Fragestellungen und Erklärungsansätze zum abweichenden Verhalten von Mädchen und Frauen

1.1 Geschlechtsspezifische Unterschiede im Auftreten
abweichenden Verhaltens

Es besteht in der Literatur kein Zweifel, daß in bezug auf Art und Ausmaß abweichenden Verhaltens geschlechtsspezifische Unterschiede bestehen (u.a.: Lombroso/Ferrero 1894; Fernald et al. 1920; Glueck 1934; Wattenberg/Saunders 1954; Gibbens/Price 1962; Cowie et al. 1968). In Hamburg wurden beispielsweise im Jahre 1970 rund 2000 Mädchen gegenüber etwa 10.000 männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden wegen krimineller Delikte auffällig (Polizeiliche Kriminalstatistik Hamburg 1970). Der Anteil der Mädchen an Delikten ist wie auch bei den Jungen am höchsten bei einfachem Diebstahl (Fiedler 1969, 1971). Jedoch begehen Mädchen Diebstähle — im Gegensatz zu Jungen — vorwiegend allein und meist im sozialen Nahraum. Das wurde in verschiedenen Untersuchungen festgestellt (u.a. Pollak 1950; Brauneck 1961). Nach vorsichtigen
Schätzungen der Weiblichen Kriminalpolizei Hamburg werden jährlich etwa genausoviel Mädchen der Polizei wegen Prostitution und Stadtstreicherei bekannt wie wegen krimineller Delikte.[1] Doch selbst wenn man beide Gruppen addiert, sind es immer noch beträchtlich weniger Mädchen als Jungen, die sozial auffällig werden. Daß offenbar Mädchen bzw. Frauen im Hinblick auf abweichendes Verhalten weniger gefährdet sind als der Mann, geht auch aus Untersuchungen neurotischer Verhaltenstendenzen, Erziehungsschwierigkeiten und Alkoholismus hervor, in denen der jeweils geringere Anteil der Frauen betont wird (z.B. Cockburn/Maclay 1965).
Somit gilt es, Entstehung, Art und Ausmaß abweichenden Verhaltens von Mädchen zu erklären. Führen wir uns in einem ersten Schritt (Abschnitt 1.2) die bisherige Bearbeitung der Problematik noch etwas näher vor Augen, so mag die Notwendigkeit neuer Ansätze deutlich werden.

1.2 Weibliche Devianz als Gegenstand theoretischer und empirischer Untersuchungen

In fast jeder Untersuchung abweichenden Verhaltens von Frauen wird betont, daß man sich bislang relativ wenig mit diesem Problem beschäftigt habe (zuletzt z.B. Gravenhorst 1970, S. 86). Nun sind aber speziell zu diesem Thema seit der Jahrhundertwende rund 300 wissenschaftliche Abhandlungen oder Untersuchungen veröffentlicht worden. Wenn trotzdem behauptet wird, abweichendes Verhalten von Frauen sei ein in der Forschung vernachlässigtes Problem, so dürfte dies damit zusammenhängen, daß bislang kaum befriedigende Erklärungsansätze gefunden wurden. Eine Durchsicht der vorhandenen Literatur bestätigt diese Vermutung weitgehend.
Um die Jahrhundertwende und zu Beginn unseres Jahrhunderts richtete sich das Hauptinteresse der vorliegenden Arbeiten auf den quantitativen Aspekt der Kriminalität von Frauen. Einerseits wurde das an den Statistiken abgelesene geringere Ausmaß überwiegend aus biologisch bedingten Geschlechtsunterschieden erklärt, andererseits wurde die Prostitution als weibliches Äquivalent zur Kriminalität von Männern betrachtet. Hauptvertreter dieser Anschauung sind Lombroso und Ferrereo (1894), die ihre Erkenntnisse
aus Vergleichen mit dem Tierreich gewinnen:

»So sahen wir das Weibchen auf den untersten Stufen des Thierreiches an Körpermasse und Differenzierung der Organe dem Männchen überlegen, um dann zur Sklavin des Männchens herabzusinken und an Kraft und Variabilität zu verlieren; so erscheint das Weib auch beim Menschen dem Manne an Kraft und Körpergröße und meist auch an geistiger Begabung gleich oder überlegen bis zur Zeit der Pubertät, um dann allmählich zurückzubleiben; diese kurze Überlegenheit ist der Ausdruck jener Frühreife, die immer ein Zeichen der Inferiorität ist. Selbst die relative Seltenheit der Degenerationszeichen, die auf den ersten Blick eine Überlegenheit zu beweisen scheint, ist eine Folge der geringeren Variabilität des Weibes und letztere ist ein Zeichen der Inferiorität« (S. IV). »... Der Mangel höherer geistiger Begabung, der Kraft und der Variabilität erklärt uns, warum das seiner angeborenen Anlage nach weniger moralische Weib doch wenig zu eigentlichen Verbrechen neigt ... das Aequivalent der angeborenen Kriminalität beim Weibe (ist) mehr die Prostitution« (S.V).

Daneben finden sich aber bei Lombroso und Ferrero auch Ansätze, abweichendes Verhalten von Frauen aus den sozialen Bedingungen heraus zu erklären:

»… ist doch dieses Aequivalent trotz gleichen atavistischen Ursprungs und gleicher Infamie weniger schädlich, weniger gefährlich und weniger pervers ... kann die Prostitution als ein Sicherheitsventil für die Moral und die öffentliche Ordnung gelten; sie wäre nicht entstanden und nicht geblieben, wenn die Lasterhaftigkeit des Mannes sie nicht konservierte; sie ist ein so nützliches Ableitungsmittel für diese, daß man sagen kann, daß das Weib, auch wo es sündigt, wo es verthiert, der Gesellschaft noch nützlich ist« (S. VI).

Eine Reihe von früheren Autoren widmet sich der Untersuchung von bestimmten Teilaspekten, wie Gesundheit,
Intelligenz, wirtschaftliche Lage oder Ehesituation krimineller Frauen, wobei jedoch durchgehend mehr oder weniger die biologische Bedingtheit der Kriminalität von Frauen betont wird, die in der Behauptung der Inferiorität der Frau gegenüber dem Manne gipfelt. Ganz deutlich spricht das Möbius aus, der in seinem Buch »Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes« (1902) feststellt, daß wichtige Gehirnteile für das geistige Leben beim Weibe schlechter entwickelt seien als beim Manne (S. 15), daß das Weib tierähnlich sei, und schließlich meint, wenn es nur Weiber gäbe, würde das menschliche Geschlecht in seinem Urzustand geblieben sein (S. 17). Ähnliches vertritt auch Wulffen noch 1923, der von der mangelnden Geistigkeit der Frau spricht, ihrer Unaufrichtigkeit, ihrem schlechtentwickelten Gewissen, ihrem mangelnden Sinn für staatliche Ordnung usw.
Von diesen Anschauungen heben sich die zeitlich etwas später liegenden Untersuchungen von Koppenfels (1926)
und Krille (1931) ab sowie die amerikanischen Untersuchungen von Fernald (1920), Thomas (1923), Burleigh
und Harris (1923) und den Gluecks (1934). Hier richtet man das Augenmerk auf die soziale Umwelt der kriminellen Frau. Dabei stellt man z.B. Zusammenhänge zwischen Ehelosigkeit oder niedriger sozialer Herkunft einerseits und Kriminalität andererseits fest, ohne allerdings diese Zusammenhänge weiter zu interpretieren.
Die deutschen Untersuchungen abweichenden Verhaltens von Frauen aus den letzten dreißig Jahren stellen in erster Linie Zahlen über Ausmaß und Art der Delinquenz zusammen. Aus den Erklärungen dieser Abhandlungen zu der Frage, weshalb Frauen kriminell werden und weshalb sie weniger kriminell werden als Männer, möchte ich beispielhaft eine Auswahl zitieren:

»Gerade Mädchen leiden unter ungünstigen häuslichen Verhältnissen... mehr als Knaben, da sie weicher, häuslicher und empfindsamer sind« (Topp 1941, S. 24).

