1. Die Kulturbedeutung der Ehre
Als Rainer Werner Faßbinder 1974 Theodor Fontanes Roman Effi Briest verfilmte, gab seine Hauptdarstellerin Hanna Schygulla ein Interview. Darin bekannte sie, daß ihr das in Roman und Film inszenierte Problem der Ehre fremd sei, daß sie nicht verstehe, was Ehre einmal gewesen sei. Heute jedenfalls, fügte sie "mit entwaffnender Unbefangenheit" hinzu, gebe es sie nicht mehr. [1] Die Schauspielerin steht mit dieser Meinung nicht allein. Soziologen bestätigen, daß Ehre keinen Tauschwert mehr besitzt, ja daß die "Weltanschauung der Modernität" die "Realität von Ehre und Ehrverletzungen" geradezu leugne. [2] Das spiegelt sich nicht zuletzt im Rückgang der Beleidigungsprozesse. Beleidigungen sind, so die gängige Definition, Angriffe auf die Ehre, wobei mit Ehre sowohl die Selbstachtung einer Person als auch deren äußere Wertschätzung gemeint sind. Fühlt sich jemand in seiner Ehre verletzt, kann er den Beleidiger deswegen vor Gericht verklagen.
Solche Klagen sind im 20. Jahrhundert, wie die Kriminalstatistik ausweist, immer seltener geworden. Wurden 1886 noch 42 586 Männer und Frauen wegen Beleidigung, Verleumdung oder übler Nachrede von deutschen Gerichten verurteilt, waren es 1986 nur noch 9 173. Bezogen auf die Gesamtzahl strafmündiger Personen wurden 1986 knapp 0,02 Prozent wegen einer Ehrverletzung zur Rechenschaft gezogen; hundert Jahre früher waren es mehr als siebenmal so viel gewesen. Auch der Anteil der wegen Beleidigung Verurteilten an allen gerichtlich belangten Straftätern hat sich gravierend vermindert: Betrug er 1886 zwölf Prozent, lag er 1986 bei lediglich 1,5 Prozent. [3] Dieser Rückgang läßt sich - bei im wesentlichen gleichbleibender Rechtslage - wohl nur so erklären, daß Beleidigungen heute weniger als solche wahrgenommen und interpretiert werden als im vergangenen Jahrhundert. Vieles, was damals zu einem Gerichtsverfahren Anlaß gegeben hätte, wird jetzt als unwesentlich abgetan oder schlicht überhört. Persönliche Ehre gilt augenscheinlich nicht mehr als empfindliches Gut, das öffentlich geschützt und verteidigt werden muß. Ehre ist zu einem kaum noch benutzten Begriff mit antiquiertem Klang abgesunken, über den man historisch rätseln mag, der aber im täglichen Zusammenleben der Menschen keine große Rolle mehr spielt.
Dieses Phänomen ist bislang weitgehend unkommentiert geblieben; erst in jüngster Zeit beginnt sich die Soziologie ihm (wieder) zuzuwenden. [4] Im selben Maße, wie die Ehre ihre "Kulturbedeutung" (Max Weber) einbüßte, unternahmen auch Kultut- und Sozialwissenschaften keine Anstrengungen mehr, sie auf den Begriff zu bringen, ihre Semantik und Pragmatik zu analysieren und ihren historischen Gestaltwechsel zu untersuchen. Zu Beginn dieses Jahrhunderts hatten die Doyens der deutschen Soziologie, Max Weber und Georg Simmel, noch andere Akzente gesetzt: Beide widmeten der Ehre als Medium ständisch-vormoderner Vergesellschaftung einen nicht unerheblichen Teil ihrer wissenschaftlichen Aufmerksamkelt. [5]
In eine ähnliche Richtung zielten die Betrachtungen, die Ethnologen späterer Jahrzehnte auf dem Hintergrund ihrer Feldf orschungen in traditionalen Gesellschaften anstellten. [6] In Nordafrika, aber auch in randständigen Regionen des europäischen Mittelmeerraums besaß und besitzt Ehre nach wie vor eine wichtige Vergesellschaftungsfunktion; sie war und ist in allen Kommunikationsformen präsent und strukturiert soziale Beziehungen in einem Maße, wie es in den Ländern Nord-, West- und Mitteleuropas heute kaum noch nachvollziehbar ist. Je moderner, offener und demokratischer eine Gesellschaft ist, desto weniger Raum und Gewicht weist sie der Ehre offensichtlich zu. Wenn eine hohe Stufe gesellschaftlicher Arbeitsteilung und Differenzierung erklommen ist, scheint Ehre sowohl für die Identität der einzelnen als auch für die Kohäsion des Ganzen entbehrlich zu werden.
