- Die kritische Fachliteratur geht im allgemeinen davon aus, daß die traditionelle Erziehung Mädchen sehr benachteiligt, sie in ihrer Entwicklung eingrenzt und sie einengt. Söhne hingegen, so wird angenommen, werden gefördert und gestützt, haben viel mehr Freiheit. Doch das ist ein Trugschluß.
Ist Männlichkeit mit all ihren guten und schlechten Eigenschaften biologisch festgelegt, also nur geringfügig zu modifi zieren, aber in den wesentlichen Punkten unverrückbar? Und sind es, wie es ständig heißt, nicht schließlich und fast ausschließlich die Frauen, die ihre Söhne erziehen und in dieser Aufgabe offensichtlich versagen, da sie später mit dem Ergebnis so unzufrieden sind? Der Evolutionstheoretiker und Philosoph Thomas Henry Huxley kam im letzten Jahrhundert zu der Schlußfolgerung, daß der dringlichste Schritt zur Verbesserung der Gesellschaft die Mädchenbildung sei. Mädchen nämlich würden - je nach Klassenzugehörigkeit - daraufhin erzogen, dem Mann entweder als Spielzeug oder als Arbeitstier zu dienen oder ihm erhabenes, engelsgleiches Wesen zu sein, nicht aber Gefährtin und Ebenbürtige. »Emanzipiert die Mädchen«, forderte er.
Wir treten heute mit der umgekehrten Losung an Sie heran. Huxleys Forderung ist in den seither verstrichenen Jahrzehnten weitgehend eingelöst worden. Nicht immer, nicht überall und nicht befriedigend, aber dennoch: Ein Mädchen, eine Frau ist heute frei, ihren Lebensweg zu wählen. Klischees, soziale Zwänge und Benachteiligungen engen sie immer noch ein, aber sie schließen sie nicht mehr von der Wahl aus. Es ist unsere ehrliche Meinung, daß Mädchen und Frauen heute in vieler Hinsicht freier sind als Jungen und Männer. Die Palette ihrer Wahlmöglichkeiten, betreffend Verhalten und Lebensgestaltung, ist größer. Die Entwicklung von Söhnen interessierte uns persönlich, weil wir beide Söhne haben; sie interessierte uns politisch, weil wir glauben, daß heute ohne eine Veränderung der Männer in gewisser Hinsicht ein toter Punkt in der gesellschaftlichen Entwicklung erreicht ist; sie interessierte uns noch mal politisch, weil Söhne in erster Linie auch Kinder sind und als solche sehr schnell unsere anteilnehmende Solidarität gewannen. Den Anstoß für dieses Buch lieferte uns eine Frage, die immer rätselhafter wurde, die immer schwerer zu beantworten schien, je öfter wir ihr begegneten. Wir kannten die Beschwerden, die Frauen gegen erwachsene Männer vorbringen. Ihre Gefühlsarmut, ihr unfaires Verhalten in der Partnerschaft, ihre mangelnde Bereitschaft zum Sprechen, zum Mithelfen, ihre Bindungsunwilligkeit. Wir kannten die Eigenschaften, die an den erwachsenen Männern so irritierend sind: ihre Arroganz und Überheblichkeit, ihre mangelnde Sensibilität, ihr unfaires Konkurrenzverhalten, ihre Verschlossenheit.
Warum waren sie so? Wie wurden sie so?
Wir beobachteten männliche Kinder und Jugendliche, zunächst ganz unsystematisch, um die Wendepunkte auszumachen - doch es gelang uns nicht. 5jährige männliche Wesen strahlten nur so vor Empfindsamkeit, Neugier, Anhänglichkeit und Gefühl. 10jährige männliche Personen weinten in Anwesenheit ihrer Freunde und wurden liebevoll von diesen getröstet. 12jährige vertrauten uns verbittert die Ungerechtigkei*ten an, die ihnen in der Schule und der Welt angetan werden. 17jährige erzählten uns anteilnehmend vom Leben und vom Beziehungskummer ihrer Mütter und konnten klar erkennen, welchen Schaden die Herablassung, die männliche Wichtigtuerei und die Abwesenheit ihrer Väter bei ihrer Mutter und bei ihnen selbst anrichteten. 20jährige beschrieben besorgt die starren Erwartungen, die von der Gesellschaft meist verkörpert durch ihre Väter - an sie als Männer gerichtet werden, und ihre Hoffnung, dem zu entgehen und ein abgerundetes, kreatives Leben zu führen. Und dann gab es plötzlich die 35- und 40jährigen, von denen ihre Partnerinnen behaupteten, sie sprächen nie, zeigten keine Regungen, könnten ihre Gefühle nicht ausdrücken; von denen ihre Kinder erzählten, sie seien humorlos, kränkend und kalt. Wir sahen die einen, und wir sahen die anderen, doch die Bruchstelle konnten wir nicht finden. Wann war diese grundlegende Veränderung eingetreten? Wir fühlten uns wie jemand, der unbedingt Zeuge einer historischen Sonnenfinsternis werden will. Der dann aber nichts sieht, weil er im entscheidenden Moment für eine Sekunde blinzeln mußte. Doch in welcher Sekunde hatten wir nicht aufgepaßt?
