Vorwort

Dieses ist der erste von drei Bänden zum Thema Frauen der Romantik. Ich beginne diesen Zyklus, der mit Bettina Brentano und Rahel Varnhagen fortgesetzt werden soll, mit Caroline als dem Mittelpunkt des Jenaer Kreises romantischer Geselligkeit.
Die vorliegenden Reflexionen zur Briefauswahl sind grundsätzlicher Art: Wie konnte sich eine kluge und schöpferische Frau am Ende des achtzehnten Jahrhunderts geistig entfalten? Typisch beispielsweise ist die Tatsache, dass Caroline mit ihrer Mitarbeit an der berühmten Schlegel-Tieckschen Shakespeare-Übersetzung mit ihrem Einverständnis nicht genannt wurde.
Die Briefform war für die Frauen der Romantik das ideale Medium um - gattungsübergreifend - ihre -auch für die Männer - vorbildliche Verbindung von Kunst und Leben zu realisieren.
»Die höchste Kunst: die Kunst zu leben« - dieser Satz von Novalis ist fraglos unter dem Einfluss der romantischen Frauen verkündet worden. Er gilt für die Frauen, mit denen der Briefzyklus fortgesetzt werden soll, ebenso: Bettina Brentano und Rahel Varnhagen. - Ich möchte an dieser Stelle das Verhältnis von Caroline zu Goethe erläutern, weil es auch die Frauen der Romantik waren, die das Verhältnis von Klassik und Romantik mitgestalteten, lebendige Intersubjektivität zwischen beiden Strömungen herstellend.
Eine besondere Stellung nehmen zwei Frauen der Romantik ein, die aufgrund ihrer Kreativität und Selbständigkeit Goethe faszinierten. Dabei ist der Familienhintergrund beider Frauen für Goethe bereits wichtig, bevor er sich den Frauen selbst zuwendet. Ihre Bedeutung für Goethe war sehr unterschiedlich. Neben Bettina Brentano war dies Caroline Böhmer-Schlegel-Schelling. Sie war die Tochter des damals berühmten Göttinger Orientalisten Johann Daniel Michaelis (1717-1791), bei dem Goethe gerne studieren wollte. Goethes Vater aber befahl ihm geradezu, sein Studium in Leipzig zu beginnen. Im Rückblick auf diese Zeit schreibt Goethe in Dichtung und Wahrheit (im sechsten Buch des zweiten Teils):

  • »...ich wollte mich mit Ernst zu jenen gründlichen Studien (der Antike, G.D.) bekennen, und indem ich, bei einer vollständigen Ansicht des Altertums, in meinen eigenen Werken rascher vorzuschreiten dachte, mich zu einer akademischen Lehrstelle fähig machen, welche mir das Wünschenswerteste schien für einen jungen Mann, der sich selbst auszubilden und zur Bildung anderer beizutragen gedachte.
    Bei diesen Gesinnungen hatte ich immer Göttingen im Auge. Auf Männern wie Heyne (Prof. der Beredsamkeit, Begründer einer wissenschaftlichen Behandlung der griechischen Mythologie, G.D.), Michaelis und so manchen anderen ruhte mein ganzes Vertrauen; mein sehnlichster Wunsch war, zu ihren Füßen zu sitzen und auf ihre Lehren zu merken. Aber mein Vater blieb unbeweglich...er bestand darauf, daß ich nach Leipzig gehen müsse...« (Goethe:268)

