6. Ehrverlust und seine Folgen
Wenn in den Debatten der Juristen und Rechtspolltiker nicht nur von einem Recht des Ehemanns auf "prozessualische Vertretung" seiner Frau, sondern auch von seinem "natürlichen Schutzrecht" die Rede war [91], bediente man sich einer Argumentationsfigur, die auch in anderen gesellschaftlichen Kreisen und Kontexten des 19. Jahrhunderts oft und gern benutzt wurde. So sprachen etwa die zahlreichen gedruckten Ehrenkodices und -ratgeber stets davon, daß für weibliche Ehre der männliche "Beschützer" zuständig sei. Das gelte nicht nur für den Fall, daß eine Frau in ihrer Ehre gekränkt worden sei, sondern auch dann, wenn sie selber der Ehre eines Ehrennlannes zu nahe getreten sei. Für eine solche Beleidigung sei nicht die Urheberin verantwortlich zu machen, sondern ihr Ehemann oder Vater. [92]
Diesem Rat folgte 1913 der Leutnant a. D. Edgar Freiherr von Düsterlohe, nachdem er einen Brief beleidigenden Inhalts von der Frau eines Arztes erhalten hatte. Anstatt sie persönlich zur Rechenschaft zu ziehen, ersuchte er ihren Ehemann, seine Gattin zur Rücknahme der Beleidigung zu bewegen. Als jener darauf nicht reagierte, schickte ihm der Freiherr eine Pistolenforderung. [93] Auch der Gerichtsreferendar Zacher hatte es 1875 verschmäht, von Frau Maeckelburg, die ihn auf einem Fest als "gemeinen Menschen" tituliert hatte, Genugtuung zu verlangen. Statt dessen erbat er von ihrem Gatten "eine Aufklärung dieses Benehmens". Als der Herr Kreisgerichtsrat seinerseits den Referendar, nach Rücksprache mit seiner Frau, als "dummen Jungen" und "gemeinen Lümmel" bezeichnete, forderte der solcherart Beleidigte den männlichen Beleidiger zum Duell.[94] Wurden Ehrenkränkungen im Milieu satisfaktionsfähiger Ehrenmänner durch Zweikämpfe gesühnt und aus der Welt geschafft, galten Frauen hier für die von ihnen verursachten Beleidigungen als nicht verantwortlich. Zuweilen wurde Männern sogar empfohlen, letztere nicht eriist zu nehmen; vor allem dann, wenn sie "der Rachsucht oder sonstigen leidenschaftlichen Motiven entspringen", sollte ein Gentleman kommentarlos darüber hinwegsehen. [95] Da Frauen generell im Ruf besonderer Affektabhängigkeit und geringer emotionaler Disziplin standen, war es ein leichtes, beleidigende Äußerungen auf diesem Konto abzubuchen und nicht weiter zu beachten.
Unter Männern aber mußte jede Ehrverletzung penibel registriert und beantwortet werden; sie setzte automatisch eine Handlungskette in Gang, die unter Umständen in einem Duell gipfeln konnte. Dabei kam es darauf an, die Bedeutung, die man der eigenen Ehre beimaß, öffentlichkeitswirksam zu inszenieren. Schließlich zeichnete sich der "Mann von Ehre" dadurch aus, daß er in "Ehrensachen", wie es der österreichische Offizier Gustav Ristow 1909 formulierte, keine Ungewißheit und kein Schwanken" kannte und jeden Angriff mit Verve zurückwies. [96] Frauen hingegen wurden die Fähigkeit und das Recht, ihre Ehre ähnlich expressiv zu verteidigen, rundweg abgesprochen. Statt dessen oblag es ihrem "natürlichen Beschützer" (Ristow), für aktive und passive Verletzungen des "Schützlings" einzustehen. Das galt vor allem dann, wenn jene Ehre tangiert war, die der Wiener Jurist Josef Kraus 1905 als "weibliche Sexualehre oder... Frauenehre schlechtweg" bezeichnete. [97] Gemeint war damit, wie Rosa Mayreder 1923 spezifizierte, "im Grunde ein somatischer Vorzug - die geschlechtliche Intaktheit, bei dem unverheirateten Weibe die Jungfräulichkeit, bei dem verheirateten die Ausschließlichkeit". [98] Diese Ehre war sowohl Gegenstand männlicher Aggression als auch Objekt männlichen Schutzes bzw. Rache. Dazu ein Beispiel aus dem Jahre 1904. Damals hatte sich die 25jährige ledige Margaretha Gaup auf ein kurzes Liebesverhältnis mit dem verheirateten Offizier Joachim von Levetzow eingelassen. Nachdem die Affäre ruchbar geworden war, sah sich Margarethas Bruder, ebenfalls Offizier, "als der älteste männliche Vertreter seiner Familie zu einer Herausforderung des Hauptmanns a. D. v. Levetzow zum Zweikampf auf Pistolen genötigt, um sich für die thm und seiner Familt'e zugefügte schwere Beleidigung Genugtuung zu verschaffen". [99]
Margaretha Gaup hatte ihre Ehre durch den vorehelichen Beischlaf verloren; sie war zu einer "bescholtenen" Frau geworden, wie der preußische Justizminister 1906 darlegte. Die Schuld daran trug sie selber, mehr noch aber der Mann, der sie dazu gemacht hatte. "Als gereifter Mann", notierte der Minister vorwurfsvoll, hätte Levetzow, zur Tatzeit 45 Jahre alt, "unter allen Umständen soviel Selbstzucht betätigen müssen, daß er es selbst bei einem seine Sinnlichkeit anreizenden Verhalten des jungen, damals noch unbescholtenen (sic) Mädchens nicht zu einem Geschlechtsverkehr kommen ließ". Levetzow wiederum rechtfertigte sich damit, daß er Margaretha "nicht für ein anständiges Mädchen" habe halten können, da sie ihm entgegengekommen sei und "sich ihm freiwillig hingegeben" habe. [100] "Anständig" wäre Fräulein Gaup dann gewesen, wenn sie auf ihre Ehre gehalten und den Verführungskünsten des Offiziers getrotzt hätte. Das wäre um so wichtiger gewesen, als Levetzow verheiratet war, eine nachträgliche Legitimierung des intimen Verhältnisses daher von vornherein ausschied. Einzig und allein die Ehe mit dem Verführer hätte Margarethas Ehre retten und wiederherstellen können. Das galt, wie die Argumentation des angesehenen Augsburger Großkaufmanns Eduard Scheler 1860 verriet, sogar für Frauen, die Ehebruch begangen hatten und auf diese Weise ehrlos geworden waren. Scheler bezog sich auf die Beziehungen zwischen seiner Schwägerin Alexandrine Erzberger und ihrem Liebhaber, dem bayerischen Offizier Hermann Scheffer. Letzterer habe Frau Erzberger, Bankiersgattin und Mutter von zwei Kindern, zur Untreue "verführt" und sie dadurch "um alle Ehre gebracht". Nach ihrer Scheidung habe er den Umgang mit der"von ihm Verführten und prostituierten" Frau fortgesetzt, ohne sie nun seinerseits zu heiraten. Nur auf diese Weise aber hätte er sie "soweit als möglich wieder zu äußerer Ehre bringen können". Der neuerliche Status einer Ehefrau, die an der Ehre ihres Gatten partizipieren durfte, hätte folglich den durch den Ehebruch eingetretenen Verlust ihrer weiblichen Ehre' überdeckt und ausgeglichen. [101] Die zwei Geschichten von verlorener weiblicher Ehre scheinen auf den ersten Blick ähnlichen formalen und inhaltlichen Mustern zu folgen. In beiden Fällen schliefen Frauen mit Männern, die dazu kein ehevertragliches Recht besaßen. Damit hatten sie ihre Ehre eingebüßt, die demnach dadurch definiert sein mußte, daß eine Frau sexuelle Beziehungen nur zu ihrem Ehemann unterhalten durfte. In beiden Fällen galt der Mann, der sich die eigentlich dem Ehegatten vorbehaltenen Rechte anmaßte, als Aggressor, als Verführer, und die Frau als sein verführtes Objekt. Daß anständige Frauen die Initiative ergriffen und Männer zum Beischlaf verleiteten, war für die Zeitgenossen undenkbar und unstatthaft widersprach es doch dem liebevoll gepflegten Topos weiblicher Passivität und männlicher Aktivität. Auch die aktiven Rächer bzw. Retter der um ihre Ehre gebrachten