Daten zum abweichenden Verhalten der Befragten

Die Darstellung der Ergebnisse der Untersuchung, die mit diesem Kapitel beginnt, orientiert sich an den drei Variablenkomplexen der Hypothesen. Dabei stelle ich zuerst die Daten zum abweichenden Verhalten der befragten Mädchen vor, um dann im 5. Kapitel die sozialstrukturellen Variablen (objektive Situationsbedingungen) und im 6. Kapitel die Einstellungsmuster (Rollendefinitionen und Verhaltensziele) zu erläutern. Die in den Hypothesen unterstellten Zusammenhänge zwischen den Variablenkomplexen werden im 7. Kapitel überprüft.

4.1  Registrierte Mädchenkriminalität (Polizeistatistik und Aktenauswertung)

Bevor die selbstberichtete und die polizeilich registrierte Delinquenz der befragten Mädchen beschrieben werden, soll zunächst der Umfang der Delinquenz der Gesamtgruppe geschildert werden, aus der die Stichprobe der 112 auffälligen befragten Mädchen entnommen wurde.

Kriminalität von 1673 Mädchen innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahren in Hamburg (Totalerhebung)

In den Jahren 1966 und 1967 sind in Hamburg bei der Polizei insgesamt 1673 weibliche Jugendliche und Heranwachsende wegen insgesamt 2154 Delikten aufgefallen.[1]

Tabelle 1: Art und Umfang der von Mädchen 1966/67 begangenen und bei der Polizei bekannten Delikte

Gewaltdelikte und Sittlichkeitsdelikte (Körperverletzung, Raub, Unzucht mit Kindern) 28 1.3%
schwerer Diebstahl 54 2.5%
einfacher Diebstahl 1404 65.2%
Unterschlagung 75 3.5%
Begünstigung und Hehlerei 57 2.6%
Betrug 250 11.6%
Urkundenfälschung 93 4.3%
sonstige Delikte (u.a. Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sachbeschädigung, Beleidigung, Vergehen wider die öffentliche Ordnung) 193 9.0%
Gesamt 2154 100.0%

Insgesamt wurden bei 65% der Straftaten die Delikte allein begangen, jedoch unterscheidet sich der Anteil der Einzeltäter bei den verschiedenen Deliktformen, wie aus Tabelle 2 zu ersehen ist. Nur in 12 Fällen (0.5%) wurde von einer »Bande« gesprochen.

Tabelle 2: Anteil der Einzeltäter an Deliktformen

Unterschlagung 89%
Urkundenfälschung 89%
Betrug 66%
einfacher Diebstahl 65%
Hehlerei 42%
schwerer Diebstahl 33%

Bei 75% der Straftaten wurden Fremde geschädigt; bei 8% Freunde und Bekannte, bei 7% Arbeitgeber, bei 4% Angehörige (keine Geschädigten:  6%). Diese Anteile sind auch wieder unterschiedlich je nach Delikt, wie Tabelle 3 zeigt.

Tabelle 3: Deliktform und Geschädigte

einfacher Diebstahl 80% Fremde
7% Bekannte
8% Arbeitgeber
2% Angehörige
schwerer Diebstahl 64% Fremde
15% Bekannte
8% Arbeitgeber
5% Angehörige
Unterschlagung 34% Fremde
37% Arbeitgeber
Betrug 93% Fremde

Im fraglichen Zeitraum sind von den 1673 Mädchen bei der Polizei die weitaus meisten nur einmal aufgefallen (s. Tabelle 4). Vor allem die Mädchen, die wegen Gewaltdelikten, und diejenigen, die wegen sonstiger Vergehen angezeigt worden sind, haben im fraglichen Zeitraum kein weiteres Delikt begangen. Weitere Delikte, die begangen wurden, ohne daß die Mädchen noch einmal auffällig wurden, zeigt Tabelle 5.

Bereits vorher - also vor 1966 — wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung bekannt waren 247 Mädchen (15%), wegen Umhertreibens 271 Mädchen (16%); bereits vermißt waren 294 Mädchen (17%).

Tabelle 4: Häufigkeit der Polizeikontakte

nur einmal 1367 (82%)
zweimal 196 (12%)
dreimal 66 ( 4%)
viermal 22 ( 1%)
über viermal 22 ( 1%)

Tabelle 5: Deliktform und Anteil der Einfachtäter

Delikt Häufigkeit
absolut
prozentualer Anteil
am Delikt
einfacher Diebstahl 985 70%
Hehlerei 36 63%
Betrug 135 54%
Urkundenfälschung 46 49%

schwerer Diebstahl

Unterschlagung

22

25

41%

33%

Altersmäßig verteilen sich die 1673 Mädchen etwa gleichmäßig auf alle Altersgruppen zwischen 14 und 21 Jahren; wenn man das Alter zur Tatzeit betrachtet, so werden mehr Delikte von 14- bis 16jährigen verübt als von 16- bis 18jährigen; am wenigsten von 18- bis 21jährigen.