Davon war im deutschen Kulturraum des 19. Jahrhunderts noch nicht die Rede gewesen. Obwohl die hohe Zeit der Ehre mit der Auflösung des Ancien Régime ihren Abschluß gefunden hatte, [7] bewahrte Ehre als Verhaltenscode einen Gutteil ihrer prägenden Kraft. Darauf verweisen nicht nur die große Zahl der Beleidigungsklagen, sondern auch die fortdauernd dichte öffentliche Diskussion über Ehre und Ehrgefühl, an der sich vor allem Juristen, Philosophen und Schriftsteller beteiligten.[8] In diesem Diskurs ging es um das Verhältnis von innerer und äußerer Ehre, von allgemeiner und Standesehre, von bürgerlicher und adliger Ehre. Es ging aber auch - und das soll hier im Mittelpunkt stehen - um männliche und weibliche Ehre, um ihre Unterscheidung und ihre Berührungspunkte. Obwohl sich fast alles, was im 19. Jahrhundert über Ehre gesprochen und geschrieben wurde, implizit oder explizit auf Männer bezog, wurde weibliche Ehre immer mitgedacht. Alle Zeitgenossen stimmten darin überein, daß Ehre kein geschlechterneutraler oder -übergreifender Code war, daß sich vielmehr die Ehre von Frauen und das Verhalten, das diesbezüglich von ihnen erwartet wurde, grundsätzlich - und nicht nur graduell - von dem, was Männern Ehre verschaffte, unterschieden.
Jener Unterscheidung nachzugehen und sie in ihren Motiven, Ausprägungen, Funktionen genauer zu untersuchen ist die Absicht dieses Textes. Angesichts der großen Bedeutung, die Ehre im 19. Jahrhundert noch besaß, ist zu erwarten, daß eine solche Untersuchung wichtige Aufschlüsse über die Art und Weise liefert, in der personale Identitäten und soziales Verhalten nach Geschlechtern getrennt geformt wurden. Wie die bürgerliche Gesellschaft jener Zeit mit der Geschlechterfrage umging, wie sie die Differenz zwischen Frauen und Männern, zwischen Weiblichem und Männlichem dachte, prägte und begründete, ist auch und gerade auf dem >Feld der Ehre< entschieden worden, zuweilen sogar im unmittelbar handgreiflichen Sinn. Ein zentraler Fokus der folgenden Ausführungen ist deshalb das Duell und die ihm zugrundeliegenden Konflikte um männliche und weibliche Ehre. Um die damit einhergehende Konzentration auf soziale Oberschichten abzuschwächen, wird auf diskursgeschichtliche Quellen vor allem rechtspolitischer Provenienz, aber auch auf sozialhistorische Sekundäranalysen zum Ehrverhalten in nichtbürgerlichen Bevölkerungsgruppen zurückgegriffen. Dabei geht es jedoch nicht in erster Linie darum, die mehr oder weniger ausgeprägten sozialen Differenzierung,en männlich-weiblicher Ehre zu betonen; als auffällig und erklärenswert erscheint vielmehr die relative Uniformität und Universalität des geschlechtergebundenen Ehrencodes über Epochen-, Klassen-, Nationen- und Kulturgrenzen hinweg. Die deutsche Gesellschaft des 19.Jahrhunderts rückt aus dieser Perspektive sehr viel näher an ihre Vorläufer heran als an ihre Nachfolger - nicht ohne allerdings die Traditionen, die sie sich aneignete, in spezifischer Weise zuzuspitzen und zu modernisieren.
2. Ehre als soziale Pflicht und individuelles Heil
Hätte man Zeitgenossen des 19.Jahrhunderts prophezeit, daß Menschen des gleichen Kulturraums hundert Jahre nach ihnen mit Ehre nichts mehr anzufangen wüßten, während sogenannte unterentwickelte Gesellschaften ein äußerst lebendiges Ehrgefühl nährten, hätten sie dies bestenfalls paradox gefunden und schlimmstenfalls als Indiz für den Untergang des Abendlandes interpretiert. Schließlich betrachteten sie selber Ehre als positiven Gradmesser von Kultur und gesellschaftlichem Fortschritt, untrennbar verknüpft mit individuellem Freiheitsstreben und zivilisierten Umgangsformen. In diesem Sinne bezeichnete etwa der süddeutsche Liberale Carl Welcker die
"Herrschaft einer selbständigen persönlichen Ehre" 1847 als "eine der herrlichsten Seiten unserer ganzen neueren Cultur", als "kräftigste Schutzwehr... gegen die schmachvolle Herrschaft des Materialismus und der Gemeinheit". [9]
Je gebildeter und wohlhabender Menschen und Gesellschaften waren, so die allgemeine Ansicht, desto mehr hielten sie auf Ehre, desto größeren Wert räumten sie der Ehre in ihren sozialen Beziehungen ein. Untere Bevölkerungsschichten, aber auch die zivilisationsfernen >Naturvölker< galten demgemäß als weniger ehrverbunden und als unempfindlicher gegenüber Ehrverletzungen aller Art. Diese Auffassung teilte auch Theodor Fontane, als er 1895 seinen Romanhelden Baron Geert von Innstetten sagen ließ:
"Weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen!" [10]
Hier irrte der Dichter - und mit ihm die gebildeten, kulturell versierten Ehrenmänner, die sich im ausufernden Ehrendiskurs des 19.Jahrhunderts zu Wort meldeten. Von heute aus betrachtet, waren sie den "pechschwarzen Kerlen" in punkto Ehre und Ehrgefühl näher als ihren Enkeln und Urenkeln, die dafür keinen Sinn mehr haben. Nicht nur Logik und Grammatik der Ehre, die Technik des Beleidigens und seiner Erwiderung, wiesen erstaunliche Parallelen auf; auch die sozialen Strukturen und Differenzierungen, denen Ehre gehorchte, waren einander auffallend ähnlich.
