Kapitel XVI

XVI.
Mir blieb nur noch meine Mutter, und stark, wie sie war, hätte sie noch lange gelebt, wenn die Brotkrümel, die einige hungrige Kinder wegnahmen (denen man zuerst gab), nicht so teuer gewesen wären.
Leider war das Brot teuer in der dritten Republik!
Über die Beerdigung der armen Frau am 5. Januar 1885 wurde folgendermaßen berichtet.
Da sie nicht mehr litt, habe ich nicht gefragt, hingehen zu dürfen. Da sie tot war, hatte ich nichts mehr zu fragen.

 

IM TRAUERHAUS

Wie an den großen Tagen des Volkserwachens strömten die Menschen aus den düsteren Gassen der Faubourgs.[1] Von allen Seiten strömte das Volk herbei, das echte Volk, das der »Schlupfwinkel« und der Werkstätten.

Vor dem Haus Boulevard Ornano Nr.45 hatte der gewaltige Zustrom jeden Verkehr unmöglich gemacht.

Pünktlich um elf Uhr - allzu pünktlich, denn Tausende von Bürgern kamen in der halben Stunde nach dem Aufbruch - wurde der Sarg auf den Leichenwagen gesetzt.

Bevor Louise Michel nach Saint-Lazare zurückkehrte, legte sie ihrer Mutter ein paar Andenken in den Sarg: eine in rotem Samt gerahmte Photographie von sich, wo man sie auf einen Felsen gestützt sieht; eine Haarsträhne, von einem schwarzen Band zusammengehalten und in einen Strauß roter Immortellen geschlungen, den sie von der Beisetzung ihrer Freundin Marie Ferré mitgebracht hatte; ein Bild von Marie Ferré und schließlich ein paar Blumen, die die Kranke in den letzten Tagen bekommen hatte.

Der Bürger Clemenceau war gekommen, um der Familie sein Beileid auszusprechen und um sich zu entschuldigen, daß er dem Leichenwagen nicht folgen könne.

Zahlreiche Kränze wurden auf dem Sarg und hinten im Wagen niedergelegt; sie trugen die Inschriften: Der Mutter von Louise Michel, L'Intransigeant; La Libre-Pensée; La Bataille (Die Schlacht) etc. Auch viele Sträuße aus natürlichen Blumen lagen zwischen den Kränzen. Louise Michels Kranz trug nur die Worte: Meiner Mutter!

Der Leichenzug setzte sich in Bewegung.

Unmittelbar hinter dem Wagen ging der nächste Angehörige der Verstorbenen, Monsieur Michel, ein weißhaariger Greis, in Begleitung seiner beiden Töchter, Kusinen der Gefangenen.

Dahinter kamen der Bürger Rochefort, sein ältester Sohn, Vaughan und die ganze Redaktion des Intransigeant.

Es folgten die Kampfgefährten der Bürgerin Louise Michel, die mit ihr in der Verbannung waren und in der Presse oder auf der Rednertribüne den revolutionären Kampf fortsetzten. Nennen wir anter anderem: Alphonse Humbert, Joffrin, Eudes, Vaillant, Granger, Lissagaray, Champy, Henri Maret, Lucipia, Odysse Barot, S. Pichon, Pariser Stadtrat; Antonio de la Calle, ehemaliges Mitglied der revolutionären Regierung von Cartagena; Moise, Bezirksrat; Frederic Cournet; Victor Simon und Titard vom Radiaal etc., und viele Deportierte von der Halbinsel Ducos und Zuchthäusler von der Insel Nou.

Erwähnen wir noch die Anwesenheit des Bürgers Deneuvillers, ehemaliger Verbannter von 1871, Korrespondent des Intransigeant in Brüssel; des Bürgers Theleni, Vertreter des Radical des Alpes; von Bariol, Vertreter des Cercle des Droits de l'homme (Kreis für die Menschenrechte) in Vaucluse und dem Var; und von vielen anderen Bürgern, Vertretern der Gruppen aus der Provinz und aus Paris, deren Namen wir leider nicht alle nennen können.

