IX.
Das Wesen, wie das ganze Geschlecht, wächst und entfaltet sich, ähnlich wie es Blätter und Blüten tun.
Unreifen Früchten gleich werden wir nur dazu taugen, den Boden zu düngen, doch unsere Nachfolger werden den Samen der Gerechtigkeit und der Freiheit für uns tragen.
Mächtig ist in unserer Übergangszeit der treibende Saft.
Heute können aus den menschlichen Kreuzungen durch endlose Umwandlungen nur revolutionäre Rassen entstehen, selbst bei denen, die das Nahen der Revolution leugnen.
Die in langsamer Arbeit sich vollziehende Entwicklung ist beendet; die Schmetterlingspuppe muß die alte Haut sprengen; das ist die Revolution.
Seit die Menschheit mit eingepuppten Flügeln im Schlaf liegt, haben sich neue Sinne entwickelt; sogar physisch wird uns der neue Mensch nicht mehr gleichen.
Sterben wir also. Elende, die wir sind, und mögen unsere ungeheuerlichen Irrtümer bis zum letzten über uns zusammenstürzen; und möge sich dort, wo man die Menschenherde würgte, das Menschengeschlecht entfalten und leben.
Sei gegrüßt, freie und starke Menschheit, die nicht begreifen wird, wie wir so lange Zeit - wie unsere Ahnen in den Höhlen -dahinvegetieren konnten, wobei wir uns nicht mehr gegenseitig verschlangen (dazu sind wir nicht mehr stark genug), aber einer des anderen Leben verschlang.
Stürzen nicht heute riesige Mengen Menschen in zahllose Blutbäder, in Elend und Not nur für das Vergnügen einiger weniger, mit diesem einzigen Unterschied gegenüber der Zeit unserer Ahnen, daß es sich in einem größeren Rahmen vollzieht?
Werden nicht die Völker dahingemäht wie die reife Ernte? Beim Schneiden der Halme wird das Korn zu Boden geschüttet für den hundertjährigen Frühling; jeder Blutstropfen aus den Menschenkreuzungen kocht in unseren Adern; in diesem Sturm wird der Lenz kommen.
Wenn die unter der Erde dröhnende Revolution etwas von der alten Welt bestehen ließ, müßte sie immer von neuem beginnen! Die alte Haut der menschlichen Puppe wird also für immer absterben. Der Schmetterling muß seine Flügel entfalten, er muß sich blutend aus seinem Gefängnis befreien oder verenden.
Sei gegrüßt, Geschlecht mit dem warmen roten Blut, in dem alles Gerechtigkeit, Harmonie, Kraft und Licht sein wird!
Wenn es soweit ist, wird man immer den geraden Weg einschlagen, statt für alles Millionen Umwege zu suchen, und die kleinen zitternden Funken, die man für Sterne hält und die jedoch kaum Glühwürmchen sind, werden in der Helle des Tages schwinden.
Welch ein Zusammenbruch, meine Freunde, in den alten Behältern unserer Irrtümer! In diesem Staub werden wir dahingefegt werden, versuchen wir wenigstens, dabei nicht allzu töricht zu sein.
Ich habe dort, in den kaledonischen Wäldern, alte Niaoulis gesehen, die fast ihre Baumewigkeit gelebt hatten und die plötzlich mit einem dumpfen Krachen des morschen Stammes zusammenbrachen.
Wenn der Staubwirbel verschwunden ist, bleibt nur noch ein Haufen Asche, auf dem, gleich Friedhofskränzen, grüne Äste liegen: die letzten Triebe des alten Baums, die vom übrigen mitgerissen wurden.
Die Myriaden von Insekten, die sich seit Jahrhunderten dort vermehrten, sind beim Zusammensturz verschüttet worden.
Einige wühlen sich mühsam durch die Asche und betrachten staunend und beunruhigt den todbringenden Tag; ihre im Dunkel entstehende Art wird das Licht nicht aushalten.
So bevölkern wir den alten Baum Gesellschaft, den wir, stur wie wir sind, für lebenskräftig halten, während ihn schon der geringste Hauch vernichten und seine Asche zerstreuen wird.
Kein Wesen entgeht den Umwandlungen, die es nach einigen Jahren bis zum letzten Krümchen verändert haben. Dann kommt die Revolution, die all das in ihren Stürmen durchwirbelt.
Da sind wir nun angelangt! Die Wesen, die Rassen und innerhalb der Rassen diese zwei Teile der Menschheit: der Mann und die Frau, die Hand in Hand gehen sollten, und deren Antagonismus so lange andauern wird, wie der Stärkste befiehlt oder dem anderen zu befehlen glaubt, der gezwungen ist, List anzuwenden und insgeheim Macht auszuüben, beides Waffen der Sklaven.
Wenn die Gleichheit zwischen den beiden Geschlechtern anerkannt würde, so wäre damit eine gewaltige Bresche in die menschliche Dummheit geschlagen.
Bis dahin ist die Frau immer noch, wie der alte Moliere sagte, »die Suppe des Mannes«.
Das starke Geschlecht läßt sich so weit herab, dem anderen zu schmeicheln, indem er es das schöne Geschlecht nennt.
Es ist schon verflucht lange her, daß wir diese sogenannte Stärke gebührend beurteilt haben, und wir sind nicht wenige aufsässige Frauen, die ganz einfach ihren Platz im Kampf einnehmen, ohne erst danach zu fragen. - Wir würden sonst bis zum Ende der Weltgeschichte verhandeln!
Was mich betrifft, ihr Gefährtinnen, so habe ich nicht die Suppe des Mannes sein wollen, und ich bin mit dem gemeinen Volk durch das Leben gegangen, ohne den Cäsaren Sklaven zu liefern.
Auch dem gemeinen Volk wird zeitweise geschmeichelt, es wird nämlich »König Volk« genannt.
Laßt uns den Starken des Menschengeschlechtes einige Wahrheiten sagen; es können nie zu viele sein.
Und zuerst, sprechen wir von dieser Stärke, die aus unseren Feigheiten besteht: sie ist viel kleiner, als es den Anschein hat.
Der Teufel, wenn es ihn gäbe, wüßte: wenn der Mann mit großem Gepolter herrscht, so ist es die Frau, die im Stillen herrscht. Doch alles, was im Schatten geschieht, ist nichts wert; wenn diese geheimnisvolle Macht einmal in Gleichheit verwandelt ist, werden die erbärmlichen kleinlichen Eitelkeiten und die großen Betrügereien verschwinden; dann wird es die Grausamkeit des Herrn und die Falschheit des Sklaven nicht mehr geben.
Dieser Kult der Stärke geht auf die Höhlenzeiten zurück; es ist bei den Wilden so wie bei den ersten Völkern der Welt üblich.
Ich habe in Kaledonien Tayos[1] gesehen, die ihre Popinée,[2] ihre Nemo,[3] wie einen Esel beluden; sie trugen nur die Sagaje des Kriegers und gingen überall, wo sie irgendjemandem begegnen konnten, stolz umher. Doch auf einsamen Pfaden, in engen Gebirgspässen, hatte der Tayo Mitleid mit seiner popinee, die Blut und Wasser schwitzte, und nahm ihr das Fischnetz , die Keule oder einen der pikininos ab.
Erleichtert atmet sie dann auf, denn nun hat sie nur noch ein kleines Kind auf dem Rücken und ein oder zwei andere, die sich mit dem Ärmchen an das Knie der Mutter klammern (nicht an ihre Röcke, denn sie trägt keine), und die mit flinken Füßchen wie Rebhühner trippeln und trappeln.
Aber sobald ein Schatten am Horizont erscheint - sei es nur der eines Ochsen oder eines Pudokpferdes -, wandern die Schleudersteine, die Keule, der Pikinine schnell wieder auf den Rücken der Nemo zurück, und der Tayo tut so, als binde er die Last besser fest.
Ach du liebe Güte! Wenn man ihn gesehen hätte! Der Krieger, dem die Nemos etwas wert sind, ist wohl nicht bei Trost! Die Nemos würden sich nicht mehr damit abfinden, nichts wert zu sein!
Ist es nicht überall dasselbe? Zählt die dumme Eitelkeit der Starken nicht die Mutterschaft und andere Umstände zu den unzähligen Beweisen der Unterlegenheit der Frauen, die sie angeblich am Kämpfen hindern?
Und dabei sollen wir noch so dumm sein, uns gegenseitig umzubringen? Und im übrigen sind die Frauen nicht die letzten im Kampf, wenn das Ziel den Kampf wert ist; die alte Hefe des Aufruhrs beginnt schnell, in ihren Herzen zu gären, wenn der Kampf breitere Bahnen verspricht, wo es weniger nach Aas und dem Unrat der menschlichen Dummheit riecht. Sie sind angewidert, die Frauen! Die Gemeinheiten drehen ihnen den Magen um.
Sie sind auch ein wenig spöttisch und begreifen schnell, wie lustig es doch ist, all diese Gecken zu betrachten, diese Sumpfblüten, diese Stutzer, diese komischen Milchgesichter, ob jung oder alt, diese durch eine Menge unsauberer Dinge verblödeten Herrchen, deren letzte Stunde geschlagen hat, und die die Hirne der Frauen in ihren schmutzigen Pfoten abwägen, als fühlten sie die Flut ihres Wissenshungers steigen, und die nichts von der alten Welt verlangen als das wenige, was sie selbst wissen. Sie sind eifersüchtig, diese Wesen, die nichts tun wollen, neidisch auf jeden neuen Eifer, der dem Herbst der alten Welt den letzten Honig raubt.