Stellte Ehre in der nordafrikanischen Stammesgesellschaft nach den Beobachtungen Pierre Bourdieus ein
"symbolisches Kapitel" dar, das dem einzelnen einen "Kredit an Vertrauen" innerhalb und außerhalb seiner sozialen Gruppe einräumte" [11]
galt Ehre in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als
"Kapital", "das einem jeden Vertrauen, Ansehen, Kredit, Amt werben und erhalten muß".
So jedenfalls formulierte es 1892 der Leipziger Juraprofessor Karl Binding, der auch die griffige Formel prägte, nach der Ehre bemesse sich "der rechtlich anerkannte Verkehrskurs eines Menschen". [12] Allerdings gab es weder in der einen noch in der anderen Gesellschaft eine allgemeine, allen Mitgliedern gemeinsame Ehre. Vielmehr existierten hier wie dort jeweils verschiedene Ehrgemeinschaften, die sich scharf gegeneinander abgrenzten und hierarchisch zueinander verhielten. Innerhalb dieser Gemeinschaften galt das Prinzip der Ebenbürtigkeit und Ehrengleichheit; außerhalb herrschte ein System höher- und minderwertiger Ehren. Kennzeichnend für solche zugleich in- und exklusiven Ehrsysteme war aber nicht allein eine Codierung nach mehr oder weniger Ehre, die den einzelnen Menschen und Gruppen ihren gesellschaftlichen Platz und Rang anwies. Vielmehr variierte auch die Qualität, der Inhalt dessen, was man unter Ehre verstand. So bemaß sich etwa in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die Ehre eines Kaufmanns danach, daß er alle Verbindlichkeiten prompt erfüllte und seine Geschäfte mit "unbedingtester Solidität" führte; die Ehre eines Offiziers war das Ergebnis von "Tapferkeit, Treue und ritterlichem Benehmen", und die Ehre des Staatsdieners machten Unbestechlichkeit, Pünktlichkeit und "streng wissenschaftlicher Ernst in der Auffassung seiner Amtspflicht" aus. [13] Ob ein Bauer Ehre besaß oder nicht, richtete sich danach, ob ihm die "Conservirung seines ererbten Hofes" gelang, wogegen die Ehre des Adels auf seiner "Beziehung zur Landesherrschaft" fußte. [14] Neben solchen an den Beruf geknüpften Ehren, nicht selten in korporativen Ehrenordnungen normiert, gab es zudem spezifische Standes- und Klassenehren, die in Preußen bis Mitte des 19.Jahrhunderts sogar formalrechtlich festgeschrieben waren. 1794 hatte das Allgemeine Landrecht in seinem Injurienteil die preußischen Untertanen in drei verschiedene Ehrenstände unterteilt: in Personen "gemeinen Standes", zu denen man Bauern, Handwerker und "Professionisten" rechnete, in Personen des "höhern Bürgerstandes" sowie in Adlige, Offiziere und Königliche Räte. Bei dieser Gliederung blieb es auch im Vormärz, wenngleich man bereits damals erwog, die "gebildetern Stände" rechtlich mit dem Adel zu verschmelzen. [15] An der scharfen Trennung zwischen Leuten "geringen Standes" und Personen "höherer Stände" aber hielt man bis 1848, faktisch sogar noch sehr viel länger, fest.