In dieses Gefolge ehemaliger Kämpfer von 1871 und erprobter Männer mischte sich die glühende Jugend der jüngst begründeten revolutionären Gruppen. Sobald sich der Zug in Bewegung setzte, entfalteten diese jungen Menschen (darunter an die hundert Anarchisten) drei rote Fahnen, deren eine folgende Inschrift trug: La sentinelle révolutionnaire du XVIIIe arrondissement (Die revolutionäre Wacht des XVIII. Arrondissements).

Dahinter nahm eine gewaltige Menge die Straßenbreite ein, um Louise Michel zu diesem schrecklichen Anlaß ihre Achtung und ihre Dankbarkeit zu bezeugen.

 

AUF DEM WEG ZUM FRIEDHOF

Seit der Beerdigung Blanquis hat es bis gestern kein eindrucksvolles Schauspiel einer Kundgebung des Volkes in solcher Größe und Majestät gegeben.

Der Leichenzug begab sich durch die Boulevards Ornano, Ney, Barthier und die Porte de Courcelles zum Friedhof Levallois-Perret.

Auf den Böschungen der Wälle standen reihenweise die zahlreichen Schaulustigen. Auch die Mauern, die Dächer und die Fenster auf der gegenüberliegenden Seite waren voll von Neugierigen.

Aus allen Straßen kamen unzählige Arbeiter und Elende, die sich respektvoll an den Wegrand stellten oder sich dem Gefolge anschlossen.

Die Polizei zeigte sich nicht; so ging es den ganzen Weg entlang ruhig zu, und es entstand kein Tumult. Zwei Schutzleute versahen unter der Führung eines Unteroffiziers einen einfachen Ordnungsdienst.

Dennoch waren außerordentliche Maßnahmen getroffen worden, um im Notfall die bewaffnete Meute gegen die Demonstranten loszulassen: in der rue Ordener befand sich die garde republicaine (Republikanische Wache), und den ganzen Weg entlang hatte man in den Wachstuben Polizisten aufgestellt. Im Hof der Kaserne Pepiniere, auf dem Platz Saint-Augustin, stand ein Infanteriebataillon mit dem Tornister auf dem Rücken marschbereit.

An der Porte d'Ornano war das Trauergeleit auf schätzungsweise mehr als zwölftausend Personen angewachsen.

Von Zeit zu Zeit stieg ein mächtiger Ruf »Es lebe die Kommune« oder »Es lebe die soziale Revolution« aus dieser ungeheuren Menge empor.

An der Westeisenbahnbrücke tauchten zwei Kürassiere mit Depeschen auf. Da dieses Hin und Her offizieller Stafetten niemals ein gutes Vorzeichen ist, verdoppelten sich die Rufe »Es lebe die Revolution«. Die beiden Reiter hatten es dann eilig, sich zurückzuziehen, sobald ihre Aufgabe erfüllt war.

Auf dem Boulevard Berthier waren vor der Bastion 49 etwa zwanzig Polizisten unter dem Kommando des Friedensrichters vom XVII. Arrondissement angetreten, jenes Florentin, den man gerade mit einer Medaille geehrt hatte, weil er den Polizeispitzel Pottery gedeckt hatte.

Der Monsieur Florentin hatte sich zweifellos vorgenommen, Wunder zu tun und sich neue Tressen und Medaillen zu holen.

Und tatsächlich, in dem Augenblick, als der Leichenwagen an dem Posten vorbeifährt, sperrt der Florentin, gefolgt von seinen Männern, den Boulevard ab und gibt den Befehl, die roten Fahnen verschwinden zu lassen.

Machtvolle Rufe wie »Es lebe die Revolution! Es lebe die Kommune!« antworten ihm, und die Demonstranten, die einen Schutzwall um die Fahnen bilden, scheinen den Spitzelretter herauszufordern.

Der Bürger Rochefort tritt auf den Friedensrichter zu und sagt zu ihm:

Ihr Verhalten ist einfach eine Provokation; bis jetzt ist alles in bester Ordnung verlaufen; Ihr Eingreifen ist vollkommen fehl am Platze.