passiv Verführten waren selbstverständlich Männer, im ersten Fall der Bruder, der die Beleidigung der Schwesternund Famillenehre mit einer Duellforderung an den Beleidiger erwiderte; im zweiten Fall hätte der Aggressor selber die von ihm entehrte Frau durch eine Heirat wieder zu Ehren bringen können. Soweit die Analogien zwischen vor- und außerehelichem weiblichem Ehrverlust. Fragt man allerdings nach den Funktionen und dem sozialen Sinn jener Verlustzuschreibungen, treten erhebliche Differenzen auf. Welchen Zweck hatte es, voreheliche Keuschheit in den Rang einer für die Identität und das Verhalten von Frauen zentralen Ehrennorm zu erheben? Der Philosoph Arthur Schopenhauer fand darauf Mitte des 19. Jahrhunderts eine einfache Antwort: Die weibliche Sexualehre" sei ein probates Mittel, durch das Männer "zur Ehe, als welche eine Art von Kapitulation ist, gezwungen und dadurch das ganze weibliche Geschlecht versorgt werde". [102] Weibliche Sexualität fungierte also als Tauschobjekt, als ein Kapital oder Vermögen, das möglichst sicher und gewinnbringend angelegt und nicht vor der Zeit vergeudet, verschwendet werden sollte. Wollte ein Mann dieses Kapital nutzen, mußte er Sicherheiten nachweisen, sprich eine angemessene Versorgung der Frau und der zu erwartenden gemeinsamen Kinder gewährleisten. Für einen solchen Konnex zwischen Sexualität und Ökonomie gibt es viele Beispiele. Die folgenden stammen aus dem bürgerlichen Milieu des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Da appellierte etwa der Kölner Kaufmann Hugo Bender Anfang der 1890er Jahre an den Regierungsassessor Herbertz, "sich entweder um seine Tochter zu bewerben oder jeden sie bloßstellenden Verkehr mit ihr abzubrechen". Dem besorgten Vater waren Briefe in die Hände gefallen, deren Inhalt ihn eine "Unlauterkeit" der Beziehungen Herbertz' zu Fräulein Bender vermuten ließ. Der forsche Regierungsassessor allerdings sah keinen Anlaß, dem väterlichen Ansinnen nachzugeben; er lachte ihn aus und weigerte sich beharrlich, die Geliebte zu heiraten. [103]
Ähnlich verhielt sich 1908 der Jurastudent Wilhelm Petzholtz aus Berlin. Er hatte sich im Jahr zuvor heimlich mit Erna von Ferber verlobt. Der Verlobung waren sexuelle Kontakte gefolgt, wobei Petzholtz die Überzeugung gewann, daß seine Braut "nicht mehr unbescholten" war. Daraufhin erklärte er ihr, sie unter diesen Umständen nicht mehr zur Frau nehmen zu können, setzte aber den Verkehr mit ihr weiter fort. Als Ernas Stiefbruder davon erfuhr, verlangte er von Petzholtz, sie zu heiraten, was letzterer ablehnte. Der preußische Justizminister vermochte in Petzholtz' Verhalten nichts Ehrenrühriges zu erblicken, erschien ihm doch Ernas Persönlichkeit "in einem so bedenklichen Lichte", daß es dem ehemaligen Bräutigam "nicht zum Vorwurf gemacht werden kann, wenn er sich weigerte, die Ehe mit ihr einzugehen". [104] Ob der Minister milder geurteilt hätte, wenn Erna vor dem ersten Beischlaf mit Petzholtz noch Jungfrau gewesen wäre, ist fraglich. Zwar hielt die "allgemeine Meinung" noch im Vormärz dafür, daß "eine Frau, die dem Manne schon vor der Hochzeit gestattet, was der Strenge nach erst nachher erlaubt ist, darum allein noch keine Entehrte ist".[105] Gerade in bürgerlichen Kreisen aber scheinen die Ansichten seitdem rigider geworden zu sein, bis der Grundsatz vorehelicher Keuschheit für Frauen schließlich absolute Geltung beanspruchte. Selbst das Verhalten von Verlobten wurde genauestens kontrolliert; unbeobachtete Zweisamkeit war verpönt, die Anstandsdame stets präsent. Immer wieder schärfte man Frauen ein, die Grenzen, "welche zwischen Verlobten unter allen Umständen als unübersteiglich gelten müssen", besonders sorgfältig zu beachten und zum Beispiel bei Zärtlichkeiten "die Schranken enger (zu) ziehen, als es dem Mann bei etwa weniger ausgebildetem Zartgefühle lieb sein mag".[106] Noch sehr viel reservierter hatten sie sich ohne ein förmliches Eheversprechen, wie es die Verlobung darstellte, zu verhalten. Über eine Frau wie Heinrich Manns Romanfigur Agnes Göppel, die ihren Liebsten auf seine Studentenbude begleitete und dort ihre Unschuld verlor, hätten die Autoren und Autorinnen der Anstands- und Benimmbücher, die im Kaiserreich hohe Auflagen erzielten, den Stab gebrochen. Das tat letztlich auch der Liebhaber selber. Nachdem er am Anfang ihrer Beziehung von der übernommenen "Verantwortung" und seinen "Verpflichtungen" Agnes gegenüber geredet hatte, wies er die Forderung des Kaufmanns Göppel, seine Tochter zu heiraten, später mit den Worten zurück:
"Mein moralisches Empfinden verbietet mir, ein Mädchen zu heiraten, das mir seine Reinheit nicht mit in die Ehe bringt... Kein Mensch kann von mir verlangen, daß ich so eine zur Mutter meiner Kinder mache. Dafür hab ich zuviel soziales Gewissen."
Obwohl Diederich Heßling der erste Liebhaber der zuvor unbescholtenen, d. h. jungfräulichen Agnes Göppel war und dies auch wußte, machte er ihr ihre sexuelle Hingabe zum Vorwurf. Sie, die ihre Ehre an ihn verloren hatte, schien ihm, der mit einer "edel männlichen Gesinnung" begabt war, entehrt und damit unwürdig, seine Ehefrau zu werden." [107]
Der Schriftsteller Mann, bekannt für seine scharfe Ablehnung wilhelminischer Konventionen und Wertmaßstäbe, steigerte den Ehr-Standard seiner Zeit derart ins Absurde, daß ihm aller "poetischer Zauber" abhanden kam." [108] Auch in anderen Milieus regte sich offene Kritik. Nicht nur Sozialdemokraten, nicht nur jene Frauen und Männer, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts um die Grundlegung und Popularisierung einer "neuen Ethik" bemühten, sondern auch die gemäßigteren Teile der Frauenbewegung distanzierten sich von der herrschenden Doppelmoral." [109] Daß Frauen für ein Verhalten, wie es Männer selbstverständlich und ohne persönliche Konsequenzen praktizierten, mit den schärfsten, potentiell existenzvernichtenden Sanktionen bestraft wurden, schien ihnen der eigentliche Skandal. Nur wenige aber gingen so weit, für Frauen das gleiche Recht auf voreheliche Sexualität zu fordern, wie es Männer für sich beanspruchten. Die meisten neigten dazu, Frauen auf diesem Gebiet zu besonderer Zurückhaltung zu verpflichten und davon eine allmähliche Zivilisierung des ausufernden männlichen Geschlechtslebens zu erwarten. "Das ist", meinte die österreichische Feministin Rosa Mayreder 1923, "die Mission der Frauen", namlich als "Lehrmeister des männlichen Geschlechtes" zu wirken und zu "erreichen, daß der Mann jene sexuelle Kultur, die er am Weibe als dem Objekt seiner Wünsche und Ideen entwickelt hat, zuletzt selbst... übernehmen muß". [110] >Weibliche Ehre< war somit auch für Frauenrechtlerinnen kein überholter Wert; sie stießen sich vielmehr an der eklatanten männlichen Unehre und ergriffen Partei für jene gefallenen Mädchen, die in den Augen der bürgerlichen Gesellschaft ihre Ehre verloren hatten, während ihre männlichen Liebhaber und Freier ungeschoren blieben." [111] Die Öffentlichkeit jedoch nahm bereits dieses vorsichtige und ambivalente Engagement für eine veränderte Sexualmoral als Totalangriff auf traditionelle Werte und Gewißheiten wahr.