Obwohl das preußische Strafgesetzbuch von 1851 "Beleidigungen der Ehre" klassenneutral abhandelte, schuf sich das Prinzip ständisch differenzierter Ehre und Ehranschauungen doch auch hier wieder Raum. Zwar gab es fortan keine nach dem "Stand" der Empfänger und Verursacher abgestuften Beleidigungsstrafen mehr. Indem das Strafrecht jedoch den Ehrenzweikampf als besonderes Delikt würdigte, verlieh es den Ehrbegriffen der adlig-bürgerlichen Oberschicht erneut höhere Weihen. Den Raufhändeln und Messerstechereien des gemeinen Mannes nämlich wurde eine solche Ehre nicht zuteil - sie fielen, unabhängig von ihren Motiven, je nach Resultat unter die Rubriken Körperverletzung oder Totschlag. Selbst die Faustkämpfe der Handwerksgesellen, die aus ähnlichen Anlässen und nach ähnlichen Regeln stattfanden wie die Pistolen- oder Säbelkämpfe der noblen Ehrenmänner, galten nicht als Duelle im Sinne des Gesetzes. Der Staat trug damit der von Liberalen und Konservativen gleichermaßen geteilten Auffassung Rechnung, daß sich Ehre und Ehrgefühl in den "höheren Ständen" besonders stark und vital ausgeprägt fänden und daß es deshalb auch gerechtfertigt sei, Gesetzesübertretungen, die aus einer Ehrenkränkung folgten, in diesen Kreisen anders und milder zu bestrafen als in sozialen Unterschichten. Letztere galten aus der Sicht der Gesetzgeber als weit weniger ehrbeflissen und ehrverbunden - eine Ansicht, die näherer überprüfung kaum standhielt. Denn auch bei den gemeinen Leuten, ja selbst unter jenen sozialen Außenseitern, denen die Gesellschaft Ehre förmlich aberkannt hatte, herrschten verbindliche Vorstellungen davon, was ehrenvoll war und was nicht. Auch hier gab es einen informellen, aber von allen anerkannten Ehrenkodex, an dem sich das Verhalten der einzelnen ausrichtete. [16]
Mit den Funktionen und Wirkungsmechanismen solcher gruppenspezifischer Ehren setzte sich zu Beginn dieses Jahrhunderts Georg Simmel auseinander. Ehre, schrieb er in seinen Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, sei das
"Mittel für die Erhaltung eines sozialen Kreises in seinem Zusammenhalt, seinem Ansehen, der Regelmäßigkeit und Fördersamkeit seiner Lebensprozesse".
Sie könne diese Funktion vor allem deshalb so gut erfüllen, weil sie sich in eine "rein personale Form ihrer Erscheinung und ihres Bewußtseins" kleide, oder, anders ausgedrückt, indem "sie dem Menschen seine soziale Pflicht zu seinem individuellen Heile macht". Obwohl es letztlich um die "Erhaltung der Gruppenexistenz" gehe, empfinde der einzelne "die Bewahrung seiner Ehre als sein innerlichstes, tiefstes, allerpersönlichstes Eigeninteresse". [17] Eben diese Verschränkung personaler und gesellschaftlicher Strukturen thematisierte Fontane in seinem Effi-Briest-Roman, als er Innstetten sagen ließ:
"Im Zusammenleben mit den Menschen hat sich ein Etwas herausgebildet, das nun mal da ist und nach dessen Paragraphen wir uns gewöhnt haben, alles zu beurteilen, die anderen und uns selbst. Und dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf." [18]
Auch der adlige Landrat beugte sich jenem "uns tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas", dessen Regeln und "Paragraphen" längst nicht nur äußerlich wirkten, sondern seine persönlichen Urteile und Maßstäbe geprägt hatten. Obwohl er Effi liebte und seinem Rivalen gegenüber weder Haß noch Rachedurst empfand, forderte er ihn zum Duell, verstieß seine Frau und wurde dafür von der feinen Berliner Gesellschaft mit Ehrenzeichen überhäuft. Theoretisch hätte er durchaus die Möglichkeit gehabt, sich von diesem "Ehrenkultus" zu distanzieren und auf eine innere, rein individuelle Ehre zu pochen. Ein solches Verhalten aber hätte bedeutet, "weltabgewandt weiter(zu)existieren" - was er weder wollte noch konnte. Auch Effi hatte die Konsequenzen wohl kaum bedacht, als sie sich auf eine intime Beziehung zu Major Crampas einließ und damit, nach den strengen Maßstäben der bürgerlichen Gesellschaft, ihre Ehre verlor. Sie selber sah das ohnehin anders: Zwar fühlte sie sich schuldig, doch schämte sie sich ihrer außerehelichen Affäre keineswegs. Nicht der Seitensprung, sondern das damit einhergehende Versteckspiel, der "ewige Lug und Trug" machten ihr zu schaffen und zehrten an ihrer inneren Ehre, an ihrer Selbstachtung. Zugleich wußte