Ich habe von Monsieur Gaubet den ausdrücklichen Befehl erhalten, zu verhindern, daß die rote Fahne getragen wird, erwidert Florentin sichtlich beunruhigt.

Die rote Fahne, von der Sie sprechen, entgegnet ihm Rochefort, ist das Banner von Vereinigungen, die das volle Recht haben, die Farbe zu wählen, die ihnen zusagt. Auch hinter dem Sarg Gambettas zogen rote Fahnen, und niemand hat es gewagt, zu verhindern, daß sie entfaltet wurden.

Diese Worte und die energische Haltung der Anwesenden stimmten den besagten Florentin nachdenklich, so daß er sich im Nu beruhigte und sich mit seinen fünfundzwanzig Männern vor den Leichenwagen an die Spitze des Zuges stellte.

Doch wenn die Polizei keine Gewalt anwendet, versucht sie es mit List und Niedertracht, und das war auch gestern der Fall.

Sobald der Wagen an der Porte d'Asnières die Stadtgrenze überschritten hatte, wollten die Polizisten, die sich ihren Schlag vorher überlegt hatten, schnell wieder die Tore schließen, um den Trauerzug abzutrennen und auf diese Weise die Demonstration der roten Fahnen zu verhindern, was ihnen doch sehr am Herzen lag.

Sie hatten aber ihre Rechnung ohne die Entschlossenheit der Revolutionäre gemacht; die Tore gaben dem Druck des Volkes nach. Diesem Umstand verdankten sogar einige nach Paris zurückkehrende Wagen, daß sie nicht kontrolliert wurden.

Ein letzter Zwischenfall: Als der Leichenzug an der Ringeisenbahnlinie entlangzog, kam ein Zug vorbei; alle Reisenden standen an den Fenstern und Türen, und als sie erkannten, daß sie an dem Trauergeleit für Louise Michels Mutter vorbeifuhren, schwenkten viele ihre Hüte und Taschentücher.

So gelangte man nach Levallois-Perret.

 

AUF DEM FRIEDHOF

Die kleine Stadt Levallois-Perret befindet sich in heller Aufregung. Man hatte dort seit langem nicht so viele Menschen gesehen. Vor den Zugängen zum Friedhof waren viele Wagen aufgefahren. Alle Einwohner waren auf den Beinen und standen Spalier an dem Weg, den der Trauerzug nehmen sollte.

Der kleine Friedhof hatte sich geschmückt. Die Tore standen weit offen, und viele Bürger, die es eiliger als andere hatten, drängten sich schon um den für die Beisetzung gewählten Platz.

Dieser Platz war das Grab Ferrés, den die Versailler in Satory ermordeten. Er ruht hier mit seiner Schwester, Marie Ferré, der vertrauten Freundin und ergebenen Gefährtin Louise Michels.

Das Grab ist schlicht, von einem Gitter umgeben und von einer breiten Platte zugedeckt. Der Stein trägt den Namen des Märtyrers und seiner Schwester.

Das Läuten der Glocke verkündet die Ankunft des Leichenzuges. Im Nu hatte die Menge den Totenacker überschwemmt... Kaum daß die Träger mit dem Sarg zu dem Grab gelangen; die Kränze kann man nur vom Wagen zum Grab bringen, indem man sie von Hand zu Hand reicht. Die roten Fahnen werden entfaltet, und die Gräber verschwinden unter ihrer wogenden Flut, die stufenförmig bis zu den Grabmälern ansteigt. Ein in seiner Größe und Majestät ergreifender Anblick.

 

DIE REDEN

Nach einigen Augenblicken des Schweigens und der Sammlung ergreift als erster unser Mitarbeiter ERNEST ROCHE das Wort.