»Belastet wird die Frau vor allem durch die Unwahrhaftigkeit und Täuschung, sodann durch die Rücksichtslosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber so bedeutenden Schutzgütern wie der Erforschung der Wahrheit durch staatliche Behörden. ... Zugleich tritt hierbei der den Frauen so häufig abgehende Sinn für staatliche und allgemeine soziale Interessen hervor« (Sauer 1950, S. 80).

»Die Frau neigt aus ihrer Naturgegebenheit zur Passivität. Sie besitzt aufgrund ihrer stärker gefühlsmäßigen Veranlagung engere religiöse Bindungen als der Mann. Diese können ohne Zweifel kriminelle Handlung hemmen« (Zaucke 1954, S. 312).

Amelunxen (1958) geht von der biologisch bedingten »Wesensart der Frau« aus. Die Frau sei eine Gelegenheitstäterin, die durch akute Umwelteinflüsse, fehlenden Gemeinsinn, Schwäche, Erwerbssucht, Luxusbedürfnis und häufige sexuelle Unterströmungen zu ihren Taten veranlaßt werde (S. 10). Sitte und Sexus der Frau seien nicht allein mit wissenschaftlichen Methoden zu enträtseln — »nur das Herz spricht zum Herzen«(S. 34).

»Die Frau denkt weniger abstrakt als konkret, die Allgemeinheit ist für sie ein anonymer Begriff; z.B. imponiert ihr eine Pfändungsmarke so wenig, daß sie imstande ist, diese ohne weiteres abzureißen«
(Middendorf 1959, S. 250).

»Ganz allgemein ist zu sagen, daß die meisten Täterinnen einer Gelegenheitsverlockung unterliegen.
... Neigt die Frau ohnehin zu impulsivem Handeln, so gilt dies erst recht für die pubertierende Jugendliche. Ihr Gefühlsleben ist noch weitgehend unkontrolliert, die Leidenschaften sind ursprünglicher, aber auch ausgeprägter«
(Jaeger 1963, S. 272).

»...die Diebin (handelt) unbewußt nach dem Grundsatz ...: >Mir fehlt etwas; also nehme ich.< Doch ist es schon schwerer, immer zu sagen, was denn nun der Frau, die stiehlt, fehlt« (Ochmann 1965, S. 91).

Diese mehr oder weniger an biologischen Faktoren orientierte Betrachtungsweise der zitierten Autoren, die sich zudem durch Theoriefeindlichkeit auszeichnet, ist — wie Schelsky (1955) feststellt — dadurch bedingt, daß man gemeinhin in der unterschiedlichen sozialen Rolle von Mann und Frau einen naturgegebenen biologischen Unterschied sieht, der sozial fixiert und absolut gesetzt wird.
Dieser Glaube an die »Natürlichkeit« der Geschlechtsunterschiede und des daraus folgenden  Verhaltens ist jedoch nur eine Form der sozialen Sanktionierung der Grundlagen des bestehenden Gesellschaftssystems. Die wirklich vorhandenen biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind demgegenüber für die verschiedenartige Formung der Rolle von Mann und Frau verhältnismäßig belanglos (Überblick zur geschlechtsspezifischen Sozialisation aus heutiger Sicht bei Maccoby 1966).

