs
Geldstrafe
COURBET
Freigesprochen
DESCHAMPS
PARENT
CLEMENT
   

Ferré wurde, zusammen mit Rossel und Bourgeois, am 28. November 1871 um sieben Uhr morgens in der Ebene von Satory ermordet; sein Vater und sein Bruder waren noch in Haft. Seine Mutter war als Wahnsinnige gestorben, weil der armen Frau, als sie aufgefordert wurde, entweder ihren Sohn, den man suchte, oder ihre sterbende Tochter auszuliefern, ein paar Worte entschlüpft waren, die die Spürhunde auf seine Spur  brachten.
Marie Ferré, die einzige, die in Freiheit war, sammelte ihren Mut und zog von Gefängnis zu Gefängnis, solange sich ihre Brüder und ihr Vater dort befanden. Ihre Mutter starb in Sainte-Anne.
Es waren fünfzehn Henker, die man die Commission des grâces (die Gnadenkommission) nannte.

MARTEL, Abgeordneter des Pas-de-Calais;
PRIOU, der Haute-Garonne;
BASTARD, des Lot-et-Garonne;
Felix VOISIN, der Seine-et-Marne;
BALBA, des Gers;
Comte de MAILLE, des Maine-et-Loire;
TANNEGUY-DUCHATEL, der Charente-Inferieure;
PELTEREAU DE VILLENEUVE, der Haute-Marne;
LACAZE, der Basses-Pyrenees; 
TALBANE, der Ardeche; 
BIGOT, der Mayenne; 
PARIS, des Pas-de-Calais; 
CORNE, des Nord;
MERVEILLEUX-DUVIGNEAU, der Vienne;
Marquis de QUINZONNAS, der Isère.[1]
 
Ferré und mir gelang es, aus unseren Gefängnissen einige Briefe zu wechseln; deshalb schickte mich der Polizeipräsident aufgrund einer Denunziation nach Arras, und brachte mich am Tage der Hinrichtung von dort zurück. Ich war darauf gefaßt gewesen.
Auf dem Bahnhof von Versailles traf ich Marie, die gekommen war, um die sterbliche Hülle ihres Bruders zu verlangen. Sie war sehr blaß, zeigte aber weder Tränen noch Schwäche. Sie glich einer Toten!
Sie war ganz in Schwarz, ihre dicken braunen Locken hoben sich wie von Marmor ab. Als ich sie in dem Sarg zurechtlegte, war sie nicht kälter als an jenem Tag.
Die Erde war mit Schnee bedeckt, die heißen Gemetzel waren seit sechs Monaten vorbei. Am 28. November begannen die kalten Morde.
Wie viele Tote kosteten uns das heiße Gemetzel und die kalte Jagd!
Flourens wurde an den Toren von Paris in eine Falle gelockt und ermordet als Strafe dafür, daß er am 31. Oktober einige Leute durch die Fenster, die Türen und die Klosetts hat entkommen lassen: er beteiligte sich nicht an der Jagd auf die Besiegten.
Und Duval, und Varlin, und Cerisier, und der alte Delescluze, der große Jakobiner, und alle anderen, deren Namen Bände füllen würden, und alle Unbekannten, die unter dem Boden von Paris ruhen.
Manchmal findet man in einem Kellerwinkel oder an einer Straßenecke Skelette, und keiner weiß, woher sie kommen; das ist dann eine sogenannte »mysteriöse Angelegenheit«. War nicht alles ein einziges Schlachthaus beim Sieg der Versailler Royalisten?
Und die Ebene von Satory, würde man nicht dort Leichen finden, wenn man sie durchwühlen würde? Man mochte sie auch noch so gut mit ungelöschtem Kalk bedecken, der Pflug wird manche ausgraben, die ausgehobenen Pflaster werden sie bloßlegen.
Heute sind es Beinhäuser, vor fünfzehn Jahren waren es Schlachthäuser.
Und die Katakomben, in denen die Soldaten der Kommune bei Fackelschein mit Hunden gejagt wurden wie Tiere! Glaubt ihr, daß zwischen den Gebeinen aus Jahrhunderten keine zeitgenössischen Skelette liegen?
Und die so zahlreichen Denunzationen, daß es einen schließlich ekelte, und die törichte Angst, und der ganze Ekel, das ganze Grauen!
Ich besitze Briefe aus jener Zeit; der folgende ist an den General Appert gerichtet.
 