Schon seit geraumer Zeit haben die Amerikanerinnen und die Russinnen diese albernen Geschlechtsprobleme abgeschüttelt und besuchen die gleichen Vorlesungen wie die Männer, die darauf nicht eifersüchtig sind, da sie sich desselben Eifers fähig fühlen und nicht verstehen, daß man sich mehr mit der Frage der Geschlechter als mit der der Hautfarbe beschäftigt. Aber bei dem ersten Volk der Welt, hichere , wäre es nicht weniger schwachsinnig als bei den kaledonischen Stämmen, wenn die Frauen die gleiche Erziehung genießen würden wie die Männer.
Wenn sie nun gar regieren wollten!
Beruhigt Euch! Dazu sind wir nicht dumm genug! Es würde die Herrschaft nur verlängern; behaltet sie, damit sie schneller ein Ende finde! Ach, dieses »schneller« wird sich noch lange genug hinziehen. Wirft die menschliche Dummheit nicht auf uns alle das Leichentuch der alten Vorurteile? Seid aber beruhigt: es wird noch lange dauern. Zumindest werdet Ihr nicht diejenigen sein, die die Sturmflut aufhalten werden, und Ihr werdet die Ideen nicht daran hindern, den Massen wie Banner voranzuwehen.
Ich habe nie begriffen, daß man die Intelligenz des einen Geschlechts zu verkrüppeln versucht, als gäbe es zuviel davon in der Menschheit.
Die Mädchen werden in der Einfalt erzogen und absichtlich entwaffnet, damit man sie besser betrügen kann: darauf will man hinaus.
Es ist absolut das gleiche, wie jemanden ins Wasser werfen, nachdem man ihm das Schwimmenlernen verboten hat oder ihn gar gefesselt hat.
Unter dem Vorwand, die Unschuld des Mädchens zu bewahren, läßt man sie in tiefer Unwissenheit von Dingen träumen, die ihr keinerlei Eindruck machen würden, wäre sie in den einfachsten Fragen der Botanik oder der Naturwissenschaft unterrichtet.
Sie wäre dann auch tausendmal unschuldiger, da sie ruhig an tausend Dingen vorbeiginge, die sie jetzt verwirren: alles, was eine Frage der Wissenschaft und der Natur ist, verwirrt die Sinne nicht.
Erschüttert eine Leiche diejenigen, die an einen Seziersaal gewöhnt sind?
Sei sie lebendig oder tot, die Natur läßt uns nicht erröten. Das Geheimnis ist zerstört, die Leiche liegt unter dem Skalpell.
Natur und Wissenschaft sind sauber; die Schleier, die darüber geworfen werden, sind es nicht. Diese von den Reben des alten Silen abgefallenen Weinblätter unterstreichen nur, was sonst unbemerkt bliebe.
Die Engländer züchten Tierrassen für das Schlachthaus; die zivilisierten Menschen bereiten den jungen Mädchen das Schicksal vor, betrogen zu werden, um es ihnen dann als Verbrechen anzurechnen und dem Verführer fast als Ehre.
Welch ein Skandal, wenn sich Eigensinnige in der Herde befinden! Wo kämen wir denn da hin, wenn sich die Lämmer nicht mehr schlachten lassen wollten?
Es ist wahrscheinlich, daß man sie trotzdem schlachten würde, ob sie den Hals hinhalten oder nicht. Was soll's! Es ist doch besser, ihn nicht hinzuhalten.
Manchmal verwandeln sich die Lämmer in Löwinnen, in Tigerinnen oder Kraken.
Recht so! Man hätte die Kaste der Frauen nicht von der Menschheit trennen sollen. Gibt es nicht Märkte, wo die schönen Töchter des Volkes auf der Straße ausgestellt und verkauft werden, und werden nicht die Töchter der Reichen für ihre Mitgift verkauft?
Die eine bekommt der, der sie haben will; die andere gibt man dem, dem man sie geben will.
Die Prostitution ist das gleiche, und bei uns gilt weitgehend die australische Moral[4]
Hichere! die Tayos sind nicht bei Trost, denen die Nemos etwas wert sind!
Sklave ist der Proletarier, Sklave aller Sklaven ist die Frau des Proletariers.
Und der Lohn der Frauen? Da genügen ein paar Worte: er ist nichts als ein Köder, denn er ist illusorisch, und das ist schlimmer, als wenn es überhaupt keinen gäbe. Warum arbeiten so viele Frauen nicht? Dafür gibt es zwei Gründe: die einen finden keine Arbeit; die anderen ziehen es vor, in einem Loch (wenn es möglich ist), an einem Grenzstein oder an einer Straße (wenn sie kein Dach über dem Kopf haben) vor Hunger zu verrecken, als eine Arbeit zu verrichten, die ihnen knapp soviel einbringt, wie sie hergeben, aber dafür dem Unternehmer sehr einträglich ist. Manche hängen am Leben. Von Hunger, Kälte und Elend gedrängt und verlockt von den Halunken beiderlei Geschlechts, die davon leben - in allem Verwesenden gibt es Würmer -, lassen sich die Unglücklichen in die schauerliche Armee einreihen, die von Saint-Lazare bis zum Leichenschauhaus herumlungert.
Und wenn eine Elende, die im Schlamm watet, aus der Tasche eines Freiers — wie sie ihn nennen - mehr nimmt, als er ihr gibt, um so besser! Warum ging er auch dahin? Gäbe es nicht so viele Käufer, so wäre diese Ware kein Handelsobjekt.
Und wenn eine ehrenhafte Frau verleumdet oder verfolgt wird und den Kerl umbringt, der sie verfolgt, bravo! Sie befreit die anderen von einer Gefahr, sie rächt sie; es gibt noch nicht genug, die diesen Weg wählen.
Wenn die Frauen, diese verdammten Geschöpfe, die sogar nach Proudhons Meinung nur Hausfrauen oder Kurtisanen sein können - in der alten Welt werden sie nie etwas anderes sein -, einem oft zum Verhängnis werden, wessen Schuld ist es? Und wer hat zu seinem Vergnügen ihre Koketterie und alle anderen Laster gezüchtet, die den Männern angenehm sind? Unter jenen Lastern hat im Laufe der Zeit eine Auslese stattgefunden. Es konnte nicht anders sein.
Nun sind sie Waffen, die stummen und schrecklichen Waffen des Sklaven; man hätte sie ja nicht in ihre Hände zu legen brauchen! Den Männern geschieht es recht!
Überall in der verdammten Gesellschaft leidet der Mensch; doch kein Schmerz ist dem der Frau vergleichbar.
Auf der Straße ist sie Ware.
In den Klöstern, wo sie sich wie in einem Grab versteckt, erstickt sie in Unwissenheit, die Regeln zerren sie in ihr Räderwerk und zermalmen ihr Herz und Gehirn.
In der Welt windet sie sich vor Ekel; im Haushalt bricht sie unter der Last zusammen; der Mann besteht darauf, daß sie so bleibt, um sicherzugehen, daß sie weder in seine Ämter noch in seine Rechte eingreift.
Nochmals: beruhigt Euch, meine Herren, wir brauchen keinen Rechtsgrund, um Eure Ämter zu übernehmen, wenn es uns paßt!
Eure Privilegien? Was Ihr nicht sagt! Wir mögen keinen alten Plunder; macht damit, was Ihr wollt; es ist uns zu sehr geflickt und zu eng für uns.
Was wir wollen, ist Wissen und Freiheit.
Eure Privilegien? Die Zeit ist nicht mehr weit, wo Ihr Sie uns anbieten werdet, um durch diese Teilung zu versuchen, ihnen wieder Glanz zu verleihen.
Behaltet diese Lumpen, wir wollen sie nicht.
Unsere Rechte, die haben wir. Sind wir nicht an Eurer Seite, um den großen Kampf, die höchste Schlacht auszufechten? Werdet Ihr es wagen, den Rechten der Frauen ihren Anteil zukommen zu lassen , wenn Männer und Frauen die Menschenrechte errungen haben?
Dieses Kapitel ist keine Abschweifung. Als Frau habe ich das Recht, über die Frauen zu sprechen.
X.
Da wir gerade über die Frauen sprachen, sprechen wir auch über die Liebe; mir wird ständig vorgeworfen, daß ich nie darüber rede; kehren wir zu den träumerischen Zeiten in unseren Dörfern zurück.
Zahlreich sind die Liebeslieder, die am Lebensmorgen aus den Blättern alter Bücher entweichen.
In ihnen kann man soviel lieben, wie man will, das heißt, mit hohem Anspruch die Person suchen, die man lieben würde, wenn man ihr im Leben begegnete. Zwischen den Söhnen Galliens wählt man den Tapfersten unter den Tapferen; zwischen den Barbaren auch. In der fernen Vergangenheit betrachtet man die Söhne des Nordens, die Männer der Ghiide, die drei Becher über den Grabhügel leerten, einen für die Toten, einen für die Ahnen, den dritten für die Tapferen - und die für die Freiheit kämpften.
Die Bagauden, die in ihrem brennenden Turm starben, die Barden und die großen Bandenführer, die den reichen Banditen Burgen abnahmen, um den elenden Bettlern Hütten zu geben.
Bei solchen Lieben lassen sich die Treubrüche nicht zählen, es wären ihrer zu viele. - Vom Teufel bis Mandrin, von Faust bis Saint-Just, wie viele Schatten, von denen ich als Kind geträumt habe! - Und die aufständischen Bauern und die Gemeindemitglieder im Mittelalter.