Hier ist eine Zusammenfassung seiner Rede, die häufig von den Zustimmungen der Menge unterbrochen wurde:

 

  • »Wer sind wir Trauernden am Grabe einer schlichten, gütigen Frau, die niemals nach Berühmtheit trachtete?
    »Warum entsteht zu diesem Anlaß eine Verwirrung der verschiedensten republikanischen und sozialistischen Nuancen?
    »Welches Gefühl bewegt uns alle? Was hat uns alle so angezogen? Was ist das, was im Gleichklang der Herzen jeden von uns angesichts dieser Toten mit derselben Hochachtung und derselben Empörung erfüllt?
  • »Laßt es mich aussprechen.
    »Es ist eine unter allen geheiligte Fahne, die die Völker nur zu feierlichen Anlässen aufrichten, eine Fahne, die uns mehr begeistert als die glänzendsten Stoffe: es ist die Fahne unserer Märtyrer, unserer Helden.
    »Der Leichnam Lucrezias brachte die Herrschaft der Tarquinier zu Fall und begründete die römische Republik; die Leichen der am 23. Februar von den Soldaten Louis Philippes niedergeschossenen unbekannten Männer stürzten den Thron des Bürgerkönigs; der Leichnam Victor Noirs erschütterte das Kaiserreich und beschleunigte seinen Zusammenbruch.
    »Was uns vereint, ist der Leichnam der armen Mutter Louise Michels; denn er erweckt im Bewußtsein eines jeden von uns dasselbe Gefühl des Abscheus gegen die Verbrecher, die sie ermordet haben.
    »Ach! Verschanzt euch nicht hinter dem hohen Alter eures Opfers, ihr scheinheiligen Verleumder! Mit diesem Argument könnt ihr das Abscheuliche eures Frevels nicht vertuschen.
    »Natürlich wolltet ihr nicht sie treffen, das wissen wir sehr gut. Ebensowenig wie das Kaiserreich einen persönlichen Haß gegen Victor Noir hegte. Es spielt keine Rolle, ob eure Blutgier einen bescheidenen, einen unbekannten oder einen berühmten Menschen aus unseren Reihen dahinrafft; es genügt das Martyrium, das ihr ihm auferlegt, um gleichermaßen unseren Zorn zu wecken und seinen Ruhm zu begründen.
    »Die armen Frauen! Wer sie gekannt hat, weiß, wie unentbehrlich sie einander waren. Die Mutter lebte von dieser Atmosphäre der Kindesliebe, mit der die Tochter sie umgab. Indem ihr dieser Mutter die Tochter nahmt, habt ihr sie umgebracht, und ihr Tod wird vielleicht ein zweites Opfer nach sich ziehen.
    »Nach ihr wird die Reihe an Kropotkin sein, der in den Kerkern dahinsiecht; dann werden noch die anderen kommen, die weniger bekannt, aber ebenso unglücklich sind.
    »Aber ihr wollt nicht, daß wir uns dieser Toten bemächtigen, daß wir uns um sie scharen mit dem uns alle beherrschenden Gedanken der gerechten Notwehr gegen die Milliardendiebe, die unser armes Land ruinieren, bis sie es meistbietend versteigern können!
    »Wir sind gekommen, um am Grabe- des von den Versailler Kugeln ermordeten Ferré und am Sarge dieser von Schmerz vergifteten Frau das Bündnis zu besiegeln, daß wir in Gefahr, Vergeltung und Gerechtigkeit einander beistehen werden.
    »Im Namen der Freunde und der Mitarbeiter des Intransigeant, für die ich spreche, und im Namen aller Mitkämpfer der kühnen Bürgerin, die die Leiden der Verbannung und die Freuden der Rückkehr mit ihr teilten, bleibt mir noch, zu versichern, wie tief wir den Schmerz unserer Freundin Louise Michel mitempfinden und wie gern wir ihn lindern würden, wenn Freundschaft und Achtung einen solchen Verlust aufzuwiegen vermöchten.«

 

Der Bürger CHABERT sagte in seiner Ansprache:

 

