XII.
Dieses Kapitel besteht nur aus Bruchstücken von verschiedenen Vorträgen. Zuerst ein Brief, den ich an die Zeitung Le Citoyen (Der Bürger) richtete:
Historischer Satz:
Man darf nicht zulassen, daß die Schweine fett werden.
- Es hat sich für Le Gaulois (Der Gallier) wahrhaftig nicht gelohnt; denn indem er meinen Satz wiederherstellte (zugegebenermaßen nur zu drei Vierteln), hat er ihn zu einer fast höflichen Äußerung gemacht, während es in meiner Absicht lag, daß er schlimmer als eine Beleidigung wurde. Im übrigen wird eine gewisse Person von ihren Freunden ebenso beleidigt, die sagen, man würde ihren Herrn jedesmal angreifen, wenn der Name besagten Tieres ausgesprochen würde, und die dann Majestätsbeleidigung zetern.
Hinzu kommt, daß sie sich aufs Vulgärste äußern, während wir den parlamentarischen Begriff des häuslichen Wildschweines benutzen! Nun, während die Vollgepfropften am Verdauen sind, vergessen wir jedoch nicht jene, die unter dem Hunger und der Kälte leiden, die Tapferen, die 1871 die Wiederkehr des Kaiserreichs verhindert haben und die sich nun ohne Arbeit und ohne Dach auf dem eisigen Pflaster befinden.
Treue Bürgerinnen sprechen darüber, durch eine riesige Konferenz ein Suppenhaus einzurichten, das bis zum nächsten März aufrechterhalten würde und in dem jeder Begnadigte jeden Tag ein Essen vorfinden würde, das ihn am Verhungern hindern sollte.
Wenn man noch dazu ein- oder zweihundert Familien oder alleinstehende Männer fände, die einem arbeitslosen Begnadigten bis da-dahin einen Schlafplatz verschafften, dann hätte das Volk selber seine Brüder aus der Deportation und aus dem Bagno vor dem Tode gerettet.
Damit hätte man angefangen, seine eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen.
LOUISE MICHEL.
(Le Citoyen, 28. Januar 1881)
Erst der zweite Teil dieses Briefes bezieht sich auf die Gründung der Einrichtung »Suppe der Verbannten«, die wir hofften, mit nichts aufzubauen; die Vorträge und die Hingabe der Arbeitenden sollten den Arbeitslosen helfen.
Von denen, die dort die Krümel gefunden hätten, die manchmal ein Leben retten, hätten einige zuweilen mitangepackt.
Und was das Rechnungsbuch betrifft, so stand es immer offen.
Man muß nicht auch noch als Ausbeuter gelten, wenn man seine Zeit und das wenige, was man verdient, investiert.
Diesen Gedanken der Ausbeutung mußte ich während der drei Jahre, die ich nach der Rückkehr in Freiheit verbrachte, erdulden, und zwar dank der Nervensäge eines Haufens Schwachsinniger: Ich hätte Pferde und Wagen! Ich besäße Renten, etc.
Meine arme Mutter, die gute und einfache Frau, hat deswegen oft geweint. Auf beleidigende Briefe folgten Bitten um drei-oder vierhundert und gar mehrere tausend Francs, während wir keine hundert Sous im Hause hatten!
Wenn man einen Teil seiner Zeit am Bett der kranken Mutter verbringt und den Rest bei Vorträgen, hat man keine Zeit, zu den Verlegern zu laufen.
Dann arbeitet man mit denen zusammen, die die Zeit hatten, einen Verleger zu finden.
Ach! Wäre ich glücklich, wenn sie doch noch bei mir wäre, die liebe Frau, und wie wenig bekümmerten mich die ganzen Beschuldigungen!
Im übrigen habe ich es mir, was das Geld betrifft, sowohl in Neukaledonien wie auch nach meiner Rückkehr zur Gewohnheit gemacht, alle Quittungen und Belege aufzubewahren, die bei Bedarf beweisen, was ich mit den Summen, über die ich verfügen konnte, angefangen habe.
Ich komme auf den Teil des Briefes zurück, der sich nicht auf die Suppe der Verbannten bezieht; ich will ihn erklären, für den Fall, daß irgendein Leser daran Spaß haben sollte, obwohl es sich dabei nur um eine Kleinigkeit handelt.
In bestimmten Zeitungen ließ man gern glauben, daß ich diesen Gemeinplatz produziert hätte:
»Wenn die Schweine fett sind, schlachtet man sie.« Ich hatte eine Reihe von Vergleichen angestellt und dabei lediglich gesagt, daß das durch Fettwerden verkommene Wildschwein zu einem häuslichen Ferkel werde... Das ist alles.
Jedesmal nun, da eine Anspielung auf den Gefährten von Sankt Antonius gemacht wurde, war für die Reaktionäre die günstige Zeit gekommen, zu sagen, man beleidige eine Regierungspersönlichkeit.
Alles, was fett war, konnte nicht mehr genannt werden; der Name Vitellius war verboten.
Manchmal dachte man nicht einmal an die bewußte Person. Wenn sie noch leben würde, ließe ich mich nicht so kurz darüber aus. Hier ist ein Auszug, auf den der letztzitierte Brief anspielte.
Zartes Probestück von den Plänen der revolutionären Seherin Mlle Louise Michel. Während der sozialistische Studienzirkel des fünften und siebten Arrondissements proklamiert, daß man die Waffen der Revolution wetzen muß, kommentiert Mlle Louise Michel in zwei Briefen ihre jetzt historisch gewordenen Worte: Wenn die Schweine fett sind, schlachtet man sie.
Auszug aus einem Brief an M. Fayet:
Was Ihre Befürchtungen über meine Zukunft betrifft, seien Sie beruhigt, ich werde das Altersheim nicht brauchen. Sie besitzen genügend meiner früheren Verse, um zu erkennen, daß ich stets gedacht habe, es sei besser, wenn ein einziger statt eines ganzen Volkes umkommt.
Die sechs, letzten Zeilen dieses opportunistischen Auszuges sind wahr und werden es immer sein.
Es ist nicht verboten, nur leben zu wollen, wenn man nützlich ist, und es vorzuziehen, aufrecht statt hingestreckt zu sterben.
Außerdem bin ich immer davon überzeugt gewesen, daß ein einziger gegenüber allen nichts bedeutet; nun, der Tyrannenmord ist nur durchführbar, wenn die Tyrannei aus einem einzigen Kopf oder aus einer bestimmten Gruppe von Köpfen besteht. Wenn sie aber eine Hydra geworden ist, dann kümmert sich die Revolution um sie.
Manche werden das Wort durchführbar vielleicht nicht passend finden, aber sind wir denn irgend etwas anderes als für den Kampf mehr oder weniger geeignete Geschosse, und sind wir, unverantwortliche Wesen, die wir sind, es wert, für anderes gehalten zu werden! Diese gefühllose Sprache paßt zu uns, denn der Staub von uns Wilden wird kaum Platz in Anspruch nehmen.
Die Rasse, die wir nicht erleben werden und die, durch die Ereignisse verwandelt, sich entwickeln wird, wird vielleicht erhabenere Worte verdienen.
So sehr Raubtiere wir auch noch sind, so werden wir dennoch versuchen, den Platz für die zukünftigen Menschen zu säubern.
Die Revolution wird die Blütezeit der Menschheit sein, wie die Liebe die Blütezeit des Herzens ist.
Wer dabei sein wird, wird die Heldenzeit betreten und sie als einzige besingen können, und die jetzt noch rudimentären Künste werden sich durch neue Ausdünstungen für alle entwickeln.
Aber inzwischen ist der letzte der Barden, die wie der alte Homer allein sangen, gestern gestorben; wir werden der Chor der Barden sein, die von einem Ende der Welt zum anderen singen und dabei das Wrack der alten Welt zum Schleudern bringen.
Um mit den Vorträgen zum Abschluß zu kommen, sprechen wir von dem in Lille, der anläßlich des Streiks der Spinnerinnen veranstaltet wurde.
Sie standen um uns herum auf der Tribüne, diese Arbeiterinnen aus den Kellern von Lille, die in ihren grauen Holzschuhen so schlecht gegen das Wasser geschützt sind und die die Arbeit vor der Zeit ins Grab bringt.
Um dieses entsetzliche Leben fortzusetzen, verlangten sie nur zwei oder drei Sous mehr am Tag.
Zwei oder drei Sous für das Brot, das denen genügt, die so hart für die Reichen arbeiten; ähnlich werden die Seidenraupen gebrüht, wenn sie ihren Kokon gesponnen haben.
Auch sie müssen sterben, wenn ihre mühevolle Arbeit getan ist; wenn der Faden zu Ende ist, muß auch das Leben zu Ende sein. Wer sollte sie denn auch im Alter versorgen? Sind nicht ihre Töchter, kaum haben sie ihre Wiege verlassen, an dieselbe Folter gefesselt? Die Reichen müssen wohl unbedingt ihre Herden ver-und mißbrauchen.
Die Seidenraupen und die Mädchen aus dem Volke sind zum Spinnen geboren.
Die Raupe wird gebrüht, und das Mädchen stirbt oder krümmt sich wie gebogenes grünes Holz.
Zwei oder drei Sous mehr für ein wenig Brot denen, die den anderen mit ihrer Arbeit Milliarden einbringen!
Man hätte eine Woche lang durchhalten müssen, und die Ausbeuter hätten nachgegeben. Dazu brauchte man zweitausend Francs.
Dank den Reaktionären, die ihre Plätze bezahlten, um die Gelegenheit zu haben, mich zu beleidigen, erzielten wir mit einem einzigen Vortrag die benötigten zweitausend Francs, die von den Organisatoren auf meine Bitte hin sofort in Sicherheit gebracht wurden; daraufhin konnte ich diesen Herren mitteilen, daß wir hätten, was wir brauchten, und daß es ihnen folglich freistünde, mich anzuhören oder sich die Zeit mit Brüllen zu vertreiben, was mir völlig gleichgültig sei, da wir nun im Besitz der zweitausend Francs wären.
Da diese aufrichtige Erklärung sie ernüchterte, verlief der Vortrag ohne weitere Zwischenfälle, und gegen ein Uhr morgens konnte ich in den Zug steigen und zu meiner Mutter heimkehren. Als ein heiliges Andenken nahm ich den Blumenstrauß, den ich von den Arbeiterinnen in Lille bekommen hatte, für Marie Ferrés Grab mit.
Leider machten am Wochenende Übeltäter - ich sage ausdrücklich Übeltäter - ein paar leichtgläubigen Arbeiterinnen weis, daß die anderen in das kapitalistische Zuchthaus zurückkehren wollten; sie betrachteten es als ihre Pflicht, es ihnen gleichzutun, und sahen erst dann, daß man sie getäuscht hatte.
Nun war es zu spät, doch die Lektion wird nicht umsonst gewesen sein.