Die großen Gestalten unter den Rebellen ließen mich nicht in Ruhe; mit ihnen zogen die großen Aufstände vorbei.
Wie viele Dinge schweben in den Kinderträumen! Rot wie das Blut, schwarz wie die Trauernacht waren in meiner Vorstellung die Banner der Aufständischen - und immer war die Hochzeit derer, die sich liebten, die rote Hochzeit der Märtyrer, wo der höchste Pakt mit Blut unterzeichnet wird.
Nicht nur ich liebte die Rebellengeschichten; es geschah oft, daß die jungen Mädchen aus dem Dorf und ich uns über diese Dinge unterhielten, von denen die alten Lieder und die Heimatlegenden erzählten.
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Eut qu'elle aimot,
Fier il etot.
Le casque en se tete
Evot l'alouette
Qui pour lu chantot.
Blanche eile étot.
Se main ceuillot
Leu guy deu chûne
Et lei verveine
Teulé dans l'bos.
Stolz war er.
Den sie liebte,
Mit dem Helm auf dem Kopf
Und der Lerche,
Die für ihn sang.
Weiß sie war.
Ihre Hand pflückte
Die Mistel der Eiche
Und das Eisenkraut
Hier in dem Wald.
Wie oft im Leben erlebt man frühere Eindrücke wieder!
Während des schrecklichen Jahres, da ich die Unseren, die voll Kraft und Leben waren, fallen sah, erlebte ich plötzlich, wie bei einer Rückkehr in mein früheres Leben, den Eindruck wieder, der mich als Kind gepackt hatte, als man einer Eiche mit dem Beil eine Wunde ins Herz schlug.
Ich sah den vom Tod gezeichneten Baum wieder vor mir, mit dem tiefen Schnitt im Stamm, in dem das Beil feucht vom Harz war.
Die dicht belaubte große Eiche der Legenden war es, die in diesem Augenblick tief in meinen Gedanken vorbeizog.
Unter ihrem Schatten das hohe dichte Gras, voll von Gänseblümchen und Butterblumen, der Wald, es war alles da.
So kommen sie wieder, die plötzlich neubelebten Eindrücke von früher, wie tote Blätter, die der Wind treibt.
Seit meiner Rückkehr aus Kaledonien habe ich bei vielen Gelegenheiten den letzten Abschnitt im Leben Passedouets wiedererlebt, der dort kurz vor unserer Rückkehr starb.
Passedouet war seit langem krank und hatte das Gedächtnis verloren; trotz aller Pflege durch seine Frau schienen seine letzten Augenblicke gekommen, und er verließ sein Bett nicht mehr.
Wie erstaunt war ich, als ich in der Westbucht Passedouet begegnete, den ich am vorigen Tag in diesem Zustand gesehen hatte!
Er hatte wieder klare Gedanken; bei dem Barackenbau der Frauen unter den Bäumen ging er sich ausruhen, sprach fast wie einst, war aber blaß, und seine Beine zitterten.
Da ich ihn nicht zu fragen wagte, durch welchen Zufall er diese Reise unternommen hatte, und die Besorgnis seiner Frau ahnte, schlug ich Passedouet vor, mit ihm nach Numbo, wo er wohnte, zurückzugehen, und er nahm es an.
Wenn er sich etwas stärker auf meinen Arm stützte, kam er gut voran.
Als wir auf dem Hügel angekommen waren, der zwischen der Bucht von Nij und der Westbucht liegt und von wo aus man am Horizont die rötlichen Gebäude des Bagnos am Ufer der Insel Nou so gut sieht, richtete er seinen langen Körper auf, und indem er seinen großen hageren Arm zum Bagno hin ausstreckte, sagte er mir, wobei er jede Silbe betonte: »Proudhon hatte recht: alles, was man bislang versucht hat, behält dieselben Ursachen des Unheils, die Ungleichheit der Schicksale, den Widerspruch der Interessen bei. Proudhon hat es gesagt, wer produziert, hat nur das Elend und den Tod; die besten Handelsabkommen einer Nation schützen nur ihre Ausbeuter!
»Man wird dem ein Ende machen, aber wieviel Leiden bis dahin! Wieviel Leiden!«
Während er bald Proudhon wörtlich zitierte, bald seine Gedanken, in durch ziemlich lange Unterbrechungen getrennten, kurzen
Sätzen entwickelte, blieb er stehen, den Arm zur Insel Nou ausgestreckt.
Er war wirklich der Passedouet der alten Tage; aber nur der Schatten von Passedouet, der bald den beim Gemetzel von 71 Gefallenen folgen würde. Mehrmals wiederholte er: Proudhon! Proudhon! Dann schwieg er plötzlich und hat seitdem kaum noch geredet.
Wie ich es vermutet hatte, suchte man ihn in Numbo.
Passedouet überlebte nur noch einige Tage, und wir haben nie erfahren, warum er zur Westbucht gekommen war.
So sehe ich ihn wieder vor mir, wie er aufrecht auf dem Hügel, mit dem Arm zur Insel Nou zeigend, das letzte Licht seines Verstandes, den letzten Atem seiner Brust dem Tag der Befreiung hinwarf. Ja, lebende Freunde und Tote, dieser Tag wird kommen! Kraft der vielen gemähten Garben wird bald der Tag anbrechen, da alle Brot haben werden.
XI.
Im Kern meiner Empörung gegen die Starken finde ich, so weit ich zurückdenken kann, meinen Abscheu gegen die Tierquälerei wieder.
Angefangen mit dem Frosch, den die Bauern durchschneiden, und dessen obere Hälfte mit den entsetzlich herausquellenden Augen sie in der Sonne liegen lassen, wo er sich mit zitternden Vorderbeinen in der Erde zu verstecken versucht, bis zu der Gans, deren Füße man festnagelt, und dem Pferd, dessen Leib man von Blutegeln aussaugen läßt, das beklagenswerte Tier erduldet die vom Menschen auferlegte Pein.
Und je grausamer der Mensch gegen das Tier ist, desto tiefer kriecht es vor den Menschen, die über ihm stehen. Von der Zeit, da ich auf dem Land die Grausamkeiten gegen die Tiere erlebte und das entsetzliche Bild ihrer Lebensbedingungen erfaßte, stammt mein Mitleid für sie und dadurch mein Bewußtsein über die Verbrechen der Macht.
So handeln auch die Führenden mit den Völkern! Ich konnte nicht umhin, diese Überlegung irgendwann anzustellen. Verzeiht mir, meine lieben Freunde aus dem Lande, wenn ich mich zu lange über die Leiden auslasse, die bei Euch die Tiere ertragen müssen.
Bei der harten Arbeit, die Euch über diese Rabenmutter von Erde beugt, leidet Ihr selbst so sehr, daß Ihr alles Leiden verachtet.
Wird es niemals enden?
Bei den Bauern ist es leider üblich, den Kindern kleine Tiere zum Spielen zu geben. Im Frühling sieht man auf den Türschwellen und im Sommer im frischen Heu oder im geschnittenen Korn, wie arme kleine Vögel die Schnäbel aufreißen vor zwei- oder dreijährigen Bälgern, die ihnen in aller Unschuld Erde hineinstopfen; sie hängen den kleinen Vogel an einem Bein auf, um ihn fliegen zu lassen, und betrachten, wie sich die kleinen federlosen Flügel hin- und herbewegen.
Ein andermal sind es junge Hunde oder Katzen, die das Kind wie einen Wagen über die Steine oder durch die Bäche zieht. Beißt das Tier, dann wird es unter dem Holzschuh des Vaters totgetreten.
All das geschieht, ohne daß darüber nachgedacht wird; die Arbeit erdrückt die Eltern, sie können ihrem Los nicht entrinnen, wie das Tier den Kinderhänden nicht entrinnen kann. Von einem Ende der Welt (der Welten vielleicht!) bis zum anderen stöhnen die Lebewesen im Getriebe: überall würgt der Starke den Schwachen. Als Kind habe ich recht viele Tiere gerettet; wir hatten ohnehin eine Menge im Hause, da machte es nicht aus, wenn ich unsere Menagerie vergrößerte. An die Lerchen- und Hänflingsnester gelangte ich zuerst durch Austausch, dann begriffen die Kinder, daß ich die kleinen Tiere aufzog; das machte ihnen selber Spaß, und sie gaben sie mir dann freiwillig. Kinder sind viel weniger grausam, als man denkt; man gibt sich nur keine Mühe, ihnen alles begreiflich zu machen, das ist alles.
Habe ich nicht selbst den bösen Leuten Kröten zwischen die Beine geworfen (die sich dann retteten, wie sie konnten)? Dieser Gedanke ließ mich meine Art, mit den bösen Leuten umzugehen, verändern.
Nun waren es Gediente mit mehr oder weniger wilden Versen, die alles erzählten, was man ihnen vorwarf, die ich ihnen schickte. Diese bösen Leute waren recht harmlos, verglichen mit denen, die ich inzwischen kennengelernt habe.
Meine Rolle als Don Quichotte brachte meinem Großvater recht viele Briefe ein, in denen man versprach, mich ordentlich zu züchtigen, da er sich darum nicht kümmerte; es kam jedoch nie dazu.