  • »Unter den Sozialisten herrscht an diesem Ort Einstimmigkeit wie am Tage der Schlacht, da alle mit der Waffe in der Hand das Schlachtfeld überfluten werden.
    »Wir alle sind uns einig über das Ziel, wir unterscheiden uns nur in der Wahl der Mittel.
    »Schon sehen wir den Tag aufkommen, da die Forderung nach sozialem Recht erhoben wird, denn die bürgerlichen Opportunisten begnügen sich nicht mehr damit, die Männer zu töten: sie bringen nun die Frauen um.
    »Vereinen wir uns und erklären wir im voraus klar und deutlich, daß wir überhaupt keine Form von Regierung mehr wollen, wenn wir die Macht errungen haben.
    »Das Volk muß dann endlich der Herr sein.
    »Wenn einer von denen, die wir wählen, uns zu täuschen und sich zum Herrscher zu erheben versucht, kann er von uns nur mit dem Tod bestraft werden.
    »Der Kampf, der einsetzen wird, läßt unseren Sieg vorahnen, weil die Situation so ist, daß sich keiner von der Teilnahme an diesem Kampf ausschließen kann.
    »Die Opportunisten lassen sich gehen, weil sie sich auf den Parlamentarismus verlassen; aber in diesen Parlamentarismus schlagen wir die Bresche, und wir sind auch schon im Begriff, das Tor aufzubrechen.«

 

Dann ergreift der Bürger DIGEON das Wort:

 

  • »Im Namen der anarchistischen Gruppen, sagt er, sind wir gekommen, um die Heldin der Kundgebung vor dem Invalidenhaus zu ehren.
    »Ich stimme dem zu: verwirklichen wir an diesem Grab die Vereinigung aller Revolutionäre, aber auf dem Boden absoluter Freiheit und ohne Hintergedanken.
    »Ich möchte nicht schließen, ohne meinen seit so langem angesammelten Haß gegen die Genießenden zum Ausdruck zu bringen, die uns unterdrücken. Wir sind die Enterbten der sozialen Ordnung; deshalb brennen wir darauf, die Gerechtigkeit an die Macht gelangen zu sehen.«

 

Dann würdigt der Bürger CHAMPY Louise Michel; er drückt sein tiefes Mitgefühl aus:

 

  • »Die Revolution, deren Sendbote sie war, muß dem Volk Gleichheit, Wohlstand und Sicherung seiner unveräußerlichen Rechte geben, die es sich durch seine Arbeit erwirbt.«

 

Danach ergreifen die Bürger TORTELIER und ODDIN das Wort.

 

Danach ging die Menge auseinander, wobei sie größte Ruhe bewahrte, was sich auf einfache Weise erklären läßt: es waren keine Polizisten anwesend.

Danke, meine Freunde, Ihr alle, die dabeigewesen sind.

So sehe ich Euch vor mir. Freunde, so werde ich Euch immer, einerlei welcher Gruppe Ihr angehört, sehen, wie Ihr um das Grab meiner armen Mutter standet, in demselben Schmerz und in derselben Hoffnung vereint, daß nach uns niemals mehr eine Mutter gewaltsam von ihrer Tochter getrennt wird, und das in zwei letzten Jahren ihres Todeskampfes.

In dem letzten Brief, den sie am 27. November 1884 diktierte, sagte mir meine Mutter:

 

Meine liebe Tochter,

Mache Dir keine Sorgen, es geht mir nicht schlechter; was mich quält, ist nur, daß Du Dich immer so beunruhigst.

Ich schicke Dir Seidengarn, mach Deine Stickereien weiter; sticke die Meereslandschaften, von denen ich Dir gesprochen habe.

Deine letzte Stickarbeit ist nicht so gut wie die anderen geworden.
Ich sehe, daß Du bekümmert bist, und das ist nicht recht von Dir.

Stricke nicht mehr für mich, ich habe genug; ich brauche nichts mehr; man gibt schon zuviel für mich aus.

Aber vor allem mache Dir keine Sorgen; ich küsse Dich von Herzen.

Die arme Frau log, als sie sagte, es ginge ihr nicht schlechter; denn sie war schon an das Bett gefesselt und sollte nie wieder aufstehen.