Zusammenfassung: Die Betrachtung aller innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahren — 1966/67 — bei der Hamburger Polizei als »kriminell« bekannt gewordenen Mädchen zeigt, daß es sich in den meisten Fällen um einmalige Auffälligkeit handelt. Nur ein kleiner Teil der Mädchen war der Polizei schon vorher bekannt. Das häufigste von den Mädchen begangene Delikt ist' der einfache Diebstahl, schwerere Delikte — besonders Gewaltdelikte — werden fast gar nicht verübt. Überwiegend begehen Mädchen Delikte allein und nur wenig im sozialen Nahraum.

Delinquenz von 272 Mädchen aus der Gesamtgruppe
(Aktenauswertung)

Aus der Gesamtgruppe der 1673 Mädchen wurden die zwischen 1948 und 1952 geborenen Mädchen (mittlere Altersgruppe) herausgesucht, die im Zeitraum 1966/67 mindestens zweimal oder mindestens einmal »fortgesetzt handelnd« wegen Eigentumsdelikten bei der Polizei bekannt geworden waren.[2] Von diesen 389 Mädchen wurden in 272 Fällen (Zufallsstichprobe) die Polizeiakten eingesehen, da sie mehr Information versprachen als die Polizeibögen; 112 Mädchen aus dieser Gruppe wurden dann interviewt (s. 3.1).

Bevor die Ergebnisse, die sich in den Polizeiakten fanden, hier geschildert werden, sei zunächst die Verteilung der von den 272 Mädchen 1966/67 begangenen Delikte im Vergleich zur Gesamtgruppe dargestellt, da hieraus hervorgeht, daß sich bzgl. der Anzahl registrierter Delikte Stichprobe und Gesamtgruppe nur unwesentlich unterscheiden.

Tabelle 6: 1966/67 registrierte Delikte der Stichprobe der 272 Mädchen
im Vergleich zur Gesamtgruppe der 1673 Mädchen

Delikt

absolute
Häufigkeit

relative
Häufigkeit
 
relative
Häufigkeit
 
    Stichprobe Gesamtgruppe
    n = 504 n = 2154
schwerer Diebstahl 25 4.9% 2.5%
einfacher Diebstahl 325 64.5% 65.2%
Unterschlagung 23 4.6% 3.5%
Hehlerei 26 5.1% 2.6%
Betrug 67 13.3% 11.6%
Urkundenfälschung  9 1.8% 4.3%
alle sonstigen Delikte 29 5.8% 10.3%
Gesamt 504 100.0% 100.0%

Gegenüber der Gesamtgruppe werden von der Stichprobe etwas mehr Betrug, Unterschlagung und schwerer Diebstahl begangen; auch werden hier eher Menschen im sozialen Nahraum geschädigt: Freunde und Bekannte 14%, Arbeitgeber 13%, Angehörige 5%.
Die Mädchen aus der Stichprobe sind zu einem etwas größeren Teil der Polizei schon vor 1966 bekannt: 19% wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung, 18% wegen Umhertreibens, und 21% waren bereits vermißt.

Die Aktenauswertung ergab, daß 29% der 272 Mädchen erstmals auffällig waren unter 14 Jahren (9% unter 10 Jahren), 33.5% im Alter von 14 - 16 Jahren, 23.5% zwischen 16 und 18 Jahren und 6% über 18. Bei etwa der Hälfte der Mädchen war der Anlaß des ersten Polizeikontaktes keine strafbare Handlung (s. Tabelle 7).

Jeweils vom Beginn ihrer ersten offiziellen Auffälligkeit bis zum Zeitpunkt der Aktenauswertung (1969) wurden die 272 Mädchen insgesamt 1114mal bei der Polizei registriert (s. Tabelle 8).

Tabelle 7: Anlaß des ersten Polizeikontaktes

Diebstahl 113 41%
Opfer eines Sittlichkeitsdelikts 40 15%
als vermißt gemeldet 30 11%
in Lokal aufgegriffen 23 9%
beteiligt an Delikt, ohne selbst Straftat zu begehen 12 4%
Betrug 11 4%
Verschiedenes 43 16%
Gesamt 272 100%

Tabelle 8: Gesamtauffälligkeit der 272 Mädchen

Eigentumsdelikte   727 65%
sonstige Auffälligkeiten   387 35%
als vermißt gemeldet 143 37%  
in Lokal angegriffen 112 29%  
Opfer eines Sittlichkeitsdeliktes 68 18%  
sonstiges 387 100%  
Gesamt   1114 100%
       

Insgesamt auffällig bei der Polizei wurden 31% der Mädchen zweimal, 27% drei- bis viermal, 14% fünf- bis sechsmal, 28% häufiger. Die jeweils häufigste Auffälligkeit (Schwerpunktauffälligkeit) für die einzelnen Mädchen zeigt Tabelle 9, aus der hervorgeht, daß bei den meisten Mädchen Diebstahlsdelikte den Schwerpunkt ihrer Auffälligkeit darstellen.