Ich erinnere mich an einige dieser Rachegedichte. Das letzte, die Grugéide, endete mit den Verwünschungen eines Schloßherrn der Gegend gegen den Autor (es war eine Parodie auf die Verwünschungen von Camille[1]): »Gedicht, einziger Gegenstand meines Hasses.« Dabei waren noch eine Zeichnung, auf der dargestellt war, wie der Schloßherr die Seiten zerriß, und eine andere, auf der die Gespenster von zwölf Kaulquappen dem Priester Croque-Arete erschienen.
Das Gedicht begann wie die Äneide.
Grugeidos - liber primus - argumentum.
Dessen Thema war der Schlüssel eines Parks, den man einem Greis weggenommen hatte, der daraufhin aus Kummer starb, weil ein junger Freund (der Priester Croque-Arete) einfältig mit Kaulquappen gespielt hatte.
So wie der Haß gegen die Gewalt geht auch die Erkenntnis, daß Verdienste selten anerkannt werden, auf meine früheste Jugend zurück. (Ich habe im Laufe meines Lebens tausend Beispiele dafür erlebt, das erste ist daher das einzige, das mich in Erstaunen versetzte.) Stets hatte ich in den Jugendbüchern und selbst in den anderen Büchern die entgegengesetzte Illusion gefunden. Es handelte sich damals um einen alten Schulmeister, einen schlichten Mann, dessen erstaunliche mathematische Fähigkeiten meine Verwandten und ich vielleicht als einzige erkannt haben; es war der Lehrer von Vroncourt.
Ich war damals noch sehr jung und hatte nur festgestellt, daß man durch seine Erklärungen jede Rechnung sofort verstand.
Da ich seit langem meine Verse in für mich lesbaren Buchstaben schrieb, die ich denen in den Büchern nachgeahmt hatte, erkannte man, daß es für mich an der Zeit sei, schreiben zu lernen, wie alle es lernten. In jenem Jahre fragte mich Monsieur Laumont der Große, der Arzt aus Bourmont, ernsthaft (wie er immer sprach), warum ich keine Prosawerke verfaßte. Ich nahm eine Geschichte in Angriff, die den Titel Hélènes Streiche trug. Sie begann so:
»Hélène war sehr böse und sehr eigensinnig.« Es war eine Sammlung meiner eigenen Streiche, die ich der Moral wegen mit einer abschreckenden Strafe abgeschlossen hatte.
Hélène, die bei einem alten Arzt eine kleine Enzyklopädie gestohlen hatte (einen Lederband, in dem alles namentlich aufgeführt war, was man lernen kann), wurde verurteilt, einen Monat lang kein anderes Buch in die Hand zu nehmen als eine dicke Grammatik, die sie bestimmt nicht gestohlen hätte, um sie sich zu verschaffen.
- Oh! Kleines Ungeheuer, sagte mir Monsieur Laumont, ich ahnte wohl, daß Sie mein Buch genommen hatten! Behalten Sie es, kleiner Taugenichts!
Man entdeckte in Hélènes Geschichte noch vieles andere! Ist nicht jeder von seiner Kindheit an im Guten und im Bösen zu allem fähig, was in seiner Natur liegt?
Am meisten berührte mich, daß ich das Buch nicht mehr zu verstecken brauchte, wenn ich über die geheimnisvollen Benennungen nachsinnen wollte, von denen ich mir einbildete, sie enthielten das menschliche Wissen, als könne das stets Vorwärtsstrebende in was auch immer eingesperrt werden. Hélènes Geschichte wurde mein letztes Werk in Druckbuchstaben. Da zu Hause niemand gut schrieb, und da man mir weniger Zeit lassen wollte, um mich zu beschäftigen, wie es mir paßte, ging ich jeden Tag in die Dorfschule.
Der Lehrer hieß Michel, war aber nicht mit mir verwandt. Wie vielen Michels bin ich begegnet!
Ich hatte bald Mittel und Wege gefunden, aufzupassen und dabei trotzdem Unsinn zu treiben.
Als uns der Herr Lehrer, wie wir sagten, von seinem großen Holzsessel aus, dem Katheder, lange genug empfohlen hatte, beim Diktat ganz genau mitzuschreiben, schrieb ich außer dem, was wir schreiben sollten, auch sorgfältig alles auf, was nicht zum Mitschreiben gedacht war. Das ergab etwas in dieser Art:
»Die Römer waren die Herren der Welt (Louise, halten Sie Ihre Feder nicht wie einen Stock; - Semikolon), - aber Gallien widerstand lange ihrer Herrschaft. (Ihr Kinder von der Höhe von Queurot kommt ziemlich spät; - Punkt. Ferdinand, putzen Sie sich die Nase. - Ihr Kinder von der Mühle, wärmt euch die Füße). - Cäsar schrieb diese Geschichte, etc.«
Ich fügte sogar Dinge hinzu, die der Herr Lehrer nicht sagte, wobei ich nicht eine Minute verlor und eifrig kritzelte.
Die Wut des Herrn Lehrer hätte mich ebenso kalt gelassen wie die üblichen Vorwürfe, wenn er mir nicht kühl gesagt hätte: Wenn der Inspektor das sähe, würde ich Ihretwegen entlassen werden!
Eine große Traurigkeit bemächtigte sich meiner; ich fand keine Antwort, selbst als er mir verbot, ihm künftig noch Rosenblätter für seinen Tabak mitzubringen.
Immer hatte ich sie ihm mitgebracht, im Winter trockene, im Sommer frische: er tat gern etwas davon in seine Tabaksdose aus Kirschbaumrinde, die einen kleinen Deckel hatte, den man mit einem Lederriemchen aufzog.
Am folgenden Tag war mein Diktat tadellos; aber acht Tage lang drehte ich in der Schürzentasche unter dem strengen Blick des Herrn Lehrer das weiße Papier mit den getrockneten Rosenblättern, die ich, wenn auch ohne Hoffnung, für ihn vorbereitet hatte.
Schließlich, als er merkte, daß ich dem Weinen nahe war, bat er mich darum, und nachdem ich wieder Gnade gefunden hatte, heckte ich nie mehr Streiche aus, zumindest keine, die der Inspektor dem Herrn Lehrer hätte vorwerfen können.
Obwohl der alte Lehrer so wenig verdiente, daß er während des langen Sommers, in dem die Kinder in unseren Dörfern nicht in die Schule gehen, alle möglichen kleinen Arbeiten verrichtete, war er immer fröhlich; nie habe ich ein bitteres Wort aus seinem Munde vernommen.
Die Schule von Vroncourt ist ein düsteres Haus mit nur zwei Räumen: der größere, zur Straße hin, ist das Klassenzimmer; der andere, in dem es niemals hell wird, geht auf den grasbewachsenen Hang hinaus; das Fenster befindet sich wie eine Kellerluke in Höhe des Erdbodens: das ist die Wohnung des Lehrers. Dieses Fenster hatte wie das Klassenfenster winzige Scheiben und Kattunvorhänge.
Den ganzen Winter über nähte die Frau des Lehrers (die Frau Lehrer) am Fenster des Klassenzimmers; ihr Profil, das ein wenig streng unter der großen weißen Haube hervorschaute, schien mir sehr schön zu sein. Neben ihr saß an den Tagen, an denen wir Religionsunterricht hatten, meine Tante Victoire, um sich zu überzeugen, ob ich gut gelernt hatte.
Die Tische standen in Reihen an drei Seiten, nur die Wand mit der Tür blieb frei. Dort standen zwei oder drei Bände für die Kleinen, die nicht schrieben (und für einige Große, die, wie man sagte, sehr schöne Hände hatten und auf den Knien schrieben) ; man brauchte sich nicht mehr darum zu sorgen, wie sie malten, und darauf waren sie sehr stolz.
Trotz der fünf Schriftarten, die man mir in der Schule von Vroncourt beibrachte, und der schönen englischen Schrift, die ich in der Lehrerschule von Chaumont lernte, schrieb ich bald wieder wie alle bei uns zu Hause, indem ich die Worte eng beieinander zusammenrollte oder zerhackte und entsprechend den Gedanken meine Schrift veränderte; darum ist es ziemlich schwierig, sie nachzuahmen.
Dennoch gelang es jemandem. Vor zwei Jahren erhielt meine arme Mutter einen recht gut nachgeahmten Brief (die Unterschrift war ein Meisterwerk), der sie glauben lassen wollte, ich sei sehr krank und würde sie bitten, nach Saint-Lazare zu kommen: - das war ein Verbrechen. Es wurde ein zweites hinzugefügt in Form eines (wie es scheint, sehr gut nachgeahmten) Gnadengesuchs, das als Grund einen Besuch bei meiner Mutter angab. Der Fälscher wußte nicht, daß ich gerade in diesem Augenblick seit einigen Tagen bei ihr war.
Kommen wir auf die Vergangenheit zurück.
Ich hatte festgestellt, daß der Herr Lehrer allein durch seine Art, eine Frage zu stellen, auf die Antwort hinlenkte. - Er stieß uns, wie man so sagt, mit der Nase darauf.
Die Rechnung, die sich an der Tafel unter dem Atem des alten Rechenkünstlers vollzog, wenn er mit seiner langen Haselrute auf die Zahlen wies, hatte etwas von einer Vision: sein Auge wachte über die ganze Anordnung der Zahlen, und mir schien, als hätten die von ihm gestellten Fragen einen Rhythmus.