Hier ist ein Zeitungsausschnitt über die Vorträge vor der Union Ouvriere[1] von Amiens.
Amiens. - Die Union Ouvriere von Amiens hatte fünfzig ihrer Mitglieder unter Führung des Bürgers Delambre beauftragt, die Bürgerin Louise Michel auf dem Bahnhof zu empfangen. Mehr als fünfhundert Personen hatten sich der Abordnung angeschlossen.
Am Nachmittag fand dann auf Betreiben der Union Ouvriere im Cirque Longueville eine Veranstaltung statt, die von fünfzehnhundert Bürgern und Bürgerinnen besucht wurde.
Nach ein paar einführenden Worten des Bürgers Hamet, der den Vorsitz führte, stieg Louise Michel auf die Rednertribüne. Anschaulich stellte sie die Leiden der Arbeiterklasse dar und geißelte die Haltung unserer Regierenden.
Die Männer, die heute an der Macht sind, sagte sie, sind Jesuiten unter dem Deckmantel des Republikaners. Sie schicken die Soldaten nach Tunis, damit sie dort wie in Sedan enden.
Ich fordere die Rechte der Frau, die nicht die Dienerin des Mannes ist. Daß mich unsere Feinde ja nicht loslassen, wenn sie mich eines Tages gefaßt haben, denn ich kämpfe nicht zum Vergnügen, sondern wie ein Mensch, der wirklich kämpfen will und der es an der Zeit findet, den sozialen Verbrechen ein Ende zu machen. Deshalb werde ich im Kampf erbarmungslos sein und auch für mich keine Gnade in Anspruch nehmen; denn ich lasse mich weder durch die Lügen vom allgemeinen Wahlrecht noch durch lügnerische Zugeständnisse täuschen, mit denen man den Frauen angeblich entgegenkommen würde.
Wir machen die Hälfte der Menschheit aus, wir kämpfen gemeinsam mit allen Unterdrückten und werden unseren Anteil an der Gleichheit, die die einzige Gerechtigkeit ist, behalten.
Der Boden gehört dem Bauern, der ihn bestellt, das Bergwerk dem, der es durchforscht, alles gehört allen: Brot, Arbeit, Wissen; und je freier die Menschheit sein wird, um so größer die Reichtümer und die Macht, die sie der Natur abringt.
Die gemeine Menge ist die Zahl, aber wenn sie will, wird sie die Kraft sein, nicht die vernichtet, sondern die befreit.
Anschließend ergriff der Bürger Gauthier das Wort, um seine Gedanken über Kapital und Arbeit zu entwickeln.
Da ich vom Norden spreche, fällt mir eine Vortragsreise ein, die ich zusammen mit Jules Guesde anläßlich eines anderen Streiks machte.
Unterwegs erlebten wir eine lustige Geschichte: Ein biederer Mitreisender erzählte einem anderen von den Begräbnissen berühmter Männer, denen er bereits beigewohnt hatte, und zwar so, wie nicht einmal der Teufel gesprochen hätte, wenn es ihn gäbe. Ich fragte mich, ob das ernst gemeint war. Als ich diese Frage bejahen mußte, war ich nun besorgt, daß sich Guesde womöglich einfallen lassen könnte, den Sonderling zu stören. Nachdem der Biedermann seine Hoffnungen auf weitere Teilnahme an Begräbnissen geäußert hatte, fügte er zum Schluß noch die Hoffnung hinzu, daß ihm wohl bald Victor Hugo, dessen Alter er rasch überschlug, dieses Schauspiel bieten werde; nachdem er diesen Gedanken lange Zeit von allen Seiten betrachtet hatte, wandte er sich dann einer anderen Berühmtheit zu: Thiers.
Es führte entschieden das große Wort bei der Unterhaltung, dieser makabre Vogel; der andere, der einen roten Hals hatte wie ein Truthahn, bewunderte ihn, ebenso eine junge Frau mit erstaunten Augen, bis schließlich ein Handlungsreisender, ein weder effektsüchtiger noch prahlerischer Mensch, ihn zurechtwies, indem er die Dummheiten dieses Herrn, der über die Nöte der armen Arbeitgeber jammerte, durch die Wahrheit ersetzte.
Überhaupt erlebten wir bei dieser Rundreise heitere Zwischenfälle. In einem Cafe wurden wir von einem Dutzend Müßiggänger umringt, die uns wie seltsame Tiere anstarrten.
Ich zeichnete dann ihre dümmlichen Fratzen, und da der Ausdruck einer geradezu tierischen Naivität deutlich zutage trat (denn sie waren gelungen), setzte ich folgende Titel darunter: »Gelehrter Spitzel. Schwachkopf. Heimtückischer Spitzel.«
Sie waren ebensowenig Spitzel wie wir, aber es war doch zu dumm, uns so anzustarren.
Einer von ihnen blickte mir über die Schulter, die anderen kamen auch, und dann verschwanden sie; wir waren sie los.
In der Versammlung setzte sich der Polizeikommissar mit seiner Schärpe neben uns. Da er wahrscheinlich die von der Reaktion erfundenen Märchen glaubte, staunte er über die Ruhe, die unsere Freunde bewahrten.
Allerdings hatte einer der vier Kommissare im Saal (vier Herkulesgestalten) in aller Freundlichkeit einen kleinen Spießbürger, der das Signal zum Krawall gab, ehe übernaupt noch etwas gesagt worden war, wie eine kleine Katze unter den Arm genommen. Worauf die anderen Spießbürger wie durch Zauberei mucksmäuschenstill wurden.
XIII.
Nun einige Worte zum Lyoner Prozeß,[1] der den Anschluß an die bekanntlich nicht mehr existierende Internationale zum Gegenstand hatte.
Jedesmal, wenn ich während des Lyoner Prozesses zu Monsieur Fabreguettes mit seinem eckigen Profil hinübersah, wie er den Arm mit dem hochrutschenden Ärmel hob und bissig sprach, mußte ich an eine Radierung denken, die mich in meiner Kindheit oft nachdenklich stimmte; sie stellte den Großinquisitor Thomas von Torquemada dar.
Bei meinem Prozeß dachte ich an das Lob der Torheit von Erasmus von Rotterdam. Die Narrenkappen fehlten, doch das Geläut der Schellen klingelte im Ohr. Die stumpfsinnigen Geschworenen, die durcheinander geraten waren von der Anklagerede, in der man ihnen zu verstehen gegeben hatte, daß sie ihrer Kramläden nicht mehr sicher sein könnten, wenn sie mich nicht verurteilten; diese alberne Idee, mir zur Last zu legen, daß ich über eine Tür gelacht[2] hätte; die jungen Leutchen, die gekommen waren, mich zu beschimpfen, unter denen jedoch einige waren, die ganz still wurden und hinausgingen, vielleicht gepackt von der Revolution, die durch die Gerichtssäle weht - all das ist mir wieder gegenwärtig.
Doch nicht mich habt ihr verurteilt, meine Herren; denn daß ich mich nicht bereichern will, ist bekannt; meine alte Mutter habt ihr zum Tode verurteilt - und sie ist gestorben.
Unter der Erde wird man sie nicht wieder zum Leben erwecken.
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Es sei mir erlaubt, einiges zu meiner Rechtfertigung zu sagen. Diese Beschuldigung, daß ich gelacht hätte, ist das reinste Täuschungsmanöver. Mit einer anderen Argumentation wollten sie mich nicht verurteilen, weil man eine Frau schneller erledigt, wenn man sie lächerlich macht. Rücken wir die Tatsachen wieder ins rechte Licht: meine Überzeugungen sind es, die in meiner Person verfolgt werden; daher habe ich das Recht, an dieser Stelle das Lyoner Manifest einzuflechten, denn ich hatte meinen Platz im Prozeß der Anarchisten, und ich teile all deren Ideen.
MANIFEST DER ANARCHISTEN
Was die Anarchie ist, wer die Anarchisten sind, das wollen wir hier erklären: Die Anarchisten, meine Herren, sind Bürger, die es in einem Jahrhundert, da man überall die Meinungsfreiheit predigt, als ihr Recht und ihre Pflicht erachtet haben, die uneingeschränkte Freiheit zu vertreten.
Ja, meine Herren, in der ganzen Welt sind wir einige Tausende, einige Millionen vielleicht, und wir haben keinen anderen Verdienst als den, ganz laut zu sagen; was die Menge im Stillen denkt; wir sind einige Millionen Arbeiter, die die uneingeschränkte Freiheit, nichts als die Freiheit, die ganze Freiheit fordern!
Wir wollen die Freiheit, das heißt, wir fordern für jedes menschliche Wesen das Recht und die Möglichkeit, zu tun, was ihm beliebt; seine Bedürfnisse gänzlich zu befriedigen, und zwar ohne weitere Grenzen als die natürlichen Hindernisse und die ebenso achtbaren Bedürfnisse seiner Nachbarn.
Wir wollen die Freiheit und halten ihre Existenz für unverträglich mit irgendeiner Machtform, gleichgültig ob diese Macht gewählt oder aufgezwungen wird, ob sie monarchisch oder republikanisch ist, ob sie sich auf Gottes Gnaden oder das Volksrecht, auf die Heiligkeit oder das allgemeine Wahlrecht beruft.
Denn die Geschichte lehrt uns, daß alle Regierungen sich in Form und Wert gleichen. Die Besten sind die Schlimmsten. Mehr Zynismus bei den einen, mehr Heuchelei bei den anderen! Letztlich gehen sie immer auf die gleiche Weise vor und zeigen immer dieselbe Intoleranz. Selbst die scheinbar Liberalen halten unter dem Staub der Gesetzarsenale noch irgendein tüchtiges kleines Gesetz gegen die Internationale, das sie gegebenenfalls gegen eine unbequeme Opposition anwenden können.
Mit anderen Worten: Für die Anarchisten besteht das übel nicht in einer bestimmten Form von Regierung. Der Gedanke an Regierung und das Prinzip der Autorität sind selbst das Übel.
Kurzum: Unser Ideal ist, daß man in den menschlichen Beziehungen die Verwaltungs- und Rechtsvormundschaft durch einen freien, jederzeit revidierbaren und kündbaren Vertrag ersetze.
Die Anarchisten nehmen sich also vor, dem Volk beizubringen, wie es die Regierung entbehrlich machen kann, ebenso wie es schon dabei ist, Gott entbehren zu können.
Es wird auch lernen, die Eigentümer zu entbehren. Der schlimmste Tyrann ist nämlich nicht der, der einen einkerkert, sondern der, der einen aushungert; es ist nicht der, der einen am Hals, sondern der, der einen am Bauch packt.
Keine Freiheit ohne Gleichheit! Keine Freiheit in einer Gesellschaft, in der das Kapital in den Händen einer Minderheit monopolisiert ist, die jeden Tag geringer wird, und in der nichts gleichmäßig verteilt ist, nicht einmal die allgemeine Ausbildung, die jedoch mit den von allen eingebrachten öffentlichen Geldern bezahlt wird.