"Die wachsende Auflösung aller festen Wahrheiten", klagte 1914 der publizistisch rührige katholische Pädagogikprofessor Friedrich Wilhelm Foerster, "ergreift heute auch den alten Begriff der weiblichen Ehre." Frauen verlangten nunmehr "die gleichen Freiheiten..., die sich die meisten Männer vor der Ehe herausnehmen". Damit aber begäben sie sich ihrer "Kulturmacht" und sänken erst recht zur "Sklavin" des Mannes herab. Schließlich sei der weibliche Ehrbegriff kein "Überbleibsel der Hörigkeit", kein Mittel männlicher "Herrschsucht", sondern im Gegenteil "Ausdruck der sittlichen Macht und Würde der Frau". Entlasse man die weibliche Sexualität aus der Institution Ehe, verliere die Frau Schutz und Bürgschaft; außerdem ziehe sie sich anstelle der "Verehrung" die "Mißachtung" des Mannes zu, der sie als sittlich "Höherstehende" brauche, um "über sich selbst hinaus(zu)kommen". [112] Diese keineswegs auf katholische Kreise beschränkte Argumentation bediente sich hemmungslos aus dem Arsenal der bürg erlichen Geschlechterideologie, die in der "Reinheit" der Frau einen Damm gegen die "tiefgewurzelte sexuelle Charakterlosigkeit" (Foerster) des Mannes erblickte." [113] Zugleich aber ging sie über das Gebiet der Moral weit hinaus und berührte auch die materiellen Interessen, die dem Code weiblicher Ehre zugrunde lagen. Da sexuelle Kontakte im Zeitalter fehlender oder unsicherer Verhütungsmittel immer das Risiko einer Schwangerschaft einschlossen, war es für Frauen sinnvoll, solche Kontakte an die Garantie ökonomischer und sozialer Absicherung zu knüpfen. Nur eine Ehe bot letztlich die Gewähr, daß Männer sich nicht aus der Verantwortung für die von ihnen Geschwängerte und das Kind herausstahlen, sondern hausväterliche Pflichten übernahmen. Das Keuschheitsgebot für Frauen präsentierte sich von daher als ein Schutzmechanismus, der ihnen die wirtschaftlichen und sozialen Kosten einer unehelichen Schwanger- und Mutterschaft ersparen sollte.
7. Der Nutzen weiblicher Ehre: Jungfrauen
Dieser materielle Nutzen weiblicher Ehre wog schwer aus der Perspektive von Frauen, die dazu erzogen wurden, ihr Lebensglück und ihre Existenzberechtigung in Ehe und Familie zu suchen. Das heißt jedoch nicht, daß Begriff und Inhalt weiblicher Ehre Erfindungen des bürgerlichen 19. Jahrhunderts waren. Die Vorstellung, daß Frauen die Standards sittlichen Verhaltens genauer beachten müßten als Männer und ihre geschlechtliche Unversehrtheit als Tugendpfand in die Ehe brächten, war weit älter. Bereits im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit galt voreheliche Sexualität für Frauen als ehrschädigend." [114] Ständische Gesellschaften achteten nicht weniger streng auf die Legitimität sexueller Beziehungen und ihrer möglichen Ergebnisse. Angesichts knapper "Nahrungen" und entsprechend rigider Eheverbote schien es unbedingt notwendig, die Sexualität der Untertanen in Zaum zu halten und sie nur dann, wenn begründete Aussicht auf eine ökonomisch stabile Ehe bestand, zu erlauben. Frauen waren gehalten, ihre Keuschheit nur demjenigen zu opfern, der sie heiraten konnte und wollte. Schliefen sie mit einem Mann, der ihnen kein verbindliches und einklagbares Eheversprechen gegeben hatte, setzten sie ihre Ehre aufs Spiel. Brachten sie in der Folge ein uneheliches Kind zur Welt, war der Ehrverlust besiegelt und nur durch eine nachträgliche Heirat mit dem Kindsvater wieder rückgängig zu machen. Der Verhaltenscode weiblicher Ehre erscheint hier als Sicherheitsventil einer Gesellschaft, die es sich weder ökonomisch noch sozial leisten konnte, der Sexualität und Fortpflanzungsfähigkeit ihrer Mitglieder freien Lauf zu lassen. Daß Ehe und Geschlechtsverkehr engstens miteinander verkoppelt wurden und jede Entkoppelung schärfste Sanktionen nach sich zog, hatte seinen Grund nicht zuletzt in der relativen Statik eines ständlschen Systems, das Rechte und Pflichten des einzelnen unmittelbar an seine ehelich-familiale Herkunft band. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein akzeptierte etwa das zünftige Handwerk keinen Lehrling, der unehelich - und damit standlos - geboren war. Unehelich war so viel wie unehrlich, wie denn auch die Zunftordnungen der Frühen Neuzeit durchweg von "ehrlicher" Geburt sprachen, wenn sie die eheliche meinten." [115] Mit solchen Restriktions- und Ausschlußbestimmungen wollten die städtischen Handwerker ihren bürgerlichen Stand vor Eindringlingen schützen, die bisher keinen Platz in der familial verfaßten Ständeordnung einnahmen. Die Keuschheit seiner Töchter bot dem Hausvater bürgerlicher, bäuerlicher oder adliger Herkunft die Gewähr, daß Stand, Besitz und "Nahrung" in von ihm kontrollierter Form weitergegeben wurden. Je gewichtiger und angesehener das väterliche Erbe, desto schärfer war auch die ausgeübte Kontrolle. Entzog sich ihr eine Frau, indem sie etwa voreheliche Beziehungen zu einem Mann unterhielt, der als Heiratspartner nicht in Betracht kam, konnte das ihre soziale Existenz vernichten. So war es etwa Handwerkern verboten, die Ehe mit "von einem andern noch im ledigen Stand geschwächten Weibs-Personen" zu schließen; auch dann, wenn Gesellen eine von ihnen selber geschwängerte und damit um ihre Ehre gebrachte Frau heirateten, wurden sie aus der Korporation ausgestoßen." [116] Diese expliziten und impliziten Heiratsverbote für Männer erhöhten den Druck auf Frauen, ihre Ehre, wie man sagte, rein und unbefleckt zu halten. Weibliche Ehre hatte um so höheren Wert, je größere materielle Folgen an ihren Verlust geknüpft waren. Keinesfalls durften eigenwillige sexuelle Kontakte der Tochter die ausgeklügelten Heiratsstrateglen der Eltern durchkreuzen und deren Interesse an der Arrondierung und Vergrößerung von Besitztiteln zuruchte machen." [117] Doch auch in jenen sozialen Kreisen, in denen es nichts oder wenig zu erben und zu besitzen gab, erhielt sich ein Begriff weiblicher Ehre, der ein auf legitime Sexualität und Nachkommenschaft zielendes Verhalten vorschrieb.
So achteten etwa auch Frauen aus der Unterschicht sehr genau darauf, sich nicht durch ein promiskultives Liebesleben in Unehre zu bringen. Vorehelicher Geschlechtsverkehr war im ländlichen Milieu der Vormoderne zwar nicht tabu, bewegte sich aber in eng gezogenen Grenzen. Nur dann, wenn die Frau davon ausgehen konnte, in ihrem Liebhaber den künftigen Ehemann zu
begrüßen, ließ sie ihn in ihr Bett. Verweigerte er später die Heirat, gab es für die Verlassene zahlreiche formelle und informelle Möglichkeiten, ihn zur Einhaltung des Eheversprechens zu zwingen." [118]
Ein solcherart normierter, an verbindliche Gewißheiten und Sanktionen gebundener Umgang mit weiblicher Ehre setzte sich in den städtischen Unterschichten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fort. So genossen junge Krefelder Seidenweberinnen um die Mitte des 19. Jahrhunderts zwar eine für bürgerliche Beobachter äußerst befremdliche sexuelle Freizügigkeit, die jedoch in der Regel als Form der Eheeinleitung begriffen wurde und zur Eheschließung führte. [119] Auch Berliner Arbeiterinnen erblickten
"im außerehelichen Geschlechtsverkehr nichts Schändendes, sobald er sich nur auf einen einzigen erstreckt, von dem sie es dann aber auch für selbstverständlich (halten), daß er sie heiratet"." [120]
Als Schande dagegen galt es, unehelich schwanger zu sein und vom Kindsvater sitzen gelassen zu werden. Die Ehre der Frau war auch hier ein Tauschobjekt; blieb die Gegenleistung, die mit einer gewissen Zeitverschiebung erwartet wurde, aus, war sie unwiederbringlich verloren. Ob solche Vorstellungen von Ehre und Schande wirklich bürgerlicher Herkunft waren und dem proletarischen Milieu von außen übergestülpt wurden" [121], ist fraglich. Immerhin stammte der restriktive Ehrenkodex weder aus dem bürgerlichen 19. Jahrhundert, noch war er in der Vormoderne auf den bürgerlichen Stand beschränkt. [122] Daß auch in proletarischen Familien auf die Ehre der Töchter geachtet wurde, daß Frauen selber darüber wachten und ihr Verhalten untereinander streng kontrollierten, mag deshalb eher ältere Traditionen fortgesetzt als neue erfunden oder übernommen haben.