Tabelle 9:  Schwerpunktsauffälligkeit der einzelnen Mädchen

Diebstahl 157 58%
vermißt 22 8%
aufgegriffen 18 7%
Betrug 16 6%
nicht eindeutig 42 15%
sonstige 17 6%
Gesamt 272 100%

Wie Tabelle 10 zeigt, wurden mittels der Eigentumsdelikte vor allem Kleidungsstücke und Geld erworben. Dabei handelte es sich überwiegend um Kleinstkriminalität. Wenn man den Wert der gestohlenen Gegenstände bzw. das Geld für jedes einzelne Mädchen aufsummiert, so ergeben sich nur für 82 Mädchen (30%) insgesamt über 200 DM, 100 59 250 34% 251 35% 70 10% 108 15% 48 7%

Tabelle 10:  Durch Eigentumsdelikte erlangte Gegenstände

Geld 250 34%
Kleidung, Kosmetika, Schmuck 251 35%
Eßwaren 70 10%
sonstiges 108 15%
(Fahrgeldhinterziehung) 48 7%
Gesamt 727 100%

bis 200 DM bei 26 Mädchen (10%), 50 bis 100 DM bei 38 Mädchen (14%), 10 bis 50 DM bei 63 Mädchen (23%), unter 10 DM schließlich bei 33 Mädchen (12%).

Zusammenfassung: Bei der genaueren Aufschlüsselung der registrierten Delinquenz einer Stichprobe auffälliger Mädchen zeigt sich, daß die Mädchen vorwiegend wegen Eigentumsdelikten von der Polizei registriert werden, bei denen jedoch der finanzielle Schaden gering ist. Ein Drittel aller Polizeikontakte der Mädchen resultiert aus Verhaltensweisen, die den Mädchen meist als »sexuelle Verwahrlosung« oder »sexuelle Gefährdung« angelastet werden und nicht selten zu jugendfürsorgerischer Betreuung oder Heimeinweisung führen (s. Gipser 1972). Dabei wird nicht bedacht, ob die solchen Zuschreibungen zugrundeliegenden Verhaltensweisen das Individuum oder die Gesellschaft gefährden — oder ob sie erste Anzeichen eines allgemeinen Wandels herrschender Normen sind (vgl. Kluth 1965, S. 126).

4.2  Bewertung von abweichendem Verhalten durch die Befragten

Um ein wenn auch recht grobes Maß der normativen Orientierung der 237 befragten Mädchen gegenüber abweichenden Verhaltensweisen zu erlangen, wurden sie im Interview gebeten, jeweils sechs der von Mädchen und Jungen am häufigsten begangenen Delikte in eine Rangordnung zu bringen.
Mittels des Dendrographen (s. 3.4) lassen sich zwei Gruppen von Mädchen feststellen, die sich darin unterscheiden, wie sie Prostitution und Hwg (»häufig wechselnder Geschlechtsverkehr«) beurteilen. Der einen Gruppe (116 Mädchen) gelten diese Verhaltensweisen als die negativsten überhaupt und werden daher an den Anfang der Rangskala plaziert, während die andere Gruppe (121) sie an das Ende der Skala setzt. Dabei lassen sich keine Unterschiede 60 zwischen Auffälligen- und Kontrollgruppe, jedoch schichtspezifische Unterschiede feststellen: Mädchen, die Prostitution und Hwg kaum negativ bewerten, gehören eher der Mittelschicht an.[3]
Diese bemerkenswerte Bewertungspolarität findet sich bei den anderen Delikten nicht; alle Befragten stellen eine in den übrigen Punkten fast übereinstimmende Rangskala auf. Am negativsten werden bewertet Diebstahl bei Bekannten und Unterschlagung bei Arbeitgebern — also Delikte im sozialen Nahraum — durch Mädchen; es folgen Einbruch, Autodiebstahl, Körperverletzung und Automatendiebstahl durch Jungen; schließlich rangieren Kaufhausdiebstahl und Fahrgeldhinterziehung durch Mädchen jeweils vor Kaufhausdiebstahl und Fahrgeldhinterziehung durch Jungen. Das deutet daraufhin, daß abweichendes Verhalten von Mädchen negativer als abweichendes Verhalten von Jungen bewertet wird (vgl. auch These 10).

4.3  Selbstberichtete Delinquenz

Der in dieser Untersuchung verwandte Delinquenzfragebogen umfaßt die häufig von Mädchen begangenen Delikte und damit im wesentlichen zwei Deliktgruppen: einmal Eigentumsdelikte, zum anderen Delikte, die sich auf sozial negativ bewertete Verhaltensweisen beziehen und — wenn sie der Polizei bekannt werden — Sanktionen nach sich ziehen.
Insgesamt geben 94% aller befragten Mädchen (Auffälligenund Kontrollgruppe) mindestens eines der elf erfragten Delikte an. Die meisten Mädchen berichten von drei bis vier verschiedenen Delikten. Die Auffälligengruppe gibt dabei nicht mehr verschiedene Delikte an als die Kontrollgruppe.

Eigentumsdelikte: 108 Mädchen (46%) nennen mindestens eines der erfragten Eigentumsdelikte. Es berichten 74 Mädchen (31%), daß sie schon einmal oder mehrmals einen Kaufhausdiebstahl begangen haben. Sie haben in 37 Fällen vorwiegend Kleidungsstücke, Kosmetika und Schmuck entwendet, in 23 Fällen Eßwaren und in 14 Fällen sonstige Gegenstände wie Spielzeug, Schallplatten usw. Der Wert der insgesamt gestohlenen Artikel betrug in den meisten Fällen nicht über 100 DM. In zwei Drittel der Fälle verübten die Mädchen ihren Angaben zufolge die Diebstähle mit anderen zusammen. Der Zeitpunkt der erstmaligen Verübung eines Kaufhausdiebstahls verteilt sich auf alle Altersstufen ab 10 Jahren etwa gleichmäßig. 31 Mädchen (13%) geben ein- oder mehrmaligen Diebstahl bei Bekannten an, in zwei Drittel aller Fälle waren sie dabei überwiegend allein und beim ersten Mal meist über 14 Jahre alt. Diebstahl bei Fremden berichten 22 Mädchen (9%), überwiegend wird dieses Delikt mit anderen zusammen verübt. Ein- oder mehrmaligen Betrug vorwiegend allein begangen zu haben, äußern 29 Mädchen (12%). Meist ging es dabei um kleinere Geldbeträge (unter 50 DM).