Wir glauben, daß das Kapital, das gemeinsame Erbgut der Menschheit, da es das Ergebnis der Mitarbeit der vergangenen und der zeitgenössischen Generationen ist, allen zur Verfügung stehen soll, so daß niemand davon ausgeschlossen werden kann; so daß niemand, wiederum, einen Teil davon auf Kosten der anderen an sich reißen kann.
Mit einem Wort: Wir wollen die Gleichheit; die Gleichheit de facto als notwendige Folge oder vielmehr als primäre Bedingung der Freiheit. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen; das ist das, was wir aufrichtig und energisch wollen; und das ist das, was sein wird, denn es gibt keine Vorschrift, die gegen berechtigte und notwendige Forderungen aufkommen könnte. Genau deshalb will man uns brandmarken.
Wir, Schurken, fordern Brot für alle, Wissen für alle, Arbeit für alle! Für alle auch die Unabhängigkeit und die Gerechtigkeit!
Dieses Manifest war vom Prinzen Kropotkin, von Emile Gautier, Bordat, Bernard und dreiundvierzig anderen Angeklagten unterschrieben. Gautier hat es verfaßt.
Nur ein einziger Bericht über meine Vorträge während des Prozesses ist mir geblieben. Ich weiß nicht mehr, welcher Zeitung er entnommen ist. Hier ist er: Aus Lyon wird am 19. Januar telegraphiert:
- Gestern abend hat Louise Michel im Salle de l'Elysee einen Vortrag zugunsten der Familien inhaftierter Anarchisten gehalten.
Kropotkin und Bernard wurden zu Ehrenpräsidenten ernannt.
Louise Michel ergriff das Wort und erklärte, daß nur Gewalt die Gesellschaft umgestalten kann, da man sie ohnehin verwendet, um sie zu vernichten.
In Lyon, sagte sie, sitzen die Anarchisten auf der Anklagebank. In England sind sie Mitglieder des Unterhauses.
Sie fügte hinzu, daß sie aus London eine von den französischen Flüchtlingen unterzeichnete Denkschrift mitgebracht habe, in der diese gegen den Lyoner Prozeß protestieren und sich mit den Angeklagten und ihren Grundsätzen solidarisch erklären. Doch da ihr bekannt gewesen sei, daß sie polizeilich überwacht wurde, habe sie dieses Schriftstück vernichtet, um niemanden zu gefährden.
Sodann legte Louise Michel ausführlich ihre Gedanken zur Lage der Frau in der gegenwärtigen Gesellschaft dar.
Der Präsident läßt über eine Tagesordnung abstimmen, die unter anderem die Forderung enthält, zu den Waffen zu greifen, um sich gegen die Bourgeoisie zu verteidigen.
Die Tagesordnung wird angenommen.
Ein Anwesender namens Besson verlangt den Ausschluß der Journalisten aus der Versammlung.
Louise Michel protestiert dagegen und sagt, die Freiheit müsse für alle gleichermaßen gelten.
Ein Sprecher verlangt, die Versammlung solle die Forderung nach Freilassung der Anarchisten erheben.
Der Präsident erwidert, dies sei Sache der Richter und nicht der Versammlung. Eine solche Forderung, sagt er, könne nicht ohne Zustimmung der Angeklagten erfolgen.
Die Versammlung wird unter dem Beifall der Anwesenden geschlossen.
Bei einem anderen Vortrag, ich glaube im Salle de la Perle, ließ sich jemand einfallen, hinter der Tribüne eine Fensterscheibe einzuschlagen und irgendeinen Feuerwerkskörper hineinzuwerfen; hätten wir uns nicht darum gekümmert und gesagt, es handle sich wohl um einen Trick der Polizei oder den Scherz dummer Jungen, dann hätte die Aufregung bestimmt einen großen Teil der Anwesenden zu einem ganz kleinen Ausgang gedrängt, und dabei wäre es zu Unfällen gekommen.
Es waren tatsächlich dumme Jungen. Beschämt schickten sie mir ihre Entschuldigungen, die ich öffentlich vorlas, wobei ich selbstverständlich die Namen nicht nannte.
Denkt daran, ihr Frauen, die ihr dieses Buch lest: wir werden stets anders beurteilt als die Männer.
Wenn Männer, selbst hinterhältige, andere Männer anklagen, dann lassen sie sich nicht so ungeheuerlichen Blödsinn einfallen, daß man sich fragt, ob man sie überhaupt ernst nehmen soll.
Fällt eine Frau weder auf die Souveränität herein, mit der die Völker geprellt werden, noch auf die heuchlerischen Zugeständnisse, mit denen man die Frauen an der Nase herumführt, dann benutzt man solch eine blödsinnige Methode.
Und bei den schrecklichsten Ereignissen muß eine Frau immer noch tausendmal mehr Ruhe bewahren als die Männer. Auch wenn ihr der Schmerz das Herz zerreißt, darf sie sich doch kein Wort entschlüpfen lassen, das über das Übliche hinausgeht.
Denn die vom Mitleid irregeführten Freunde und die vom Haß getriebenen Feinde würden sie schleunigst in eine Heilanstalt bringen, in der sie, bei vollem Verstand, mit Wahnsinnigen begraben wäre, die es vielleicht auch nicht waren, als sie eingeliefert wurden.
Die Männer, wie unterschiedlich sie auch noch seien, sind die Herren; zwischen ihnen und dem Tier sind wir das Durchgangsstadium, das Proudhon in zwei Klassen teilt: Hausfrauen und Kurtisanen. Ich gebe zu, wenn auch stets ungern, daß wir die Sonderkaste sind, zu der wir aber im Laufe der Zeit gemacht worden sind. Wenn wir Mut haben, sind wir ein pathologischer Fall; wenn wir uns ohne Schwierigkeiten gewisse Kenntnisse aneignen, sind wir ebenso ein pathologischer Fall.
Mein Leben lang habe ich darüber gelacht. Nun ist mir dieser Irrtum gleichgültig, wie alle anderen Irrtümer, die bald zu Fall kommen werden.
Außerdem sieht die berüchtigte blöde Gans aus den alten reaktionären Klischees über unsere bewegten Tage hinweg schon die Zeit, da Mann und Frau Hand in Hand als gute Kameraden durch das Leben gehen und ebensowenig daran denken werden, sich um die Oberhoheit zu streiten, wie die Völker nicht daran denken werden, sich jedes für sich zum ersten Volk der Welt zu erklären; und es tut gut, nach vorn zu schauen.
Mehrere Wochen nach dem Lyoner Prozeß schien es mir, als sei es feige von mir, wenn ich die Freiheit, die man mir - ich weiß nicht warum - ließ, nicht benutzte, um an Stelle der toten Internationale zu einer neuen, von einem Ende der Welt bis zum anderen reichenden, ungeheuren Internationale aufzurufen.
Das hatte ich in aller Offenheit gesagt und getan. In dem Verfahren gegen mich wurde jedoch kein einziges Wort darüber verloren; es war nun einmal ausgemacht, daß ich über eine Tür gelacht hatte, als eines Tages das Volk Arbeit verlangte, und meine Mutter mich angefleht hatte, nicht wieder an Kundgebungen teilzunehmen, solange sie nicht tot sei.
Während sich manche Berichterstatter mit mir in einem Haus unterhielten, in dem ich nicht war, sahen mich noch andere bei einer Vergnügungspartie im Bois de Boulogne, wo ich auch nicht war. Ich wohnte bei den Familien meiner Freunde Vaughan und Meusy, von wo ich dann, als Mann verkleidet, zu meiner armen Mutter ging. In diesem Kostüm hätte ich Paris nicht zu verlassen brauchen, ebenso hätte ich damit meine Mutter ins Ausland bringen können.
Ich hätte sogar weiter Propaganda machen können. Wie oft habe ich an Versammlungen teilgenommen, zu denen Frauen keinen Zutritt hatten! Wie oft bin ich zur Zeit der Kommune als Nationalgardist oder Liniensoldat an Orten gewesen, an denen man sich nicht hätte träumen lassen, daß eine Frau dabei war!
Wenn Ihr das lest, Ihr Freunde, die Ihr mir damals wie einem Familienmitglied Gastfreundschaft gewährt habt, vergeßt bitte nicht, daß es mir schwerfiel, Euch so zu ängstigen; aber ich mußte mich vor der Urteilsverkündung dem Gericht stellen; besonders mit uns selbst müssen wir unerbittlich sein; die Lügen waren zu schändlich!
Und Ihr, Louise und Augustine, meine tapferen Freundinnen, erinnert Euch, daß Ihr es auch so empfunden und mir gesagt habt: »Sie haben recht!« Ich vergesse es nicht, ich weiß, daß Ihr immer so sein werdet. Wenn Eure Brüder Mut brauchen bei dem, was sie sehen werden, dann werdet Ihr das Hundertfache davon brauchen. Worüber die Männer heute weinen würden, darüber dürfen die Frauen keine Tränen vergießen.
Und Ihr, die kleinen Mädchen und Jungen, glaubt Ihr, daß ich Euch vergessen habe?
Wenn Paul und Marius eines Tages das sind, was ich glaube, werden sie auch Mut brauchen; möge der eine als Dichter, der andere als Musiker seinen Weg in der Sonne gehen, und mögen sie suchen, wo die Kunst entsteht, die von den Opferbinden des Todes befreit ist.
Und Ihr, Marie und Marguerite, meine Kleinen, auch Ihr werdet zur großen Epoche gehören, da die Menschheit vorwärts geht und die Frauen daher nicht nachgeben dürfen. Glücklicherweise und leider!
Ich komme auf meinen Prozeß zurück. Einige unserer Freunde hatten sich erboten, mich zu verteidigen, doch abgesehen davon, daß sich jeder von uns selbst verteidigen sollte, sah ich mich außerstande, eine Wahl zu treffen zwischen denen, die bereits unsere Freunde verteidigt hatten, wie man freie Menschen verteidigt, und Locamus, der in Numea die vor das Tribunal der Strafkolonie zitierten Deportierten verteidigt hatte.
Wie oft haben wir erlebt, daß seine Klienten freigesprochen wurden und er selbst, wegen Beleidigung der richterlichen Würde verurteilt, mit Handschellen ins Gefängnis wanderte! Er legte Wert auf diese Inszenierung und ließ sie auf sich anwenden, um sie aufs Gründlichste lächerlich zu machen.
Wenn Locamus in diesem Aufzug an uns vorbeiging, lachte er so, daß wir auch lachen mußten.
Er tat sich mit seinen Handschellen wichtig, genau wie Lisbonne" mit seiner Straflingsjacke.
Nur daß Locamus, aufrecht, das mächtige, in den Nacken geworfene Haupt mit dem Kräuselhaar schüttelte, während Lisbonne seine Krücken aufstieß und den Kopf mit der langen Mähne hob; im übrigen sahen beide wie Löwen aus.