sie jedoch, daß die Gesellschaft anders dachte, und sie akzeptierte das über sie verhängte soziale Todesurteil resigniert, ohne Widerstand. Den Ehrbegriffen des eigenen Kreises zuwiderzuhandeln hieß, ihn von innen aufzusprengen, seinen Zusammenhalt aufzukündigen und damit zu gefährden. Wenn der Kreis darauf mit harten Sanktionen reagierte, gehorchte er lediglich dem Prinzip sozialer Selbsterhaltung. Dieses Prinzip machte sich um so stärker geltend, je exklusiver der Kreis strukturiert war und je enger - und alternativloser er seine Mitglieder an sich zu binden verstand. Nur in dem Maße, wie sich jene Bindung lockerte bzw. durch andere Bindungen an konkurrierende oder komplementäre Kreise relativiert wurde, erhöhten sich die Chancen des Individuums, sich von den "Vorstellungen" und "Begriffen" (Innstetten), die darin jeweils herrschten, zu lösen. Je mehr Kreisen eine Person angehörte, desto größer wurde schließlich ihre Fähigkeit, die Geltungsmacht des Ehrencodes zu unterlaufen. Die Differenzierung der Gesellschaft ging folglich einher mit der Individualisierung des Ehrbegriffes, was nichts anderes bedeuten konnte als seine vollständige Erosion. Denn: Ein Ehrbegriff, den das Individuum für sich allein, unabhängig von gesellschaftlichen Vorgaben definieren konnte, war keiner mehr. An die Stelle der Ehre trat die Moral als Normensystem "reiner Innerlichkeit" (Simmel). [19]
Eine solch gänzliche Auflösung des Ehrbegriffs vermochten Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts nicht vorherzusehen. Auch Simmel ging noch davon aus, daß das Individuum, das im Zuge sozialer Differenzierung mehreren Kreisen gleichzeitig angehöre, "verschiedenen Ehren" unterstehen könne und je nach Situation mal der einen und mal der anderen gehorche. Der Gedanke, daß sich diese verschiedenen Ehren wechselseitig in Schach halten und dadurch bis zur Bedeutungslosigkeit abnutzen könnten, blieb ihm fremd. Theoretisch hätte eine solche Folgerung durchaus nahegelegen: Gerade weil die Ehre kein "äußeres Zwangsmittel", sondern inneres "Gefühl" war, konnte der oder die einzelne nicht mehreren oder möglicherweise divergierenden Ehrbegriffen gleichzeitig huldigen. Angesichts der Vermehrung und "Kreuzung" sozialer Kreise im Prozeß der Modernisierung mußten sich die jeweiligen Ehren gegenseitig abschleifen und aushebeln, sofern die Mitglieder jener Kreise nicht eine fortschreitende Persönlichkeitsspaltung riskieren wollten. [20] Diesen logischen Schluß konnte Simmel vor allem deshalb nicht ziehen, weil er selber in einer Zeit lebte, in der Ehre und Ehrgefühl noch eine große, zuweilen sogar übermächtige Rolle spielten. Es war eine Zeit des Übergangs: Einerseits schritt der Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung rasch voran, löste die Menschen aus ihren angestammten Bindungen und bot ihnen neue und immer zahlreichere Assoziationsmöglichkeiten; andererseits war die Definitionsmacht mancher sozialer Kreise mitsamt ihrer Ehrenkodices noch nicht völlig erodiert, gewann gar im Gegenzug neue, erweiterte Geltungsbefugnisse hinzu. In diesem Kontext war auch Fontanes Effi-Briest-Geschichte angesiedelt, in der die individuellen Glücksvorstellungen der Hauptfiguren den Spielregeln des Ehrenkodexes bedingungslos geopfert werden mußten. Als der Roman 1895 erschien, rief er sofort lebhafte Pubfikumsreaktionen hervor. Schon das bewies, daß er ein Thema behandelte, das die Zeitgenossen interessierte, ihnen nahe war. Interessant und für den Schriftsteller irritierend - war aber auch der Tenor der öffentlichen Resonanz. "Ja Effi!" schrieb Fontane etwas indigniert,
alle Leute sympathisieren mit ihr, und einige gehen so weit, im Gegensatze dazu, den Mann als einen alten Ekel zu bezeichnen. Das amüsiert mich natürlich, gibt mir aber auch zu denken, weil es wieder beweist, wie wenig den Menschen an der sogenannten Moral liegt und wie die liebenswürdigen Naturen dem Menschenherzen sympathischer sind. Ich habe dies lange gewußt, aber es ist mir nie so stark entgegengetreten wie in diesem Effi-Briest- und Innstetten-Fall. Denn eigentlich ist er (Innstetten) doch in jedem Anbetracht ein ganz ausgezeichnetes Menschenexemplar, dem es an dem, was man lieben muß, durchaus nicht fehlt." [21]