Delikte im Sinne negativ bewerteter Verhaltensweisen: Hierunter fallen Verhaltensweisen, die zwar meist nicht strafrechtlich geahndet werden, jedoch im Sinne des »Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit" Sanktionen nach sich ziehen.[4] 191 Mädchen (81%) geben Delikte dieser Art an. So berichten 162 Mädchen (68%), daß sie — meist häufig — schon in Lokalen gewesen seien, in denen sie eigentlich nach den Bestimmungen des Jugendschutzgesetzes (§§ 1, 2, 4, 5) nicht hätten sein dürfen. 106 Mädchen (45%) geben unerlaubten Alkoholgenuß — meist häufig — in der Öffentlichkeit an (Jugendschutzgesetz § 3). Daß sie über Nacht von zuhause weggeblieben sind, ohne daß man zuhause von ihrem Verbleib wußte, berichten 89 Mädchen (38%). Von — meist häufigem — Drogenkonsum berichten 25 Mädchen (11%). Dabei waren sie fast immer mit anderen zusammen. 7 Mädchen schließlich (3%) nennen Prostitution.

Sonstige Delikte: Die als Einleitung formulierte Frage nach Kinobesuch, ohne Eintritt bezahlt zu haben, bejahen 29 Mädchen (12%). Der Fahrgeldhinterziehung schuldig gemacht haben sich ihren Angaben zufolge 192 Mädchen (81%), und zwar meistens häufig.

Unterschiede zwischen Auffälligen- und Kontrollgruppe hinsichtlich selbstberichteter Delinquenz.

Wie aus Tabelle 10a hervorgeht, zeigen sich nur bei zwei Delikten signifikante Unterschiede zwischen Auffälligengruppe und Kontrollgruppe. Mehr Mädchen aus der Auffälligengruppe geben Kaufhausdiebstahl (44 gegenüber 30 Mädchen aus der Kontrollgruppe) und Ausbleiben über Nacht (58 gegenüber 31 Mädchen aus der Kontrollgruppe) an. Bezogen auf die selbstberichtete Delinquenz ergeben sich aus unseren Daten keine weiteren signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen; auch sind keine schichtspezifischen Unterschiede bei irgendeinem der selbstberichteten Delikte auffindbar.

Tabelle 10a: Unterschiede zwischen Auffälligen- und Kontrollgruppe hinsichtlich selbstberichteter Delinquenz

Delikt   Auffälligengruppe Kontrollgruppe
    (n = 112) (n= 125)
Kaufhausdiebstahl 44 (39%) 30     (24%)
Diebstahl bei Bekannten 18 (16%) 13    (10%)
Diebstahl bei Fremden 11 (10%) 11    ( 9%)
   Betrug 16 (14%) 13   (10%)
unerlaubter Lokalbesuch 81 (72%) 81   (65%)
unerlaubter Alkoholgenuß 52 (46%) 54   (43%)
über Nacht von zuhause weg 58 (52%) 31   (25%)
Drogenkonsum 16 (14%) 9      (7%)
Prostitution 5 (4%) 2      (2%)
Kino, ohne Eintritt 16 (14%) 13    (10%)
Fahrgeldhinterziehung 94 (84%) 98   (78%)