Es ist schwierig, in einem Prozeß mit mehreren Angeklagten zu sprechen, denn jeder Satz wird belauert, um ihn womöglich als Waffe für den Ankläger benutzen zu können. Ich hoffe, daß ich diese Klippe umschifft habe.
Unter den als Rechtsanwälten verkleideten oder vielleicht jüngst zu Rechtsanwälten gewordenen jungen Leuten, die, wie die antiken Chöre gruppiert, mich grinsend betrachteten, waren drei oder vier, die aufgehört haben zu schmähen und von denen ich hoffe, daß sie sich nicht der Bande angeschlossen haben, die Tote beleidigt.
Ich hoffe, daß sie über ihre eigene Nasenspitze hinaussehen und daß ihnen mitunter die Namen von Vallès, Rigault, Vermorel, Millière, Delescluze und so vielen anderen einfallen, die auch einmal Studenten waren.
Für eine Jugend in der Rolle eines Don Quichote können wir uns nicht begeistern, und wenn man Mambrins Helm noch so sehr auf Hochglanz poliert und noch so tapfer gegen Windmühlen kämpft, das kann nicht einmal eine einzige, geschweige denn alle Schmach des Menschengeschlechts wiedergutmachen.
Die Revanche ist die Revolution, die den Samen des Friedens und der Freiheit über die ganze Erde verbreitet.
Wenn der Saft emporsteigt, muß man sich für die eine oder die andere Seite entscheiden, dann drängt man sich mit seiner ganzen Kaste in dem ausgefahrenen Gleis oder schüttelt die unsinnigen Kastengrenzen ab und nimmt mit der anbrechenden Etappe seinen Platz an der Sonne ein.
An der Beerdigung von Vallès nahm, wie es heißt, eine ergriffene Menge teil, über der die schwarzen und roten Banner wehten.
Ist das die ganze revolutionäre Armee? Ist das die Vorhut? Es ist kaum ein Bataillon.
Wenn die Stunde gekommen ist, beschleunigt durch grausame und stupide Regierungen, dann wird nicht ein Boulevard, sondern die ganze Erde unter dem Marschtritt der Menschheit erbeben.
Je breiter inzwischen der Strom des Blutes vom Schafott fließt, auf dem die Unseren ermordet werden, je voller die Gefängnisse, je größer das Elend ist und je drückender die Last der Tyranneien wird, um so schneller schlägt die Stunde, um so größer wird die Zahl der Kämpfer sein.
Wie viele empörte junge Leute werden mit uns sein, wenn die roten und schwarzen Banner im Wind des Zornes wehen!
Welch eine Sturmflut, meine Freunde, wenn die Wogen um das alte Wrack emporsteigen!
Wie sie klein beigeben werden, die jungen Leutchen, die sich Studenten nennen und die ihr Wissen auf den Schmutz von Sedan begrenzen!
Wir aber wollen für alle Völker der Welt die Vergeltung für alle Sedans, in die Despoten und Dummköpfe die Menschheit gestürzt haben.
Die rote Fahne, die schon immer die der Freiheit war, erschreckt die Henker, so hell leuchtet sie von unserem Blut.
Die schwarze Fahne, die mit dem Blut derer getränkt ist, die arbeitend leben oder kämpfend sterben wollen, erschreckt die, die von der Arbeit der anderen leben wollen.
Oh, ihr roten und schwarzen Banner, weht über uns; weht über unserer Trauer und unserer Hoffnung im aufsteigenden Morgenrot!
In einem freien Land, wo man die Freiheit hätte, sein Banner aufzupflanzen, wo und wie man will, könnte man besser als durch irgendeine Abstimmung sehen, auf welche Seite sich die Menge stellt; man könnte nicht einfach ein paar Menschen in die Tasche stecken, wie man einige Handvoll Wahlzettel hineinstopft.
Das wäre eine gute Methode, ohne Verfälschungen Gewißheit über die Mehrheit zu erlangen, die diesmal die Mehrheit des Volkes wäre.
Aber wir dürfen unsere Fahnen nur neben den Toten aufpflanzen. Wir sind nicht in London.
Dieser Gedanke ruft mir die letzte Rede Blanquis ins Gedächtnis zurück.
Der Saal war mit Trikoloren beflaggt. Der brave Alte richtete sich auf und verfluchte die Farben von Sedan und Versailles, die man vor seinen Augen wehen ließ, als Symbole der Übergabe und des Mordens.
Diese Versammlung war seine letzte; oft überdeckte das Gebrüll der Reaktion die Worte des Greises.
Doch ebenso oft füllte sich die schwache Stimme des Schwerkranken mit dem mächtigen Atem der Zukunft und dominierte.
Nach dieser Versammlung mußte er sich zu Bett legen und stand nicht wieder auf.
Nicht die leuchtendrote Fahne, die in der Sonne wie die Morgenröte glüht, sondern jedes Erwachen der Freiheit, ob alt oder neu, wird verfolgt wie die alten Kommunen Frankreichs: die von 1793, die vom Juni, die von 1871 und vor allem die kommende Revolution, die unter dieser Morgenröte heranreift. Und all das verteidigen wir.
Was auf diesen Seiten steht, wird es schwer haben, die Schwelle von Saint-Lazare zu überschreiten; aber der eine günstige Paragraph des Reglements ist ja nicht da, um in Vergessenheit zu geraten:
Die Anwälte dürfen versiegelte Briefe von Häftlingen empfangen.
Einer von ihnen hat begriffen, daß diese Erinnerungen so etwas wie mein Testament sind, und daß ich deshalb das Recht habe, meine Gedanken ohne Einschränkungen niederzuschreiben.
XIV.
Ich nehme meinen Bericht wieder auf.
Am 14. Juli, genauer gesagt, am Morgen darauf, ist es zwei Jahre her, daß ich in das Zentralgefängnis von Clermont gebracht wurde.
Kein gelungenes Fest ohne den Morgen darauf!
Die Frauengefängnisse sind weniger schlimm als die der Männer: Ich habe weder unter Hunger noch Kälte noch unter den Schikanen zu leiden gehabt, die unsere Freunde erdulden mußten.
Mein Gefängnisbuch wird das Buch vom Bagno heißen; ich brauche die Blätter nur zusammenzusuchen; es ist ein ganzer Packen!
Die ersten Seiten werden diesen armen Pflegerinnen gewidmet sein, die, weil sie die Verwundeten der Kommune gepflegt hatten und nebenbei auch noch die von Versailles, wenn manche von ihnen zurückgelassen worden waren, zum Tode verurteilt und dann nach Cayenne geschickt wurden, wo das Klima tödlich ist. Für die Verwundeten gab es kein Lager; so fanden es die Versailler oft zweckmäßig, manche liegenzulassen. Klar! Die hätten gestört beim Schießen.
Victor Hugo erwirkte, daß diese schlichten und tapferen Frauen, Retif und Marchais, begnadigt wurden; Suetens, Papavoine, Lachaise, die aufgrund derselben Taten verurteilt waren, erfuhren das gleiche Schicksal.
Man hatte dem Meister wohl gesagt, diese Frauen seien Ungeheuer, aber Versailles konnte sein wahres Gesicht nicht lange verbergen.
Die nächsten Kapitel des Buches würden den in den Gefängnissen getroffenen Freunden gewidmet sein, angefangen mit unseren Gefängnissen.
In Satory scheuten sich die festgenommenen Frauen meiner Freunde nicht, mich zu umarmen, obwohl ich sie gewarnt hatte, daß man drauf und dran sei, mich zu erledigen. Das hieß für sie, ihr Leben auf's Spiel zu setzen.
In den Chantiers, in dem großen Leichenschauhaus der Lebenden, unter den Lumpen, die nachts an den Wänden hingen, war es dasselbe. Dank den tapferen Herzen; viele sind leider tot! Als erste Mme Dereure; sie konnte die harten Schicksalsschläge nicht überleben, die sie, da sie schon krank war, erdulden mußte, und mitten im besiegten Paris, vor den Siegern, folgten die Farben der Kommune ihrem Sarg.
Andere, die wir nicht wiedergesehen haben, sind wahrscheinlich gestorben.
Wie viele Gefängnisse! habe ich irgendwo in diesem Bericht gesagt. O ja, wie viele Gefängnisse! Von der Bastion 37 über Satory bis nach Neukaledonien: die Chantiers, La Rochelle, Kaledonien, Clermont, Saint-Lazare!...
Wenn mein Gefängnisbuch erscheint, wird den zehn Jahren und den Meeren, die bereits auf den ersten Seiten vorübergezogen sind, vieles gefolgt sein. Über vielen unbekannten Leichen wird das Gras noch höher gewachsen sein. Der Grundgedanke bleibt aber derselbe: Die Menschen in ihrer Verlassenheit, ihrem Elend und ihrer Unwissenheit sind nicht zur Verantwortung zu ziehen.
Lange Zeit wurde dieses erbarmungslose und unlogische Wort: »Die Herren Mörder mögen beginnen« sehr hübsch gefunden. Sind die Mörder eigentlich nicht die alten abgelebten Staaten, in denen der Existenzkampf so furchtbar ist, daß die einen, Beute heischend, unaufhörlich über den anderen kreisen? Nichts ist dort zu hören als das Krächzen der Raben und ihr Flügelschlagen über den am Boden liegenden Völkern. Ihr kennt die Verse Victor Hugos:
Lazarus! Lazarus! Lazarus!
Erhebe dich!
Überall sind nur Fallen; die armen Frauen geraten hinein.
Ist das denn die Schuld dieser Unglücklichen, wenn für die einen nur auf der Straße oder im Seziersaal Platz ist, oder wenn andere ertappt werden, weil sie für ein paar Sous gestohlen haben, um zu leben und damit ihre Kinder am Leben bleiben, während es solche gibt, die für ihre Launen das Geld zu Millionen und die Menschen zu Tausenden verschleudern?
Ich kann nicht anders als mit Bitterkeit über diese Dinge sprechen; alles lastet besonders schwer auf den Frauen.
Saint-Lazare, dieser allgemeine Speicher, von wo aus nach allen Richtungen verladen wird, selbst in die Freiheit, ist der rechte Ort, sie zu beurteilen.
Aber den richtigen Blick dafür bekommt man nicht durch ein paar Tage Aufenthalt, sondern wenn man lange dort bleibt. Dann fühlt man, wie viele edle Herzen unter der Schande schlagen, die sie erstickt. Ja, erhebe dich, Unglückliche, die du so lange gekämpft hast und deine Schmach beweinst; du bist nicht die Schuldige. Warst du es denn, die den aufgeschwemmten, skrofulösen Großbürgern Hunger auf frisches Fleisch gemacht hast? Warst du es denn, die die schönen Mädchen, die nichts besitzen, auf den Gedanken brachte, sich zu verkaufen? Und die anderen, die Diebinnen; klar, wenn man Frauen auf die Straße wirft, kann man sicher sein, daß sie dorthin gehen, wohin sie der Mann schickt, den man ihren Zuhälter nennt - weil er sie schlägt und ausbeutet.