Ich hatte meinem Großvater davon erzählt, und eines Abends hörte ich ihn mit dem Herrn Lehrer über so viele Dinge sprechen, die meinen armseligen kleinen Problemen fernstanden, daß ich bis in alle Ewigkeit hätte zuhören mögen. An jenem Tage entdeckte ich, daß der Herr Lehrer ganz einfach ein Zahlengenie und außerdem noch ein großer Astronom und Dichter war. Ich erkannte auch, daß Algebra leichter ist als Arithmetik.
- Warum, fragte mein Großvater, haben Sie nicht über die Mathematik geschrieben?
Daraufhin lachte der alte Schulmeister traurig und spöttisch. Es folgten einige Bemerkungen, die ich erst viel später verstand, aber das Lachen war mir aufgefallen, und auch ich lachte, wenn ich in den Büchern von dem anerkannten Verdienst und der belohnten Tugend las.
Ich habe die Schlichtheit des alten Schulmeisters oft bei verdienstvollen Leuten wiedergefunden. An ihn mußte ich eines Tages denken, als der Kommandant der Virginie von seiner Nordpolreise erzählte. Der alte Seebär, den an jenem Tag der Sturm, die hohe See am Kap und die Ströme, die über das Deck fluteten, elektrisierten, erlebte diese Reise wieder und ließ es die anderen miterleben.
- Warum haben Sie darüber nicht geschrieben?
Ich bin kein Literat, und außerdem haben sich die Gelehrten mit all diesen Dingen beschäftigt.
Wie viele Gelehrte sind so gute Literaten wie er und wie viele haben erlebt, was sie schreiben?
Solange den Studien keine enzyklopädische Methode zugrunde liegen wird, so daß sie den Horizont erweitern, statt ihn einzuengen, werden zu all den Hindernissen der Armut, die dem alten Lehrer die Hände banden, die Hindernisse der Voreingenommenheit hinzutreten, die einem Furcht einflößen vor dem, was nicht zu den Forschungsobjekten gehört, so wie es dem Kommandanten der Virginie widerfuhr.
Hängt nicht alles mit allem zusammen? Heißt es nicht, der menschlichen Entwicklung und der Entwicklung der neuen Sinne Fesseln anlegen, wenn man nicht nach allgemeinen Gesichtspunkten verfährt?
Nur dann, wenn das vielseitige Ganze erfaßt ist, kann jeder in Übereinstimmung mit dem ganzen Gemälde seine kleine Ecke durchforschen, doch das wird erst mit dem übrigen kommen.
Ein anderes Gefühl, das ich wiederholt erlebt habe, ist die Traurigkeit, die einen ergreift, wenn ein Tier umgebracht werden muß, dem man keine Gnade widerfahren lassen kann, ohne andere zu gefährden. Man hält in seinen Händen das Schicksal dieses Geschöpfes, das leben will.
Haben Sie schon einmal eine Viper mit durchschnittenem Hals gesehen? Die Stücke winden sich, versuchen, sich wieder zu vereinigen. Man erlebt dabei ein solches Entsetzen, aber es mußte sein. Die Viper hätte jemanden gebissen.
Einmal, oben in den Weinbergen, hatte man eine arme Wölfin umzingelt, die ihre Kleinen zwischen den Pfoten hatte und heulte. Ich gestehe, daß ich für sie um Gnade bat, was man mir selbstverständlich nicht gewährte.
Aber sei das Mitleid, das einem das Herz erschüttert, noch so groß, das schädliche Wesen muß verschwinden, und ich würde die Gnade, die ich als Kind für die Wölfin erbat, nicht für gewisse Männer erbitten, die gegen das Menschengeschlecht schlimmer sind als Wölfe.
Bei solchen, die - wie die Zaren - als einzelne die Sklaverei und den Tod einer Nation verkörpern, würde ich nicht mehr Zögern oder mehr Aufregung zeigen, als beseitigte ich auf dem Wege eine gefährliche Falle.
Diesen Mann kannst du getrost erschlagen.
Falls ich jemals die Gelegenheit haben sollte, würde ich stets so empfinden, heute wie gestern und morgen.
Man hat mir oft vorgeworfen, daß ich mehr Sorge für die Tiere als für die Menschen empfinde: warum sollte man die Bestien bedauern, wenn die vernünftigen Wesen so unglücklich sind?
Aber es hängt alles zusammen, von dem Vogel, dessen Nest man zertritt, bis zu den Nestern der Menschen, die der Krieg dezimiert. Das Tier krepiert vor Hunger in seinem Loch, der Mensch stirbt daran in fernen Gegenden.
Und das Herz des Tieres ist wie das Menschenherz, sein Gehirn ist wie das des Menschen, nämlich fähig, zu fühlen und zu begreifen. Man mag noch so sehr darauf treten, die Wärme und der Funke darin erwachen immer wieder.
Bis zur Blutrinne des Laboratoriums vermag das Tier Liebkosungen oder Grausamkeiten zu empfinden. Am häufigsten wird ihm die Grausamkeit zugedacht: Wenn eine Seite des Tieres durchforscht ist, dreht man es um, um die andere Seite zu durchwühlen; wenn es manchmal trotz der Fesseln, die es am Bewegen hindern, die Lage des zarten Fleischgewebes verändert, an dem man arbeitet, wird es durch eine Drohung oder einen Schlag belehrt, daß der Mensch der König der Tiere ist; es geschieht manchmal auch, daß der Professor während einer beredsamen Demonstration das Skalpell in das Tier sticht wie in ein Knäuel; man kann nicht gestikulieren, wenn man so etwas in der Hand hat, nicht wahr? Und da das Tier ohnehin geopfert ist, macht das ja nichts mehr aus.
Sind diese Vorführungen nicht seit langem ebensogut bekannt wie die sechzig und mehr Operationen, die man in Alfort an demselben Pferd durchführt; Operationen, die niemals nützen, aber das auf seinen blutenden Füßen mit den abgerissenen Hufen zitternde Tier quälen?
Wäre es nicht besser, mit allem Schluß zu machen, was bei der Inszenierung der Wissenschaften unnütz ist? All das wird ebenso fruchtlos sein wie das Blut der kleinen Kinder, die von Gilles de Retz und anderen Wahnsinnigen im Kindesalter der Chemie umgebracht wurden. Statt Gold ist eine Wissenschaft aus den Schmelztiegeln des großen Werkes hervorgegangen; aber sie ist daraus hervorgegangen, weil man dem Verfahren der Natur der Elemente folgte, die die Chemie zerlegt und eines Tages wieder zusammensetzen wird.
Vielleicht wird die neue Menschheit statt des fauligen Fleisches, an das wir gewöhnt sind, chemische Verbindungen besitzen, die mehr Eisen und nahrhafte Grundstoffe enthalten als das Blut und das Fleisch, das wir verzehren.
O ja, ich träume schon von der Zeit, da alle Brot haben werden, von der Zeit, da die Wissenschaft die Köchin der Menschheit sein wird; ihre Küche wird dem Gaumen des menschlichen Tieres vielleicht im ersten Augenblick nicht schmeicheln, aber sie wird weder voll Trichinen noch verfault sein,und sie wird den von langer Hungersnot oder den langen Ausschweifungen der Vorahnen entkräfteten Generationen wieder kräftigeres und reineres Blut geben.
Dann wird alles allen gehören, selbst die Diamanten, denn die Chemie wird es verstehen, Kohle zu kristallisieren, wie sie es versteht, aus dem abgebrannten Diamanten wieder Kohlenasche zu machen.
Es ist wahrscheinlich, daß dann die Wissenschaft, die sich aller Kräfte der Natur bedienen wird, viele andere Reichtümer und schönere Triumphe aufweisen wird als den gemein gemachten Diamanten.
XII.
Ich habe den Elementarunterricht nur kurz erwähnt und möchte jetzt noch ein paar Worte darüber sagen.
Zuerst über die Toten: ein großer alter Herr mit schneeweis-sem Haar unterrichtete in den Abendkursen dieser rue Hautefeuille. die wir so sehr mochten, ein recht nützliches und im Unterricht unbekanntes Fach: die Stenographie, mit deren Hilfe man so vieles abkürzen könnte. Man hat so wenig Zeit für das Studium, und man verschwendet sie so.
Niemals habe ich ein Gesicht mehr Güte ausstrahlen sehen wie bei dem ehrwürdigen Grosselin.
Wer ist denn noch gestorben während der zehn Jahre der Deportation und meiner zwei Gefängnisjähre? Seither habe ich die Zeitungen nicht mehr gelesen und weiß daher nicht, wer dahingegangen ist.
Die unter dem Kaiserreich als junge Lehrerinnen tätig waren oder sich auf diesen Beruf vorbereiteten und die es all das zu wissen drängte, wovon die Frauen sonst nur hier oder dort etwas aufschnappen, kamen in die rue Hautefeuille, um ihren Durst nach Wissenschaft und Freiheit noch mehr zu stillen.
Wie viele gute Freundschaften wurden dort geschlossen; manche wurden durch den Tod unterbrochen; andere gingen unter in diesen umwälzenden Ereignissen, die uns hin und her geschleudert haben wie das Korn vom Getreidesieber durchgeschüttelt wird!
Die Lebenden sollen nur mit ihren Anfangsbuchstaben erwähnt werden.
Wer weiß, was mit ihnen geschähe, wenn man entdeckte, daß wir in dem kleinen Saal der rue Hautefeuille oft nebeneinander gesessen haben?
Was! Sie kennen Louise Michel? Marsch, zu ihr ins Gefängnis; nur Anarchisten kann sie bekannt sein.