Gruppierung der Befragten nach selbstberichteter Delinquenz

Um Aussagen über Zusammenhänge zwischen selbstberichteter Delinquenz und anderen Variablen machen zu können, ist es sinnvoll, die befragten Mädchen in Gruppen zu ordnen, die hinsichtlich selbstberichteter Delinquenz möglichst homogen sind. Fragen wir also, wie sich Gruppen von Mädchen finden lassen, die in ähnlicher Weise über ihr jeweiliges abweichendes Verhalten berichten. Wir bedienen uns dazu der mit einer Faktorenanalyse verbundenen Clustermethode des Dendrographen (s. 3.4). In einer Faktorenanalyse der Deliktarten, deren individuelle Intensität sich aus der Begehungshäufigkeit ermitteln ließ, wurden drei zu interpretierende Faktoren extrahiert, die 45% der Gesamtvarianz repräsentieren. Die Clusterung der Faktorwerte, d.h. der Meßwerte aller 237 Mädchen in diesen drei Faktoren, mittels des Dendrographen ergab drei Gruppen von Mädchen, die sich hinsichtlich ihrer selbstberichteten Delinquenz folgendermaßen voneinander unterscheiden: Gruppe I (99 Mädchen, 42%) läßt sich dadurch kennzeichnen, daß hier die Befragten kein Delikt (6%) oder am ehesten von unerlaubtem Lokalbesuch und Alkoholgenuß sowie Kinobesuch ohne Entgelt berichten. Gruppe II (34 Mädchen, 14%) ist dadurch charakterisiert, daß die Mädchen vorwiegend Delikte im sozialen Nahraum berichten, also Diebstahl bei Bekannten und Betrug. Gruppe III (104 Mädchen, 44%) ist dadurch bestimmt, daß die befragten Mädchen in erster Linie Kaufhausdiebstähle, Diebstähle bei Fremden, Drogenkonsum (und Prostitution) angeben.
Im Sinne unserer Hypothesen (dritte Hypothesenkomponente, s. 2.3) läßt sich das selbstberichtete abweichende Verhalten von Gruppe II als kompensatorisch, das der Gruppe III als rollenstützend mit rollensymbolisierenden Elementen bezeichnen, während das der Gruppe I nur mit Vorbehalt als rollensymbolisierend betrachtet werden kann.
Auf die Bedeutung dieser Ergebnisse, die im übrigen weder mit Schichtzugehörigkeit noch mit Zugehörigkeit zur Auffälligen- oder Kontrollgruppe korrelieren, gehe ich später noch ein. Zunächst soll selbstberichtete mit registrierter Delinquenz verglichen werden.

4.4  Diskrepanz zwischen selbstberichteter und registrierter Delinquenz

Um einen genauen Vergleich zwischen selbstberichteter und polizeilich registrierter Delinquenz zu gewährleisten, wurden die Polizeiakten der auffälligen Mädchen mit dem Delinquenzfragebogen »befragt". Insgesamt decken sich nur in 9 Fällen die Aussagen der Mädchen mit dem, was bei der Polizei bekannt geworden ist. Von 25 Mädchen sind bei der Polizei mehr Delikte registriert,als sie selbst berichten, jedoch in 78 Fällen (70%) geben die Mädchen mehr Delikte an, als der Polizei bekannt sind.

Tabelle 11: Selbstberichtete und registrierte Delinquenz

Delikt selbstberichtet registriert    
  absolut in% d. Befragten absolut in% d. Befragten    
      n = 112 n = 112
Kaufhausdiebstahl 44 39 59 53
Diebstahl bei Fremden 11 10 14 13
Diebstahl bei Bekannten 18 16 59 53
Betrug 17 15 25 22
verbotener Lokalbesuch 78 70 27 24
verbotener Alkoholkonsum 49 44 4 3
über Nacht weggeblieben 58 52 33 29
Drogenkonsum 16 14 1 1
Prostitution 5 4 4 3
Fahrgeldhinterziehung 89 79 13 12
         

Der Tabelle 11 ist zu entnehmen, daß der Polizei insgesamt mehr Mädchen mit Eigentumsdelikten bekannt sind — vor allem mehr Mädchen mit Diebstählen im sozialen Nahraum, während Mädchen mit sonstigen delinquenten Verhaltensweisen weniger bei der Polizei registriert sind. Die Diskrepanz zwischen selbstberichteter und registrierter Delinquenz wird in der genaueren Aufschlüsselung in Tabelle 12 noch deutlicher. 44 Mädchen (Tab. 11) berichten einen oder mehrere Kaufhausdiebstähle, davon sind 19 nicht registriert und 25 registriert worden (Tab. 12); 59 Mädchen (Tab. 11) sind bei der Polizei wegen Kaufhausdiebstahls registriert, davon berichten dieses Delikt 25, während 34 Mädchen es verschweigen (Tab. 12)

Tabelle 12: Diskrepanz zwischen selbstberichteter und registrierter Delinquenz

Delikt berichtet/ nicht registriert
abs./ in%
n = 112
berichtet u. registriert
abs./ in%
n = 112

nicht berichtet,  aber registriert

abs./ in%
n= 112

Kaufhausdiebstahl 19      17 25      22 34      30
Diebstahl bei Fremden 10      9 1    1 13      12
Diebstahl bei Bekannten 12      11 6      5 53      47
Betrug 15     13 2      2 23      21
verbotener Lokalbesuch 57     51 21      19 6      5
verbotener Alkoholkonsum 48      43 1      1 3      3
über Nacht weggeblieben 40      36 18      16 15      13
Drogen 16      14 0 1      1
Prostitution 5      4 0 4      3
Fahrgeldhinterziehung 81      72 8      7 5      4

In der Dunkelfeldforschung wird häufig angenommen, daß mit zunehmendem Polizeikontakt die Bereitschaft, Delikte anzugeben, abnimmt (vgl. Kaiser 1973, S. 150); diese generelle Annahmejedoch muß nach unseren Ergebnissen differenziert werden. Polizeikontakte führen nicht zu einer allgemein geringeren Selbstangabe von Delikten, vielmehr wird nur dasjenige Delikt, das bei der Polizei bekannt wurde, deutlich weniger selbst berichtet. Zusätzlich zeigen sich deliktspezifische Diskrepanzen zwischen Selbstangaben und Registrierungen.