Neu und bürgerlich war hingegen die Verengung und immer rigidere Zuspitzung des weiblichen Ehrbegriffs auf das Moment absoluter sexueller Integrität. Je höhere Zäune um die Keuschheit der bürgerlichen Töchter gezogen wurden, desto zwingender und exklusiver wurde die Keuschheitsnorm für das, was unter dem Globalbegriff weiblicher Ehre firmierte. Von einer anderen als der "Sexualehre" war bei Frauen, und zwar nicht nur bei solchen bürgerlicher Herkunft, im 19.Jahrhundert kaum noch die Rede. Die vormoderne Gesellschaft hatte der Ehre einer Frau noch komplexere Bedeutungen beigelegt. Nur "in engerer Bedeutung", vermerkte die Krünitzsche Encyklopädie 1788, verstehe man unter Ehre die "jungfräuliche Unschuld"." [123] Wenn etwa das "Mädchen-Corps" eines Dorfes einer Braut ein Geschenk machte, in dessen Größe sich das Maß der Ehre ausdrückte, die sie unter ihresgleichen genoß, hing dieses Achtungszeugnis keineswegs nur davon ab, wie erfolgreich die Betreffende ihre Geschlechtsehre zu wahren verstanden hatte." [124] Zwar wachten auch Frauen untereinander über die Einhaltung des sexuellen Ehrenkodexes; trotzdem ging das, was die Ehre einer Frau ausmachte, nicht darin auf. Das Verhalten im "Mädchen-Corps", die dort geübte praktische Solidarität, die ökonomische Solidität, der Arbeitsfleiß, das Betragen gegenüber Eltern oder Dienstherrschaften - all das spielte eine Rolle, wenn die Ehre der Braut gewogen und im Hochzeitsgeschenk repräsentiert werden sollte. [125]
Wenn die Definition weiblicher Ehre, wie sie sich in bürgerlichen Kreisen zunehmend durchsetzte, von solchen Qualitäten immer weiter abstrahierte und lediglich den Kardinalpunkt der Jungfräulichkeit übrigließ, deutet das zum einen darauf hin, daß sich der Einfluß außerfamilialer Gruppen auf die Normierung und Kontrolle des Ehrverhaltens drastisch abschwächte. Diese Entwicklung korrespondierte mit der allgemeinen Umgestaltung des Geschlechterverhältnisses im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung. In dem Maße, wie Männer das Haus verließen, um in der Öffentlichkeit, in Beruf, Politik und männlicher Geselligkeit Ehre und Anerkennung zu finden, sahen sich Frauen auf Haus und Familie verwiesen, die zunehmend als Orte privater, intimer Kommunikation begriffen wurden. Damit ging zugleich eine Verengung ihres sozialen Handlungsfeldes einher. Mit der exklusiven Konzentration auf den (zukünftigen) Mann und seine Bedürfnisse, mit der Aufwertung der ehelichen Paarbeziehung war automatisch die Abwertung anderer sozialer Beziehungsgeflechte verbunden, in denen sich Frauen bisher bewegt und die an der Beurteilung ihrer Ehre Anteil genommen hatten. Warum die Keuschheit zu einem so dominierenden Wert werden konnte, erschließt sich darüber hinaus aus der neuen, im späten 18. Jahrhundert entwickelten Liebessemantik. Wenn Liebe Ehen stiften sollte, wie es der moderne Code vorsah, erhöhte sich die Bedeutung, die dem sexuellen Verhalten - als wichtigem, wenn auch nicht alleinigem Ausdruck der Liebe zukam. Allerdings galt das weniger für den Mann, jenes
"für den Weltsturm erschaffene und mit unbändigen Leidenschaften ausgerüstete" Wesen, als für die Frau, deren "Sittsamkeit" engere Schranken gezogen wurden." [126]
Jene Schranken des modernen bürgerlichen Sittengesetzes hat niemand einfluß- und folgenreicher definiert als Johann Gottlieb Fichte, auf dessen "Deduktionen" sich noch die Kodifikatoren des Bürgerlichen Gesetzbuchs beriefen. Er legte dar, daß Liebe die "Gestalt" sei, "unter welcher der Geschlechtstrieb im Weibe sich zeigt".
Nur dann, wenn eine Frau sich aus Liebe einem Mann hingebe, bewahre sie ihre Ehre. Um der Liebe willen mache sich die Frau zum Werkzeug des Mannes, der seinen Geschlechtstrieb bei ihr befriedige. Das "unverdorbene Weib", so Fichte, kenne keinen solchen Trieb, sondern nur die "Befriedigung des Herzens", die sie in der ehelich verfaßten Liebe zu ihrem Mann finde.
Daraus folgte zunächst, daß Frauen nicht gezwungen werden durften, sich einem Manne zu ergeben, außer aus Liebe". Geschah dies dennoch, etwa in Form einer Vergewaltigung oder Vernunftheirat, war ihre Ehre, jener "edelste Teil ihrer Persönlichkeit", verletzt. Aber auch dann, wenn sie eigenwillig, doch ohne Liebe mit einem Mann schliefen, büßten sie ihre Ehre ein. Die Frau, die aus "Gewinnsucht" oder "sinnlicher Lust" Geschlechtsverkehr hatte, gab ihre Ehre gewissermaßen aus freien Stücken preis, entehrte sich selber. Nur die Liebe, jener dem "Welb" - nicht dem Mann - angeborene "Naturtrieb", rückte weibliche Sexualität in ein versittlichendes, ehrenvolles Licht. Sie verpflichtete Frauen zugleich dazu, nur mit einem, nämlich ihrem Mann zu schlafen und ihm lebenslang die Treue zu halten. [127] Trotz mancher inneren Ungereimtheiten übte dieses von Fichte entworfene Geschlechtermodell auf seine Zeitgenossen und Nachfahren eine fast suggestive Überzeugungskraft aus. Normativ hoch besetzt und ideologisch aufgeladen, tauchte es im 19.Jahrhundert allerorten auf, in juristischen Debatten um das Ehe- und Familienrecht ebenso wie in Streitschriften über die "Bestimmung des Weibes" oder in der populären Ratgeberliteratur für junge Eheleute. Auch der Diskurs um weibliche und männliche Ehre war maßgeblich von Fichtes Liebesbegriff beeinflußt, der die traditionell patriarchalische Geschlechterordnung auf neue, modernere Weise legitimierte. Wenn nun aber Liebe der maßgebliche Kommunikationscode zwischen Männern und Frauen sein sollte, beinhaltete dies den Rückzug aller externen, liebesfremden Interessen und Institutionen aus der Paarbeziehung. Ebenso wenig wie Frauen dazu gezwungen werden durften, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebten, konnten auch Männer zur Ehe genötigt werden. Die öffentlichen Sanktionen und Zwangsmittel, mit denen säumige Liebhaber in der vormodernen Gesellschaft angehalten wurden, ihr voreheliches Verhältnis und seine Folgen zu legitimieren, waren unter der Herrschaft des bürgerlichen Liebesethos prinzipiell undenkbar.
Gerade deshalb erhöhte sich die Bedeutung, die der sexuellen Enthaltsamkeit junger Mädchen zukam. In dem Maße, wie die Entscheidung, eine Ehe einzugehen, auf den individuellen Gefühlen und Optionen des Brautpaares beruhte anstatt auf komplexen sozialen bargainingProzessen und Kontrollen, verschlechterte sich die Ausgangsposition der Frau zugunsten des Mannes. Da sie, abgesehen von moralischem Druck, keine Handhabe mehr besaß, den Mann zur Einhaltung seiner mit einem vorehelichen Beischlaf automatisch eingegangenen Verpflichtungen zu zwingen, tat sie besser daran, solche Kontakte ganz zu meiden.
8. Der Nutzen weiblicher Ehre: Ehefrauen
Spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob der Code, der weibliche Keuschheit in Ehre übersetzte, lediglich Frauen nutzte und Schutz bot, oder ob auch Männer ein Interesse daran hatten, an ihm festzuhalten. Mußten sie ihn nicht als willkürliche Begrenzung ihres angeblich nur auf sexuelle Befriedigung ausgehenden Triebs empfinden und deshalb eigentlich bekämpfen? Angesichts fehlender Forschungsarbeiten zum Selbstverständnis und zur Sexualität von Männern im 19. Jahrhundert fällt eine Antwort auf diese Frage schwer. Immerhin gibt es zahlreiche Hinweise aus Literatur und sozialer Praxis, daß bürgerliche Männer sehr wohl an der unbefleckten Ehre ihrer Bräute interessiert waren und die Entdeckung des Gegenteils zum Anlaß nahmen, das Verlöbnis zu lösen. Dabei mochten verschiedene Gefühle eine Rolle spielen: gekränkter Stolz darüber, nicht der erste Eroberer gewesen zu sein; Angst vor einer erfahrenen Frau, die Vergleiche zwischen Ehemann und früheren Liebhabern anstellen konnte; Zweifel an der "generativen Verläßlichkeit" (Mayreder) einer Gattin, die es mit ihrer Ehre bereits vor der Ehe nicht allzu genau genommen hatte.