Michaelis, Carolines Vater war Theologe und Orientalist, er war durch seine historisch-kritische Betrachtung des Alten Testaments bekannt geworden, die er mit seinem Wissen des alten Orients durch neue Erkenntnisse bereichert hatte. Gleichnisse und Symbole der Bibel hatten sich, wie Goethe schreibt »tief bei mir eingedrückt« und Goethe folgte jener historisch-kritischen Methode, »dass man die orientalischen Lokalitäten, Nationalitäten, Naturprodukte und Erscheinungen genauer zu studieren und sich auf diese Weise jene alte Zeit zu vergegenwärtigen suchte. Michaelis legte die ganze Gewalt seines Talents und seiner Kenntnisse auf diese Seite.« (ibid.:305)
Goethe verkehrte bald in seinem Hause. Goethe war also positiv voreingenommen, als er später Caroline, die mit dem Clausthaler Arzt Böhmer verheiratet war, wieder begegnete. Von einem Waldspaziergang hat Caroline später berichtet und die Andeutungen - sehr vage - lassen auf eine beidseitige Verliebtheit schließen. Caroline fühlte sich in Clausthal beengt und auch gelangweilt und vermisste das liberale Niveau im Umkreis des Göttinger Intellektuellen-Kreises, zu dem auch die Tochter von Michaelis Kollegen Heyne zählte: Therese Heyne, die dem Republikaner Georg Forster später nach Mainz folgte, holte Caroline nach in die Atmosphäre der revolutionären Mainzer Republik, die sehr bald von königlichen Truppen zerstört wurde. Goethe hörte von Caroline erst später wieder: Sie war zum weiblichen Mittelpunkt der Jenaer Frühromantik geworden, verheiratet mit August Wilhelm Schlegel. Diesen hatte sie aus Dankbarkeit geheiratet, weil er ihr, die, schwanger von einem französischen Offizier, im Gefängnis saß und die Schande der Offenbarung dieser Tatsache nicht überleben wollte, Gift schickt - ihre geliebte Tochter Auguste, deren Vater Böhmer früh verstorben war, hätte man ihr fortgenommen. Durch Vermittlung ihres Bruders beim König wurde sie aber freigelassen und Friedrich Schlegel begleitete sie (unter dem Decknamen Madame Julie Krantz) nach Lucca, wo sie einen Sohn gebar und dem Ehepaar dort überließ (das Kind starb kurz nach der Geburt). Sie nannte ihn Julius. Fühlte sich Friedrich als ihr geistiges Kind, wenn er den »Helden« des Lucinde-Romans Julius nennt?
Ihre Anmut, ihr geistvolles Gespräch, ihre republikanischen Ansichten faszinierten den jungen Friedrich Schlegel. Von ihr schreibt er später in seinem, 1799 erschienen Roman Lucinde. Im Kapitel Lehrjahre der Männlichkeit schildert Friedrich Schlegel in der Gestalt des Julius die Begegnung mit Caroline. Er spricht von seinen Stimmungsschwankungen, von seiner Melancholie und seinem bitteren Witz als einer »Krankheit des Geistes«, von der er durch die Begegnung geheilt wurde:

  • »Auch diese Krankheit wie alle vorigem heilte und vernichtete der Anblick einer Frau die einzigartig war, und die seinen Geist zum ersten Mal ganz und in der Mitte traf...Jetzt ergriff ihn ein neues unbekanntes Gefühl, dass dieser Gegenstand allein der rechte, und dieser Eindruck der einzige sei« (zit. n. Dischner: 84f)

Da sie aber »vergeben« war, ihr Freund war auch der seine heißt es, muss er auf sie verzichten. Es war nicht schwer zu erraten, dass es sich bei dem "Freund' um den Bruder August Wilhelm Schlegel handelte, den Caroline bald darauf heiratete und damit zum Mittelpunkt des Jenaer Kreises wurde, - in ihrem Haus verkehrten Schleiermacher, Steffens, Ritter, Novalis, Tieck, Clemens Brentano und später Schelling, den sie nach der Scheidung von August Wilhelm heiratete. Diese Art von Wohngemeinschaft wirkte nach dem Erscheinen des autobiographischen Romans Lucinde noch skandalöser. Im Unterschied zu Schiller hatte Goethe für dieses, wie er es nannte Wespennest durchaus Sympathien. Er musste sich auch von Friedrich Schlegels Aufsatz über Wilhelm Meisters Lehrjahre gut verstanden fühlen. Caroline nahm die vom Bankier Veit noch nicht geschiedene Geliebte Friedrich Schlegels, Dorothea, die Tochter des von Lessing (in Nathan der Weise) verewigten Moses Mendelssohn in ihrem Haus in Jena auf. Eine engere Verbindung zwischen Caroline und Goethe entsteht durch Carolines Liebe zu Schelling, den Goethe schätzte. Dieser fühlte sich mit schuldig am Tod von Carolines Tochter Auguste, 1800, die er mit der »Brownschen« Methode des Magnetismus von der Ruhr zu heilen versucht hatte. Caroline wendet sich an Goethe, weil sie erkennt (194 f) dass er der einzige wäre, der Schelling von einem Versinken in Depressionen bewahren könnte. Goethe hat auf ihr Bitten hin -wohl auch, da er sie seit früher Jugend (im Hause des verehrten Michaelis) kannte, Schelling zu sich gebeten und ihn an seine intellektuelle Verantwortung erinnert: an seinem philosophischen System und den Reflexionen über das Wesen der menschlichen Freiheit weiterzuarbeiten.
Im Oktober 1800 schreibt Caroline aus Braunschweig an Schelling, den sie nach Augustes Tod als Bruder ihres toten Kindes, als Freund, nicht als Geliebten sehen will trotz seiner direkten Liebesschwüre:

  • »Ich wiederhole es noch einmal, warum kann ich dem Goethe nicht sagen, er soll dich mit seinen hellen Augen unterstützen. Er wäre der einzige, der das nötige Gewicht über dich hätte. Gib dich wenigstens seiner Zuneigung und seiner Hoffnung auf dich ganz hin, und denke, dass du doch liebe Freunde hast - so gut, wie das Jahrhundert sie vermag...« (Behrens: 301)

Am 26. November des selben Jahres schreibt sie an Goethe einen Brief mit der Bitte

  • »ihn um Weihnachten aus seiner Einsamkeit« zu locken (195)

Der Brief, den Caroline Anfang Januar aus Braunschweig an Schelling schreibt, bestätigt, dass Goethe aufgrund ihres Briefes Schelling Sylvester zu sich gebeten hat »Ich weiß nichts, als dass bei Goethe etwas vorgegangen ist; ob Ihr Euch etwas habt aufführen lassen oder selbst die Schauspieler wäret, steht mir zu erfahren. Im letzten Fall kannst Du leicht um 12 Uhr Deiner Freundin Andenken in der tollen Gegenwart ertränkt haben. Ich will Dir's aber verzeihn, mein Liebling...« (Behrens: 306)
Drei Jahre lang quälte sie sich mit dem Widerstand gegen die Liebe zu Schelling, die doch schließlich stärker war als die Trauer um die tote Tochter, in der sie ganz aufgehen wollte

  • »ach störe mich nicht in meinem sanften Trauren, lieber Schelling, dadurch dass ich bitterlich über Dich weinen muss...Ich habe Dich geliebt - es war kein frevelhafter Scherz, das spricht mich frei, dünkt mich.« (184)

Schelling konnte die Distanz, die Caroline forderte - offensichtlich nach einer auch physisch realisierten Liebe zu Lebzeiten von Auguste - nicht ertragen und schlug ihr vor, im Sommer 1801 zusammen zu leben. Das lehnt Caroline strikt ab. Im Februar 1801 schreibt sie an ihn:

  • »Ich bin die Deinige, ich liebe, ich achte Dich, ich sehe Dich wieder, vermutlich so bald, als ich mir kürzlich vorstellte. Als Deine Mutter begrüße ich Dich, keine Erinnerung soll uns zerrütten. Du bist nun meines Kindes Bruder, ich gebe Dir diesen heiligen Segen. Es ist fortan ein Verbrechen, wenn wir uns etwas anderes sein wollten...« (Behrens: 310)

Einen Monat später, gegen sein Drängen, wiederholt sie die Vision ihrer asketischen Liebe:

  • »als Freund, als Bruder, als Sohn und Geliebten schließe ich Dich an meine Brust...gleich der Jungfrau, die Mutter ist, und Tochter ihres Sohnes und Braut ihres Schöpfers und Erlösers. So lass es uns denn endlich still und gläubig ansehen...« (199)

