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Die Ausgangspositionen der Untersuchung

»Das FBI hat festgestellt, daß in den letzten zehn Jahren 200,6%
mehr Frauen wegen Gewalttätigkeit verhaftet wurden:
bei den Männern betrug die Steigerungsrate nur 72,7%.
Experten erklären die steigende Kriminalität bei Frauen mit
Drogensucht und der Emanzipation der Frau.«
(UPI, 17.9.71)

Anlaß, Begründung und Zielsetzung dieser Arbeit lassen sich anhand zweier unterschiedlicher, wenn auch für mich zusammenhängender Aspekte erläutern. Der eine Aspekt (ich komme darauf zurück) meint eigene Erfahrung, meint individuelle Betroffenheit; der andere Aspekt bezieht sich auf die Wahrnehmung einer bestimmten sozialen und wissenschaftlichen Problemstellung. Als deren wichtigste, d.h. diese Untersuchung auslösende Merkmale können gelten:

  • das wachsende soziale und politische Interesse an empirischer kriminologischer Forschung in der BRD,
  • das geringe Ausmaß von empirischen Untersuchungen zum abweichenden Verhalten von Mädchen,
  • der vermutete Zusammenhang zwischen weiblichem Devianzverhalten und der Situation der Frau in der gegenwärtigen Gesellschaft (objektive Lage wie subjektive Situationsdefinitionen).

Die Kriminalstatistik weist über Jahre hinweg einen deutlichen geschlechtsspezifischen Unterschied im abweichenden  Verhalten aus: Nur etwa 10% der erwachsenen Straffälligen sind Frauen; der Anteil der weiblichen Jugendlichen und Heranwachsenden ist etwas höher, jedoch stets unter 20% (Polizeiliche Kriminalstatistik).

Seit den fünfziger Jahren zeichnet sich eine leicht steigende Tendenz des Anteils von Frauen und Mädchen ab, seit Mitte der sechziger Jahre in stärkerem Maße. Besonders sichtbar wird diese Tendenz bei Betrachtung der Kriminalitätsbelastungsziffer. So hat sich z.B. in Hamburg die in den Statistiken ausgewiesene Kriminalität der erwachsenen Männer bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil von 1963 bis 1970 um ein Drittel erhöht, die der erwachsenen Frauen dagegen um die Hälfte. Bei den männlichen Heranwachsenden und Jugendlichen ist eine Zunahme etwa um das Anderthalbfache im gleichen Zeitraum festzustellen, während der Anteil der weiblichen Heranwachsenden sich verdreifacht, der der weiblichen Jugendlichen sogar vervierfacht hat (Polizeiliche Kriminalstatistik Hamburg 1963 - 1970 s. Abbildung 1).
Wenn man zugleich die ebenfalls seit Mitte der sechziger Jahre stark ansteigende Zahl der Veröffentlichungen zum Problem der Frauenemanzipation — angefangen von wissenschaftlichen Abhandlungen, Streitschriften, feuilletonistischen Erörterungen bis hin zu Artikeln und Sendungen in den Massenmedien — mit in Betracht zieht, bietet sich die Vermutung an, die an die Rolle der Frau geknüpften traditionellen Normen und Verhaltensmuster würden allgemein stärker in Frage gestellt.
Kann man vor diesem Hintergrund die Zunahme abweichenden Verhaltens von Frauen, vor allem von Mädchen, als Indiz für eine mögliche Veränderung der Rollendefinition der Frau interpretieren?
Ist das stärkere Anwachsen offiziell registrierter Kriminalität von Frauen als Angleichung an die männliche Geschlechtsrolle zu bewerten, oder bedeutet abweichendes Verhalten in diesem Falle die Lösung vermehrt auftretender Rollenkonflikte, wobei Chancen
für eine Veränderung, für eine Emanzipation nicht wahrgenommen werden können? Oder aber ist die offizielle Zunahme abweichenden Verhaltens nur eine Folge verstärkter sozialer Kontrollmaßnahmen?