An die eigene Verläßlichkeit legten Männer andere Maßstäbe an. Selbstverständlich nahmen sie sich das Recht, voreheliche Affären zu haben und ihrer Sexualität freien Lauf zu lassen. Ihrer Ehre war das keineswegs abträglich; vielmehr stieg das Ansehen eines jungen Mannes unter seinen sozialen peers mit der Zahl seiner Eroberungen. Allerdings neigten gerade bürgerliche Männer schon aus wohlverstandenem langfristigen Interesse dazu, solche Beutezüge [128] außerhalb der eigenen Kreise zu tätigen. Lieber hielten sie sich an junge Frauen aus unteren Sozialschichten, die von vornherein nicht als Heiratspartnerinnen in Betracht kamen, oder an verheiratete Damen, bei denen der prickelnde Reiz zwischen männlicher Konkurrenz das Vergnügen des Verbotenen noch steigerte." [129] In der Vorstellungswelt des 19.Jahrhunderts galt die Verführung einer Ehefrau zum außerehelichen Beischlaf als nicht minder ehrenrührig als die Verführung einer Ledigen. Auch und gerade der Ehebruch verletzte die Ehre der betroffenen Frau, wie in den Eherechtsdebatten immer wieder betont wurde. Die materielle Logik dieses Arguments war hier noch durchsichtiger: Stand doch bei einem Seitensprung der Ehefrau die "Paternität" (Savigny) in Frage. Da jedes ehelich geborene Kind alle Rechte auf Unterhalt, Erziehung und Vermögen des Vaters genoß, schätzten Männer die Ehre ihrer Gattinnen als Garantie dafür, daß ihr materieller Besitz nur unter den eigenen, legitimen Nachkommen aufgeteilt und nicht von den Sprößlingen anderer Männer usurpiert wurde. Diese Angst vor dem Bastard, der aus fremden Fleischtöpfen naschte, zog sich wie ein roter Faden durch die öffentlichen Debatten um "Familienehre" und Familienrecht.
Wenn der außereheliche Geschlechtsverkehr der verheirateten Frau durchweg als verwerflicher und strafbarer galt als der eines verheirateten Mannes, lag das vor allem daran, daß das "objektive Moment, die Gefahr des Schadens für die Familie", hier für größer erachtet wurde." [130]
Die Untreue der Frau konnte schließlich greifbare Folgen in Form einer Schwangerschaft haben, die sie als ehelich auszugeben vermochte. Der Seitensprung ihres Ehemanns dagegen führte höchstens zur Geburt eines unehehchen Kindes, dem keinerlei Ansprüche auf Namen, sozialen Status und Vermögen des Vaters zustanden. Daß die weibliche Ehrennorm bei verheirateten Frauen dazu diente, Vater- und Erbschaftsverhältnisse zu kontrollieren, war schon in vorbürgerlichen Gesellschaften bekannt und geschätzt. Das bürgerliche Jahrhundert griff auch hier auf sehr viel ältere Traditionen zurück. Zugleich aber blähte es das Gebot sexueller Treue für Frauen zu einem aggressiven Kult auf, der die Vorbilder der Vergangenheit an Rigidität und Absolutheit weit übertraf. In der Vormoderne war auch die Ehre der verheirateten Frau keine ausschließliche Funktion ehelicher Treue gewesen. Das kam bereits in der gebräuchlichen Bezeichnung "Hausehre" zum Ausdruck, mit der Ehefrauen belegt wurden. In dem Begriff steckte weit mehr als nur die intime Beziehung der Frau zu ihrem Gatten und ihr Verzicht auf außerehelichen Geschlechtsverkehr. "Unter der Hausehre", definierte der Brockhaus 1820, verstehe man
"die Hausfrau, weil sie dem Hause Ehre machen soll; [131]
Das geschah vornehmlich dadurch, daß sie ihr Hauswesen in Ordnung hielt, die Dienstboten vernünftig anleitete und streng überwachte, sparsam wirtschaftete und den bürgerlichen Tugenden nachlebte. [132] Darüber hinaus war sie verpflichtet, ihrem Mann "in allen billigen Dingen unterthänig und gehorsam" zu sein und ihn "als ihren Herrn" anzusehen und zu ehren. "Vornehmlich" dadurch - und nicht etwa durch ihre Keuschheit war sie, wie 1734 in Zedlers Universal-Lexicon zu lesen stand, "des Mannes Ehre". [133]
Sexuelle Treue war demnach in der vormodernen Gesellschaft nur ein, vielleicht nicht einmal das wichtigste und entscheidende Ingrediens der Gattinnen-Ehre. Erst das bürgerliche Zeitalter wies ihr die Monopolstellung zu, die sie bis ins 20. Jahrhundert hinein zäh und folgenreich behauptete.
Dafür gibt es (mindestens) zwei Erklärungen. Die erste gründet sich auf den sozialgeschichtlichen Befund einer "Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben" (Hausen). Sowohl räumlich als auch zeitlich traten männliche und weibliche Sphären weit auseinander: Männer verbrachten immer weniger Zeit in Haus und Familie, Frauen blieben sich dort zunehmend selber überlassen. Eine solche faktische Distanzierung, der gleichwohl eine ideologische Überhöhung der intimen Paarbeziehung zur Seite stand, warf Probleme auf. Junge Frauen, die sich das eheliche Leben womöglich intensiver, zweisamer und abwechslungsreicher erträumt hatten, konnten auf Abwege geraten, in Abwesenheit des stets beschäftigten Ehemanns in die Hände aufmerksamer Verführer fallen und, wie es Effi Briest erging, dabei ihre Ehre verlieren. Fernab ehemännlicher Kontrolle wurden sie die leichte "Beute" (Zweig) anderer Männer, die sich nicht scheuten, die Rechte des Gatten auf sexuelle Exklusivitat und gesicherte Paternität zu verletzen. Ein typisches Beispiel bot die Affäre zwischen Oswald Falkenhagen und Elisabeth von Bennigsen. Als der junge, unverheiratete Landwirt 1899 auf die Springer Domäne kam, nahm er sofort Kontakt mit dem gesellschaftlich passenden Landrat Adolf von Bennigsen auf. Zwischen beiden Männern "entwickelte sich ein freundschaftlicher Verkehr, so daß Falkenhagen bald ein täglicher Gast im Hause des Landrats war". Größere Zuneigung als zu dem vierzehn Jahre älteren und häufig abwesenden Hausherrn faßte Falkenhagen jedoch zu dessen Ehefrau, die ihm auch altersmäßig näher stand. "Er gewöhnte sich daran, ihr sein Herz auszuschütten, da sie Teilnahme für seine Erfolge und Mißerfolge in der Wirtschaft zeigte, und da er fast Niemanden in Springe hatte, mit dem er sich hätte aussprechen können. Das Verhältnis zwischen beiden wurde allmählich immer intimer. Im Spätsommer 1900 kam es zum ersten Male im von Bennigsen'schen Hause zum Geschlechtsverkehr. Nach Falkenhagens Angaben ging die Anregung hierzu zuerst von ihm aus, die Frau habe ihm anfangs kein Gehör schenken wollen." Der Ehemann, der sein Amt als Landrat"sehr ernst nahm, sich viel in seinem Landkreis und wenig zu Hause aufhielt", erfuhr erst eineinhalb Jahre später von dem Liebesverhältnis, als bereits die ganze lweitere Umgebung" davon sprach." [134]
Nun ist es zwar unmöglich, statistisch nachzuweisen, ob Frauen im 19. Jahrhundert häufiger die Ehe brachen als im achtzehnten, als Männer noch häuslicher waren und dementsprechend intensiver über das Verhalten ihrer Gattinnen wachen konnten. Gleichwohl scheint es plausibel, daß das männliche Mißtrauen in einem Maße zunahm, wie sich ihre Kontrollchancen verringerten. Der ner-vös-emphatische Appell an die "weibliche Ehre", an die höhere Sittlichkeit der Frauen und ihre größere Selbstzucht könnte demnach eine Reaktion auf die Befreiung der Ehefrauen von direkter männlicher Zucht und Überwachung gewesen sein. Hinzu kommt, ähnlich wie im Fall der "Jungfrauenehre", die besondere Bedeutung, die der Liebe als ehestiftendem und -stabilisierendem Motiv im 19.Jahrhundert zugeschrieben wurde. Gerade weil die auf Liebe gegründete Paarbeziehung eine so große Autonomie beanspruchte, war es wichtig, daß Frauen - als die zur Liebe vorzüglich Berufenen - das Liebesband nicht durch außereheliche Affären zerrissen. Ihre sexuelle Untreue beschwor nun eben nicht nur die "Unsicherheit der Paternität" herauf, sondern entzog darüber hinaus der Ehe ihre moralische Legitimität. Hierzu noch einmal Fichte:
"Die Ehefrau, die sich einem anderen Manne ergibt, ergibt sich ihm entweder aus ganzer wahrer Liebe. Dann aber hat sie, da die Natur ihrer Liebe die Teilung schlechthin nicht verträgt, aufgehört ihren Ehemann zu lieben, und das ganze Verhältnis mit demselben ist sonach vernichtet... Oder, der zweite Fall, sie übergab sich dem fremden Manne aus sinnlicher Lust: so ist anzunehmen, daß sie auch ihren Ehemanne nicht liebe, sondern ihn lediglich zur Befriedigung ihres Triebs gebrauche; und dies ist schlechthin unter seiner Würde. Der Ehebruch des Weibes vernichtet sonach in jedem Falle das ganze eheliche Verhältnis; und der Mann kann die Ehebrecherin nicht behalten, ohne sich selbst herabzuwürdigen." [135]
9. Männliche Ehre und ihre Rituale
Dieser "Deduktion" fügte Fichte noch die Bemerkung hinzu, daß ein Mann, der die "Ausschweifungen seiner Frau" dulde, "gegen die Ehre sündigt". Welche Ehre war damit gemeint?