  • Gefängnis von  Versailles, 2. Dezember 1871
    Monsieur,
    Ich beginne an den dreifachen Mord [2] von Dienstagmorgen zu glauben.
    Wenn man mich nicht aburteilen will, weiß man auch so genug über mich, ich bin bereit und die Ebene von Satory liegt ja nicht fern.
    Sie wissen alle sehr gut, daß ich die Märtyrer rächen würde, wenn ich hier lebend herauskäme! Es lebe die Kommune!
    LOUISE MICHEL.
Aber sie wollten mich nicht an den Hinrichtungspfahl von Satory schicken, und ich bin noch hier und sehe, wie der Tod um mich herum die Sense schwingt. Wer niemals diese unendliche Leere empfunden hat, weiß nicht, welchen Mutes es bedarf, zu leben.
Kopf hoch! Keine Schwäche. Ja, es lebe die tote Kommune! Es lebe die lebendige Revolution!
 
XVI.
Im Juni 1872 wurden von der Versailler Justiz zweiunddreißigtausendneunhundertfünf Urteile gefällt, darunter bereits zweiundsiebzig Todesurteile, nicht gerechnet die 33, die Versäumnisurteile waren, und es wurden immer neue Todesurteile gefällt; insgesamt: fünfhundert Todesstrafen.
Als wir das Zentralgefängnis von Auberive zum Einschiffen verließen, wurde in Satory immer noch erschossen; ebenso fanden neue Deportationen trotz der Amnestie weiter statt.
Sechsundvierzig Kinder unter 16 Jahren kamen in Besserungsanstalten, wahrscheinlich, um sie dafür zu bestrafen, daß ihre Väter erschossen worden waren; ganz Kleinen waren die Köpfe zerschmettert worden, aber das war im Kampfesrausch passiert.
In den Salons des Elysee-Palastes eilte Foutriquet dem Herzog von Nemours entgegen.
Im Laufe des Abends kamen auch der Graf und die Gräfin von Paris, der Herzog von Alencon, die Fürsten und Fürstinnen von Sachsen-Coburg-Gotha.
Die Anwesenheit der Prinzen von Orleans war das Ereignis dieses Empfangs.
Es war das dritte Abendessen, das Monsieur Thiers, der or-leanstreue Präsident der Republik, gab; danach war es Mac-Mahon, der Marschall des Kaiserreichs; und je häufiger die Namen wechselten, desto mehr war es immer dasselbe.
Wir dachten ohne Bitterkeit an die Reise. War es in der Tat nicht besser, nichts mehr zu sehen? Nach all dem, was ich erlebt hatte, mußte ich die Wilden als gute Menschen empfinden; dort erschien mir die kaledonische Sonne schöner als die Sonne Frankreichs.
Meine noch rüstige Mutter war bei ihrer Schwester, ich wußte es genau; ich wartete also, ohne hinter ihrer Ruhe den stummen und entsetzlichen Schmerz zu merken, den ich erst später erkannte.
Wie zu der Zeit, als ich im Internat von Chaumont war, verwöhnte sie mich wie eben nur eine Mutter; meine Tante wohnte bei ihr ganz in der Nähe, in Clefmont.
Arme Mutter, wie oft haben mir ihre alten Hände noch im letzten Jahr die Ankunft von kleinen Päckchen angekündigt!
Noch ein Jahr nach meiner Verurteilung mußte mein Onkel auf den Lastkähnen das Verbrechen büßen, mich als Nichte zu haben. Erst nach meiner Abreise wurde er freigelassen. Auch meine beiden Vettern wurden inhaftiert.
Wir bringen unseren Familien wenig Glück, und dennoch lieben wir sie um so mehr, je mehr sie leiden; wir sind um so glücklicher über die seltenen am Herd verbrachten Augenblicke, da wir wissen, wie flüchtig sie sind und wie unsere Angehörigen ihre Kürze bedauern.
Ich sehe noch Auberive vor mir, mit den engen weißen Wegen, die sich zwischen den Tannen dahinschlängeln; mit den großen Schlafsälen, durch die, wie früher in Vroncourt, der Wind stürmt; mit den stummen Reihen der Gefangenen mit den weißen Hauben, die denen der Bäuerinnen gleichen, das gefältelte Tuch mit einer Nadel am Hals zugesteckt.