Sie würden auch allein gehen: denn geht man nicht immer und immer ziellos weiter, wenn man ohnehin verloren ist?
Es gibt auch die diebischen Arbeiterinnen, die ein Stückchen Stoff behalten haben. Schicken die großen Herren Schneider etwa die Reste zurück?
Manche hatten Streichhölzer hergestellt.[1] Nun, die Kinder hatten schließlich Hunger.
Andere haben ihren Mann betrogen. Sind sie etwa von ihm niemals betrogen worden? Wenn man, statt die Vermögen zusammenzulegen, die Menschen selber wählen ließe, mit wem sie die Ehe eingehen wollen, käme das nicht so oft vor.
Andere noch (meistens alte Frauen) beschimpfen, wenn sie vor Hunger am Krepieren sind und doch noch ein wenig leben möchten, einen Polizisten, um ins Gefängnis zu kommen und dort ein wenig Brot zu erhalten.
Als ich einmal festgenommen wurde, habe ich eine dieser Alten gesehen, die schon so lange Zeit nichts gegessen hatte, daß sie nach einem Schluck Brühe wie betrunken umsank. Ein paar Tage später starb sie, weil sich ihr Magen nicht mehr an Nahrung gewöhnen konnte.
In meiner Zelle in Clermont bekam ich niemanden zu Gesicht, hörte jedoch hin und wieder, wie sich Mitgefangene unterhielten. Ich möchte einige Sätze davon wiedergeben, die die Trostlosigkeit des allertiefsten Elends erkennen lassen.
- Morgen kommst du raus, du bist wohl glücklich!
- Eigentlich nicht! Draußen ist es zu kalt und zuviel Hunger.
- Aber deine Mutter hat doch eine gute Stelle.
- Man hat sie rausgeschmissen, weil ich sitze.
- Wo ist sie?
- Auf der Straße!
- Wo willst du dann hin?
- Die dicke Chiffre hat nach mir gefragt für den Strich; ich
werde meiner Mutter den Zaster geben und mich dort wieder auf
pflanzen.- Aber wetten, daß du dann wieder hier landest!
- Wie soll ich's denn machen, daß ich nicht wieder hier lande?
Gibt schon keine Arbeit für die, die einen Haufen Bescheinigungen
haben; dann erst recht nicht für Numerierte.
Ein anderes Gespräch:
- Wo kommst'n her?
- Na Mensch, aus Saint-Lazare! Bin doch aus Paris.
- Was hast'n gemacht?
- Was weiß ich. Mein Louis hat'n Schatz gehoben; sieht so aus, als hätt' ich mitgemacht.
- Haste nichts von gewußt?
- Glaubst du, daß er mir sagt, wo er'n Ding dreht?
- Hat er dir nicht vielleicht was abgegeben?
- Der und mir was geben. Der nimmt eher von mir. Fuffzehn Piepen braucht er jeden Tag.
- Was macht er'n damit?
- Menschenskind, der hat's nicht dicke, wo er doch an so'n Strolch zahlen muß, der gesehen hat, was er macht. Der würd' ihn sonst verzinken.
- Wo treibst du bloß die fuffzehn Piepen für ihn auf?
- Ich hab am Fenster geangelt; is besser als draußen auf'n Strich. Man muß doch leben! Als ich Arbeit suchte, hat man mich aus den Warenhäusern weggeschickt, weil ich nicht gut angezogen war. Als ich dann ein Kleid gepumpt bekommen hab, war das gleich anders. Da war ich zu gut angezogen, da hat mich'n Freier mitgenommen, und da war's passiert. Ich mußte mir'ne Karte anschaffen und'n Louis noch dazu.
- Wo hast'n am Fenster geangelt?
- Bei der Relingue, weißt du, die sich einlochen läßt und im Kittchen nach solchen für ihre Bude sucht.
- Die Relingue! Na, da ist mir aber diese Bude hier lieber als der ihre! Die verdient zuviel Piepen an unsrem armen Gestell!
- Wo soll ich denn hin? Gefängnissaat schlägt nur auf der Straße Wurzeln.
Noch ein anderes Gespräch:
- Bist traurig, was, Stupsnase!
- Weil ich wieder zu mein Stückchen Malör muß.
- Wer issen das, dein Stückchen Malör?
- Der Vater von meine Kinder.
- Biste verheiratet?
- Nein.
- Warum gehst'n nich weg von ihm?
- Weil er der Vater von meine Kinder is! Früher hat sich das arme Luder für die ersten abgeschuftet; aber Männer sind nicht so hart wie Frauen, wenn's ihnen dreckig geht. Wenn der Wind mal bißchen scharf pfeift, haut's ihn gleich um.
Und draußen, wenn sie keine Zuflucht haben? Denn die Asyle, die für die aus dem Gefängnis entlassenen Frauen eingerichtet werden, können sie nicht alle fassen - das ist, als ob man einem immer strömenden Wasserfall eine Tasse anbietet.
Ihr seht wohl ein, Ihr, die Ihr ehrlich seid, daß die Revolution darüber hinziehen muß, aber nicht so, daß sie das Schlechte, das sie zerstört, durch Schlechtes ersetzt, nicht so, daß sie die Pest bringt, wo sie die Cholera beseitigt, sondern so, daß sie Gesundung bringt.
Wenn die Frauen aus den Gefängnissen Abscheu erregen - was mich ekelt, ist die Gesellschaft.
Soll man doch zuerst die Kloake beseitigen. Wenn der Platz unter der Sonne sauber ist, wird keiner mehr im Kot versacken.
Ihr jungen Mädchen mit den sanften, reinen Stimmen, hier sind welche in eurem Alter, deren Stimmen rauh und gebrochen sind. Denn ihr lebt nicht, wie sie leben, und trinkt nicht, um euch zu betäuben und zu vergessen, daß ihr lebt.
Saint-Lazare! Hört, ihr jungen Mädchen, die ihr eure Mütter nie verlassen habt; hier sind Kinder wie ihr, sechzehnjährige Kinder. Aber diese haben keine Mütter, oder ihre Mütter haben keine Zeit, sie zu behüten.
Die Armen können nicht bei ihren Kleinen bleiben oder sich die Zeit nehmen, bei ihren Toten zu wachen.
Sie sind blaß, welk; deswegen, weil sie euch vor den Angriffen derer schützen, die sich, wie die Dummköpfe behaupten, auf euch stürzen würden, wenn sie ihren Hunger nach frischem Fleisch nicht auf der Straße an den Mädchen aus dem Volk stillen könnten.
Das nennt man Gleichheit und Gerechtigkeit!
Ein Blick noch auf das entsetzlichste menschliche Elend, damit dem Leser nicht die Klage über ein einzelnes Geschöpf das Herz schwer macht, sondern die Empörung gegen die sozialen Verbrechen.
Vielleicht ist die Zelle am besten geeignet, alles zu hören. Jede Zelle geht auf irgendeinen Hof hinaus, und die Stimmen steigen; man braucht nur einige Stimmen aus diesem grauenhaften Chor des Elends zu verfolgen.
Hört: Die Besitzer der Bordelle tauschen untereinander Frauen, so wie die Bauern Pferde oder Ochsen tauschen; sie sind Herden, das Menschenvieh bringt am meisten ein.
Wenn die Freier in dieser oder jener Provinzstadt finden, daß ein Weibchen überanstrengt ist oder wenn sie seiner überdrüssig sind, dann richtet es der Besitzer so ein, daß das Mädchen dem Hause eine Summe schuldet, deren sie sich nie wird entledigen können; das macht sie zur Sklavin, und dann tauscht man sie mit Hilfe aller nur erdenklichen Roßtäuschereien.
Das Vieh wird in den Stall getrieben, wo es den Händlern am nützlichsten ist.
Bei anderen inszeniert man eine Arbeitsanstellung. Arglos kommen sie aus ihrem Heimatort, oder wenn sie Pariserinnen sind und wissen, daß es Leute gibt, die mit frischem Fleisch wuchern, und daß es Gelüste zu befriedigen gibt, macht sie das Elend nachgiebig; und dann das falsche Flitterzeug, das man sie, sind sie erst einmal in eine Spelunke geraten, sechsmal über den Wert bezahlen läßt, um sie zu verschulden.
Es gibt auch die Methode der Rekrutierung: Alte Vetteln finden Mittel und Wege, sich für ein paar Monate ins Gefängnis sperren zu lassen, und dort werben sie mit Gewalt oder List alle hübschen Mädchen an, die gestrandet sind; sie brauchen dann nicht mehr zu befürchten, sie müßten hungern; denn nach ihrer Entlassung werden sie schlemmen.
O ja, sie werden schlemmen, und zwar zum Platzen! Ihre Stimme wird rauh, ihr Leib verfällt. Das ist das Schlemmen - das Schlemmen der lüsternen Bourgeois.
Die Straßenmädchen sind noch am wenigsten übel dran; das Leben der Mädchen in den Bordellen aber ist so entsetzlich, daß selbst die erstaunt sind, die sich sonst über nichts mehr wundern.
Was ich darüber meine, werde ich niederschreiben, denn es ist so grauenhaft, so schändlich, daß man es wissen muß!
Augenblicklich haben jedoch die Strichmädchen von der Straße die Oberhand bei den grausigen Geschichten.
Wird man denn nie merken, daß damit jede Art von Verbrechen genährt wird? Daß eine Frau, die erst einmal in die Gosse geraten, sich an dem Geld berauscht, das sie Dummköpfen abnimmt, die zu Mördern werden? Das muß eigentlich jeder wissen! Warum also damit fortfahren?
Wenn die großen Händler auf dem Frauenmarkt, die Europa auf der Suche nach Ware für ihren Handel durchreisen, alle am Strick baumelten, so würde ich sie bestimmt nicht abschneiden.
Und wenn ein armes Mädchen, das geglaubt hat, ein ehrbares Haus zu betreten (das gibt es), und dann merkt, wo sie ist, und daß es unmöglich ist, herauszukommen, wenn dieses Mädchen einen der Elenden, die sie zurückhalten, mit rächenden Händen erdrosseln, wenn es diesen verfluchten Ort in Brand stecken würde, so wäre das besser, als die Ergebnisse von Prozessen über diesen Gegenstand abzuwarten, denn es wird niemals andere Plädoyers als die heutigen geben, solange die Dinge so sind.
Werden die Eulen niemals damit Schluß machen, daß sie den Mäusen die Pfoten abhacken, um sie zu behalten?
Wenn die gefangene Maus, statt ihren kleinen kläglichen Schrei zwischen Himmel und Erde auszustoßen, die gleichermaßen taub sind, versuchte, der Eule, die sie auffrißt, an der Kehle zu nagen, würden zwar die ersten sterben; aber schließlich würde die Angst das gierige Tier packen, und da alle Lebewesen leben wollen, würde es sich schließlich lieber von Körnern ernähren als zu verrecken.