Hat diese Elende nicht hundertmal erklärt, daß alle am Festmahl des Lebens teilhaben sollen? Woraus würde die Freude am Reichtum bestehen, wenn man sein Befinden als Vollgefressener nicht mehr mit dem der Hungerleider vergleichen könnte? Wo bliebe das angenehme Gefühl der Sicherheit, vergliche man nicht seine gute, gediegene Stellung mit der Lage derer, die sich im Elend dahinschleppen?
Und das ist auch noch eine Frau! Das ist der Gipfel! Könnte man sie bloß mit dem Gedanken irreführen, daß Frauen ihre Rechte bekommen werden, wenn sie die Männer darum bitten; aber sie besitzt die Unverschämtheit, zu behaupten, das starke Geschlecht sei ebenso Sklave wie das schwache, es könne nicht geben, was es selbst nicht besitze, und alle Ungleichheiten werden mit einem Schlag wegfallen, wenn Männer und Frauen ihre Kraft für den entscheidenden Kampf geben.
Dieses Ungeheuer behauptet, daß wir, Männer und Frauen, nicht verantwortlich wären, und daß es die menschliche Dummheit sei, die das ganze Übel verursache; daß die Politik eine Form der Dummheit sei, die es nicht verstehe, die Grenzen ihrer kleinen Eitelkeiten zu dehnen, auf daß es der unermeßliche Stolz des Menschengeschlechts werde.
Wenn dieses Weib da die einzige wäre, so würde man sagen: sie ist ein pathologischer Fall. Aber es sind Tausende, Millionen, die sich einen Dreck um jede Autorität scheren und die auf ihrem Weg wie die Russen schreien: Boden und Freiheit.
Jawohl, meine Herren, es sind Millionen, die sich einen Dreck um jede Autorität scheren, weil sie die kleinen Werke gesehen haben, die dieses alte Werkzeug mit den mannigfaltigen Schneiden, das man Macht nennt, vollbracht hat.
Sehen wir nicht seit allzu langem dem Gemetzel zu, das für dieses kleine Ding da stattfindet? Man könnte es wirklich für ebenso kostbar halten wie das Jadebeil, das die Bewohner der Insel Bourou von Insel zu Insel gerettet haben.
Diesmal ist es nicht eine neue Bevölkerung, die daraus hervorgeht, sondern ein Bevölkerungsrückgang bei den Regierten und die Verblödung der Regierenden.
Los, ins Wasser mit den verfaulten Institutionen, mögen die Menschen bewußt und frei leben!
Manche sind Vorsitzende des Elementarunterrichts gewesen, ohne damals zu ahnen, welche Handlungen die Autorität sie begehen lassen würde.
Wissenschaft und Freiheit! Wie wohltuend und belebend waren diese Dinge, die wir unter dem Kaiserreich in dieser verlorenen kleinen Ecke von Paris einatmeten!
Wie wohl fühlten wir uns dort an den Gruppenabenden und auch an den Tagen der großen Zusammenkünfte, wenn wir den zahlreicheren fremden Frauen den ganzen Saal überließen!
Wir, der kleine Haufen der Enthusiasten, setzten uns in das Viereck neben dem Pult, wo der Kasten mit dem Skelett zusammen mit einer Menge anderer Dinge stand, deren Nachbarschaft uns gefiel.
Von dort, aus dem tiefen Dunkel, hörten und sahen wir viel besser.
Der kleine Saal quoll über von Jugend und Leben; man lebte voraus, weit voraus, in der Zeit, da alle anders leben werden als die Lasttiere, deren Arbeit und Blut man ausbeutet.
Besonders fünf oder sechs Jahre vor der Belagerung bildete die rue Hautefeuille im kaiserlichen Paris eine saubere Zuflucht, wohin der Aasgeruch nicht drang; zuweilen grollte in den Geschichtsvorlesungen die Marseillaise, und es roch nach Pulver.
Wo nahmen wir nur die Zeit her, mehrmals in der Woche an diesen Vorlesungen teilzunehmen? Da gab es Kurse in Physik, in Chemie, in Jura sogar; wir probierten dort Methoden aus. Wie konnten wir neben dem Unterricht noch selber Vorlesungen halten? Ich habe nie verstanden, daß die Zeit so dehnbar sein kann! Es stimmt natürlich, daß wir sie nicht vergeudeten, und daß wir die Tage streckten; Mitternacht erschien uns früh.
Einige von uns hatten, mit unermüdlichem Eifer, das Studium für das Abitur wiederaufgenommen; erneut hatte mich meine alte Leidenschaft, die Algebra, gepackt, und ich konnte (diesmal mit Gewißheit) feststellen, daß man in der Mathematik, sofern man kein Idiot war, den Lehrer entbehren konnte (wenn man beim Lernen keine Formel übersprang und keine Aufgabe ungelöst ließ) .
Eine wahre Wissenssucht erfüllte uns, und wenn wir uns zweioder dreimal wöchentlich Seite an Seite mit unseren fortgeschrittensten Schülerinnen,die wir ab und zu mitbrachten, selbst auf die Bänke setzten, dann war das für uns eine Erholung; glücklich und stolz achteten sie kaum noch auf die Zeit.
Je mehr wir für all diese Dinge entflammten, um so häufiger kamen uns Augenblicke kindlicher Fröhlichkeit. Wir taten gut daran.
Wie viele Karikaturen, Verrücktheiten, Schlingeleien (übermütige Streiche) gaben wir zum Besten! Ich glaube, wir glichen öfter Studentinnen als Lehrerinnen.
Ich erinnere mich an einen Abend, wo wir die Methode Danel ausprobiert hatten, nach welcher, wie in England und Deutschland, die Namen der Noten nach Buchstaben des Alphabets bezeichnet werden (mit dem Unterschied, daß man sie ohne Linien schreibt) ; wir kamen spät aus der rue Hautefeuille, es fuhr kein Omnibus mehr, und wir kehrten zu Fuß zu unseren Buden zurück; ein Blödian fing an, mir zu folgen; als ich ihn so auf seinen langen Storchenbeinen einherstaken sah, machte es mir zuerst Spaß, diesen unter den Straßenlaternen entlanggleitenden Vogelschatten zu betrachten.
Dann verlor ich die Geduld, ihn diese Blödheiten wiederholen zu hören, die bei Leuten gebräuchlich sind, die nicht wissen, ob man ihnen antworten wird, und das verdarb mir den phantastischen Vogel, der auf seinen hohen Stelzen dahertrottelte; so schaute ich ihm ins Gesicht, und mit der dröhnendsten Stimme fing ich an, die Tonleiter Danels herunterzuleiern: D, B, L, S, F, M, R, D1[1]
Die Wirkung war niederschmetternd.
War es der etwas männliche Tonfall oder die durch die vier letzten Buchstaben gebildeten seltsamen Silben, ich bin nie dahintergekommen: jedenfalls war der Vogel verschwunden.
Ein andermal kehrte ich ziemlich spät zu Fuß heim und steckte in einem weiten Mantel, der mich völlig einhüllte, ein großer Samthut beschattete mein Gesicht, und ich trug meine neuen Halbstiefel, deren Absätze, ich weiß nicht warum, einen höllischen Lärm machten; in den Zeitungen wurde viel von nächtlichen Überfällen geredet, und ein biederer Bürger, der meine Stiefel dröhnen hörte und die von der Seite kommende Gestalt nicht richtig erkennen konnte, setzte sich so erschrocken in Trab, daß ich auf die Idee kam, ihm eine Weile zu folgen, um ihm richtig Angst einzujagen.
Er lief und lief und blickte um sich, ob ihm niemand zu Hilfe käme! Die Nacht war stockfinster, die Straßen verlassen, der Bürger hatte eine Heidenangst und ich einen Heidenspaß.
Er beschleunigte seine Schritte, so sehr er konnte, und ich ging im Schatten und ließ meine Absätze dröhnen: das war es, was sein Entsetzen aufrechterhielt.
Ich wußte nicht mehr, in welchem Stadtviertel ich mich befand, als ich den Bürger laufen ließ und ihm nachrief: So ein Schafskopf!
Ich mußte zurück, und in dieser Nacht kehrte ich sehr spät oder vielmehr sehr früh am Morgen heim; denn ich hatte in der Nacht die Leute gesehen, die von ihren Opfern leben oder selbst Opfer sind: eine Nacht dieser sogenannten zivilisierten Gesellschaft.
Es sind mir darüber schauerliche Strophen übriggeblieben, die ich bei meiner Rückkehr niederschrieb, während Mme Vollier (trotz meiner tagtäglichen Vorsichtsmaßnahme, die Uhr zurückzustellen) mich schalt, die arme Frau, wie meine Mutter es getan hätte, und sich gleichzeitig um die Müdigkeit sorgte, die ich am nächsten Tag einfinden würde nach diesem langen Lauf, von dem ich ihr erzählte. Hier sind die Strophen:
All ihre verruchten Urnen hat die Finsternis ausgeschüttet,
Und die dunkle Nacht ihre schweigsamen Gespenster.
Das drohende und graue Wasser ruht, in seinem tiefen Bett,
Immer gähnender Abgrund in der düsteren Stille,
Plötzlich hört man, wie von einer Brücke
In dieses unendliche Unbekannte etwas fällt.
Während unter dem Flimmern der blassen Straßenlaternen
Das tiefste Elend durch die Nacht schreitet.