Zur Abwechslung wurden einige von uns zur Zwangsarbeit verurteilt; als eine von ihnen, Chiffon, ihre Nummer um den Arm band, rief sie: Es lebe die Kommune! Von denen, die für eine Abreise für zu schwach gehalten wurden, sind mehrere gestorben: die während der Belagerung so mutigen Poirier, Marie Boire und viele andere, die wir bei unserer Rückkehr nicht mehr vorfanden.
Eine starb in Kaledonien, die schon betagte Mme Louis; sie rief in ihrer letzten Stunde nach ihren Kindern, die sie nie mehr wiedersehen sollte.
Elisabeth de Ghi, inzwischen Mme Langlais, starb auf dem Schiff während der Rückreise. Sie hätte Paris gern wiedergesehen; wir waren aber noch weit entfernt, als ihr Leichnam zwischen zwei Kanonenschüssen durch die Geschützluke ins Wasser glitt.
Die tapfere Marie Schmidt ist im vergangenen Jahr im Hospiz der rue de Sevres gestorben; 1871 war sie Pflegerin und Soldat gewesen. Wenn man zurückkommt, findet man seiter Arbeit, und das Elend tötet schnell.
Ruhet in Frieden, ihr Tapferen, unter den Wirbelstürmen, in den Wogen oder im Armengrab; ihr seid die Glücklichen!
Von den Lebenden sage ich nichts. Obwohl sie den harten Daseinskampf gegen die Tage ohne Arbeit, das heißt ohne Brot, führen. So wie die Reise wird auch die Deportation ihren eigenen Platz in diesem Buch haben.
Von denen aus Cayenne sind zwei gestorben: Elisabeth Retif, ein armes und einfaches Mädchen, das sich so wunderbar bewährt hatte, wenn es galt, im Kugelregen die Verwundeten fortzuschaffen, und das niemals verstand, wie jemand etwas Schlimmes dabei finden konnte.
Gegrüßt seien all die unbekannten Toten, die für unsere Nachfolger gelitten haben, ohne daß dieser ferne Horizont den Schatten der flirrenden Morgenröte, dieser Sternengarben, erschüttern konnte!
Wenn ich auf die Überlebenden des Kampfes, des Exils und der Deportation zu sprechen kommen werde, werde ich auch von Mme Lemels Mut, im Kampf wie dort in der Ferne, sprechen; das wird ihr nicht schaden, denn wo sie arbeitet, ist ein ganzes Nest von Kommunesträflingen und Gefangenen der Versailler Justiz.
Bei den folgenden Einzelheiten werde ich nur von denen sprechen, von denen keiner sagen wird:
- Ach! Sie kommen aus dem Bagno wegen der Kommune! Nun, bei mir gibt es für Sie keine Arbeit.
Man hat es erlebt, man erlebt es noch so oft.
Ich sehe die Reise auf der Vivginie, das große Schiff mit vollen Segeln und die großen Wogen wieder vor mir. Ich sehe die dortigen Landschaften in ihren Einzelheiten wieder.
Wenn man auf der Halbinsel Ducos nahe dem Westwald am Meeresufer wohnt, hört man das ewige Rauschen der Wogen auf den Klippen; um uns herum die zerklüfteten Berggipfel, von denen bei starken Regenfällen tosende Ströme herabstürzen; im Westen versank die Sonne in den Fluten.
Im Tal krümmen sich die weißstämmigen Niaoulis, deren silbrige Blätter eine Phosphoreszenz zeigen.
Auf der anderen Seite des Gebirges liegt Numbo mit seinen Erdhäusern, um die Lianen Arabesken winden; wenn man von weitem ihr launisches Gewirr zwischen den Bäumen sieht, ist man bezaubert; mir ist, als wäre ich noch dort. Jeder hatte sich je nach Temperament sein Nest gebaut oder seinen Schlupfwinkel gegraben.
Als einziger hatte sich der alte Croiset einen Kamin gebaut; an den Gedenktagen des 18. März konnte man dort beinahe Kaffee kochen, ohne das Dach in Brand zu stecken.
G... hatte den halben Berg umgegraben, um den Boden zu bestellen. Es war wie bei Robinson; in seiner Höhle unter den Felsen hatte er eine ganze Menagerie, in deren Mitte seine Katze thronte.
Champys Haus, das so klein ist, daß wir dort wie in einem Korb sitzen, wenn ein paar versammelt sind, liegt auf der entgegengesetzten Seite.
Den Bügel jenes Korbes schwenkte der Wind, wenn er draußen brauste, als wollte er auf der Insel Nou und im Nordwall die Bäume ausreißen.