So muß auch das menschliche Vieh vorgehen; die Frau kann ihre Zeit nicht damit verlieren, illusorische Rechte zu fordern (die Leute, die sie ihr versprechen, genießen sie selber nicht), sie muß ihren Platz in den Reihen der Kämpfenden einnehmen und sich gleichzeitig von der Prostitution befreien, von der sie niemand als sie selber befreien wird.
Wenn sie aber nicht mehr die Beute der Begierde und Lüsternheit sein will, wird sie wissen, daß der Tod einem solchen Leben vorzuziehen ist, und sie wird nicht so dumm sein, unnütz zu sterben.
Dieses Gespräch höre ich noch, während ich schreibe. Es ist die Geschichte eines Kaufpreises.
- Haut mich doch einer auf'm Boulevard des Batignolles an; wollt' mir nur zwanzig Piepen geben, aber ich hatt' Hunger, und außerdem hatt' ich für ab und zu'n Louis bei der Polizei; dem mußte ich zahlen, sonst hätt' er mir ein Ding verpaßt; ich wollt's nich.
- Was hattste denn mit den vierzig Piepen von dem Alten gemacht, der so voll war?
- Ich hatt' sie abgegeben, zwanzig an unsern Louis und zwanzig 'ner kleinen Göre, die vor Hunger plärrte, weil sie kein Brot mehr auf Pump bekam; die ganze Sippschaft bei ihr is am Krepieren, hat sie gesagt; an dem Tag hatt' ich nich' mal 'nen gehoben, wo ich's doch nich leiden kann, wenn ich nich' bedudelt bin.
- Warum biste nich getürmt, als man dich geschnappt hat?
- Wenn ich dir doch sage, daß ich keinen gehoben hatte; dann schon lieber dort landen! Sh...! Lieber krepieren!
Ja, ihr habt recht, ihr armen Mädchen, die ihr bis in den Abgrund großzügig bleibt, besser krepieren, als dieses Leben führen, wo ihr trinken müßt, um das Leben nicht mehr zu spüren.
Ich will nicht glauben, daß es der Mann zu seinem Wohlbefinden nötig hat, sich dauernd vollaufen zu lassen. Die Frau aber, wer sie auch, sei, hat es unbedingt nötig, rein zu bleiben von diesen unsauberen Begierden.
Doch blicken wir nach vorn, denn unter diesen Qualen wird die junge Menschheit entstehen. Sie ist es, die von Ferré am Pfahl von Satory, von den Nihilisten am Galgen des Zaren, von den deutschen Sozialisten mit dem Kopf unter dem Beil begrüßt wird; ebenso verneige ich mich vor dem Leben, das schrecklicher ist als der Tod.
XV.
Ich komme zum Ende.
Nun, da der schwarze Vogel auf dem roten Feld für mich gesungen hat, wäre es vielleicht nicht schlecht, einige Zeilen daraus als Studiengrundlage denen hinzuwerfen, die nicht wissen, wie es ist, wenn man nichts mehr zu befürchten hat, wenn noch mehr Leiden nicht mehr möglich ist, und wenn man über den Schmerz hinweg kalt zusieht, wie sich der geifernde Haß windet und die von Neid aufgeblasene Dummheit herumzappelt.
Gegen diesen Haufen Idioten ist man gleichgültig wie ein Lumpensammler, der den Plunder von Zeit zu Zeit mit seinem Haken umdreht; es gibt keine Namen mehr, aber jedes Ding trägt seinen Stempel.
Ich habe dort noch kein Stück groben Wollstoff oder derbes Leinen gefunden, nur in den Dreck gezogene Seide und Samt.
Haben Sie bemerkt, wie sehr manche Dinge stinken? Dieser namenlose Dreck hat den schalen Geruch von Abfällen!
Wäre die ungeheure Aktivität, die manche Leute entfaltet haben, um mich, wenn möglich, zu beschmutzen, für etwas Vernünftiges in Bewegung gesetzt worden, so hätte sie von Nutzen sein können. Wie viele wertvolle Eigenschaften werden durch die Dummheit der egoistischen Gesellschaft in eine falsche Richtung gelenkt!
In Neukaledonien habe ich auf einem vom Wirbelsturm aufgeworfenen Hügel eine große Alge gesehen, die noch klebrig-feucht war von den Fluten, in denen sie sich genährt hatte; zwei Ableger, die von oben auf den sonnenbeschienenen Hang fallen, werden bereits zu einer neuen Liane; - sie klammern sich noch unbeholfen an die Erde, die ihnen wärmere Säfte geben wird, und die Blätter von einem weniger schwärzlichen Grün nehmen schon das Licht auf.
Wie viele Geschöpfe würden auch das Licht aufnehmen, wenn sie in eine andere Umgebung kämen!
Wieviel entfesselter Haß beißt sich unterdessen die Zähne an den Mauern der Gefängnisse aus! Ihr sucht das Glück, um es zu zernagen, ihr armen Toren; geht euren Weg, das Glück ist nirgendwo; ich hätte es gefunden, wenn ich diese beiden Jahre bei meiner Mutter verbracht und sie glücklich gesehen hätte; nun, da sie tot ist, seht ihr doch, daß ihr nicht mehr befürchten müßt, ich sei glücklich. Seid beruhigt, ich werde nie mehr glücklich sein; plustert euch bloß nicht so auf, eure Beleidigungen sind mir gleichgültig.
Man wird verstehen, warum ich aufgrund dieses entsetzlichen Schmerzes, den der Tod meiner Mutter und meiner Freundin verursachten, lieber die Freunde zitiere, die von diesen traurigen Tagen berichten, statt sie selbst zu erzählen.
Der Mut kennt Grenzen, man überschreitet sie nur, wenn die Pflicht es erfordert.
Im Dossier de la magistrature (Akten der Magistratur) von Odysse Barot finde ich den genauen Bericht von Marie Ferrés Verhaftung, und ich zitiere diese Seiten, die unter dem lebhaften Eindruck der entsetzlichen Szene geschrieben wurden; sie sollen als Einleitung zum Bericht ihres Todes dienen.
Man erinnert sich noch an den Prozeß von Théophile Ferré, Mitglied der Kommune, an seine verächtliche Gelassenheit vor dem Hinrichtungspfahl von Satory, als er den zwölf Gewehren gegenüberstand, die ihn töten sollten. Auf diesen Tod wartete er lächelnd, zigarrerauchend, mit unverbundenen Augen; das weiß jeder.
Eine Einzelheit nur ist nicht bekannt und ist bis zum heutigen Tage nirgendwo geschrieben worden: sie betrifft die Art und Weise, wie man Ferré verhaften konnte und zu welchem Mittel man griff, um sein Versteck zu entdecken.
Alle Suchaktionen waren unfruchtbar geblieben; man hatte vielleicht fünf oder sechs Pseudo-Ferrés verhaftet, ebenso wie man fünf oder sechs Billiorays und fünf oder sechs Vallès erschossen hatte.
Was tun? Nun, man schlägt den Weg zu dem kleinen Haus in Levallois-Perret, rue Fazilleau, ein, in dem das ehemalige Kommunemitglied mit seinen Eltern wohnte.
- Natürlich befand er sich dort nicht.
- Klar! Man wußte ganz genau, daß es aussichtslos war, ihn hier zu suchen.
- Nun dann, warum dorthin gehen?
Wie naiv seid ihr doch! Habe ich denn nicht gesagt, daß er hier mit seiner Familie wohnt? Nun, wozu ist eine Familie denn nützlich, wenn nicht, um die Ihren zu denunzieren und auszuliefern?
In das kleine Haus in der rue Fazilleau, das von einem Garten umgeben ist, tritt man etwas brutal ein, das versteht sich von selbst. Ach! Sehen Sie, ich weiß nicht, ob ich den Mut finden werde, dies zu Ende zu berichten. Vor kurzem rief mich eine Angelegenheit nach Levallois; ich bin durch diese Straße gegangen; als ich dann vor diesem Haus vorbeikam, dessen Nummer mir plötzlich wieder einfiel, war ich gezwungen, meinen Weg für ein paar Minuten zu unterbrechen. Das Blut stieg mir in den Kopf, der Schweiß rann mir über die Stirn, eine einfache Erinnerung ließ in mir Fluten von Wut und Zorn grollen.
Verzeihen Sie diesen unwillkürlichen Gefühlsausbruch; denn diese Empörung, diese Wut, diesen Zorn werden Sie mit mir teilen. Ich fahre fort;
Man tritt ein. Der Vater war zu seiner täglichen Arbeit gegangen, es waren nur zwei Frauen geblieben, die alte Mutter und die junge Schwester des gesuchten Mannes.
Die letztere, Mlle Ferré, lag krank, schwerkrank, mit sehr hohem Fieber im Bett.
Man nimmt sich Mme Ferré vor; man bedrängt sie mit Fragen, man ermahnt sie, das Versteck ihres Sohnes zu verraten. Sie beteuert, daß sie es nicht kennt, und daß, selbst wenn sie es kennen würde, man von einer Mutter nicht verlangen könne, daß sie ihren eigenen Sohn denunziere.
Das Drängen wird noch stärker; man benutzt abwechselnd Weichheit und Drohungen.
- Verhaften Sie mich, wenn Sie wollen, aber ich kann Ihnen nicht verraten, was ich nicht weiß, aber Sie werden wohl nicht die Grausamkeit besitzen, mich vom Bett meiner Tochter zu zerren.
Bei diesem Gedanken zittert die arme Frau am ganzen Körper. Einem der Männer entschlüpft ein Lächeln. Ein diabolischer Gedanke hat sich in seinem Kopf plötzlich breitgemacht.
- Da Sie uns nicht sagen wollen, wo sich Ihr Sohn befindet, nehmen wir Ihre Tochter mit.
Ein verzweifelter Angstschrei entschlüpft Mme Ferré. Ihre Bitten, ihre Tränen sind machtlos; auf die Gefahr hin, sie umzubringen, schickt man sich an, die Kranke aufstehen und sich anziehen zu lassen.
- Nur Mut, Mutter, sagt Mlle Ferré; gräme dich nicht, ich werde stark sein; es wird nicht schlimm sein; man wird mich wieder freilassen müssen.
Man will sie fortbringen.
Vor die entsetzliche Alternative gestellt, entweder ihren Sohn in den Tod zu schicken oder ihre Tochter zu töten, wenn sie sie mitnehmen läßt, kopflos vor Schmerz, verliert die unglückliche Mutter die Fassung und zögert, trotz der flehenden Zeichen, die ihr die heldenhafte Marie gibt!...
- Sage nichts, Mutter! Sage nichts! flüstert die Kranke.
Man führt sie ab.
Aber es war zuviel für den armen mütterlichen Verstand.