Ein Gespenst, schrecklicher als die kalten Leichen;
Geister unter den Türen, im Dunkel lauernd;
Geister schleichen ohne Namen und Schatten
Von anderen Geistern verfolgt.
.................................................................................
Oh ja! ich habe viele gesehen, Banditen und Dirnen,
Und habe mit ihnen gesprochen. Glauben Sie, daß sie geboren sind.
Um zu sein, was sie sind und ihre Lumpen zu schleppen
In das Blut und den Schlamm, zum Bösen vorbestimmt?
Nein, Ihr habt sie zu dem gemacht, Ihr, für die alles Beute ist,
Was sie heute sind.
Ja, ich habe viele von ihnen gesehen, Banditen und Freudenmädchen, und ich habe mit ihnen gesprochen. Wie viele mehr habe ich seither gesehen und wieviel erzählten sie mir!
Glauben Sie, daß man zur Welt kommt mit einem Messer in der Hand, um zu morden, oder einer Karte in der Hand, um sich zu verkaufen? Man kommt auch nicht mit einem Stock aus Blei, um Häscher zu werden, oder mit einem Ministerposten, um vom Schwindelgefühl der Macht ergriffen zu werden und Nationen zu ihrem Zusammensturz zu führen.
Kein Bandit, der nicht ein ehrlicher Mensch hätte sein können! Kein ehrlicher Mensch, der nicht fähig wäre, Verbrechen zu begehen in dem Durcheinander, in das uns die alte verdammte Welt schleudert!
Diesen selben Jules Favre, der seine Hände in das Blut von Paris tauchte, weil ihn die Macht vergiftet hatte (wie sie das Blut im Gehirn all dieser vergiftet, denen man dieses Nessusgewand anlegt) , diesen selben Jules Favre hatten wir wie einen Vater geliebt, und er zeigte uns seine väterliche Güte.
Wie oft habe ich, unter dem Vorwand, daß er unser Vorsitzender war, Leute zu ihm geführt, die die Beratung eines Rechtsanwalts brauchten und sie nicht bezahlen konnten!
Ich erinnere mich daran, daß ich ihm eines Tages eine Alte gebracht hatte, die ein wenig unter Verfolgungswahn litt und beruhigt werden mußte, um sie vielleicht zu heilen! - Er hatte ziemlich viel Zeit damit vertan, sie zu Verstand zu bringen -
Jules Favre kam ganz aufgebracht zu mir.
Der stumpfe Winkel, den seine Stirn und sein Kinn bildeten, hatte sich zu einem rechten Winkel verschlossen, es war ein schlechtes Zeichen.
Das ist der Gipfel, sagte er mir leise, während sich die Alte unentwegt verbeugte und murmelte: Schon seit zwanzig Jahren werde ich verfolgt, etc., etc.
Ich sehe noch den Ort vor mir, wo dieses stattfand: neben einer großen Urne, die ihm von seinen Wählern geschenkt worden war. Ich weiß nicht, wieso ich plötzlich diese große Lust zu lachen verspürte und dies so herzlich tat, daß der rechte Winkel im Profil von Jules Favre sich, mit der Stirn als einer geraden Linie und dem Kinn als der anderen, zu dem stumpfen Winkel zurückbildete, wo sein Auge in der oberen Hälfte wie sonst blinzelte; er selbst konnte sich des Lachens nicht erwehren, und die Alte sagte, sich immer noch verbeugend: Vielen Dank! Bis zum nächsten Mal! Bis bald!
Daran dachte ich in Satory und betrachtete den kleinen Tümpel, aus dem die Gefangenen aus ihrer hohlen Hand tranken, wenn sie durstig waren, und der große Regen, der auf sie herunterfiel, den blaßroten Schaum des Tümpels weggefegt hatte (Die Sieger wuschen dort ihre Hände, die oft röter waren als die der Schlachter)
Mir schien, als würde dieser blutige Tümpel aus der Wahlurne von Favre heraussprudeln. Ähnlich, wie wenn man die Flußquellen darstellt.
Wer wird über die Verbrechen der Macht schreiben und darüber, wie ungeheuerlich sie die Menschen verändert, so daß man für immer ihre Verbrechen zerstört, indem man das ganze Menschengeschlecht an ihr teilnehmen läßt?
Man braucht nur die Dinge auszudehnen, damit sie retten, statt zu verderben.
Die Gefühle für die Heimat auf die ganze Welt ausdehnen; das Wohlbefinden, die Wissenschaft auf die ganze Menschheit.
Reicht denn nicht schon der Tod, der uns unsere Lieben entreißt?
Ich komme auf die rue Hautefeuille zurück.
Ein anderer Vorsitzender, bei dem wir uns einiges herausnahmen, war Eugene Pelletan; sein Gesicht, aus dem die Augen unter dichten grauen Brauen wie glimmende Kohlen hervorglühten, strahlte etwas Seltsames aus, das uns an Nicolas Flamel, Cagliostro, kurzum an Gelehrte erinnerte, deren sich die Legende bemächtigt hat; besonders wenn er am Pult stand, hockten wir uns gern in das Kabinett mit dem Skelett; von dort betrachteten und hörten wir zu, gefesselt von der Poesie der Wissenschaft, von den Worten der Freiheit, von der Liebe zur Republik und dem Haß gegen die Cäsaren.
Wie viele Werke, deren Blätter heute verstreut sind, wurden unter diesen Eindrücken begonnen!
Mir ist noch ein umfangreiches Manuskript in Erinnerung mit dem Titel die Weisheit eines Narren, das ich unserem damaligen Vorsitzenden Eugene Pelletan zum Lesen brachte, damit er mir seine Meinung dazu sagte. Erst später habe ich begriffen, welche Geduld er hatte aufbringen müssen, um dieses ellenlange unverständliche Buch zu lesen und einige Stellen darin anzumerken.
- Nein, hatte er geschrieben, das ist nicht die Weisheit eines Narren, es wird eines Tages die Weisheit der Völker sein.
Als ich mein Manuskript nach Hause zurückbrachte, war mir, als schwebe ich in der Luft! Einen großen Teil las ich noch einmal sorgfältig durch, aber dann fehlte mir die Zeit, ich mußte nach den Schulstunden immer mehr Unterricht geben, und die Weisheit eines Narren wanderte zu den anderen Werken. Vielleicht hätte ich dafür einen Herausgeber gesucht, wenn ich die Zeit gehabt hätte.
Auch Maria L... hatte vieles geschrieben. Jeanne B... und vielleicht auch ihre Schwester müssen angefangene Manuskripte gehabt haben. Julie L... und Mlle Poulin (deren Namen ich nennen kann, da sie tot ist) haben viele Verse auf gut Glück verfaßt. Die rue Hautefeuille war in den beiden letzten Jahren vor 71 eine regelrechte Brutstätte der Blaustrümpfe.
Doch Prosa, Verse und Motive wurden in den Wind verstreut; ganz in der Nähe spürten wir den Atem des Dramas auf der Straße, des wirkliche Dramas, des Dramas der Menschheit; die Barden sangen das neue Heldenlied, für anderes blieb kein Raum mehr übrig.
Unsere ganze Begeisterung galt damals den Berufsschulen, weshalb wir Monsieur Jules Simon ins Herz geschlossen hatten. Knapp eine Handvoll junger Mädchen wurden dort vor der Lehre bewahrt und mit einer Berufsausbildung entsprechend ihren Fähigkeiten entlassen; Künstler gingen daraus hervor, und wir sagten: - Da kommt die Republik; wie diese wenigen, so werden alle sein. Ach was!
In der Berufsschule von Mme Paulin fanden sich während der Belagerung Frauen aus allen sozialen Schichten zusammen, und alle wären lieber gestorben als sich zu ergeben. Wir verteilten nach bestem Wissen alle Hilfsmittel, die wir uns beschafften, indem wir von denen, die es abhaben konnten, ein Lösegeld forderten mit den Worten: - Paris muß Widerstand leisten, immer weiter Widerstand leisten. Das war die Société pour les victimes de la guerre[2]
Bis auf einige sehe ich sie alle so vor mir, wie sie früher waren. Ich weiß nicht, wer von ihnen noch lebt, aber sie sind alle standhaft geblieben - sie gehörten nicht zu diesen Helfershelferinnen, die den toten Verbündeten am Tag der Niederlage mit den Spitzen ihrer Sonnenschirme die Augen ausstachen.
Die erste Besucherin, die ich als Gefangene empfangen durfte, war eine von ihnen, Mme Meurice. Bei meiner letzten Verurteilung habe ich hinter den ausgesuchten Zuschauern - unter denen, die es weniger leicht gehabt hatten, hereinzukommen - die schwarzen Augen der einen blitzen sehen, sogar von zweien: die eine war groß, Jeanne B.... die andere klein, Mme F...
Später (wenn ich von ihnen selbst die Erlaubnis erhalten habe) werde ich von den Frauen und den Frauengesellschaften sprechen, angefangen mit dem Comité de vigilance (Wachsamkeitskomitee) bis zu unserer letzten Errungenschaft, der Ligue des Femmes (Frauenliga). Bei dieser Gelegenheit grüße ich sie, all diese tapferen Frauen der Avantgarde, die sich von Gruppe zu Gruppe staffelten wie von Gipfel zu Gipfel.
Hüte dich, alte Welt, vor dem Tag, da die Frauen sagen werden: Es reicht! Sie sind nicht feige, die Frauen; in ihnen hat sich die Kraft zusammengeballt, sie sind nicht verbraucht. Achtung vor den Frauen.