Was Fontane hier die sogenannte Moral nannte, an der den Menschen so wenig gelegen sei, hätte Simmel wahrscheinlich als Ehrenprinzip bezeichnet, als eine soziale Verhaltensnorm, deren Befolgung der oder die einzelne als "individuelles Heil" ansähe. Daß jenes Prinzip unter seinen Lesern und "namentlich" Leserinnen kaum noch Anhänger fand, machte den Dichter "stutzig". Warum wurde Innstetten, der den Gesetzen der Ehre gehorchte, so einhellig verurteilt, während man mit Effi, die ihrer Ehre als Frau zuwiderhandelte, allseits sympathisierte? Hatten Innstettens Ehrvorstellungen ausgedient? Und wenn dem so war weshalb reagierte Fontane darauf "stutzig" anstatt erfreut? Hatte er nicht selber, mit Worten, die er dem lebensklugen Geheimrat Wüllersdorf in den Mund legte, den "Ehrenkultus" als "Götzendienst" kritisiert? Hatte er nicht Effi und Innstetten als Menschen gezeichnet, die an der Ehre zugrunde gingen, deren Leben und Lebensglück dem Götzen geopfert wurden? Tatsächlich gibt Fontanes Irritation Rätsel auf. Möglicherweise wohnten zwei Seelen auch in seiner Brust: eine, die den "Ehrenkultus" verdammte, und eine andere, die die Welt der "Vorstellungen", "Begriffe" und "Korrektheiten" als notwendig und sinnvoll ansah. Immerhin ließ er die leidgeprüfte Effi am Ende Frieden schließen mit ihrem korrekten, gesetzestreuen Ex-Ehemann, der "in allem recht gehandelt" habe - Immerhin ließ er sie sagen:
"Scham über meine Schuld, die hab ich nicht..., und das bringt mich um, daß ich sie nicht habe. Wenn alle Weiber so sind, dann ist es schrecklich, und wenn sie nicht so sind, wie ich hoffe, dann steht es schlecht um mich, dann ist etwas nicht in Ordnung in meiner Seele, dann fehlt mir das richtige Gefühl." [22]
Schrecklich war es, wenn die Gebote der Ehre, wie offenbar bei Effi, nur noch als "soziale Pflichten", nicht aber als "allerpersönlichstes Eigeninteresse" wahrgenommen wurden, wenn ihre Verletzung nur Schuldgefühle, aber keine Scham hervorrief. Bedeutete das doch, daß die Normen, die eine Gesellschaft, oder genauer: ein sozialer Kreis, aufstellte und die, um noch einmal Simmel zu zitieren, seine "innere Kohäsion", seinen "einheitlichen Charakter" und seinen "Abschluß gegen die andern Kreise" wahrten [23], porös geworden waren, daß ihnen nicht mehr fraglos nachgelebt wurde. Damit aber verlor der Kreis, das Ganze, seine Konturen, löste sich auf und entließ seine Mitglieder in eine Freiheit, die sowohl Chancen - größere individuelle Handlungsspielräume - als auch Risiken Einsamkeit, Anomie, Chaos barg.
Vielleicht hatte Fontane diese Risiken im Auge, als er seinem Lesepublikum "schwache... Moralitäten" vorwarf und unzufrieden damit war, daß es "dem armen Innstetten" so wenig "gerecht" werde. [24] Vielleicht hegte auch er, trotz mancher harscher Kritik, eine stille Vorliebe für einen "Ehrenkultus", der dem Leben Form, Stil, Konsequenz und "Korrektheit" verlieh, der das Individuum auf sanfte, wenngleich gebieterische Art in seine soziale Gruppe einschmolz und dem gesellschaftlichen Chaos, der allgemeinen Disziplinlosigkeit vorbeugte. Vielleicht billigte auch er, wie viele seiner Zeitgenossen, dem Duell als letztem Mittel männlicher Ehrenwahrung insgeheim ein Existenzrecht zu. Beleidigungsklagen jedenfalls, soviel ist sicher, lehnte er ab, und die englischen,alles mit Moneten begleichenden Zustände" erschienen ihm "keineswegs als ein Ideal". [25]
3. Ehrenkultus und Duell
Fontane also als heimlicher Parteigänger der Ehre und ihrer disziplinierenden Wirkungen? Eine solche Deutung ist nicht so weit hergeholt, wie es zunächst den Anschein hat. Schließlich waren auch andere liberal und kritisch gesinnte Zeitgenossen der Meinung, auf jene Wirkungen nicht verzichten zu dürfen. Max Weber etwa, nationalliberaler Hochschullehrer, bekannte sich öffentlich als Duellanhänger und zögerte nicht, die durch publizi.stische Schmähungen angegriffene Ehre seiner Frau Marianne im Zweikampf zu vertreten. [26] Der Kathedersozialist Adolph Wagner bezeichnete sich 1895 ebenfalls als einen jener ernsten, dem Duell nicht prinzipiell gegnerischen Männer". [27] Sigmund Freud, damals Arzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, war 1885 "herzlich froh" und "stolz" über den Duell-"Sieg" eines jüdischen Freundes, der einen anderen wegen antisemitischer Äußerungen geohrfeigt hatte und deshalb gefordert worden war. [28] Auch Arthur Schnitzler, Kollege Freuds und Schriftsteller, nahm nicht das Duell, sondern den Duellzwang aufs Korn und empfand