Ganz oben, wie ein Wachtposten, war Borlot; man hört die recht schallende Stimme der Henne, die schreit, wie ein Esel warnen würde, wenn einer eintritt.
Jeder von uns hat sein Haustier, die Katzen überwiegen; wenn man zu einem Genossen zum Essen geht, nimmt man sie mit.
Plötzlich, wie zur Zeit der Gallier, durchschneidet ein ungeheuerlicher Laut die Luft, das ist Provins, der sich von einer Bucht zur anderen mit jemandem unterhält;  die Antwort erreicht ihn selten, denn er ist der einzige,der eine solche Stimme hat.
Da ist die Schmiede des alten Malezieux, die Hütte, wo Balzenq seine Niaouli-Essenz braut; man glaubt, bei einem Alchimisten zu sein.
Bei all diesen Beschäftigungen sind die Mittel so primitiv wie zur Steinzeit. Man muß seine Werkzeuge selbst anfertigen, wobei man, so gut es geht, alles Fehlende oder nicht Passende ersetzt. Ich sehe noch Bunant mit seinem kleinen Beil im Gürtel in den Wald gehen, ausgerüstet wie ein Bandit, desgleichen seine Frau. In der Richtung des Militärlagers liegt das Gefängnis. Viele unserer Freunde hatten dort einen langen Aufenthalt; unter dem Gouverneur Aleyron war es immer voll; da es keine Extrazellen für Frauen gab, hat man sich unserer ein für allemal entledigt, indem wir von Numbo zur Westbucht geschickt wurden, was meinem Unterricht für junge Leute ein Ende setzte. Diesen Unterricht hatte Verdure angefangen.
Unser Aufstand und die Bedingungen, die man uns ertragen lassen mußte, um zu erreichen, daß wir einwilligten, in der Westbucht zu wohnen, gehören zum zweiten Teil meines Buchs. Man gab nach, weil es für M. Ribourg noch mehr Schwierigkeiten gegeben hätte, wenn wir auf unserem Eigensinn beharrt hätten; es gab, ich wiederhole es, kein Sondergefängnis, um ein halbes Dutzend Frauen unterzubringen.
Ich habe den Unterricht für junge Leute erwähnt, den Verdure angefangen hatte.
Verdure war der erste, nach dem ich fragte, als ich in der Halbinsel Ducos ankam: er war gerade gestorben.
Der Postverkehr war noch nicht regelmäßg; die Briefe, auf die er seit so langem gewartet hatte, kamen in einem Bündel zusammen an, nach seinem Tod.
Der Meister ruht dort: was ist nun aus seinen Schülern geworden?
Muriot hat sich umgebracht; die anderen zeitigen ein Leben, in dem ihnen ihr Deportierten-Titel die Tore der Werkstätten bestimmt nicht offenhält.
Mehrere haben eine bemerkenswerte Intelligenz. Die Regierung Aleyrons wurde zu einer Zeit des wütenden Wahnsinns; es wurde auf einen Deportierten geschossen, der einige Augenblicke später als zur festgelegten Stunde nach Hause kam; beim Appell gab es sinnlose Provokationen; zur Strafe bekamen die Deportierten kein Brot.
Die Komik - sie gehört immer dazu - bestand darin, nachts um Numbo herum Wachtposten aufzustellen, deren Zurufe mitten in der Stille wie eine Oper wirkten.
Ich gestehe, daß mir dieses Schauspiel viel Freude machte: man konnte glauben, bei einer Vorstellung der Tour de Nesle[1] mit einer ungeheuren Bühnenvergrößerung zu sitzen. Am Anfang waren zufällig schöne tiefe Stimmen ausgewählt worden.
Dann wurden die Stimmen heiser, und die Wirkung war abgestumpft.
Nach den erlebten menschlichen Bienenkörben kommt uns jede Menge klein vor; nach unserer Reise durch die ganze Welt kommt uns jede Reise kurz vor, und die Tage häufen sich, und man denkt kaum darüber nach, ob man jedes Jahr die Sanduhr dreht.
In der Nähe des Gefängnisses lag am Berghang unter einer lianenüberwucherten Veranda die Post. An den Posttagen stiegen wir pünktlich und bange diesen Hang empor. Wenn der Brief zu spät eingesteckt worden war, mußte man den nächsten Posteingang abwarten.