Was geschieht mit jungen Männern? Diese Frage interessierte uns immer stärker. Und wir glauben, zumindest in wesentlichen Konturen, eine Antwort darauf geben zu können. Wir sahen uns Mutter und Vater und das Elternhaus an, die Schule, die Beeinflussung durch Gleichaltrige, durch ältere Kinder und durch die Kultur. Wir sprachen mit sehr vielen jungen männlichen Personen. Und wir erkannten einen systematischen Prozeß, der Junge Persönlichkeiten einfängt und sie, wie auf einem Fließband, in die EU-Normgröße hineinzwängt. In mancher Hinsicht gilt das für alle Menschen, aber für männliche Menschen gilt es um so mehr: Sie sind als Kinder besser, unbeschädigter, ganzheitlicher als später im Erwachsenenalter. Jede Frau weiß es - ein 9jähriger ist fast immer charmanter, hilfreicher, gesprächiger, interessanter, fairer und »partnerschaftlicher« als ein 35jähriger. Was ist das für ein Prozeß, der ihn zu einem anderen macht, und wann setzt er ein? Den »Punkt«, die Wende, die wir anfangs suchten, gibt es natürlich nicht. Sozialisation ist ein Prozeß, die Mühlen der Männlichkeit mahlen langsam, aber beständig. Das Bild des Fließbandes ist nicht unberechtigt: Das männliche Rohmaterial wird eingegeben; am Anfang hat es noch seine individuelle Form, doch dann wird es abgeschliffen, getrimmt und hartgeklopft und am Schluß noch in die vorgesehene Verpackung gestopft. Mit manchen geht es einfach nicht, die werden aussortiert, sind II. Wahl. Einige sind charakterlich für diesen Umformungsprozeß wie geschaffen, die meisten lassen es mit sich geschehen und sind mit 25 oder 30 Jahren normgerecht und angepaßt. Wer sie in den davorliegenden Jahren kannte, weiß, wieviel dabei verlorenging. Wer den Prozeß beobachtet, weiß, wie brutal er mitunter ist, wieviel er wegschneidet und wegprügelt und mumifiziert an menschlicher Sensibilität und individuellem Empfinden. Es ist unmöglich, das Aufwachsen junger Männer zu beobachten und dabei nicht betroffen und parteiisch zu werden. So viel wird ihnen genommen. Sie sind so Offen, so vielversprechend, und sie haben fast keine Chance. Sogar ihre Eltern liefern sie dem Messer dieser brutalen Normierung aus, nicht anders als die Eltern in Ländern der Dritten Welt, die ihre kleinen Töchter sexuell verstümmeln lassen in der Vorstellung, sie damit attraktiver zu machen und ihre Heirats- und Lebenschancen zu verbessern.
Abstrakt betrachtet, ist unser Bild von Männlichkeit unverändert archaisch, wird Männlichkeit ausschließlich als evolutionsstrategische Maßnahme verstanden. Als gesellschaftliches Rohmaterial interessiert am Mann seine Muskelkraft; sozialbiologisch ist er dafür verantwortlich, seine jeweilige Horde oder Gesellschaft kampf- und überlebensfähig zu machen, sei es durch Pfeil und Bogen, Raketen oder gesteigerte Firmenbilanzen. In den urtümlichen Gesellschaften wurden Männer zu Jagd- und Kampfmaschinen geformt. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Nur daß die Jagd heute nicht mehr dem Mammut gilt, sondern allem, was Geld und Prestige verspricht, und der Kampf allem, was den Mann und sein Ego daran hindert.
Was ist ein Mann? Keine Ahnung. Denn kein einziger hatte noch die Chance, sich als männlicher Mensch offen zu entfalten. Vielleicht sollte sich die Wohlstandsgesellschaft den Luxus leisten, zumindest ein paar unverstümmelte Exemplare gedeihen zu lassen, einfach zur Befriedigung unserer Neugierde.