"einen leichten Neid auf den, der sich geschlagen hat". [29]
Selbst Männer, die die "törichten Reserveoffiziers- und Ritterlichkeitsbegriffe" (Schnitzler) ihrer Zeit vehement verwarfen, zollten dem "Ehrenkultus" unter gewissen Umständen Respekt. Immer wieder konnte man beobachten, daß auch diejenigen, die sich prinzipiell gegen den Ehrenzweikampf aussprachen, ihm ein Hintertürchen offenhielten. Als Männerkampf um die Ehre, als Beweis, daß jemand seine Ehre höher achtete als sein Leben, besaß er noch im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Faszination, der sich nur wenige entziehen konnten. Obwohl die öffentliche Kritik immer schärfer wurde, obwohl sich Duellgegner zusammenschlossen, um kollektiv gegen die "Unsitte" vorzugehen [30], hatte der Ehrenzweikampf seine Aura noch nicht verloren. Bester Beleg: Selbst die 1902 gegründete Anti-Duell-Liga verzichtete darauf, ihre Mitglieder zur Duellverweigerung zu verpflichten. Änderte sie diese Politik, warnte 1908 der Jenaer Professor Dinger, würden er und viele andere sofort austreten. [31]
Die Vorbehalte gegen den Ehrenzweikampf schwanden vor allem dann dahin, wenn schwere Ehrverletzungen vorgefallen waren. Was darunter zu verstehen war, konnte man den Ehrbrevieren und Duellratgebern entnehmen, die seit den 1880er Jahren in großer Zahl auf den Markt kamen. Sie unterschieden zwischen einfachen, verschärften und schärfsten Beleidigungen: Während die ersteren die Ehre noch nicht unbedingt berührten [32], verletzten verschärfte Beleidigungen die Ehre, indem sie dem Beleidigten etwa "Wahrheitsliebe, Worttreue, physischen und moralischen Mut, ritterliche Denk- und Handlungsweise, Gewissenhaftigkeit in bezug auf übernommene oder zukommende Pflichten" absprachen. [33]
Noch schwerer allerdings wogen Beleidigungen, die von Tätlichkeiten begleitet wurden oder sich gegen die "Moralität der Person" richteten und damit die "ganze moralische Existenz des Beschimpften" gefährdeten. Dazu zählten beispielsweise Beschuldigungen falschen Spiels, Betrugs oder Diebstahls, aber auch die "Verführung der Frau oder Tochter". [34] Manche Autoren betrachteten bereits "ehrenrührige Bemerkungen über den Charakter und das Betragen" weiblicher Angehöriger als Verletzungen der"Famillenehre", die sie insgesamt als die "schwersten und blutigsten Beleidigungen" werteten und immer mit einem Duell als "bester und endgültiger Lösung" geahndet wissen wollten. [35] Das war keineswegs nur die Auffassung einiger weniger Duellfanatiker, sondern auch die Ansicht unbefangenerer Zeitgenossen. Selbst prinzipielle Duellgegner, berichtete Schnitzler, konzedierten Fälle, "wo das Recht, jemanden zum Duell zu provozieren, unbedingt zuerkannt werden müßte. Und als Lieblingsbeispiele werden immer solche Fälle gewählt, in denen es sich um Verführung der Gattin oder der Schwester handelt." [36]
Diese Meinung hatte schon der Freiherr Adolph von Knigge vertreten, als er 1785 eine scharfe Philippika gegen den Zweikampf veröffentlichte. "Verzeihlich" fand er ihn lediglich dort, wo jemand der Ehre seiner Frau, Schwester oder Tochter zu nahe getreten sei:
"In solchen Fällen - kann ich begreifen, daß ich selbst in die Versuchung gerathen, und ihr vielleicht unterliegen könnte, gegen einen Solchen die Waffen zu ergreifen." [37]
Hundert Jahre später plädierte der österreichische Duellkritiker Otto Hausner dafür,
den Ehrenzweikampf dann, wenn die "Familienehre" tangiert sei, "wenigstens für eine Übergangsperiode" zu gestatten. [38]
1897 sprach eine Synodal-Kommission der evangelischen Landeskirche Preußens denjenigen ihr Verständnis und Mitgefühl aus, die als prinzipielle Duellgegner dennoch zum Duell schritten, weil die Ehre der Gattin angegriffen worden sei.[39] Und wahrscheinlich hatte der 60jährige Ökonomieprofessor Adolph Wagner ebenfalls eine solche Extremsituation vor Augen, als er 1895 das Duell ausschließlich für ernste Ehrenhändel reserviert sehen wollte.[40]