Im Unterschied zu den angeführten Abhandlungen werden in einigen Untersuchungen, vor allem im angelsächsischen Raum, auch Aspekte psychologischer und soziologischer Theorien über die Entstehung abweichenden Verhaltens herangezogen. Allerdings handelt es sich fast ausschließlich um die Erforschung von Einzelproblemen im Hinblick auf das abweichende Verhalten von Frauen. Es seien hier einige Erklärungsversuche aus diesen Arbeiten aufgeführt, die sich speziell auf spezifische Bedingungen der Delinquenz von Mädchen beziehen:

(1) Zur Entstehung abweichenden Verhaltens von Mädchen werden als Faktoren genannt:

  • a)  Der — im Vergleich zu Jungen — bei Mädchen andersartige Identifikationsvorgang: Das Mädchen hat Schwierigkeiten, seine weibliche Identität zu finden wegen des besonders schwierigen Identifizierungsprozesses, den alle Frauen durchmachen müssen, nämlich die Identifikation mit der gleichen Person, die auch das erste Liebesobjekt war. Darauf weisen neben Konopka (1966) noch andere Autoren hin. Sie können damit jedoch nicht erklären, warum so viele andere Mädchen den Identifizierungsprozeß dann erfolgreich durchlaufen.
  • b)  Der größere Einfluß ungünstiger häuslicher Verhältnisse auf Mädchen als auf Jungen: Die Integration der Familie ist für ein Mädchen wichtiger; Jungen neigen mehr dazu, außerhalb der Familie aktiv zu sein. Für Mädchen spielt die direkte Kontrolle der Eltern eine größere Rolle in der Verhütung von Delinquenz als für Jungen (vgl. Cockburn/Maelay 1965). Mädchen werden stärker als Jungen durch gegenwärtig gestörte Beziehungen im Elternhaus beeinflußt (Wattenberg/Saunders 1954). Empirische Untersuchungen bestätigen, daß der Anteil der kriminellen Mädchen, die aus zerrütteten Familienverhältnissen kommen, höher ist als der der Jungen (so Brauneck 1961; Burt 1938; Thompson 1952 u.a.).
  • c)  Die Erlernung männlicher Verhaltensmuster: Sletto (1934) sowie Sutherland und Cressey (1960) stellen fest, daß Mädchen mit nur männlichen Geschwistern die höchste Kriminalitätsrate im Vergleich zu anderen Mädchen haben.
  • d)  Der Einfluß des Rollenwandels der Frau: Durch das veränderte Leitbild von der Rolle der Frau, das noch nicht fest umrissen ist, werden Mädchen verunsichert (vgl. Gabel 1964). Mayntz (1955) spricht von dem Aufgabenverlust und der Entleerung der weiblichen Rolle, Scharmann (1966) von der Dichotomie der Lebensplanung im Bewußtsein der Frau.

(2)  Zur Art abweichenden Verhaltens von Mädchen, d.h. zu der unterschiedlichen Erscheinungsform abweichenden Verhaltens von Mädchen im Vergleich zu Jungen werden genannt:

  • a) Der Einfluß der Bindungsverhältnisse in der Familie: Fortlaufen von zuhause ist eine besonders typische Reaktion von Mädchen auf disharmonische Familienverhältnisse (Robey/Snell 1964), während Jungen aus gestörten Familien eher neurotische Tendenzen zeigen (Ball/Logan 1960). Durch starke Bindung an einen ungeeigneten oder schwierigen Vater ist oft Prostitution bedingt (Gibbens 1957).
  • b)  Der Einfluß der Pubertät: Deutsch (1948) und Zillig (1949) halten eine gewaltsame Unterbrechung der Vorpubertät oder die Störung seelischer Verinnerlichung in der Pubertät als ausschlaggebend für spätere sexuelle Auffälligkeit.
  • c)  Die Bedeutung der Geschlechtsrolle: Die Delinquenz von Mädchen hängt zusammen mit den sozialen Erwartungen, die an Mädchen gestellt werden. Unterschiede in den Rollen von Jungen und Mädchen charakterisieren auch ihre Delikte (vgl. Cavan 1962; Morris 1965; Parsons/Bales 1964).