Antwort auf einen Brief konnte man erst nach sechs bis acht Monaten bekommen, so lange dauerten der Hin- und Rückweg; gegen Ende unseres Aufenthaltes dauerte es regulär nur noch sechs Monate.
O meine lieben Briefe, mit welcher Freude empfing ich sie! Diejenige, die mir die längsten schrieb, ist nun, da ich zurück bin, tot.
Monsieur de Fleurville, der Schulinspektor von Montmartre, hatte sich meiner Angelegenheiten angenommen, das heißt einer gewissen Anzahl an Schulden. Er ist es, der die in Auberive geschriebenen Kindermäreken veröffentlichte und die Kosten dafür auf sich nahm. Nach Kaledonien schrieb er mir über die neuesten Entdeckungen, denn wir hatten keine Zeitungen.
Mir ist, als durchlebe ich diese entschwundenen Tage noch einmal. Ich steige den kleinen Hang hinab mit meinen Briefen in der Hand: der von Marie, voll von Blumen; der von Monsieur de Fleurville, der mindestens zur Hälfte daraus besteht, daß er mit mir schimpft, wie damals in Montmartre; der meiner Mutter, in dem sie mir versichert, daß sie immer noch stark ist.
Das sagte sie mir damals wie auch noch zu Beginn des letzten Dezembers; sie verbot, daß man mir Bescheid sagte.
Um von der Post zur Westbucht zurückzukommen, ging man am Strand entlang; ein herber und mächtiger Geruch erfüllte die Luft. Sie riechen gut, die großen Wogen!
Unterwegs hört man aus der Hütte von L... seine Gitarre, die ihm der alte Croiset in Numbo gebastelt hatte. Schön ist es am Strand, und man denkt an die am schwersten Geprüften - an die auf der Insel Nou. - Ach, es sind die Besten, die dort sind. Begierig wartet man auf Nachrichten von ihnen, die nur über tausend Hindernisse hinweg schwierig zu bekommen sind.
Da sind die weißen Burnusse der Araber, die im Tal vorbeiziehen. Manchmal geschahen komische Dinge. So eines Tages, als eine einfache Diskussion, die ich mit einem Genossen hatte, fast den Umfang eines Ereignisses erreichte. Wir unterhielten uns über den kanakischen Aufstand, eine heikle Frage auf der Halbinsel Ducos, und wir sprachen so laut und boten eine solche Stimmfülle auf, daß eine Wache von ihrem Posten herbeieilte, da sie an eine Meuterei, an einen Aufstand glaubte. Ganz verdutzt zog sie sich zurück, als sie feststellte, daß wir nur zu zweit waren.
Nach fünf Jahren Aufenthalt auf der Halbinsel durfte ich als Lehrerin nach Numea ziehen, wo es für mich leichter war, das Land zu studieren und wo ich die Kanaken aus den verschiedenen Stämmen sehen konnte; bei meinem Sonntagsunterricht war ein ganzer Bienenkorb von ihnen bei mir.
Kurze Zeit, nachdem ich die Halbinsel verlassen hatte, kamen einige meiner Freunde von der Insel Nou dahin. Das war eine grosse Freude für die Deportierten. Wir liebten sie mehr als alle anderen, weil sie mehr zu leiden hatten; dadurch blieben sie so stolz wie in den Maitagen.
Wenn wir dort am Strand auf den Felsen saßen, rollten die Ereignisse aus der Vergangenheit auf uns zu wie die Wogen.
In der Stille fiel Tag auf Tag, und die ganze Vergangenheit umwirbelte uns wie der graue Schnee von Millionen Heuschrecken.
Viele sind dort geblieben, sind in den großen Schlaf gefallen.
Wie viele Gespenster! Manche sind freundlich, manche sind schrecklich.
Auch Anmutige, die bei denen unter den Zyklonen ruhen, die sich im Sterben erinnerten und die Vergeltung emporsteigen sahen: Eugenie Piffaut, ein schönes Mädchen von sechzehn Jahren, Kinder wie Theophile Place, dessen kleine Hände im Sarg jene Verse halten, die zu seiner Geburt geschrieben wurden.
Blanche Arnold, die einer zarten Lianenblüte glich, ruht unter den Wogen; sie starb auf der Rückreise.
Mit euch beende ich diese Seite, ihr zarten und lieblichen Schatten junger Mädchen und Kinder!
 