Tabelle 13 Deliktspezifische Diskrepanz zwischen selbstberichteter und registrierter Delinquent

Delikt Anteil registrierter Delikte an selbstberichteten Delikten Anteil selbstberichtester Delikte an registrierten Delikten
Kaufhausdiebstahl 57% 42%
Diebstahl bei Fremden 9% 7%
Diebstahl bei Bekannten 33% 10%
Betrug 12% 8%
Verbotener Lokalbesuch 27% 78%
Verbotener Alkoholgenuß 2% 25%
über Nacht weggeblieben 31% 55%
Fahrgeldhinterziehung 9% 62%

Tabelle 13 besagt, daß von den registrierten Delikten die befragten Mädchen am ehesten verbotenen Lokalbesuch (zu 78%), Ausbleiben über Nacht (zu 55%) und Kaufhausdiebstahl (zu 42%), am wenigsten sonstige Eigentumsdelikte selbst berichten (rechte Spalte). Dies entspricht der mehr oder weniger negativen Bewertung von Delikten (s. 4.2). Demgegenüber wird der Polizei von der selbstberichteten Delinquenz am ehesten Kaufhausdiebstahl (zu 57%)[5] bekannt (linke Spalte in der Tabelle), am wenigsten verbotener Alkoholgenuß und Fahrgeldhinterziehung.
Insgesamt weichen 55 Mädchen (49%) in ihren Selbstangaben stark von der polizeilich bekannten Delinquenz ab, insofern, als sie vor allem weniger Eigentumsdelikte berichten, während 57 Mädchen eher mehr als bei der Polizei registrierte Eigentumsdelikte angeben. Letztere eher »Ehrlichen« sind vor allem die Mädchen, die über einen qualifizierteren Schulabschluß verfügen. Mädchen, die bereits verheiratet sind, machen eher unwahre Angaben.[6] Schichtspezifische Unterschiede lassen sich nicht feststellen.

Läßt sich nun aus der Diskrepanz zwischen Selbstberichten und polizeilich registrierter Delinquenz die Vermutung Opps bestätigen, »daß die Ergebnisse der meisten Studien über berichtetes abweichendes Verhalten bezüglich ihrer Gültigkeit äußerst fragwürdig sind«[7] (Opp 1968, S. 46)?
Es bedarf dies wohl einer differenzierteren Betrachtungsweise. Aus den Ergebnissen unserer Untersuchung können zum Verhältnis von selbstberichteter und registrierter Delinquenz fünf Punkte herausgearbeitet werden:

  1. Mädchen mit besserer Schulbildung machen (unabhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit) eher wahrheitsgetreue Angaben.[8]
  2. Eine spezifische Leugnungstendenz von Mittelschichtsangehörigen läßt sich hier im Gegensatz zu verschiedenen anderen Untersuchungen (s. Kaiser 1973, S. 150) nicht feststellen.
  3. Sozial negativ bewertete Delikte werden weniger oft selbst berichtet, als sie der Polizei bekannt sind.
  4. Delikte, die bei der Polizei registriert sind, werden — unabhängig von ihrer sozialen Bewertung — weniger oft selbst berichtet als Delikte, die nicht bei der Polizei registriert sind.
  5. Ein Zusammenhang zwischen Zunahme der Polizeiauffälligkeit und Schwere wie Häufigkeit der selbstberichteten Delikte, wie ihn verschiedene Autoren (vgl. Quensel 1969, S. 5) feststellen, läßt sich hier nicht nachweisen.

Vor allem die in den Punkten 3 und 4 angeführten Zusammenhänge schränken unter anderem die Brauchbarkeit selbstberichteter Delinquenz als Indikator für tatsächliche Delinquenz ein. Dies gilt besonders für die selbstberichtete Delinquenz von Mädchen, da diese stark an sozial negativ bewerteten Delikten beteiligt sind. Da gerade Delikte im sozialen Nahraum vermutlich nur selten zur Anzeige gebracht werden, kann noch weniger die solcherart registrierte Delinquenz Hinweise auf die tatsächliche Delinquenz von Mädchen geben.
Wenn dennoch im nächsten Abschnitt versucht wird, durch Zusammenfassung von selbstberichteter und polizeilich registrierter Delinquenz die tatsächliche Delinquenz der Auffälligengruppe zu erfassen, so ist das durch die größere Wahrscheinlichkeit begründet, sich damit dem »wahren Wert« des Ausmaßes delinquenten Verhaltens von Mädchen zu nähern.

4.5  Tatsächliche Delinquenz der Auffälligengruppe

Ob ein Delikt vom Mädchen selbst berichtet wird, hängt zumindest von der sozialen Bewertung des Delikts und von der Registrierung oder Nichtregistrierung bei der Polizei ab. Ob ein Delikt bekannt wird, hängt zumindest von seiner sozialen Bewertung und der Wahrscheinlichkeit ab, überhaupt angezeigt zu werden. Um nun einschätzen zu können, inwieweit selbstberichtete und/oder polizeiliche Angaben dem »wahren« Ausmaß delinquenten Verhaltens angenähert sein können, müßte das Zusammenwirken der genannten Faktoren bekannt sein. Da davon nicht ausgegangen werden kann, wählen wir als Indikator für tatsächliche Delinquenz jeweils den höheren Wert.