(3)  Zum geringeren Ausmaß abweichenden Verhaltens von Mädchen wird angeführt, es sei bedingt durch:

  • a)  die leichtere  und frühere Identifikation des Mädchens mit seinem Rollenmodell: Da Mädchen in der Familie auf ihre Erwachsenenrolle als Hausfrau und Mutter relativ gut vorbereitet werden können, ist das Problem der Statusunsicherheit. — Erklärungsfaktor abweichenden Verhaltens männlicher Jugendlicher — für sie viel weniger akut (v. Hentig 1963; Wilkins 1962). Aus diesem Grunde nähert sich die weibliche Kriminalitätsrate in den Ländern am meisten der männlichen, wo Frauen die größte Freiheit und Gleichberechtigung haben (Sutherland/Cressey 1960).
  • b)   die stärkere soziale Diskriminierung abweichenden Verhaltens von Frauen: Da gleiche Delikte, wenn sie von weiblichen Tätern begangen werden, negativer beurteilt werden, als wenn sie von Männern ausgeführt werden, fällt es Frauen schwerer, irgendwelche Delikte zu begehen als Männern (Morris 1965; O'Connell 1957; Teachout 1957).

Auch diese Beispiele für Erklärungsversuche abweichenden Verhaltens aus der neueren, nicht mehr dem biologischen Determinismus verhafteten Literatur zeigen, daß man über ein bloßes Faktensammeln — zudem zu eng begrenzten Teilaspekten — im allgemeinen nicht allzuweit hinausgekommen ist.

Zudem fällt auf, daß die meisten amerikanischen Untersuchungen abweichenden Verhaltens von Mädchen, die in verschiedenen Zeitschriften referiert werden, sich vor allem mit »sexual delinquency« von Mädchen befassen. Sexual delinquency wird meist nicht definiert; häufig ist festzustellen, daß sexual delinquency ein von besonders rigiden Normen der amerikanischen Mittelschicht abweichendes Sexualverhalten ist. So fallen nichteheliche Mutterschaft minderjähriger Mädchen und sexuelle Beziehungen zu Farbigen unter sexual
delinquency (vgl. z.B. Pollak/Friedman 1969). Überdies entsteht der Eindruck, daß Mädchen, die aufgrund ihres abweichenden Verhaltens in Institutionen zur Resozialisierung untergebracht sind, ständig irgendwelchen psychologischen Tests unterworfen werden: eine ganze Reihe der veröffentlichten Artikel beschäftigt sich mit Unterschieden in den Testergebnissen von delinquenten Mädchen und Jungen oder von delinquenten und nichtdelinquenten Mädchen und ihren Müttern usw., ohne jedoch weitere Interpretationsmöglichkeiten anzuführen.

Insgesamt fehlt ein größerer theoretischer Bezugsrahmen zur möglichen Integration von Einzelergebnissen. Daraus folgt, daß theoretische Ansätze zur Erklärung abweichenden Verhaltens entwickelt werden müssen. Zwei neuere Untersuchungen in der Bundesrepublik lassen Versuche in dieser Richtung erkennen. Gravenhorst (1970) geht in ihren Fallstudien weiblicher Insassen eines Arbeitshauses von Parsons' Konzept sozialer Kontrolle aus. Sie kommt zu dem wichtigen Ergebnis, daß Abweichung ein Resultat von sozialen Interaktionsprozessen ist; Instanzen sozialer Kontrolle haben an dem Kreislauf, der weiteres abweichendes Verhalten verursacht und fixiert, bedeutsamen Anteil. Die informative Arbeit von Röhr (1972) über Prostitution bringt hauptsächlich psychoanalytische Erklärungsversuche.

In dieser Arbeit soll nun versucht werden, einen allgemeinen theoretischen Bezug der Fragestellung zu entwickeln, wobei Aspekte verschiedener Theorien integriert werden.