XVII.
Von der Amnestie und von der Krankheit meiner armen Mutter, die gerade einen Schlaganfall gehabt hatte, erfuhr ich gleichzeitig.
Die Sehnsucht tötete sie; wäre ich nicht zurückgekommen, wäre sie schon zu dieser Zeit gestorben.
Nun habe ich sie selbst in ihren Sarg gelegt, wie Marie; sie liegen nebeneinander.
Die eine ruht in meinem roten Schal, die andere in einer weichen (auch roten) Decke, die sie liebte. So sind sie für den ewigen Winter des Sarges eingerichtet, und man fragt mich, ob ich mich um die Freiheit kümmere und um den Frühling, der die Zweige wieder zu Blüten bringt.
Bin ich ein Feigling, weil ich mein Herz unter der Erde eingeschlossen habe? Nein, denn ich werde bis zum letzten Augenblick aufrecht bleiben.
In dem Winter, der auf unsere Rückkehr folgte, wurde Ferre von der Stelle, wo er seit zehn Jahren lag, ins Grab seiner Familie überführt.
Ein Freund hatte noch das Banner von 71; er brachte es mit, die Gebeine sind darin eingehüllt.
Ein Strauß roter Nelken ist im Sarg eingeschlossen.
Haben Sie festgestellt, daß das Leben einem düster erscheint, wenn man es betrachtet; in ihm kreisen die Erinnerungen und ziehen sich gegenseitig an, wie die Welten im Dunkel des Weltraums.
Ich kam aus der Deportation zurück, den Prinzipien treu geblieben, für welche ich sterben werde.
Einige erklärende Seiten werden den Konferenzen gewidmet sein, zu denen ich die Ehre hatte, gerufen zu werden.
Bis dahin möchte ich einen Zeugenbericht beifügen, den man der Nachsicht nicht verdächtigen kann. Er stammt von Monsieur Andrieux, der, um uns zu vernichten, den blöden Einfall hatte, eine Zeitung zu gründen, die ihn selbst mit allem Drum und Dran vernichtete.
Diese Art zu kämpfen ist schon seltsam bei einem intelligenten Menschen!
Das Heimtückische an der Sache ist übrigens fehlgeschlagen, da ich, wie auch die Freunde, in dieser Zeitung mehrere Briefe veröffentlichte, in denen ich erklärte, daß ich nur für die Anwürfe gegen die Regierung einstehen könne und nicht für solche, die törichterweise gegen andere Gruppen gerichtet waren, die der Revolution im Wege standen. Ich habe stets gegen schlechte Grundsätze gekämpft. Was die Personen betrifft, so messe ich ihnen ebensowenig Bedeutung bei wie mir selbst.
An dieser Stelle möchte ich dem nichts weiter hinzufügen, da dieser Teil nur den Rahmen der anderen Teile bildet.
Hier ist nun der Bericht, den Monsieur Andrieux über meinen ersten Vortrag schrieb, worüber ich eben sprach.
 