Mme Ferré bricht zusammen; ein hitziges Fieber bricht aus, der Verstand trübt sich; unzusammenhängende Sätze entschlüpfen ihr. Die Henker lauschen und lauern auf das kleinste Wort, das als Hinweis dienen könnte.
In ihrem Fieberwahn murmelt die unglückliche Mutter mehrmals diese Worte: rue Saint-Saveur.
Es bedurfte leider nicht mehr. Während zwei Männer das Haus Ferré im Auge behalten, eilen die anderen, ihr Werk zu vollenden. Die rue Saint-Saveur wird umzingelt und durchsucht. Theophile Ferré wird verhaftet... Einige Monate später wird er erschossen.
Eine Woche nach der grauenhaften Szene in der rue Fazilleau gibt man dem mutigen Kind wieder die Freiheit. Man gibt ihr aber nicht die Mutter wieder: sie wurde wahnsinnig und starb sehr bald in einer Irrenanstalt, in der Anstalt Sainte-Anne.
Zehn Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen stand Marie noch aufrecht. Wer einen Vater oder einen Bruder in Kaledonien oder im Exil hatte, weiß, wie unermüdlich ihre Aufopferung und ihr Mut waren.
In London sprachen die Verbannten mit mir von den mit ihr dort verbrachten Tagen, als hätten sie in ihr die im Gemetzel verschollenen Freunde wiedergefunden; ich glaube, sie liebten sie noch mehr als ich. Sie ist nicht mehr unter uns.
Wer in Paris, wo man so oft die Wohnung wechselt, in der rue Condorcet Nr. 27, in der ehemaligen Wohnung von Mme Camille Bias wohnt, wird vielleicht noch ein Zimmer mit roten Tapeten dort sehen, das die Form eines Leuchters hat.
Als Mme Bias diese Wohnung aufgab, erzählte mir Marie oft von dem roten Zimmer: »Das ist ein wirkliches Nest«, sagte sie zu mir, »Sie werden sehen, wie ruhig es ist.«
Es war tatsächlich ein Nest - das Nest des Todes.
In der Nacht vom Donnerstag zum Freitag, den 24. Februar 1882, haben wir sie verloren, nach einer kurzen Krankheit, deren schrecklichen Ausgang wir nicht im entferntesten ahnten.
Ich war etwas neidisch gewesen, daß sie anläßlich der Krankheit nicht zu mir gekommen war, aber sie sagte mir:
- Ich werde mich dort wohlfühlen! Nach ein paar Tagen wird es vorbei sein. Es war tatsächlich vorbei! Wenn es einen Gott gäbe, wäre er in Anbetracht solcher Schläge ein wirkliches Ungeheuer.
Das Bett stand der Tür gegenüber mit dem Kopf an der Wand.
Während der zwei Tage, die sie dort tot lag, spielte jemand, der keine Ahnung hatte, was sich abspielte, unaufhörlich Geige in dem Haus gegenüber; das traf einen ins Herz.
So ist es in den Städten, in denen jedes Haus selbst eine Stadt ist.
Vor diesem Bett haben wir sie in den Sarg gelegt, umhüllt von von meinem großen roten Schal, den sie liebte.
Als Theophile Ferré gestorben war, begruben ihn Mme Bias und die arme Marie, wie es seine eigene Mutter getan hätte.
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Den Magasins du Louvre gegenüber ist ein kleines Wollwarengeschäft; dort wohnte meine Mutter, bevor sie zu ihren Verwandten nach Lagny zog, während meiner Deportation lange Zeit bei einer Verwandten, für die sie immer eine tiefe Zuneigung gehegt hatte.
Flüchtig waren nach meiner Rückkehr die frohen Augenblicke in der rue Polonceau Nr. 24; daß meine Mutter und Marie bei mir waren, machte mir fast Angst; ist das Glück denn nicht ein so schwacher Zweig, daß man ihn immer abbricht, sobald man sich darauf ausruht?
Zwei alte Freundinnen besuchten meine Mutter jeden Tag und bedachten sie mit den kleinen Aufmerksamkeiten, die alte Leute so gern haben; wenn eine Versammlung war, blieb meine liebe Marie bei ihr; all das ist nun vorbei.
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Auf dem Boulevard Ornano Nr. 45 in der vierten Etage hat sie die lange Marter der zwei Jahre durchgemacht, die sie vor ihrem Tod ohne mich verlebte.
Ihr Bett stand im Mittelzimmer, parallel zum Eingangskorridor.
Über der Kommode hing ein großes Bild von mir, das Mme Jacqueline gemalt hatte. Wie oft ruhten die Augen der armen Frau in diesen zwei Jahren auf dem Bild.
In ihren letzten Augenblicken, als ihr das Sprechen schwerfiel, schien mir, als wolle sie mir zu verstehen geben, daß ich das Bild Rochefort schenken solle, der es mir in den zwei Jahren aufbewahrt hatte.
Solange man ihr einreden konnte, daß ich nur für ein Jahr im Gefängnis sei, saß sie an sonnigen Tagen lange am Fenster. Dort hatte sie mich so oft erwartet, wenn ich von den letzten Vortragsreisen heimkehrte, für deren Dauer Mme Bias bei ihr geblieben war.
Nach dem 14. Juli 1884 mußte man ihr alles sagen; sie setzte sich nie wieder ans Fenster.
Ich glaube nicht, daß dieser Schmerz, der meiner armen alten Mutter zugefügt wurde, zum Glück irgendeines Menschen hat beitragen können.
Aber niemand auf der Welt kann das jetzt noch ändern, die Toten weckt man nicht auf.
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Sie ist am Morgen des 3. Januar 1885 drei Minuten vor fünf Uhr gestorben.
Als ich am Morgen des Begräbnisses die Treppe herunterstieg und sie in dem noch nicht vernagelten Sarg zurückließ, dachte ich an ihren Schmerz der letzten zwei Jahre, ich fühlte selbst alles, was sie gelitten hatte, arme Mutter! Wie glücklich wäre sie gewesen, mit mir ein paar Tage zu verbringen!
Man hat recht gehandelt, mich bei ihrem Tod bei ihr zu lassen; deswegen wäre es recht schamlos, mir für ihren Leichnam Gnade zu gewähren.
Ich werde wieder frei sein, wenn alle aus den Gefängnissen entlassen, werden oder wenn meine Zeit vorüber ist. Man lasse mich bis dahin in Ruhe.
Und die Friedhöfe! Vroncourt im oberen Winkel unter den Tannen, Audeloncourt, Clefmont!
Und die kleinen, niedrigen und dunklen Häuser der alten Onkel, das in die Erde eingedrückte Häuschen der Tante Apolline, das des Onkels Georges, ganz oben auf dem Hügel!
Und das Schulgebäude. Wer hört jetzt das Geräusch des Baches?
Oh! Mehr denn je erreicht mich jetzt der Duft der Rosen, des Strohs, des in der Sommersonne gemähten Heus, der beißende Geruch der Niaoulis, der sich mit der bitteren Frische der Fluten vermischt.
Und alles taucht wieder auf, alles lebt wieder, die Toten und die verschwundenen Dinge.
Und mehr denn je möchte ich sie wiedersehen. Sie rufen mich, dennoch blieb mir nichts von ihnen übrig, so als seien sie ein vorüberwehender Wind.
Auch wenn der Gedanke eine Art Atmosphäre wäre, der den Körper einhüllt, würde er sich nicht mit ihr verflüchtigen?
Was soll's! Man muß bis zum Ende gehen; die Arbeit betäubt, wie Sporen läßt einen der Schmerz marschieren; vielleicht ist das notwendig, um sein Leben auszufüllen.
In meinen Papieren wiedergefundene Texte werden besser als ich sagen, wie entsetzlich sich die Ereignisse seit 1871 verbanden: sie hängen alle miteinander zusammen, lassen sich voneinander ableiten und sind mir alle gleichzeitig gegenwärtig.
Der erste Text, der mir in die Hände gerät, ist vom 28. November 1871 datiert.
Er erzählt vom Lager in Satory, auf dessen Novemberschnee die Sonne am Morgen schien und wo die Ermordung Ferrés, meines Waffenbruders, stattfand; ich hätte dort gern meinen Platz gehabt.
Meine Mutter war noch rüstig, sogar relativ jung. Es wäre weniger grausam gewesen als die Trennung vor zwei Jahren.
Mit diesen Worten berichtet eine reaktionäre Zeitung über den heroischen Tod von Ferré:
- ... Die Verurteilten sind wirklich unerschütterlich, Ferré, gegen den Hinrichtungspfahl gelehnt, wirft seinen Hut auf den Boden. Ein Unteroffizier kommt auf ihn zu, um ihm die Augen zu verbinden; er nimmt die Augenbinde und wirft sie zu dem Hut... Die drei Verurteilten werden allein gelassen. Die drei Erschießungskommandos, die sich gerade genähert haben, feuern.
Rössel und Bourgeois sind sofort gefallen; Ferré ist einen Augenblick lang aufrecht geblieben und dann zur rechten Seite gefallen. Der chirurgische Stabsarzt des Lagers, Monsieur Dejardin, eilt zu den Leichen. Er gibt Zeichen, daß Rössel wirklich tot ist, und ruft die Soldaten, die Ferré und Bourgeois den Gnadenstoß geben müssen.
Schließlich ziehen die Reihen ab...
Vor dem dritten Kriegsgericht, dem er im August vorgeführt wurde, hatte Ferré als einzige Verteidigung folgendes gesagt:
»Als Mitglied der Kommune bin ich in den Händen ihrer Sieger:
»Sie wollen meinen Kopf, sollen sie ihn nehmen.
»Niemals werde ich durch Feigheit mein Leben retten. Ich habe frei gelebt, ich will ebenso sterben.
»Ich füge nur eines hinzu: das Schicksal ist launisch. Ich vertraue der Zukunft die Sorge um meine Erinnerung und meine Rache an.«
(La Liberte, den 28. November 1871.)
Der zweite Text ist das Faksimile des letzten Briefes Ferrés an meine liebe Marie.
Ich bekam ihn am 24. Mai dieses Jahres; ich brauche kein Begleitschreiben, um zu erraten, daß Sie, mein lieber Avronsart, ihn mir geschickt haben.
Mit diesem traurigen und stolzen Abschied sehe ich unser Wachsamkeitskomitee auf der Chaussee Clignancourt Nr. 41 wieder.
- Alles Poeten und Wilde! sagte Mme Meurice zu mir.
Es stimmte! Wie gern wir uns dort hatten, und wie wohl fühlten wir uns zusammen!
So wohl, daß man etwas ängstlich auf die Uhr blickte, die zeigte, daß es nun Zeit war, zu unseren oder zu den Klubs, die die Ergebung und den Plan Trochu befürworteten, zu gehen, um dort subversive Ideen hineinzuschleudern, die in Funken über die immer großzügige Menge fielen, die sich nämlich nicht ergeben wollte.