Caroline spaltet ihre Trauer um Auguste ab in die Liebe zu Schelling, den sie zum Sohn und Bruder stilisiert, um so ein Inzesttabu gegen ihr eigenes Begehren aufzubauen. Daraus entsteht eine nicht zu bewältigende Gefühlsambivalenz: Hin -und hergerissen zwischen dem drängenden Begehren Schellings, das eindeutig auf eine körperliche Vereinigung gerichtet ist und der Unterdrückung des eigenen Begehrens, das sie immer vergeblicher verdrängt, erkennt sie doch schließlich die Künstlichkeit eines Inzesttabus und willigt in eine offizielle Ehe ein. Das Ganze ist ja durch Schuldgefühle kompliziert, die auch von der Öffentlichkeit (angestachelt von Dorothea) geschürt werden: Schelling droht ein Prozess wegen fahrlässiger Tötung. Schließlich hat er, ohne professionell ausgewiesen zu sein, Auguste mit der Methode des damals in Mode gekommenen Magnetismus zu heilen versucht. Auguste war in einem für damalige Verhältnisse heiratsfähigen Alter (sie starb mit fünfzehn Jahren). Ihr Liebreiz und ihre Ausstrahlung begeisterte nicht nur Schelling, sondern auch Friedrich Schlegel. Es muss also außerdem noch eine Art Konkurrenzsituation zwischen Tochter und Mutter entstanden sein durch Schellings Verliebtheit in Auguste. Ich möchte nicht so weit gehen, in einer solchen Situation unbewusste Todeswünsche zur Ausschaltung der Konkurrenz zu unterstellen, aber zumindest müssen manifeste Schuldgefühle durch den Tod Augustes, gesteigert durch das öffentliche Aufsehen, sich in die »reine« Trauer der Mutter gemischt haben. Das erklärt, dass sie zu christlichen Analogien Zuflucht nimmt.Sie vergleicht sich mit der Muttergottes, die Jungfrau ist: »und Tochter ihres Sohnes und Braut ihres Schöpfers und Erlösers«, Vielleicht hat solche Zuflucht zu christlichen Analogien auch eine kompensatorische Funktion: Sie wurde von Schiller, Paulus, den Frauen von Humboldt und Schiller etc. als Dame Luzifer tituliert. Indem sie die Jungfernschaft Marias eigens benennt, annulliert sie die vergangene reale Liebesbeziehung zu Schelling (die sie zugleich mit der Liebe zu ihm entschuldigt). Sie stilisiert sich zur jungferlichen Braut und Mutter in einem. Die Jugend Schellings erleichtert ihr die Inszenierung eines mütterlichschützenden Habitus über einen für Schelling immer unerträglicher werdenden Zeitraum von
drei Jahren. Sie macht ihn in dieser Zeit zum geistigen Helden, der aber, wie einst Siegfried, verletzbar geworden durch die Liebe, an seine Pflichten erinnert werden muss. Dazu wählt sie, als heldische Vaterfigur, Goethe, den sie direkt anspricht. Goethe folgt diesem Anspruch und »rettet« den Geisteshelden.Fast erinnert ein solches dramatisches Geschehen mehr an alten Heldenmythen als an biblische Reminiszenzen, die Caroline bemüht. Irmgard Gephart (Rüsenberg) weist auf die oft auch inszenierten Emotionen in den germanischen Mythen (Nibelungen, Tristan, Parzival) hin, wo gegenüber patriarchal dominierter Öffentlichkeit ein »matriarchales Gegenbild« (Gephart: 52) aufscheint:

  • »Abendländische Erlöser- und Heldenmythen sind stets an liebende Mütter gebunden« (Gephart: 216). Caroline, als symbolisch- schützende Mutter des vom Olympier Goethe geschätzten Schelling wird damit selbst zur Heroine. Die als Dame Luzifer dämonisierte Caroline erinnert - wenn auch nur in diesem Aspekt - an die vom Fürsten Dietrich als välandinne. Teufelin bezeichnete Kriemhild (Gephart: 138).

Sie steuert das Geschehen aus dem Hintergrund und infantilisiert gleichzeitig den Geisteshelden Schelling. Der aber wehrt sich schließlich erfolgreich gegen das von Caroline vertretene Endogamieverbot. Ihre beschwörenden, auf Distanz zielenden Briefe werden von ihm vermutlich als Ausdruck einer Gefühlsambivalenz gedeutet - kennt er sie doch als erotisch aufgeschlossene charismatische Frau im Mittelpunkt des Jenaer Kreises.
Schelling empfand sie damals als die geistige Erzieherin Friedrich Schlegels. Friedrich Schlegel hat seine Liebe zu Caroline sowohl im Aufsatz Über die Diotima (1795) wie in seiner Lucinde (1799) für die Freunde erkennbar »literarisiert«, Er selbst nannte sich in der Lucinde Julius. Das war der Name des Sohnes, den Caroline heimlich in Lucca, von Friedrich Schlegel begleitet, geboren hatte. Dass er sich, auch des Bruders wegen, einer anderen Frau, nämlich Dorothea Veit (als Lucinde »verewigt") zuwandte, störte die geistige Symbiose mit Caroline erst, als der »Granit« Schelling den Kreis betrat. Noch im Banne Carolines entwirft Friedrich Schlegel das Bild einer von konventionellen Fesseln befreiten Liebe, und einer möglichen Zukunft diesseits der sich gerade etablierenden Welt der Arbeit: Denn die freie Liebe braucht Muße, um sich wahrhaft zu entfalten. Nicht nur antizipiert Schlegel, im intersubjektiven Gespräch mit Caroline und dem Freund Schleiermacher eine Kapitalismuskritik in der Idylle über den Müßiggang (Dischner: 60-65), er entwirft auch die Vision einer realen Befreiung der Frau, die »über die aufklärerische Forderung nach Gleichberechtigung ( wie sie Wieland oder Hippel vertritt) hinausgeht« (Dischner: 81). Die Frau soll sich nicht zum Mann und dessen Idealen hin emanzipieren, sondern den Mann selbst begeistern für eine neue liebende Gemeinschaft der Zukunft in einer friedlichen Republik. Schlegels Gedanken enthalten im Kern viel von der derzeitigen feministischen Debatte um einen »dritten Weg«, der die dichotomische Struktur patriarchal geprägter Weltbilder überwindet ohne der biologistischen Interpretation der Frau als des »ganz Anderen« anzuhängen. Dieser »dritte Weg« feministischer Kritik ist eine Option, die sich, wie Elisabeth List feststellt,