Bislang war die Ehre von Männern in Anlehnung an die Sprachregelungen des 19.Jahrhunderts in engem Konnex mit ihren öffentlichen Funktionen - als Staatsbürger, Amtsträger oder Erwerbspersonen - gesehen worden. Hieran aber konnte Fichte nicht gedacht haben, denn diese Ehre war gegen Verletzungen der sogenannten Intimsphäre immun. Von einer anderen Ehre jedoch war in den zeitgenössischen Broschüren und Lexikonartikeln, die über Ehre, Beleidigung und Ehrenschutz informierten, mit Bezug auf Männer nicht die Rede gewesen. Lediglich für Frauen hatte man eine besondere, an den Körper und das Geschlecht - im doppelten Wortsinn - geknüpfte Ehre reserviert. Daß etwas Analoges auch für Männer existierte, wurde rundweg abgestritten.
"Bei richtiger Erfassung des Ehrenlebens", meinte ein Eingeweihter 1905, könne es eine "männliche Sexualehre" nicht geben. [136]
Auch der Lexikonautor Buddeus wollte den Begriff der Geschlechtsehre 1838 ausschließlich auf Frauen bezogen wissen:
"Bei der Geschlechtsehre, derjenigen, auf welche darum eine Person Anspruch hat, weil sie zu einem gewissen Geschlechte gehört, hat man in der Regel das weibliche Geschlecht vor Augen, welchem... seiner vorzüglichen Schwäche ungeachtet, eine besondere Ehre unter allen gebildeten Völkern erwiesen wird. Diese beruht unstreitig auf der größern Reinheit der Sitte des weiblichen Geschlechts in Bezug auf das Geschlechtliche im Menschen. Daher geht sie auch verloren, wenn diese Sittenreinheit nicht mehr vorhanden ist, und so pflegt man denn die Geschlechtsehre ganz vorzüglich auf diesen Punkt zu beziehen." [137]
Buddeus operierte mit zwei verschiedenen Geschlechtsbegriffen, wenn er die "Geschlechtsehre" auf den Punkt "geschlechtlicher" Reinheit brachte. Verengte man die Geschlechtsehre, wie er es tat, auf die sexuelle Praxis, auf das, was Schopenhauer und andere "Sexualehre" nannten, traf die Begrenzung einer solchen Ehre auf Frauen zweifellos zu. Verstand man aber Geschlechtsehre, ebenfalls mit Buddeus, im weiteren Sinn als eine Ehre, "auf welche dann eine Person Anspruch hat, weil sie zu einem gewissen Geschlechte gehört", ließ sich durchaus auch eine männliche Geschlechtsehre (re)konstruieren. Eben diese mochte Fichte im Auge gehabt haben, als er den Mann, der sich ungestraft zum Hahnrei machen ließ, als Sünder gegen die Ehre" bezeichnete. Exakter drückte sich 1912 die Frauenrechtlerin Helene Lange aus, als sie den Anspruch von Männern, die durch einen Ehebrecher verletzte "Familienehre" durch ein Duell zu reparieren, als Ausdruck des "Patriarchalismus" kritisierte. Schließlich sei jene Familienehre
"nichts anderes als eine erweiterte Mannesehre... , die von der Frau zwar verletzt, aber nicht behauptet werden kann". [138]
Für die Stimmigkeit dieser Interpretation lassen sich auch männliche Zeugen anrufen. So beschrieb der Jurist Kraus den Ehebrecher als einen Menschen, der sich
"an einem überaus kostbaren Gute des Ehemannes vergreift, welches durch die Intimität der ehelichen Beziehungen gewissermaßen einen Teil der eigenen Persönlichkeit desselben bildet". Seine Tat dokumentiere deshalb "eine eklatante Geringschätzung dieser Persönlichkeit und bildet somit einen scharfen Affront gegen die Wehrhaftigkeit des Gatten"." [139]
Ebenso argumentierte Anfang des 20. Jahrhunderts der preußische Justizminister, als er das Gnadengesuch eines Ehebrechers und Duellanten prüfte. Der Verurteilte habe dem Ehemann
"durch den ehebrecherischen Verkehr mit seiner Ehefrau" eine "sehr schwere Beleidigung" zugefügt und ihn damit gewissermaßen zum Duell gezwungen. [140]
Noch deutlicher wurde Kriegsminister von Falkenhayn, der 1914 den Einbruch
"in den Frieden seines Hauses" - eine Umschreibung für Ehebruch - als eklatante "Nichtachtung" eines Mannes, als Anzweiflung seiner "Mann- und Wehrhaftigkeit" wertete." [141]
Gerade diese Wehrhaftigkeit aber stand im Mittelpunkt des männlichen Geschlechtscharakters, wie er unter Rückgriff auf ältere Vorbilder im 19.Jahrhundert popularisiert wurde. Ein Mann, hieß es mit ermüdender Monotonie, müsse stark, mutig und tapfer sein, um als solcher geehrt werden zu können. Zeige er sich als Feigling, verspiele er seine Männlichkeit und verliere die Achtung seiner Mitmenschen. [142] Schon Fichte mahnte seine Geschlechtsgenossen 1796:
"So verzeiht überhaupt das andere Geschlecht dem unsrigen alles andere; nur nicht Feigheit, und Schwäche des Charakters." [143]
Aber nicht nur Frauen, sondern auch und gerade Männer achteten sehr genau darauf, ob sich einer der ihren unmännlich feige und damit unehrenhaft verhielt. Um sich und anderen Männern Tapferkeit zu beweisen und sich als echter Mann zu profilieren, der jeder Gefahr trotzte, unterzog man sich aller Arten von Mutproben, die vornehmlich im studentischen Milieu immer mehr und immer deutlicher den Charakter von Initiationsritualen annahmen. [144]
Bereits 1902 zog der Völkerkundler Heinrich Schurtz in seinem einflußreichen Buch Altersklassen und Männerbünde eine Parallele zwischen den Initiierungspraktiken der sogenannten Naturvölker und den Mensuren der deutschen Verbindungsstudenten. [145] In der Tat fallen die formalen und kontextuellen Ähnlichkeiten unmittelbar ins Auge und legen den Schluß nahe, daß es sich hier wie dort um Rituale männlicher Selbstvergewisserung gehandelt hat. in Gesellschaften, die auf die Unterscheidung von Männlichem und Weiblichem großen Wert legten, bedurfte es klarer Kennzeichen dafür, was als weiblich und was als männlich zu gelten hatte. Während aber der weibliche Part durch Schwangerschaft und Mutterschaft relativ deutlich markiert war, mußten Männer kompliziertere, künstlichere Mechanismen der Identifizierung erfinden. [146] öffentliche Zweikämpfe spielten dabei eine herausragende Rolle, und dies nicht nur bei südpazifischen Insulanern oder zentralbrasilianischen Indianern, sondern auch im zivilisierten Mitteleuropa der Neuzeit. Ob deutsche Handwerksgesellen des 17. und 18. Jahrhunderts ihre "Schmäh- oder Schänd-Händel" durch einen coram publico ausgetragenen Faustkampf regelten [147], ob satisfaktionsfähige Bürger im 19.Jahrhundert Ehrenduelle bestritten oder ob neue Schüler an englischen public schools von älteren Jungen zum Boxkampf gefordert wurden" [148] - immer war männliche Ehre agonal geformt, an kämpferische Konkurrenz und aggressive Selbstbehauptung geknüpft.