Beispiel: Wenn ein Mädchen 1- bis 2mal Kaufhausdiebstahl angegeben hat, der Polizei deswegen jedoch 3- bis 4mal bekannt geworden ist, wird die Registrierung bei der Polizei als Indikator gewählt; berichtet es zusätzlich von einem unerlaubten Lokalbesuch, der jedoch bei der Polizei nicht registriert ist, wird hier die Selbstangabe als Indikator benutzt.

Eine Übersicht über die Verteilung selbstberichteter, polizeilich registrierter und tatsächlicher Delinquenz in der Stichprobe gibt für die einzelnen Delikte Tabelle 14.

Während von den selbstberichteten Delikten Fahrgeldhinterziehung, verbotener Lokalbesuch und Ausbleiben über Nacht als häufigste genannt werden, werden bei der Polizei am meisten Kaufhausdiebstahl und Diebstahl bei Bekannten registriert. Die erheblichen Unterschiede lassen vermuten, daß Ausmaß und Struktur selbstberichteter wie registrierter Delinquenz jeweils unterschiedliche soziale Kontrollmechanismen widerspiegeln, nämlich auf der einen Seite die eigene Bewertung von Delinquenz, zum anderen die gesellschaftliche Reaktion. Die daraus resultierende Berechnung eines Indikators für tatsächliche Delinquenz gestattet anzunehmen, daß die häufigsten Delikte von Mädchen neben der Fahrgeldhinterziehung das Aufsuchen eines nach dem Jugendschutzgesetz nicht gestatteten Lokals, der Kaufhausdiebstahl, Wegbleiben über Nacht und der Diebstahl im sozialen Nahraum sind (s. Tab. 14).

Wenn die von den 125 nichtauffälligen Mädchen der Kontrollgruppe selbstberichtete Delinquenz nicht als tatsächliche Delinquenz gewertet wird, so ist das damit zu begründen, daß vermutlich ähnliche Mechanismen wie bei der Auffälligengruppe vorliegen, wenn es darum geht, begangene Delikte anzugeben oder zu verschweigen, zumal sich die beiden Gruppen ansonsten kaum unterscheiden (s. 4.6). Die folgenden Aussagen zur tatsächlichen Delinquenz beziehen sich also nur auf die 112 Mädchen der Auffälligengruppe.

Tabelle 14: Selbstberichtete, polizeilich registrierte und tatsächliche Delinquenz (n = 112)

Delikt selbst berichtet registriert tatsächlich
Kaufhausdiebstahl
nie
l-2mal
öfter
68 
28
16   
53
38
21
34
47
31
Diebstahl bei Fremden
nie
l-2mal
öfter
101 

98
12
2
87
20
5
Diebstahl bei Bekannten
nie
l-2mal
öfter
94
16
  2
53
34
25
42
43
27
Betrug
nie
l-2mal
öfter
95
9
8   
87
17
8
72
24
16
verbotener Lokalbesuch
nie
l-2mal
öfter
34
20
58   
85
21
6
28
21
61
verbotener Alkoholgenuß
nie
l-2mal
öfter
63
12
37
108
4
_
60
15
37
über Nacht weggeblieben
nie
l-2mal
öfter
54 
30 
28 
79
26
7
39
44
29
Drogenkonsum
nie
l-2mal
öfter
97 

10 
111

1
96
5
11
Prostitution
nie
l-2mal
öfter
107 

108
2
2
103
5
4
Fahrgeldhinterziehung
nie
l-2mal
öfter
23 
28 
61 
99
11
2
18
32
62

Gruppierung der Befragten nach tatsächlicher Delinquenz

Zur Feststellung von Gruppen, die in ähnlicher Weise sich abweichend verhalten, dient wieder die Methode des mit einer Faktorenanalyse verbundenen Dendrographen, wobei sowohl Art wie Häufigkeit der begangenen Delikte eingehen (s. 3.4).
Die Faktorenanalyse der Delikte ergab vier voneinander unabhängige Faktoren, die 58% der Gesamtvarianz extrahieren. Nach der Berechnung der Faktorwerte für alle 112 Befragten lassen sich anhand des Dendrographen (s. Abb. 2, S. 53) drei Gruppen mit jeweils ähnlichen abweichenden Verhaltensweisen feststellen:

Gruppe I (57 Mädchen, 51%): Diese Mädchen begehen am ehesten Diebstähle bei Bekannten, auch Betrug und Diebstahl bei Fremden, jedoch kaum Kaufhausdiebstahl. Im Sinne unserer Hypothesen können sie als eine Gruppe bezeichnet werden, bei der am ehesten kompensatorisches abweichendes Verhalten vorliegt.

Gruppe II (11 Mädchen, 10%): Diese Gruppe von Mädchen bleibt am ehesten über Nacht von zuhause weg und nimmt am ehesten Drogen; hinzu kommen verbotener Lokalbesuch, Alkoholkonsum und Kaufhausdiebstahl sowie Prostitution. Diese kann im Sinne unserer Hypothesen als eine Gruppe bezeichnet werden, bei der am ehesten rollensymbolisierendes abweichendes Verhalten vorliegt.

Gruppe III (44 Mädchen, 39%): Diese Mädchen begehen am ehesten Kaufhausdiebstähle; sie nehmen keine Drogen und bestehlen keine Bekannten; hinzu kommen verbotener Lokalbesuch und Alkoholkonsum. Bei dieser Gruppe liegt im Sinne unserer Hypothesen am ehesten rollenstützendes abweichendes Verhalten vor.