MELLE LOUISE MICHEL UND DIE SOZIALE REVOLUTION
 
»21. November. - Heute um ein Uhr hat im Elysee-Montmartre der erste Vortrag zu Ehren von Louise Michel stattgefunden.
»Um halb zwei steigt Louise Michel auf die Tribüne, und zunächst ruft sie: 'Es lebe die soziale Revolution!' Sie fügt hinzu: 'Die tote Revolution, das ist die auferstandene Revolution!'
»Die Anwesenden antworten mit den Zurufen: 'Es lebe Louise Michel! Es lebe die Revolution!'
»Man bringt der Heldin mehrere Blumensträuße.
»Gambon versichert, daß sie Kommune lebendiger sei denn je und daß Frankreich die Revolution immer anführen wird.
»Er preist Jeanne d'Arc, das Opfer der Undankbarkeit eines Königs, und sagt, Louise Michel sei ein Opfer der Undankbarkeit der Republik gewesen.
»Louise Michel ergreift von neuem das Wort.
»Hoffen wir, sagt sie, daß Paris nicht wieder in einen Strom von Blut verwandelt wird. An dem Tag, da alle Verleumder der Kommune nicht mehr sind, sind wir gerächt, und an dem Tage, da den Gallifets und anderen die Macht entrissen ist, haben wir uns um das Volk verdient gemacht.
»Wir wollen keine Blutrache mehr, die Schande dieser Männer soll uns genügen.
»Die Religionen verwehen im Windhauch, und von nun an sind wir die eigenen Herren unseres Schicksals. Die Ovationen, die man uns entgegenbringt, nehmen wir an, aber nicht für uns, SONDERN FÜR DIE KOMMUNE UND IHRE VERTEIDIGER.
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»Wir werden die aufnehmen, die mit uns gehen wollen, auch wenn wenn sie früher gegen uns gewesen sind, damit die Revolution triumphiert.
»Es lebe die soziale Revolution! Es leben die Nihilisten!"
»Diese Rufe werden wiederholt; und andere werden hinzugefügt: Es lebe Trinquet! Es lebe Pyat! Es lebe die Kommune!
»1. Dezember. - Gestern hat in dem Saal Graffard im kleinen Kreis ein Vortrag zugunsten der Amnestierten stattgefunden...
»Der Bürger Gerard dankt Louise Michel für ihre Bereitschaft, bei der Organisation dieser Zusammenkunft mitzuwirken; in ihr begrüßt er das >Prinzip des Hasses, das allein die großen Revolutionäre und die großen Ereignisse hervorruft<.
»Er überreicht ihr zwei Blumensträuße. Louise Michel erwidert, daß sie sie im Namen der sozialen Revolution und im Namen der Frauen annimmt, die für ihre Emanzipation gekämpft haben:
»Ja, das ist das Volk, das ich hier begrüße, fährt die Bürgerin Michel fort, und in ihm die soziale Revolution. (Beifall und Rufe: >Es lebe die Kommune<)
»Die Zeit, da man in Satory niederkartätschte, haben wir noch vor Augen; die Männer, die uns richteten, wie der Mörder von Transnonain, wie die Bazaines und die Cisseys, leben noch.
»Fort mit diesen Männern, die wir immer erledigt glaubten, die jedoch wiederkehren und den Kopf höher tragen denn je!
»Die Reaktion ist nur noch ein Leichnam, den die Regierung aufgesammelt hat, und diese selbst, einer Schlange ähnlich, wird zertreten werden, wenn sie sich zwischen uns vorbeimogeln will.
»Heute ist es das Geisterschiff, das vorwärtskommt; das ist das Volk, dieser Zuchthäusler, der seine Ketten noch schleppt, das uns von diesen Männern befreien wird, die uns ins Verderben geführt haben, und das seine Freiheit selbst erobern wird.
»Louise Michel fügt hinzu, daß sie das >Geisterschiff< zugunsten der Amnestierten verkaufen läßt.«
 
Ich bin meinem Programm treu gewesen; es kostete mich das Leben meiner Mutter, meiner armen geliebten Mutter.
Wann werde ich auch im Schatten der roten und der schwarzen Banner schlafen?
Bis dahin, möge man auf diesen Trauerseiten diese auf die Gräber herabgeblätterten Rosen liegen lassen!
DIE ROSEN
Blüht, ihr duftenden Rosen;
Blumen der Hoffnung und des Sommers,
Die wohlriechenden Winde
Bringen euch in die Freiheit fort.
 
Rose des wilden Hagedorns,
Von aufgehender Sonne vergoldet, 
Im Wind des Gewitters fällst du 
Blatt für Blatt in die Flut.
 
Weiße Rosen, stolz und schön. 
Blüht für die lieblichen Stirnen, 
Die der Tod bedeckt mit seinen Flügeln. 
Rosen des Mai, weich und zart, 
Schmückt die Gräber der Kinder.
0 Rosen, der Wind hat Flügel; 
Doch, solange die Erde warm ist, 
Werden neue Rosen entstehen, 
Ganz frische für das Grab.
 
Und du, Rose des Friedhofs, 
Blühe sanft in dem Schatten. 
Ob weiß oder rot, im Efeu 
Hebe deine strahlende Stirn.
 
In Clermont, vor meinem Fenster, 
Blühte ein großer weißer Rosenstrauch. 
In der aufgehenden Blüte erscheint 
Auf ihrem Fleisch ein Blutrinnsal.
Meine Mutter liebte diese schönen Rosen. 
Wenn ich sie schickte, frisch, 
Eben aufgeblüht, war es Feiertag; 
Nie wieder bekommt sie Rosen.