  • »einer dichotomischen Deutung sowohl des Vernunftbegriffs als auch der Geschlechterdifferenz entzieht. Die ersten beiden Optionen feministischer Kritik legten... nahe, die jeweils herrschenden Vorstellungen von Vernunft und Rationalität entweder zu übernehmen oder insgesamt abzulehnen... Anders als in der humanistischen bzw. in der gynozentrischen Konzeption von Feminismus geht es nicht mehr allein darum, entweder die dichotomische Sexualisierung oder Hierarchisierung überlieferter metaphysischer Systeme und Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Frage zu stellen, sondern wesentlich darum, die Dichotomisierung selbst aufzulösen« (List: 56)

Eben diese Auflösung der Dichotomien (rational -irrational, aktiv vs. passiv, Vernunft vs. Gefühl, Kultur vs. Natur etc. vgl. List: 52) realisiert Friedrich Schlegel in seinen Aphorismen und auf eine spielerische Weise des Rollentauschs auf allen Ebenen, im Roman Lucinde: Erst in der Transzendierung des Geschlechtlichen in der Liebe gewinnen Mann und Frau ihre Freiheit - sie sind dann fähig zu einem reflektierten Gefühl und einer emotionalen Vernunft. Die Auflösung der eigenen Identität im Rollenspiel kann im anderen sich selbst entdecken und sich mit dem eigenen andersgeschlechtlichen Anteil versöhnen.

  • »In der Tat sind die Männlichkeit und die Weiblichkeit, so wie sie gewöhnlich genommen...werden, die gefährlichsten Hindernisse der Menschlichkeit...kein Wunder, da die Menschen in keiner Profession noch so weit zurück sind als in der Humanität« (Fr. Schlegel, in Dischner: 26).

Caroline schreibt an Schelling aus einer ganz anderen situativ bedingten Stimmung, als in der Zeit der Jenaer romantischen Geselligkeit Jahre zuvor. Goethe war diese fremd, wenn er sie auch mit Sympathie betrachtete. Sie herrschte auch in Berlin zur selben Zeit der Veröffentlichung der Lucinde 1799. Im Sommer dieses Jahres erhält Caroline beispielsweise aus Berlin einen von Friedrich Schlegel, Dorothea Veit (Friedrichs späteren Frau) und Schleiermacher gemeinsam verfassten Brief (für Goethe unvorstellbar), wo vom gemeinsamen Leben im Berliner Haushalt die Rede ist:

  • »Fichte ist unser Kostgänger und wir leben sehr gut, froh und lehrreich zusammen...Grüssen Sie Tieck viel, wenn er jetzt, wie der Himmel wolle, bey Ihnen ist. Wir vermissen ihn sehr...« und Dorothea fügt hinzu: »Schreiben kann ich kein Wort mehr, liebe, meine Philosophen laufen unaufhörlich die Stube auf und ab, dass mir schwindelt...« (Schmidt: 543f)

Fichte möchte die Wahlverwandten nach Berlin locken, statt Friedrich Schlegel und Dorothea nach Jena reisen zu lassen. In diesem Sinn schreibt Friedrich Schlegel aus Berlin an Caroline, deren Liebe zu Schelling noch nicht, wie kurz später zur Auflösung des Jenaer Kreises führte:

  • »Schelling grüssen Sie herzlich und überlegen Sie das Reisen oder Nichtreisen mit ihm, damit er seinerseits auch offen sey. Wir gehören doch alle zu der einen Familie der herrlichen Verbannten«, (Schmidt: 545)