Was die besagten Stickereien betrifft, so sind die Meereslandschaften immer noch nicht angefangen; die letzte - »die nicht so gut wie die anderen geworden war«, weil ich fühlte, daß sie sterben würde - stellte die große, ins Herz getroffene Eiche dar, in deren Wunde, aus der der Saft quoll, noch die Axt stak; sie ist ein trauriges Andenken, das der, für den sie angefertigt wurde, ein gewisser Talleyrand-Perigord, um so besser bewahren wird, bevor er früher oder später denselben Weg wie Kropotkin gehen wird und wie die anderen feudalen Söhne, die in ihren Adern das Blut der Tapferen spüren, denn diese feudalen Raubtiere waren zwar Banditen, aber keine Feiglinge.

Die Nadeln, die sie mir schickte, habe ich aufgehoben. Sie werden unbenutzt liegenbleiben, jedoch eines Tages werde ich ihr gehorchen und die Meereslandschaften sticken, von denen sie gesprochen hat.

Hier sind die Abschriften mehrerer Briefe; die einen stammen aus der Zeit, als in Paris die Cholera wütete und ich daher um so mehr ein Recht darauf hatte, meiner Mutter und der Stadt nahe zu sein, die ich in den Tagen der Prüfungen nie verlassen habe; die anderen aus den letzten Lebenstagen meiner Mutter, als ich darum bat, zu ihr gebracht zu werden.

Diese Briefabschriften gehören in das Buch der Toten; ihr Inhalt ist ein zweifacher Todeskampf, der meiner Mutter und der meine.

Wer sich einbildete, daß ich mich mit Fragen der Ernährung beschäftigte, hielt mich wohl für sehr glücklich.

Man behandelte mich gut, aber wenn dem anders gewesen wäre, hätte ich denn etwas anderes als den Kummer meiner armen Mutter empfinden können?

 

Zentralgefängnis von Clermont (Oise), Nr. 1327.

21. November 1884.

Herr Minister!

Ich habe auf der ganzen Welt nur noch meine Mutter. Könnte ich meine Stimme erheben, so würden selbst meine unerbittlichsten Feinde angesichts der gegebenen Umstände, da meine Mutter mir von einer Minute zur anderen auf zweifache Weise entrissen werden kann, um meine sofortige Überführung nach Paris nachsuchen.

Ich verlange weder Besuch noch Briefe in dem Gefängnis, in das ich gebracht werde. Wenn man es so wünscht, werde ich keinen Ausgang haben, doch ich werde in Paris sein und dieselbe Luft atmen, und meine Mutter wird mich dort wissen; dieses Glück kann sie nur lebend empfinden (und nicht tot).

Nehmen Sie die Versicherung meiner Hochachtung entgegen,

LOUISE MICHEL.

Zentralgefängnis von Clermont (Oise), Nr. 1327.

Sonntag, den 15. November 84 (persönlich)

Herr Präsident der Republik!

Ich sage Ihnen die Wahrheit; wenn kein Menschenherz mich zu verstehen vermag, soll sie mein Zeuge sein.

Seit achtzehn Monaten habe ich nicht eine Zeitungszeile gelesen; aber durch die Mauer, die unseren Rundgang vom Spazierweg trennt, ist ein Satzfetzen zu mir gedrungen: In Paris wütet die Cholera; und das schon seit langem, da hilft kein Leugnen.

Da nicht ein einziger daran denkt, daß unter diesen Umständen mein Platz in Paris ist, und sei es in einem unterirdischen Verlies, muß ich es Ihnen sagen: Wenn man mich als Staatsverbrecherin behandelt, so möge man sich daran erinnern, daß ich mich freiwillig in die Hände der Richter begeben habe und daß man mir gegenüber ebenso handeln sollte.

LOUISE MICHEL.

Andere Fragmente von Briefen, in denen ich danach fragte, zu meiner Mutter geführt zu werden.

Ich werde ebenso loyal sein und erkläre mich bereit, als Gegenleistung für einen Urlaub oder den Aufenthalt in einem anderen Gefängnis, das in Paris in der Nähe meiner Mutter liegt, nach Neukaledonien zu gehen, wenn sie nicht mehr lebt; dort habe ich mich schon nützlich gemacht und kann wieder von Nutzen sein, indem ich Schulen für die Eingeborenen gründe.