Diese Versammlungen von Drückebergern und Blutleckern zu desorganisieren, war schnell erledigt.
Sie rochen im voraus das Blut der Besiegten und tauchten dann zu ihrer Stunde wieder auf (zur Stunde der Schakale); ihre Beute brauchten sie tot oder gefesselt.
Immer noch glaube ich, daß ich mit diesem Brief an Marie den letzten besitze, der mir aus seiner Zelle in Versailles gesandt wurde, bevor man mich nach Arras brachte, von wo ich unter den schon berichteten Bedingungen zurückgerufen wurde. Am Morgen des 29. November, im Augenblick, da Marie den Leichnam des Erschossenen holen wollte, hatten wir den Trost, uns zu begegnen.
Ich glaube nicht, daß mir irgendeine Durchsuchung diese Papiere genommen hat, aber da wir alle tot oder gefangen sind, mögen die Freunde nicht darin wühlen, und ich lasse ihnen dieses Traurigkeitsgefühl, das ich nicht verletzen möchte.
Ich erwähne nur, daß sich Ferré in diesem Brief über sein Schicksal nicht beschwerte.
Ich erwähne nur, daß in diesem Brief Ferré über den Blutstrom von 71 hinaus auf die in der Ferne aufgehende Freiheit blickte, statt über das eigene Schicksal zu klagen.
Wo seid ihr denn alle, o meine Freunde?
Wenn dieses Buch Burlot in seinen Wäldern in Morvan und den alten tapferen Louis Moreau - ich weiß nicht, in welcher Ecke der Welt - findet, werden sich diese auch erinnern.
Aber ich merke, daß ich Namen niederschreibe, und ihre Träger leben noch! Ich höre also auf, diese Seite jedoch wird bleiben.
Hier ist der letzte Brief von Théophile Ferré.
Untersuchungsgefängnis von Versailles, Nr. 6
Dienstag, den 28. November 1871, 5.30 Uhr morgens.
Meine liebe Schwester,
In einigen Minuten werde ich sterben; im letzten Augenblick wird mir Deine Erinnerung gegenwärtig sein; ich bitte Dich, nach meinem Leichnam zu fragen und ihn mit dem unserer unglücklichen Mutter zusammenzubringen; wenn Du kannst, laß in den Zeitungen inserieren, wann mein Begräbnis stattfindet, damit mich Freunde begleiten können; selbstverständlich kein kirchliches Begräbnis; ich sterbe als Materialist, so wie ich gelebt habe.
Bring einen Kranz Immortellen auf das Grab unserer Mutter.
Versuch, meinen Bruder zu heilen und unseren Vater zu trösten; sag beiden, wie sehr ich sie liebte.
Ich küsse Dich tausendmal und danke Dir dafür, daß Du mich unaufhörlich so gut umsorgt hast; überwinde Deinen Schmerz und sei den Ereignissen gewachsen, so wie Du es mir oft versprochen hast; was mich betrifft, so bin ich glücklich, meine Leiden werden bald ein Ende haben, und ich habe keinen Grund, mich zu beschweren.
Dein ergebener Bruder,
TH. Ferré.
All meine Papiere, meine Kleidung und andere Gegenstände müssen Dir zurückgegeben werden, bis auf das Gerichtsgeld, das ich den ärmeren Gefangenen überlasse.
Th. Ferré.
Ich fühle mich verpflichtet, noch einige Zeitungsausschnitte über das Begräbnis von Marie am 28. Juni 1882 zu zitieren.
- Gestern morgen um 9Uhr fand die Beerdigung der tapferen Bürgerin Marie Ferré statt, der Schwester von Théophile Ferré, der wegen seiner Beteiligung an der Kommune von der bürgerlichen Reaktion erschossen wurde.
Das Leben Marie Ferrés war nur Selbstaufgabe und -aufopferung für die Sache, wegen der ihr Bruder starb.
Mit dem entsprechenden Respekt und mit Bewunderung folgte gestern eine große Anzahl Freunde dieser Märtyrerin des revolutionären Glaubens zu ihrer letzten Ruhestätte.
................................................................... - Das Geleit bestand aus etwa tausend Personen, unter denen man die Bürger Henri Rochefort, Clovis Hugues, die Bürgerinnen Hubertine Auclert, Camille Bias, Cadolle und Louise Michel erkannte.
Vor der Abholung des Leichnams im Trauerhaus wurden Immortellensträuße an die Anwesenden verteilt.
Acht Kränze aus weißen Rosen und drei aus roten Immortellen wurden auf den Sarg gelegt.
Die drei Immortellenkränze trugen folgende Aufschriften: Marie Ferré vom Cercle d'etudes sociales du XVIIIe Arrondissement (Sozialer Studienkreis des XVIII. Arrondissements) und Marie Ferré vom Libre-Pensée de Levallois-Perret (Freies Denken von Levallois-Perret).
Um 9.15 Uhr setzte sich das Geleit in Richtung Levallois-Perret in Bewegung, wo sich das Familiengrab der Ferrés befindet und der Bruder der Verstorbenen nach seiner Erschießung in Satory begraben wurde.
Das Geleit führten der Vater und der Bruder von Marie Ferré, Mme Bias und Louise Michel.
Als man den Boulevard des Batignolles, die rue de Levis und die rue de Tocqueville in Richtung der Porte d'Asnieres durchquerte, wuchs das Geleit um einige Hundert Personen an.
Vertreter der revolutionären Gruppen, des sozialen Studienkreises, des Freien Denkens und des Wachsamkeitskomitees des XVIII. Arrondissements hielten mehrere Reden.
Der Bürger Edmont Chamolet zitiert die Worte des Dichters:
»Sie war:
Aus Glas zum Klagen, aus Stahl zum Widerstehen.
- »So blieb sie inmitten der Existenzkämpfe äußerlich gelassen, wenn nicht resigniert, trotz des Schmerzes, trotz der psychischen ad physischen Marter, die sie erdulden mußte.
»Ihr Leben war ein zu aktives, ein fieberhaftes Leben,und ihre schmächtige und gebrechliche Natur wurde vom Kummer gebrochen, der langsam an ihr zehrte; ihre Kräfte versagten, der Tod hat sie uns im besten Alter genommen.
»Adieu, Marie, ruhe neben deiner armen Mutter, neben deinem für - die Freiheit gestorbenen Bruder.
................................................................................................. - »Die Geschichte, sagte Jules Allix, wird die Erinnerung an Théophile Ferré mit der edlen und erhabenen Aufopferung seiner Schwester Marie, deren schlichtes und großmütiges Leben wir hier ehren, vereinen.
»Zerbrechlich und weich, wie es Frauen sind, war sie auch mutig wie der Mutigste der Männer.
»Sei gegrüßt, Marie Ferré! Deine Erinnerung wird trotz deiner Bemühungen, dich zu verstecken, weiterleben; und wir, die Hingerichteten, wir, die Verbannten und die Geächteten, geleiten dich bis zu dem Tag, da wir unsere Märtyrer laut rühmen können, die gestorben sind, um die Freiheit zu befruchten.
»Die Menge, die sich um dein Grab drängt, liebe Bürgerin mit dem edlen Herzen, spricht besser als alle Reden die Lobrede auf dein Leben.
»Ehre sei dir, Marie Ferré! Möge man dein Beispiel nachahmen, damit wir statt der Märtyrer den Triumph haben. Es lebe die Republik! Es lebe die Revolution!«
.............................................................. - »Im Jahre 71, sagte der Bürger Dereure, hatte Marie Ferré, die von ihrem Bett aufgestanden war, um zum Gefängnis zu marschieren, eine tote Mutter, einen erschossenen Bruder, ihr Vater und ihr zweiter Bruder waren gefangen.
»Als Freigelassene stand sie zwischen diesen blutigen Gräbern und diesen Gefängnissen und wachte mit übermenschlicher Tapferkeit über ihre Toten und die, die ihr noch blieben.«Einige Worte von Louise Michel und Emile Gautier beendeten die schmerzliche Versammlung.
»Bürger, auf das Herz der Revolution selbst legen wir nun den Stein dieses Grabes: erinnern wir uns, erinnern wir uns!« - »Emile Gautier spricht die Schlußworte: Sie haben zu Recht gesagt, Louise: Erinnern wir uns! Die Erinnerungen mögen Wiederaufleben und uns einen Blick auf die Morgenröte der Tage gewähren, da die Freiheit, die Gleichheit und die Gerechtigkeit herrschen werden.«
Nach Marie Ferrés Tod nahmen die revolutionären Frauen von der Gruppe Louise Michel aus Lyon den Namen »Gruppe Marie Ferré« an.
Diesen gerechten und tapferen Frauen sei gedankt.
Unter all den Ausschnitten über den 28. Februar 1882 sind viele ergreifende Seiten über die heldenhafte und rührende Freundin, die wir verloren haben.
Bis ich sie neulich nach meiner Rückkehr aus der Verbannung wiedersah, sagte Rochefort, hatte ich von der jungen Frau von damals eine unvergeßliche Erinnerung bewahrt, die ihr plötzlicher Tod wieder neu belebt hat.
Ich sehe sie noch, wie sie in ihren schwarzen Kleidern wie ein Schatten den Korridor entlangglitt, der zum Sprechzimmer führte; gewöhnlich trafen wir drei uns, Rosseil, Ferré und ich, in dieser Art von Schachteln, die dem ganzen Zimmer das Aussehen eines Omnibusses mit Zellen verliehen. Da wir alle drei vom Tode gezeichnet waren, hatte man uns nebeneinander im Erdgeschoß des Gefängnisses untergebracht mit zwei Wächtern, die uns durch die offenen Guckfenster mit ihren ängstlichen Augen neugierig anstarrten.
Im Sprechzimmer trafen sich Mlle Rössel, Mlle Ferré und meine Kinder und teilten die gemeinsame Besorgnis.
Ich werde den begierigen und sympathischen Blick, den die beiden jungen Frauen auf die Meinen richteten, nie vergessen, als sie erfuhren, daß ich nur zu lebenslänglicher Deportation in in einer Festung verurteilt war. Dieser Blick schien zu sagen:
- Ihr Vater ist nur dazu bestimmt, seine Tage in sechstausendfünfhundert Meilen Entfernung bei den Kannibalen zu beenden. Haben Sie ein Glück!
Wie Delescluzes Schwester hat auch Ferrés Schwester tapfer gegen ihre Bitterkeit angekämpft und ist dann besiegt gefallen.
Am Tage, da der klerikale Kalender, den uns der Briefträger jedes Jahr bringt, vom republikanischen Kalender ersetzt wird, erscheint ihr Name in allem Glanz unter den denkwürdigsten, und wenn auf die kirchliche Taufe die bürgerliche Taufe jemals folgen sollte, werden die ehrlichen Frauen ihre Kinder unter den Schutz ihrer Erinnerung und ihrer Tugend stellen.