Zu dieser Familie der »herrlichen Verbannten«, die Novalis auch Geisterfamilie nennt, fühlt Goethe sich nicht zugehörig, wenn er sie auch mit einem gewissen Interesse und Wohlwollen betrachtet. Ich denke, dass Goethes Auseinandersetzung mit der Romantik, die er ja als das »Kranke« gegenüber der Klassik als dem »Gesunden« geradezu klinifizierte, durch die Begegnung mit den - neben Rahel Levy-Varnhagen - wichtigsten romantischen Frauen Caroline und Bettina eine andere Wendung nahm. Er wusste, dass Caroline an der heute noch als kanonisch geltenden Shakespeare Übersetzung von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck aktiv mitgearbeitet hatte und auf eigenen Wunsch nicht genannt werden wollte. Das unterscheidet sie von Bettina, die sich selbstbewusst als Schriftstellerin fühlt und sich ihrer Bedeutung voll bewusst ist.
Die Verbindung zwischen dem romantischen Jena und dem klassischen Weimar fand auch literarische Wege. So schrieb August Wilhelm eine Elegie »Die Kunst der Griechen an Goethe«, Novalis erwähnt die Elegie im Brief vom 20. Januar 1799 an Caroline:
»Auf seine Elegie ...bin ich sehr begierig. Die wird unstreitig ein schön gebildeter Niederschlag von Lebensstoff aus dem Duft der Vergangenheit sein. Wenn er doch auch ein wenig Zukunft zuvor darin auflöste, so würde der Anschluß noch schöner...« (zit. n. Dischner: 142)
Dieser Hinweis von Novalis spricht ganz aus dem Geist der Goetheschen Verlebendigung der Antike, welche die Weimarer Klassik charakterisiert.
August Wilhelm Schlegel dagegen, konservativ gestimmt, blickte historisierend auf die Antike -die Bemerkung von Novalis war deshalb als Aufforderung, die »konservierende« Haltung aufzugeben, zu verstehen. Im Sinne einer Abgrenzung gegen den Bruder erklärt Friedrich denn auch die alten Griechen als seine und Carolines Mitbürger (zit. n. Weiland:26). Angeregt durch Carolines Gedanken zur Mainzer Republik fügt er provozierend hinzu:

  • »...überdem gehört ein revolutionäres Genie dazu, um den politischen Geist der Alten zu verstehen...« (zit. n. Weiland:26).

Die Begeisterung für die Republik hat Caroline in Friedrich entfacht. So rücken im aktualisierenden Bezug die griechische Polis mit der Mainzer als erster deutscher Republik zusammen. - Konnte Caroline auch August Wilhelm für republikanische Ideen erwärmen? Es ist wenig darüber außer einem Brief Carolines an den Bruder Friedrich bekannt. Aber den aktualisierenden Blick auf die Antike hat sie ihm gewiss auf dem Hintergrund des väterlichen Erbes im Geiste der Vergegenwärtigung zu vermitteln versucht. Die geistige Seelenverwandtschaft mit dem jungen Friedrich Schlegel war im Sinne der »Geistesfamilie« (Novalis) sehr viel enger als mit dem offiziellen Ehemann August Wilhelm Schlegel trotz der konzentrierten Zusammenarbeit (zusammen mit Tieck) an der Shakespeare-Übersetzung. Dass sie als aktive Mitarbeiterin mit eigenem Einverständnis (!) ungenannt blieb, zeigt, wie sehr Theorie (selbständiger Weiblichkeit) und reale Praxis auseinanderklaffen. Die Vorstellung, dass eine Frau an einer Universität nicht nur studieren, sondern sogar lehren könnte, war dem Jenaer Kreis noch fremd. Caroline war außerdem skeptisch gegenüber dem Lehrbetrieb. Sie überzeugte August Wilhelm, dem Bruder eine freie Dichterexistenz zu ermöglichen, auch in bezug auf dessen Aktualisierung der Antike, die über Goethes »klassische« Verlebendigung hinausging.
Ich vermute, dass Caroline ihm von Goethes Verehrung für ihren Vater berichtet hatte und Goethes Antikenrezeption (Die Beschreibung der Apotheose Homers, eines attischen Reliefs beispielsweise) von der Mythenbetrachtung aus dem Göttinger Umfeld (Heyne, Michaelis) mit beeinflusst war. An Novalis schreibt Caroline am 4.2.1799 »Goethe bringt den Februar hier zu. Die Elegie ist noch nicht vollendet...« (168)
Das, was Goethe wie auch Schiller allerdings fremd blieb, war die Entdeckung des Dionysischen durch Friedrich Schlegel (parallel zu der Friedrich Hölderlins). Auf Nietzsche vorausweisend, tat hier die Romantik den Schritt in die Moderne, der für die Weimarer Klassiker unnachvollziehbar war.
Goethe schätzte im Jenaer Kreis vor allem Schelling und den romantischen Physiker Ritter. Clemens Brentano erinnerte daran, dass Goethe von Ritter gesagt hatte »Wir alle sind nur Knappen gegen ihn« (zit. n. Dischner: 146).
Wie eng die Verbindung zu Jena, vor allem auch zu Caroline war, ist der Tatsache zu entnehmen, dass Caroline sich, nach einem Abstand von drei Jahren - auch Augustes Tod wegen - die Schelling liebte, durch Goethes Vermittlung von August Wilhelm Schlegel (mit dessen Einverständnis) scheiden lassen konnte (was damals äußerst schwierig war) um Schelling zu heiraten. Eine geschiedene, vierzigjährige Frau heiratet 1803 den achtundzwanzig jährigen Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling mit dem Segen Goethes: Ein Skandal für das Bürgertum!
Sechs Jahre später stirbt Caroline an der selben Krankheit wie 1800 im Alter von fünfzehn Jahren die Tochter Auguste, an der Ruhr,