Diese Qualitäten anzuzweifeln hieß, die männliche Ehre in ihrem Kern zu treffen. Um sie über allen Verdacht zu erheben und die aufgekommenen Zweifel zu zerstreuen, griff man zum Mittel des Zweikampfs, bei dem Männlichkeit in Reinform demonstriert werden konnte. So mußte etwa im bürgerlich-adligen Milieu des 19. Jahrhunderts jeder Feigheitsvorwurf sofort mit einer Duellforderung beantwortet werden. Was hier auf geregelt-distanzierte Weise ausagiert wurde, fand in unteren sozialen Schichten oft einen spontaneren, dafür aber nicht weniger entschiedenen Ausdruck." [149] Hier wie dort kam es darauf an, durch körperlichen Einsatz zu beweisen, daß man die Gefahr nicht scheute und über genügend Mut verfügte, den Angreifer in Schach zu halten. Ebenso wie die auf sexuelle Treue bzw. Enthaltsamkeit rekurrierende Ehre ausschließlich das weibliche Geschlecht in die Pflicht nahm, bezog sich der auf Stärke, Mut und Todesverachtung setzende Ehrbegriff exklusiv auf Männer. Die Natur, hieß es, habe das so eingerichtet, indem sie
"die ganze moralische Existenz des Weibes auf Sittsamkeit und Keuschheit, die des Mannes auf Muth und Stärke" gegründet habe." [100] [150]
Daher knüpfe sich, wie 1838 Carl Welcker ausführte,
"bei dem Weibe an die Verletzung weiblicher Schamhaftigkeit und Keuschheit, bei dem Manne an unmännliche Feigheit der Verlust von Ehre und Achtung". [151]
Drei Jahrzehnte vorher hatte der preußische Kammergerichtsrat von Greveniz die Auffassung zitiert, eine "gefallene" Frau wieder "zu wahrer Ehre zu bringen", sei "eben so unmöglich", wie einem Mann seine Ehre zurückzugeben, "der aus Feigheit weigerte, sich zu schlagen"." [152] Und fast ein Jahrhundert später erneuerte der Offizier von Boguslawski die strukturelle Analogie von "Mannes-" und "Frauenehre", indem er den "physischen und moralischen Muth" als Inkarnation männlicher, die "Reinheit der Seele und des Körpers" als Qualifikation weiblicher Ehre bezeichnete." [153]
All diese Äußerungen, über das 19. Jahrhundert verteilt, deuten darauf hin, daß sich Männer sehr wohl bewußt waren, neben ihrer öffentlichen Ehre über eine spezifische, an ihr Geschlecht gebundene Ehre zu verfügen. Nach der Funktion jener "Mannesehre" gefragt, verwiesen sie auf die Schutzbedürftigkeit des weiblichen Geschlechts, das zu schwach sei, sich gegen männliche Aggressionen zur Wehr zu setzen. Damit Frauen ihre Geschlechtsehre bewahren konnten, mußten Männer ihnen Beistand leisten und die eigenen Geschlechtsgenossen auf respektvolle Distanz halten. Das konnten sie aber nur dann, wenn ihre Wehrfähigkeit und -bereitschaft außer Zweifel stand. Die Demonstration physischen Mutes von seiten des Mannes - des Vaters, Bruders, Gatten - diente gleichsam als Bürgschaft dafür, daß er die ihm aufgegebene Schutzfunktion übernehmen konnte und wollte: Seine Ehre garantierte die seines weiblichen Schützlings. Hinter dieser Komplementarität beider Ehrbegriffe verbarg sich allerdings eine folgenschwere Differenz: Konnte die Frau Ehre zwar besitzen und verlieren, nicht aber erwerben und verteidigen, war es dem Mann gegeben, verlorene Ehre zurückzugewinnen, verletzte Ehre zu reparieren. Das galt jedoch nur für seine eigene Ehre, nicht für die der Schwester, Tochter, Braut oder Gattin. Jene war, einmal verloren, auch durch den heldenmütigsten männlichen Kampf nicht wieder herstellbar. Die ritterliche Schutzfunktion, auf die sich Männer im 19. Jahrhundert so viel zugute hielten, trug deshalb im wesentlichen präventiven Charakter: Sie sollte Verletzungen weiblicher Ehre nach Möglichkeit verhindern und abwehren, konnte sie aber dann, wenn sie vorgefallen waren, nicht mehr ungeschehen machen. Daß es in solchen Fällen trotzdem zu einem Ehrenkampf' zwischen Ritter' und Aggressor' kam, läßt darauf schließen, daß Ritterlichkeit keine altruistische Opferhaltung, sondern auch und vor allem ein egoistisches Handlungsmotiv war. Als berufener Beschützer, Nutznießer und Kontrolleur weiblicher Ehre fühlte sich ein Mann durch eine der Frau zugefügte Ehrverletzung in seiner eigenen Geschlechtsehre, seiner "Mannhaftigkeit" angegriffen, worauf er mit einer Probe seiner Männlichkeit antwortete. Da man ihm sein Besitzrecht streitig gemacht hatte, mußte er sich sowohl vor sich selber als auch vor dem Usurpator von der ihm widerfahrenen Schmach und Demütigung reinwaschen. Indem er den anderen zum Kampf forderte, zeigte er sich und der Öffentlichkeit, daß er Manns genug war, sein Recht und seine Ehre zu behaupten. Auch und gerade wenn die Frau ihm keine Ehre, sondern Unehre gebracht hatte, konnte er sich von jenem Ehrenmakel durch seine offen zelebrierte Bereitschaft zur physischen Auseinandersetzung befreien.
Die betroffene Frau allerdings trug keinen Nutzen davon. Ihre Ehre blieb verletzt, und das um so mehr, als der Kampf der Männer den Verlust zu einem öffentlich festgestellten und debattierten Faktum machte. Ihr Fehltritt war damit in aller Munde, und sie bekam die Folgen, wie etwa Elisabeth von Ardenne und Elisabeth von Bennigsen erfahren mußten, deutlich zu spüren. Darüber hinaus machte man sie für das Duell verantwortlich, und ihre Schuld wuchs ins Unermeßliche, wenn ein Beteiligter dabei zu Tode kam. Diese Schuldzuweisung trat selbst dann ein, wenn eine Frau ohne ihr Zutun von einem Mann bedrängt und beleidigt worden war. So übte etwa das Berliner Tageblatt 1909 scharfe Kritik an der 18jährigen Braut eines Blankenburger Oberleutnants, die von dessen Kameraden sexuell belästigt worden war und ihrem Bräutigam davon erzählt hatte. Es kam zum Duell, das mit dem Tod des zudringlichen Offiziers endete. Die öffentliche Meinung des Harzstädtchens, berichtete die Zeitung, maß der jungen Dame "die Hauptschuld an dem unseligen Vorfall bei. Vor allem macht man ihr den Vorwurf, daß sie die Sache nicht verschwiegen hat, obgleich sie wissen mußte, welche unausbleiblichen Folgen ihre Mitteilung an den Bräutigam nach sich ziehen würde. Und ist es denn wirklich nötig, daß junge Mädchen ihre Ehre durch die Pistole und die Treffsicherheit ihrer Brüder, Väter und Verlobten wahren. Wenn wirklich Schlimmes und Schweres passiert - gut, oder vielmehr: traurig genug! Aber in anderen Fällen ist es da nicht eigentlich beschämend für die Frauen, wenn sie dergleichen nicht mit dem Missetäter und ihrem eigenen Gewissen allein abmachen können? Auch eine Ehren-Frage! Eine Frauenfrage! [154]
Wohl kaum. Schließlich war das Duell von Anfang bis Ende eine Sache unter Männern, bei der nicht die weibliche, sondern die männliche Ehre in Frage stand. Wenn sich Männer duellierten und zuweilen zu Tode brachten, gaben Frauen höchstens den Anlaß dazu, waren aber keineswegs Verursacherinnen. Daß die öffentliche Meinung diese männliche Logik bis heute nicht wahrhaben will, zeugt nicht nur davon, daß das Duell in den Worten Karl Bindings "das große Mysterium unseres Ehrenlebens" darstellte. [15] Es zeugt auch davon, wie groß die Selbsttäuschung war, die der Begriff ritterlicher Ehre auslöste. Frauen wurde eine Macht angedichtet, die sie nicht besaßen, und eine Verantwortung übertragen, die ihnen strukturell aberkannt worden war.