Unterschiede zwischen Mittelschicht und Unterschicht lassen sich diesbezüglich nicht feststellen. Jedoch besteht ein Zusammenhang zwischen der Art des abweichenden Verhaltens und der Berufstätigkeit. Ein rollenstützendes abweichendes Verhalten zeigen vor allem Mädchen in handwerklichen Berufen, ein kompensatorisches Hausfrauen und Mädchen in kaufmännischen Lehrberufen. Rollensymbolisierendes abweichendes Verhalten ist gleichmäßig über alle Berufsgruppen verteilt. Bezüglich des Schulabschlusses zeigen vor allem Mädchen mit Volksschulabschluß kompensatorisches abweichendes Verhalten. Mädchen, die bei ihren Eltern aufgewachsen sind, zeigen vor allem ein rollenstützendes abweichendes Verhalten; es sind dies vorwiegend die Mädchen, die keine Auseinandersetzungen mit ihren Eltern hatten (zu 52%). Mädchen, denen Geschwister vorgezogen worden sind, zeigen vor allem rollensymbolisierendes abweichendes Verhalten. Insgesamt besteht ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen Sozialisationsdefiziten und tatsächlicher Delinquenz.

Die angeführten auf Relationen zwischen jeweils zwei Variablen basierenden Aussagen sollen vorerst nicht weiter interpretiert werden, zumal hier auf später zu referierende Ergebnisse schon vorgegriffen wurde. Die komplexeren Beziehungsstrukturen zwischen verschiedenen Variablen werden im Kapitel 7 dargestellt. Dazu müssen die befragten Mädchen zunächst hinsichtlich der wichtigsten Daten zu ihren objektiven Situationsbedingungen und ihren subjektiven Situationsdefinitionen beschrieben werden.

4.6  Zusammenfassung von Auffälligen- und Kontrollgruppe bei der Darstellung der Ergebnisse

Bevor im nächsten Kapitel die Darstellung der erhobenen Daten zur sozialen Situation der befragten Mädchen beginnt, muß hier ein wichtiges Ergebnis vorausgeschickt werden. Das einzige Kriterium, das von der Auswahl her die Untersuchungsgruppe von der Kontrollgruppe unterscheidet, ist das abweichende Verhalten. Die in der kriminologischen Literatur vorherrschende Meinung, von der ich zunächst auch ausging, ist, daß sicherlich auch offiziell Unauffällige gegen die Normen des Strafgesetzes verstoßen, daß aber doch diejenigen, die bei den Kontrollinstanzen bekannt werden, sich in wesentlich größerem Umfang abweichend verhalten. Nun hat sich bei dieser Untersuchung herausgestellt, daß sich Auffälligen- und Kontrollgruppe in bezug auf die jeweils selbstberichteten Delikte kaum unterscheiden. Nur 3 Mädchen aus der Auffälligengruppe und 10 Mädchen aus der Unauffälligengruppe geben überhaupt kein Delikt zu.

Ist anzunehmen, daß die Gruppe der als delinquent bekannten Mädchen weniger ehrlich ist als die Gruppe der als nichtdelinquent bezeichneten?   Die Daten liefern für diese Annahme keine Gründe.

Ich habe das anhand der Variable »Selbstkritik« aus dem PIT von Mittenecker und Toman (1951) überprüft. Mittenecker und Toman haben nachgewiesen, daß bei keiner oder bei einer geringen Selbstkritikangenommen werden kann, daß die Befragten in bezug auf andere Fragen nicht ehrlich sind. Dies trifft jedoch in dieser Untersuchung insgesamt nur für 8% der Fälle zu, wobei sich Auffälligenund Nichtauffälligengruppe nicht unterscheiden.
So reduziert sich der Unterschied zwischen Auffälligenund Kontrollgruppe zunächst darauf, daß die einen bei der Polizei bekannt geworden sind und die anderen nicht. Denn auch in den weiteren erhobenen Daten unterscheiden sich Untersuchungs- und Kontrollgruppe nicht wesentlich, bis auf eine äußerst wichtige Tatsache, deren Interpretation später erfolgt: die Schichtzugehörigkeit der Befragten.
Die Zuordnung der Befragten zu unterschiedlichen Schichten erfolgte nach dem Modell von Kleining und Moore (1960, 1968) anhand des Berufs des Vaters. Danach sind 38% der als delinquent bekannten Mädchen mittleren und oberen Schichten zuzurechnen gegenüber 55% der nichtdelinquenten Mädchen. Im Vergleich mit der von Kleining und Moore ermittelten Verteilung der Schichtzugehörigkeit auf die Gesamtbevölkerung sind die Mädchen der Auffälligengruppe im Hinblick auf die Zugehörigkeit zu Mittelund Oberschicht unterrepräsentiert, die Mädchen aus der Kontrollgruppe hingegen überrepräsentiert. Wenn man die Befragtengruppe insgesamt betrachtet, entspricht sie in etwa der von Kleining und Moore ermittelten Schichtverteilung (s.a. 5.2).

Aus den angeführten Gründen werden die Untersuchungsergebnisse nicht getrennt nach Auffälligen- und Kontrollgruppe, sondern zunächst insgesamt betrachtet.