  • »...dieses seltne Weib von männlicher Seelengröße, von dem schärfsten Geist, mit der Weisheit des weiblichsten, zartesten, liebevollsten Herzen vereinigt. O etwas von der Art kommt nie wieder« schreibt Schelling an Carolines Bruder Philipp nach ihrem Tod. (vgl. im vorliegenden Buch 205).

Was der dreiundzwanzigjährige Friedrich Schlegel in seinem Aufsatz Über die Diotima 1795 schreibt, ist zugleich ein Aufsatz über Caroline (so wie Hölderlins Hyperion-Diotima zugleich Susette Gontard verewigt). Kurt Röttgers weist zurecht darauf hin, dass der Diotima-Text

  • »eben nicht nur eine philologische Untersuchung ist, sondern eine Liebesserklärung an eine Frau« (Brief vom 20.12.1979, in Dischner: 35, Anmerkung 1).

Von Sokrates heißt es, auf Caroline als »Diotima« bezogen:

  • »Die sanfte Größe mit der er sie reden lässt, verräth eine Seele, welche dem hohen Verstände entsprach, und stellt uns ein Bild nicht nur der schönen Weiblichkeit, sondern vielmehr vollendeter Menschheit dar« (Fr. Schlegel: 92).3)

Im ersten Band des Athenäum bezeichnet Schlegel Goethes Wilhelm Meister-Roman neben der Französischen Revolution und Fichtes Wissenschaftslehre als eine der »größten Tendenzen des Zeitalters« (Fragment 276), vgl. auch Goethes Reaktion (156). 2) War Caroline vielleicht zu diesem Vergleich auch durch Georg Forsters Erwähnung der idealen Verschmelzung von Jungfrau und Muttergottes in Raffaels und Leonardos Gemälden angeregt? Seine Ansichten vom Niederrhein, 1791 erschienen, waren Caroline (sie erwähnt die Lektüre, vgl. S. 71) ebenso bekannt wie Friedrich Schlegels von ihr angeregtem Aufsatz: Georg Forster. Fragmente einer Karakteristik der deutschen Klassiker (in: Prosaische Jugendschriften, Hrsg. Minor, Bd. 2, Wien 1882).
Im VIII. Brief aus Düsseldorf, nach dem Besuch der Gemäldegalerie, schreibt Forster an seine Frau Therese (geb. Heyne):

  • »Ich habe noch keinen Maler gesehen, außer Raffael und Leonardo da Vinci, der die Jungfrau und die Mutter so in ein Wesen zu verschmelzen gewußt hätte, alle Mysterien beiseite, dieser Charakter ist in der Natur; moralische Jungfräulichkeit, reines Herz und reine Phantasie, mit Mutterliebe im schönsten Bunde! Er gehört, das will ich gern zugeben, zu den seltensten Erscheinungen; aber jene beiden großen Menschen faßten ihn, und ich weiß, er ist nicht ausgestorben mit dem Urbild, von denen sie ihn, wie einen Sieg, davontrügen...« (Forster:30).