10. Auflösungstendenzen
Der Code der Ehre, im 19.Jahrhundert aus- und eindrucksvoll praktiziert, präsentiert sich nach allein als ein kulturelles Muster, das Frauen in besonderem Maße in die Pflicht nahm und männliche Herrschaftsansprüche verstärkte. Während Männer neben ihrer Geschlechtsehre noch über andere Ehren verfügten, blieb die Ehre von Frauen auf einen einzigen Punkt bezogen, und dies um so mehr, je stärker sich das bürgerliche Geschlechterverhältnis gesamtgesellschaftlich durchsetzte. Ihr Ansehen, ihre soziale Geltung hingen am seidenen Faden sexueller Integrität; war dieser Faden durchschnitten, die Integrität verletzt, gab es keine wirkliche Remedur. Männer hingegen hatten zum einen die Möglichkeit, Angriffe auf ihre Ehre aktiv zu parieren; zum andern aber gefährdete ein - immer nur partieller - Ehrverlust nicht ihre gesamte soziale Existenz. Diese Ehren-Differenz zwischen den Geschlechtern spiegelt nicht nur die fundamentale Ungleichheit männlicher und weiblicher Lebenschancen; sie rückt zudem die Machtpotentiale des männlichen Geschlechts an einer besonders markanten Stelle ins Blickfeld. Die außergewöhnliche Ehrung, die Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft angeblich zuteil wurde und auf die Männer zur Rechtfertigung jener Ungleichheit verwiesen, war extrem fragil. Sie beruhte auf einem normativen Konstrukt weiblicher Sittenreinheit - einer Reinheit, die permanent in Gefahr war, von eben diesen Männern angegriffen und zerstört zu werden. Jener Gefahr zu trotzen und die eigene Ehre spiegelblank' zu halten, verlangte Frauen große Selbstdisziplin ab, und das mit zunehmender Tendenz. Je weniger Möglichkeiten es im Zuge der Individuallsierung und Intimisterung von Geschlechterbeziehungen gab, den männlichen Aggressor kollektiv zur Rechenschaft zu ziehen und zu bestraf en, desto größer wurde der Druck auf Frauen, selber über ihre Ehre zu wachen.
Hauptgewinner dieser Wachsamkeit waren ihre (zukünftigen) Ehemänner, deren Interesse an legitimen Nachkommen und Erben, an der Reinhaltung patrilinearer Deszendenz, aber auch an der "Haus-Regentschaft" an die strenge Kontrolle weiblicher Sexualität gebunden war. Allerdings war jene Kontrolle nicht nur profitabel, sondern auch belastend. Schließlich hing die Ehre von Männern nicht zuletzt davon ab, ob es ihnen gelang, ihre weiblichen Schutzbefohlenen vor Fehltritten zu bewahren und sie zum Regelgehorsam zu verpflichten. Die Angst, zum Hahnrei zu werden, war immer präsent und erforderte immense Vorsorgeaufwendungen. Sie zwang Männern ein betont viriles Verhalten auf, das jeden Zweifel an ihrer Wehrfähigkeit und -bereitschaft im Keim ersticken sollte. Sie verlangte ihnen Sanktionen ab, die existenzvernichtend sein konnten - für sie selber, für andere Männer und für die Frauen, die ihre Ehre verloren hatten. Trotzdem hielten Männer - allen voran die der adlig-bürgerlichen Oberschicht - auch und gerade im 19. Jahrhundert unbeirrt am Code weiblicher Ehre fest und scheuten keine Gelegenheit, sich der eigenen Ehrenhaftigkeit mann- und wehrhaft zu versichern. Dazu trug nicht zuletzt die flächendeckende und tiefgreifende Militarisierung der deutschen Gesellschaft bei, die den Verkehrswert männlicher Ehre deutlich erhöhte. In dem Maße, wie der Reserveleutnant zur bürgerlichen Identifikationsfigur aufstieg, vermochten militärische Standards und Normsysteme auch zivile Umgangsformen zu prägen. Zackige, schneidige, stolze Männlichkeit stand hoch im Kurs, und der strenge "Ehrenkultus" gewann immer mehr Anhänger. [156]
Diese Entwicklung konterkarierte in gewisser Weise den Trend der Moderne, Ehre als Gesamtbegriff zu destruieren und in verschiedene Einzelehren - des Berufs, der sozialen Herkunft, des politischen Amts - aufzuspalten. Das Militär verlieh demgegenüber dem ernphatischen Konzept männlicher Ehre als Geschlechtsehre einen institutionellen Rückhalt, der es allen gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen zum Trotz weiterleben ließ. Unbeschadet zahlreicher sozialer Abstufungen war dies ein Konzept, das an alle Männer gleichermaßen herangetragen wurde und sie, wie es scheint, dauerhaft infizierte. [157] Die stärkere Profilierung eines betont männlichen Ehrbewußtseins blieb für die Sprache weiblicher Ehre nicht folgenlos. Ihr traditionell enges Regelkorsett wurde, wenn möglich, noch straffer geschnürt, Regelverstöße unnachsichtig geahndet. Vor allem, aber nicht nur in bürgerlichen Kreisen schwor man Frauen auf ein Verhalten ein, das ihre Gefühle kasernierte und jeden Hauch von Libertinage tatkräftig dementierte. Vergoldet wurde ihnen diese rigide Disziplinierung mit Sonntagspredigten über die angeblich höher stehende weibliche Tugend und einer äußerlichen Ehrerbietung, die die innere Degradierung täuschungsecht maskierte. In einer Epoche, die ein extrem gespaltenes Verhältnis zur Sexualität besaß, feierte man sie als Repräsentantinnen menschlicher Selbstzucht, als Heilsbringerinnen, die die sexuell ausschweifenden Männer versittlichen und zivilisieren sollten. Solche Beschwörungsformeln verhallten nicht ungehört. Selbst Feministinnen akzeptierten das dichotomische Modell der von Natur aus keuschen Frau und des lüsternen Mannes und zogen aus der Behauptung weiblicher Höherwertigkeit politisch-moralischen Gewinn." [158] Ihre Forderung, den weiblichen Ehrbegriff klassenneutral zu universalisieren und gegen männlich-staatliche Übergriffe zu schützen, war allerdings nur eine, wenngleich die im 19.Jahrhundert zweifellos dominante Antwort der Frauenbewegung auf den zeitgenössischen, fast nur von Männern geführten Ehrendiskurs. Machte sie doch andererseits keinen Hehl daraus, daß sie die herrschende Meinung, wonach "die weibliche Ehre hauptsächlich im Geschlecht" wurzele und nur von Männern verteidigt oder gerächt werden könne, zutiefst irritierend fand. Deshalb optierte sie daneben für eine "zeitgemäße Umbildung der Ehrbegriffe". Grundlage des Ehrgefühls sollte fortan nicht die Geschlechter- oder Klassenzugehörigkeit sein, sondern einzig und allein "die Anerkennung der selbsterworbenen Tüchtigkeit". [159]
Dieses moderne, in der männlichen Arbeitswelt bereits gültige Prinzip, das Ehre konsequent individuallsierte und an persönlich zurechenbare aktive Leistung band, bot auch Frauen die Möglichkeit, Ehre jenseits geschlechterbezogener Zuschreibungen zu erwerben, zu verteidigen und, im Falle des Verlusts, wiederherzustellen. In dem Maße, wie sich Frauen an jener männlichen Welt beteiligen durften, Berufe ergriffen und als Staatsburgerinneti bürgerliche Ehrenrechte wahrnehmen konnten, relativierte sich denn auch die ehemals identitätsstiftende Bedeutung weiblicher Geschlechtsehre. Der 1792 aufgestellten Forderung des kauzigen, von seinen Zeitgenossen mißverstandenen oder gar verlachten Aufklärers Theodor von Hippel,
"dem andern Geschlechte seine Ehre wiederzugeben" und es aus patriarchalischer Vormundschaft zu entlassen, war damit, zumindest auf grundsätzlicher Ebene, stattgegeben." [160]
Ohne die Geschlechtsehre der Frauen aber besaß auch die Geschlechtsehre der Männer, durch agonale Rituale kämpferischen Wettstreits geprägt, keinen sozialen Sinn mehr. Ritterliche Zweikämpfe sind daher im 20.Jahrhundert ebenso selten geworden wie die Thematisierung weiblichen Ehrverlusts in Literatur und sozialer Praxis. Die langsame Annäherung männlich/weiblicher Lebensentwürfe im Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung hat derart extreme oder polare Ikonen der Geschlechterdetermination anachronistisch werden lassen. Es nimmt daher nicht wunder, daß Hanna Schygulla 1974 mit der Ehrauffassung des Herrn von Innstetten nichts mehr anfangen konnte und daß ihr wahrscheinlich auch die Vorstellung, wonach Effi ihre Ehre durch die Affäre mit Major Crampas verloren hatte, fremd war.
Doch haben letztlich nicht nur männliche und weibliche Ehre, sondern Ehre überhaupt als Orientierungswert in der modernen Gesellschaft ausgedient. Individualisiert, auf die einzelne Person bezogen und abgekoppelt von normativ besetzten, hierarchisch strukturierten Gruppen- und Geschlechteridentitäten, hat das Konzept der Ehre seine vergesellschaftende Kraft zunehmend eingebüßt und sich selber überflüssig gemacht. Wenn dennoch auch heutzutage zuweilen von Ehre die Rede ist - etwa vom Ehrenwort, von Ehrengerichten oder Ehrenkodices - handelt es sich bestenfalls um historische Reminiszenzen, um begriffliche Sedimente, deren soziale Substanz sich inzwischen verflüchtigt hat.