Der Anfang des Briefes fehlt mir; er war wahrscheinlich an den Innenminister gerichtet.

 

Noch ein anderes Fragment:

Ich habe keine Antwort erhalten und werde vermutlich nie eine bekommen. Wer weiß jedoch in diesen Zeiten, in denen wir leben, ob sich nicht eines Tages einer Ihrer Enkel in derselben Lage befinden wird und bedauert, daß Sie mir nicht geantwortet haben.
Im übrigen handelt es sich nicht um eine politische Frage, sondern um eine Frage, die alle Mütter angeht, denn ich werde leider nicht die letzte Gefangene sein.
LOUISE MICHEL.

Möge dieses Wrack von Erinnerungen ein wenig von dem erzählen, was ich gelitten habe.

Lange Zeit bekam ich keine Antwort; endlich wurde ich nach Saint-Lazare überführt. Hätte man mich eher dahin gebracht, dann wäre meine Mutter, deren starke Natur bei jedem Besuch sofort auflebte, nicht gestorben.

Dennoch erfuhr ich eine gute Behandlung, denn bis zu ihrem Ende habe ich bei ihr bleiben können, und als ich sie so gebettet hatte, wie sie gern lag, verließ ich das Haus für immer.

Sie litt ja nicht mehr. Ich möchte allen gegenüber gerecht sein, besonders den kleinen Leuten gegenüber.

Denn, statt mich zu peinigen, haben uns die Polizisten geholfen, meine Mutter ohne die geringste Erschütterung von einem Bett ins andere zu tragen, so oft sie es wünschte.

Sie hat ihnen dafür gedankt, und ich habe es nicht vergessen.

Sie gehören nicht zu denen, sie sich mit Politik beschäftigen, und ich glaube, daß sie auch nicht zu denen gehörten, die am 24. Mai desselben Jahres im Pere-Lachaise das Volk niederknüppelten. Und schließlich, wer ist für die Zustände verantwortlich, die den Kindern des Volkes angeboten werden, wenn nicht das entsetzliche Getriebe der veralteten Gesetze? Wenn sie auf die Welt kommen, haben die Kinder des Volkes kein Brot in der Wiege.

Möge die Regierung, die mir gegenüber gut gehandelt hat, als sie mich zu meiner sterbenden Mutter ließ, diese Großzügigkeit nach ihrem Tod nicht mit einer Begnadigung beschmutzen.

Was habe ich mehr getan als die anderen, daß diese Frage immer wieder aufgeworfen wird?

 

Eine Begnadigung! An diesem denkwürdigen Jahrestag, dem 14. Juli, an dem ich vor zwei Jahren von Paris weggebracht wurde, wo meine Mutter mich ein Jahr lang wähnte!

Was habe ich denn denen getan, die mich für fähig halten, eine Begnadigung anzunehmen?

Eine Frau ist so etwas Unbedeutendes, daß Freunde wie Feinde nur allzu glücklich sind, wenn sie sie erniedrigen können, selbst wenn sie genau wissen, daß sie keine Schwäche zeigen wird.

In Rußland, in Deutschland, wo man gegen das alte Großwild kämpft, ist der Kampf schrecklicher und daher sauberer; man verschmäht es, die Revolutionäre zu beschmutzen. Dort gibt es den Strick und den Richtblock - und das ist mir lieber.

Eine kurze Bemerkung noch über das Leben meiner Mutter. Wer sie gekannt hat, weiß, wie einfach und gütig sie war, ohne daß es ihr an Intelligenz und sogar einer gewissen Freude am Sprechen gemangelt hätte.

Meine Großmutter erzählte mir oft von all dem Kummer, den meine Mutter tapfer ertragen hat. Ich selbst habe nur ihre unerschöpfliche Hingabe erlebt und die grausamen Schmerzen, unter denen sie von 1870 bis 1885 leiden mußte.

Ich wußte zwar, daß ich sie liebte, aber ich wußte nicht, wie ungeheuer stark meine Zuneigung zu ihr war; als der Tod ihr Leben vernichtete, da habe ich es erst richtig empfunden.