Auf diese und weitere Fragestellungen, denen in dieser Arbeit nachgegangen werden soll, stieß ich bei der Suche nach Literatur für ein Referat über Frauenkriminalität; ich stellte dabei zudem fest, daß kaum neueres Material zum abweichenden Verhalten von Frauen existiert.
Angeregt, eine empirische Untersuchung in dieser Richtung in Angriff zu nehmen, wurde ich vor allem durch meine Mitarbeit an einer von Lieselotte Pongratz geleiteten Nachuntersuchung zu der 1959 veröffentlichten Studie über »Lebensbewährung nach öffentlicher Erziehung« (Pongratz/Hübner 1959). Bei den über hundert Interviewgesprächen, die ich in diesem Zusammenhang führte — zu einem beträchtlichen Teil mit als »Prostituierte«, »Asoziale«, »Kriminelle« stigmatisierten jungen Frauen — stellte sich mir oft die Frage, von welcher Qualität eine Gesellschaft sei, die Mädchen bzw. Frauen in eine solche Situation bringt und sie dann moralisch verurteilt.

Einen weiteren Einblick in die Problematik gewann ich durch ein Praktikum in der Frauenstrafanstalt Frankfurt.
Während der sechs Wochen meines Aufenthaltes dort lernte ich die Anstaltssituation begreifen — zumal ich dort in einer Zelle wohnte — und konnte in zahlreichen Gesprächen vor allem mit jungen Frauen und Mädchen vieles über deren Schwierigkeiten erfahren.
Dies alles brachte mich bereits zu einer zunächst unsystematischen Hypothesenbildung über die soziale Situation delinquenter Mädchen und von Mädchen und Frauen im allgemeinen. In den Vordergrund traten dabei in zunehmendem Maße Überlegungen zu den Zwängen und Benachteiligungen, denen Mädchen und Frauen aufgrund ihrer Geschlechtsrolle unterworfen sind, und Gedanken über die widersprüchliche Situation der Frau in unserer Gesellschaft. Ich entschloß mich, eine Untersuchung abweichenden Verhaltens weiblicher Jugendlicher in Angriff zu nehmen, um damit auch einen Beitrag zur Erweiterung des Erkenntnisstandes der beteiligten Wissenschaftsbereiche zu leisten.
Die zu unserem Thema vorliegenden Abhandlungen älteren Datums greifen in ihren Erklärungen nur selten auf empirische Untersuchungen zurück und stimmen in der Regel darin überein, daß sie das abweichende Verhalten der Frau an biologisch gegebenen Unterschieden festmachen (s. Abschnitt 1.1).
Auch allgemeine Probleme von Mädchen sind in der Jugendforschung in starkem Maße vernachlässigt worden. Erst in letzter Zeit tritt das Problem der Unterprivilegierung von Mädchen im Zusammenhang mit der bildungspolitischen Diskussion etwas mehr in den Vordergrund, indem man schicht- wie geschlechtsspezifische Selektionsmechanismen schulischer Sozialisation herausarbeitet (Überblick bei: Rolff 1972).
Die meisten Abhandlungen über Frauenfragen und -probleme begründen — abgesehen von einigen neueren Veröffentlichungen — Einstellungs- und Verhaltensdifferenzen mit dem »natürlichen Wesen« der Frau. Von daher lassen sich auch die vielen Vorurteile ableiten, wie sie meiner Erfahrung nach die Beurteilung delinquenter Mädchen in Heimen und Strafanstalten beeinflussen: »Wenn Mädchen auffällig werden, sei das eine besonders negative Auslese; solche Mädchen seien triebhaft, verlogen, nicht zu therapieren und vieles andere mehr«. Derartige Vorurteile gilt es auszuräumen. Vielleicht kann diese Arbeit dazu beitragen und Veränderungen in der Zielsetzung der Resozialisierungspraxis delinquenter Mädchen einleiten.
Und nicht zuletzt soll anhand dieser Arbeit auch der durchlaufene Forschungsprozeß einer empirisch-soziologischen Arbeit deutlich gemacht werden, so daß der Leser sowohl den Prozeß der Hypothesenbildung als auch den der Datengewinnung rekonstruieren kann.

Nach der Skizzierung bisheriger Erklärungsansätze abweichenden Verhaltens von Mädchen werden theoretische Annahmen über den Gegenstand der Untersuchung formuliert.
Da kaum empirische Untersuchungen zu diesem Problem vorlagen, erschien es sinnvoll, neben der Überprüfung der vorweg formulierten Hypothesen zu Entstehung, Art und Ausmaß abweichenden Verhaltens von Mädchen auch rein deskriptives Material zur Situation der Mädchen zu erheben.