Ab von denen, die, wie Paule Mink, Europa durchkreuzen und das Banner der Freiheit schwenken, bis hin zu der friedlichsten Tochter Galliens, die die große Resignation auf dem Lande eingelullt hat, ja, Achtung vor den Frauen, wenn sie sich, voll Ekel vor allem, was geschieht, erheben werden!
An jenem Tag wird es zu Ende sein, da beginnt die neue Welt.
In den letzten Jahren des Kaiserreichs hatten wir in der rue Thévenot eine kostenlose Berufsschule; jede von uns gab dort dreimal in der Woche ein paar Stunden, und da die Gesellschaft für den Elementarunterricht die Miete übernahm, konnten wir das Haus gut aufrechterhalten; einer unserer Lehrer, den wir den Doktor Francolinus nannten, entfaltete dort eine diabolische Betriebsamkeit. Ab und zu bereitete uns die Polizei des Kaiserreichs die Freude, unserem Unterricht beizuwohnen, das brachte uns zum Lachen, und die Stunde machte mehr Spaß, wenn man den Mann, der Napoleon III. genannt wurde, hin und wieder an seinem gräßlichen Hyänenschnurrbart packte.
Der Unterricht in Literatur und in alter Erdkunde wurde an zwei Tagen von mir und an zwei Tagen von Charles de S... abgehalten, und zwar auf genau die gleiche Weise: wir betonten die reale Seite, die romantisch hätte anmuten können, die Kindheit, die Jugend und die Vergreisung der Städte und der Völker, die dem Leben jeglichen Wesens und dem des ganzen Menschengeschlechts gleichen. Wir ließen die Geisterstädte vor uns wiedererstehen. Meine Freundin, Maria A.... die Direktorin, war mit Julie L... im Faubourg Saint-Antoine gewesen.
Wie oft haben wir einander nach Hause begleitet weit über die Stunde hinaus, da man die Auslagen der Buchhandlungen nicht mehr betrachten und in den draußen angebotenen Büchern nicht mehr blättern und lesen konnte; so kehrten wir heim und waren, ohne es zu merken, viele Meilen zwischen dem Faubourg und der rue du Château-d'Eau hin und her gelaufen!
Wieviel Unsinn trieben wir zusammen an den Abenden, wo wir traurig waren. Dieses schallende Gelächter verscheuchte die Schatten.
Eines Abends weigerte sie sich, mit mir zu einem Photographen zu gehen; ich hatte mir ein scheußliches Porträt verschafft und es noch mit phantastischen Details versehen und sagte mit einem etwas übertriebenen Bourmonter Dialekt zum Photographen: »Mein Herr, ich habe an Ihrer Tür gelesen: Brustbilder. Seien Sie so freundlich, eine Brust an dieses Porträt meines Gatten zu setzen.«
Was für ein Gesicht zog der gute Mann, als ich ihm alberne Erklärungen gab; er war empört, während ich mich lachend in Sicherheit brachte.
Sie wollte auch nicht mitmachen, als ich an einem ersten Ferientag ein Arbeitsvermittlungsbüro betrat, um mich als Köchin, Perle bei braven Bürgern zu verdingen, die mich nach der ersten Mahlzeit, die ich ihnen zusammenzubrauen gedachte, vor die Tür gesetzt hätten!
Es war unweit der Bastille in einem dritten Stock.
Ich hatte keine Papiere (ich hatte sie vergessen, wie ich sagte), aber der Vermittler war vollkommen betäubt von den Namen der kaiserlichen Ganovenbande, bei der ich behauptete, gedient zu haben, und die ich ihm gab, um Erkundigungen anzustellen. Schließlich tat er mir leid, und ich warf ihm die ganze Geschichte ins Gesicht, wobei ich wie eine Verrückte lachte.
Welch ein Blendwerk ist doch die Wirkung von Namen! Diese Lektion, die ich dem armen Teufel erteilt hatte, wog gut und gern das Vergnügen auf, Süßspeisen mit ein wenig Pfeffer zu würzen und mich von Leuten, die an richtige Perlen gewöhnt waren, vor die Tür setzen zu lassen.
Als der Vermittler endlich aus seinem Irrtum erwacht war, begann er mich zu beschimpfen, und ich verließ ihn lachend wie sonst und sagte noch frech zu ihm:
- Lassen Sie sich ein andermal nicht so leicht mit solchen Namen einbonapartieren.
Ich fahre immer fort bei einer Sache, wenn ich schon einmal dabei bin; es gibt eine solche Anhäufung an Geschehnissen seit dem Belagerungsjahr, daß ich damit sonst nie fertig würde.
Unter den Lehrerinnen, denen ich in der rue Hautefeuille begegnete, war Mlle Poulin, Lehrerin in Montmartre, eine der Sorgfältigsten beim Einsammeln von Strandgütern der Wissenschaft. Seit langem zehrte eine Lungenkrankheit an ihr, die sie nicht einmal merkte, und sie häufte soviel Wissen wie möglich an, um sich dann zu ihrem Grab zu begeben.
Ganz am Ende des Kaiserreichs hatten wir in dem Haus Nr. 24 in der rue Houdon unsere beiden Häuser zusammengelegt, nachdem Mme Vollier gestorben war und meine Kusine Mathilde weggegangen war, die einige Monate bei mir verbracht hatte. In den Maitagen 71 habe ich zum letzten Mal das Grab von Mlle Poulin besucht. In der Nacht vom 22. zum 23., glaube ich. Wir waren im Friedhof von Montmartre, den wir mit viel zu wenigen Kämpfern zu verteidigen suchten.
Wir hatten, so gut wir konnten, Schießscharten in die Mauer gehauen, und wäre nicht die Batterie auf dem Hügel gewesen, die uns unter ihr Feuer nahm, und die Geschosse, die in regelmäßigen Abständen von der Seite kamen, wo man hohe Häuser sah, so wäre die Stellung nicht schlecht gewesen.
Diese Geschosse, die die Luft zerrissen, zeigten die Zeit wie eine Uhr an; es war wunderschön in der hellen Nacht, wo der Marmor zu leben schien.
Die Männer gehörten zu derselben Kompanie, mit der ich am ersten Kampftag marschiert war.
Mehrmals waren wir spähen gegangen, mal der eine, mal der andere; dieser Weg durch die von Granaten zerwühlte Einsamkeit gefiel mir; gegen den Willen meiner Kameraden machte ich ihn einige Male, doch stets kam der Schuß zu früh oder zu spät, um mich zu treffen.
Wir hatten schon Verletzte, und ich hatte alle Mühe, die Erlaubnis zu bekommen, noch einmal spähen zu gehen, d.h. ich ging trotzdem. Ein Geschoß, das durch die Bäume fiel, bedeckte mich mit blühenden Ästen, die ich zwischen zwei Gräbern verteilte, dem von Mlle Poulin und dem von Murger, dessen Genie uns anscheinend Blumen zuwarf.
- Donnerwetter! sagte mir einer meiner Kameraden. Sie rühren sich jetzt nicht mehr von der Stelle.
Und dann mußte ich mich auf eine Bank neben dem Grab von Cavaignac setzen.
Aber nichts ist so eigensinnig wie die Frauen; übrigens war ich nicht die einzige, die seltsame Wahrscheinlichkeitsrechnungen verifizierte, und ich wie die Kameraden konnten keine bessere Gelegenheit dazu finden. Das Geschoß fiel immer, bevor oder nachdem wir an der Einschlagstelle vorbeigegangen waren.
Noch eine andere aus der rue Hautefeuille; es war eine ganz kleine, ganz zarte Person, die Musik unterrichtete und noch ganz anderes hätte unterrichten können. Sie ging fast rhythmisch, alles bei ihr war harmonisch .... und andere und noch andere, die glücklicherweise noch leben.
Vieles hatte in der rue Hautefeuille seine Heimstätte: außer den gebührenfreien Vorlesungen des Elementarunterrichts und der Berufsschule gab es noch die Lesestunden für Familienmütter und einen Kurs für junge Leute, bei dem ich eine große Anzahl dieser armen Kinder unterrichtete, die, allzu jung, schon den ganzen Tag arbeiten mußten und niemals eine Schule besucht hatten.
Die erste Gruppe für die Frauenrechte mit Mmes Jules Simon, André Léon, Maria Deraismes versammelte sich oft in der Berufsschule der rue Thévenot. Alles begann oder vielmehr begann von neuem nach der langen Lethargie des Kaiserreichs. Vor allem begeisterten mich die Gedanken der russischen Revolutionäre.
Wie überall, wo die Fortschrittlichsten unter den Männern den Ideen von der Gleichheit der Geschlechter Beifall zollen, konnte ich auch bei den Diskussionen über die Frauenrechte feststellen, was ich vorher wie auch später stets beobachtet habe: daß die Männer, unwillkürlich, durch die Macht der Gewohnheit und der alten Vorurteile, zwar so tun, als wollten sie uns beistehen, daß sie sich aber immer mit dem Anschein begnügen. Die politischen Rechte sind bereits gestorben. Der Unterricht auf gleicher Stufe, der gebührende Arbeitslohn»in den Frauenberufen, damit nicht die Prostitution das einzige einträgliche Gewerbe sei, das war das Reale in unserem Programm.
Heute ist die Zeit vorangeschritten, die große Umwälzung ist für alles notwendig geworden. Ja, die Russen haben recht, die Evolution ist vorbei, die Revolution muß her, sonst erstickt der Schmetterling in seiner Puppe.