1.3  Skizzierung eines theoretischen Bezugsrahmens

Der Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß abweichendes Verhalten eine Form sozialen Verhaltens ist. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, die als erster 1895 Emile Durkheim entwickelte, daß soziales Verhalten allgemein durch bestimmte Normen geregelt wird. Ausgehend von der ökonomischen Entwicklung unserer Gesellschaft haben sich normative Grundmuster gebildet, die sich durch die ganze Gesellschaft ziehen und jedes ihrer Mitglieder betreffen. Bedingt durch die Hierarchisierung gesellschaftlicher Positionen erscheinen sie jedoch differenziert, und das bedeutet: sie gewähren unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten
und -Spielräume. So befestigen die normativen Muster unserer Gesellschaft die Ungleichheit in der Verteilung von Privilegien, die in der ökonomischen Struktur unserer Gesellschaft vorliegt. Diese Ungleichheit ist aber nicht allein durch äußere Zwänge garantiert, sondern wird während des der gesellschaftlichen Position entsprechenden spezifischen Sozialisationsverlaufs internalisiert.

Das Vorhandensein von Normen, d.h. verbindlichen Verhaltensanweisungen und -erwartungen, bedeutet nun gleichzeitig auch die Möglichkeit des Verstoßes dagegen. Erst mit dem Setzen von Normen ist auch eine Abweichung von diesen definiert. Ganz allgemein ist also ein Verhalten dann abweichend, wenn es gegen Verhaltensanweisungen verstößt, wenn es somit den Erwartungen anderer in einer bestimmten Situation nicht entspricht. Ein beobachtetes Verhaltensmuster kann sowohl abweichendes wie konformes Verhalten sein, je nachdem von welcher gesellschaftlichen Position aus man es betrachtet.
Das ist so lange irrelevant, solange ein von wem auch immer als abweichend definiertes Verhalten keine Sanktionierung nach sich zieht. Sollen jedoch Normen befolgt werden, so muß eine soziale Kontrolle institutionalisiert oder internalisiert sein, die bei Nichtbeachtung wirksam wird. Vor allem der Teilbereich abweichenden oder devianten Verhaltens, der strafrechtlich sanktioniert und mit dem Begriff
kriminelles Verhalten bezeichnet wird, sowie Verhaltensweisen, für die negative Sanktionen auch über den Rahmen des Strafrechts hinaus von öffentlichen Sanktionsträgern durchgesetzt werden und die unter den allgemeineren Be- griff »delinquentes Verhalten« subsumiert werden, zeigen ganz deutlich, daß erst durch die Sanktionierung ein Verhalten als »kriminell« oder »delinquent« definiert werden kann.

Hierbei handelt es sich um eine negative Sanktionierung des Verstoßes gegen Normen, die Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit gegenüber allen Schichten und Gruppen besitzen. Dabei stellt sich aber die Frage, welche Gruppen in unserer Gesellschaft die Macht haben, ihre Normen gegenüber anderen Gruppen als allgemeinverbindlich zu erklären und durchzusetzen. Das heißt, daß es von der Struktur unserer Gesellschaft her bedingt ist, was als Devianz definiert wird und welche Normenverstöße besonders stark sanktioniert werden (vgl. Haferkamp 1972). Damit hängt zusammen die generelle Frage nach der Funktion abweichenden Verhaltens in einem gesellschaftlichen System. Unter dieser Perspektive wird deutlich, daß Devianz immer ein gesellschaftliches Problem ist, auch wenn es sich in der in individuellen Biographien verinnerlichten Form von Konflikten und abweichenden Lösungsversuchen niederschlägt. Damit ist jedoch noch nicht die
Frage geklärt, um die es hier geht, nämlich welche sozialen Bedingungen Menschen dahingehend beeinflussen, eher ein abweichendes als ein konformes Verhalten zu zeigen. Im folgenden Teil der Arbeit sollen theoretische Annahmen und einzelne Hypothesen für die vorliegende Fragestellung entwickelt werden.