 

Da meine Großmutter, Marguerite Michel, als Witwe mit sechs Kindern zurückgeblieben war, wurde meine Mutter im Schloß Vroncourt erzogen; oft hat sie mir erzählt, wie scheu sie als kleines Mädchen war, als aus dem Nest gefallenes Junges; aber wie sehr hat sie dann jene Menschen geliebt, von denen sie, gemeinsam mit deren Söhnen und Töchtern, erzogen wurde!

Vielleicht werde ich später einmal von ihrem arbeitsamen, bescheidenen Leben erzählen.

Sie trug dazu bei, die anderen nicht merken zu lassen, daß der Wohlstand aus dem Hause geschwunden war, und die Trauer über den Tod zu lindern, der reichlich um sie her zuschlug.

Ich bin ein sogenanntes uneheliches Kind; aber die mir das üble Geschenk des Lebens machten, waren frei, sie liebten sich, und keines der niederträchtigen Märchen über meine Geburt ist wahr und kann meine Mutter erniedrigen. Ich habe niemals eine ehrbarere Frau gesehen.

Niemals habe ich mehr Zurückhaltung und Feingefühl erlebt und niemals größeren Mut; denn sie klagte nie, und doch war ihr Leben voller Schmerzen.

Zwei Tage vor ihrem Tod sagte sie zu mir: »Ich war sehr unglücklich darüber, daß ich dich nicht mehr sehen konnte und daß ich die Freunde soviel kostete.« Es war das einzige Mal, daß sie in so betrübtem Ton zu mir sprach; ihre Stimme, die nur noch ein Hauch war, hatte ein Wimmern zustande gebracht.

Unsere Freunde haben oft erkannt, wie geistvoll meine Mutter war und wie gut sie bei all ihrer Einfachheit sprach. Ich allein weiß, wie gütig sie war, obwohl sie sich Mühe gab, dies zu verbergen; oft gab sie sich gern schroff und lachte darüber wie ein Kind.

Um ihr die letzten Augenblicke zu vergällen, hatten mir anonyme Feinde gedroht, ihre Lähmung als eine ansteckende Krankheit auszugeben. Es ist ihnen nicht gelungen, obwohl nach Cholerazeiten bei der leichtgläubigen Öffentlichkeit alles möglich ist; aber diese Vipern haben ihr Ziel nicht erreicht.

Im Augenblick trösten sie sich darüber, indem sie in meinem Namen gefälschte Briefe an die schreiben, die leichtgläubig genug sind, ihnen zu glauben. Menschen, die man mit solchen Dingen beunruhigen kann, beneide ich um ihr Glück; ich habe kein Gefühl mehr dafür.

Alles Gift der Welt kann auf mich herabfallen, ohne daß ich es überhaupt merke. Es wären nur ein paar Wassertropfen, wo ein ganzer Ozean vorbeigeströmt ist.

O meine geliebten Toten! Mit euch habe ich dieses Buch begonnen, als eine von euch noch lebte; mit euch schließe ich es ab, gebeugt über die Erde, in der ihr ruht.

Wer mich liebt und euch liebte, hat dort für mich einen Platz aufbewahrt.

Beide gestorben!

 

Ja, der Stein im Feuer ist umgestürzt.

Ich sitze allein in dem Zimmer, in dem mir die Freunde das Bett und die Möbel meiner Mutter wie zu ihren Lebzeiten zurechtgerückt haben; ein kleiner Vogel ist durch die Stäbe der Jalousie geschlüpft: er baut sein Nest auf dem Fenstersims.

Um so besser! So ist der Ort weniger verlassen, über ihren ärmlichen, alten Möbeln, die zu ihr wie ihre Kleidung gehörten, flattern die Flügel dieser unschuldigen Tiere.

Sie hören die alte Pendeluhr schlagen, die ihren Tod anzeigte.

Bis bald, meine Geliebte!

Myriam! Möge euer beider Name zusammen mit deinem, Revolution, das Buch abschließen!