Identifizierte sich Caroline, in ihrer Geste heroischer Entsagung gegenüber Schelling, mit diesem »Urbild«? Sie muß sich auch wahlverwandt angesprochen gefühlt haben von dem lockeren Briefstil Forsters, der in den Briefen selbst diesen (neuen) Stil reflektiert, beispielweise in Wendungen wie: »Was ich jetzt seit einer Stunde daher phantasiere...« (Forster:26). Die Gemäldebeschreibungen im ersten Brief sind von einer Subtilität, die stellenweise das Niveau von Heinses Gemäldebriefen und auch das Athenäum-Gespräch über die Gemälde erreicht. Im Ganzen sind die >Ansichten< von einem aufklärerischen Pathos (gegen Despotengewalt und theo-kratische Tendenzen der Kirche) getragen. Im Unterschied zu Schlegels antizipierter Kapitalismus-Kritik in der Idylle über den Müßiggang sind für Forster Fleiß und Nutzen nicht die >Todesengel<, die uns den Eigang zum Paradies verwehren, sondern im Gegenteil die bürgerlichen Tugenden, die, in einer liberalen Wirtschaftsverfassung den Fortschritt garantieren sollen (Forster:48f). Allerdings warnt er vor den Unternehmern, die als reine »Plusmacher« (47) - Marx wird später den >Mehrwert< analysieren - nur an »Finanzspekulationen« interessiert sind wie teilweise die noch despotische Regierung. Er wendet sich auch gegen eine von oben diktierte Gleichheitsdoktorin, welche durch Verplanung die Freiheit einschränkt: »Ach, daß uns ja das edle Vorrecht bleibe, inkonsequent und inkalkulabel zu sein!« (Forster:75). Forster, Georg: Ansichten vom Niederrhein, hrsg. v. Ludwig Uhlig, Stuttgart 1965
Foucault betont in seiner Interpretation des Platonischen Gastmahls den Akzent der Knabenliebe, »aber der Eros ist nicht unbedingt, homosexuell, ebenso wenig schließt er die Ehe aus« (Foucault: 256). Das Entscheidende ist die im griechischen Denken neue ontologische Fragestellung nach dem Wesen der Liebe selbst - »Welches ist ihre Natur, und welches sind dann ihre Werke?« (Foucault: 298).
Allerdings kann ich Foucault nicht folgen, wenn er, in der Tradition der meiner Ansicht nach missverstandenen Definition der platonischen als der körperlosen Liebe behauptet, das Symposion wie auch der Phaidros zeige »den Übergang von einer Erotik, die am Werben des Liebhabers und an der Freiheit des Umworbenen orientiert ist, zu einer Erotik, die sich um eine Askese des Subjekts und um den gemeinsamen Zugang zur Wahrheit dreht« (Foucault: 308).
Ich neige vielmehr zur Schlegelschen Interpretation der Diotima des Symposions, welche den Sokrates die Liebe lehrt, nicht eine asketische, am »Ideal einer Entsagung« (Foucault: 309) orientierte, sondern eine körperlich realisierte und den Körper zugleich im Höhenflug (der Seele wachsen Flügel) transzendierende Liebe. Der ekstatische Akt der Transzendierung des Körperlichen (Aus-dem-Körper-Treten) verbindet die Liebe mit dem Akt des Denkens. Die Wahrheit, aletheia: nicht als ratio oder gar als verengende Reduktion auf jene Form der Wahrheit, die durch Geständnisse erpresst oder hervorgelockt wird, eines der Hauptrituale, so Foucault, von denen man sich die Produktion der Wahrheit verspricht (so beschrieben in einem anderen Teil von Sexualität und Wahrheit - »Der Wille zum Wissen«).
In Caroline sah Friedrich Schlegel die literarische Gestalt der Mantikerin Diotima materialisiert: Denken und Lieben kommen in ihr zur Synthese - Liebe und Liebe zur Weisheit, philosophia. sind nicht mehr getrennt. Das idealistische Moment der Platonischen Liebesvorstellungen entsprach dabei dem -Caroline - entsagenden Friedrich Schlegel. In der Lucinde, in Reflexion auf die erfüllte Liebe zu Dorothea-Lucinde, korrigiert er 1799 seine Piaton Lesung: »Die begeisterte Diotima hat ihrem Sokrates nur die Hälfte der Liebe offenbart. Die Liebe ist nicht bloß das stille Verlangen nach dem Unendlichen; sie ist auch der heilige Genuß einer schönen Gegenwart« (zit. n. Dischner 1980:98). Caroline bestärkte den Jenaer Kreis darin, dass Liebe als Liebe zur Philosophie auch immer Liebe zur Sprache bedeutet: Es ist diese Liebe, die ihrem Briefstil das Besondere verleiht, das den ,Diskurs der Vernunft' um die Vieldeutigkeit des Poetischen bereichert und das Begriffliche verflüssigt. Sie folgt damit den Sprachreflexionen des von ihr verehrten Herder: Sprache ist dem Menschen so wesentlich als er ein Mensch ist, sie ist mehr als nur der Ausdruck der Gedanken, wie Descartes glaubt.

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