Wagner argumentierte damit wie Fontanes männliche Romanfiguren - Innstetten, Wüllersdorf, der Sekundant Buddenbrook - die im Duell die einzige Möglichkeit gesehen hatten, den durch einen Ehebruch verursachten Ehrkonflikt beizulegen. Aber auch für Fontane war jener Konflikt nicht nur fiktiv immerhin baute sein Roman auf einer wahren Begebenheit auf. Emma Lessing, die Frau des Haupteigentümers der Vossischen Zeitung, hatte ihm die Geschichte Ende der 1880er Jahre "bei Tisch" erzählt. [41] Als aufmerksamer Zeitungsleser hätte er sie auch in der Vossischen selber finden können, die am 3. Dezember 1886 die Notiz brachte:
"Am letzten Sonnabend hat nach dem "Berl.Tgbl." in der Umgebung Berlins ein Duell mit tödtlichem Ausgang stattgefunden. Der Herausforderer war ein hiesiger höherer Offizier, sein Gegner der Amtsrichter H. aus Düsseldorf. Die Forderung lautete auf Pistolen unter sehr schweren Bedingungen. Amtsrichter H. erhielt einen Schuß in den Unterleib und wurde, da die Verletzung sich als eine lebensgefährliche erwies, noch an demselben Tage nach dem königlichen Klinikum in der Ziegelstraße gebracht, wo er vorgestern verschied. Die militärgerichtliche Untersuchung soll bereits eingeleitet sein; über die Ursache des Duells verlautet nur, daß der betreffende Offizier sich durch Briefe des Amtsrichters, die in seine Hände gefallen waren, schwer verletzt gefühlt habe." [42]
Solche Zeitungsmeldungen gab es häufiger - wenn auch längst nicht so häufig wie die Ereignisse, über die sie berichteten. Schließlich wahrte man gerade bei Duellen, die aus gekränkter >Familienehre< stattfanden, größte Diskretion. Vor die Öffentlichkeit staatlicher Gerichte kamen sie ohnehin nur dann, wenn sie tödlich verlaufen und deshalb kaum zu verheimlichen waren. Eine Rekonstruktion solcher Konflikte kann demnach lediglich in Ausnahmen gelingen, wobei aber immer zu bedenken ist, daß sich hinter dem geschilderten Einzelfall eine große Zahl ähnlich gelagerter, aber nicht dokumentierter Geschehnisse verbirgt.
Anlaß des 1886 vorgefallenen Duells, das Fontane den Stoff zu seinem Effi-Briest-Roman lieferte, war ein Ehebruch gewesen. Elisabeth von Ardenne, die junge Frau des Obersten Armand von Ardenne, hatte eine Liebesaffäre mit dem Düsseldorfer Amtsrichter Emil Hartwich. Als ihr Mann, der mit Hartwich befreundet war, davon erfuhr, forderte er ihn zum Pistolenzweikampf, der am 27. November 1886 auf der Berliner Hasenheide ausgetragen wurde. In den Unterleib getroffen, starb Hartwich wenige Tage später. Der Todesschütze wurde vom Kriegsgericht zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt, von denen er jedoch nur wenige Wochen absitzen mußte. Zuvor hatte er noch die Scheidungsklage gegen seine Frau eingereicht. Die Ehe wurde 1887 getrennt, die beiden Kinder bekam der Vater zugesprochen. Während ihr Ex-Ehemann seine militärische Karriere bruchlos fortsetzte, baute sich Elisabeth von Ardenne eine neue Existenz auf. Den bisher gewohnten gesellschaftlichen Umgang mußte sie aufgeben, da man sich von ihr zurückzog. Sie schaffte es aber, anders als Effi, einen neuen Lebensinhalt zu gewinnen, und bewährte sich, wie Fontane wußte, "als ausgezeichnete Pflegerin in einer großen Heilanstalt". [43]
Eine ähnliche Geschichte ereignete sich 1902 in der Nähe von Hannover. Adolf von Bennigsen, dem 41jährigen Springer Landrat, waren Gerüchte zu Ohren gekommen, wonach seine elf Jahre jüngere Frau Elisabeth intime Beziehungen zu dem Domänenpächter Oswald Falkenhagen unterhielt. Er stellte seine Frau zur Rede und forderte Falkenhagen zum Duell, das für den 16. Januar 1902 verabredet wurde. Diesmal traf die tödliche Kugel nicht den Ehebrecher, sondern den Ehemann, der tags darauf verstarb. Den 27jährigen Falkenhagen verurteilte das Schwurgericht Hannover zu einer sechsjährigen Festungshaft; seinen mehrfachen Gnadengesuchen wurde nicht entsprochen. Auch Frau von Bennigsen mußte ihre Schuld büßen: Zwar hatte sich eine Scheidung durch den Duelltod ihres Mannes erübrigt, doch wurde sie von der Familie - ihrer eigenen und der ihres Mannes - verstoßen. Sie verließ Springe und arbeitete zunächst in einem Sanatorium für ansteckende Kranke. Anschließend ging sie nach Leipzig, um am dortigen Konservatorium Klavier zu studieren. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie fortan als Klavierlehrerin. Der Kontakt zu ihren fünf Kindern wurde ihr untersagt; erst als die Töchter volljährig waren, durften sie die Mutter besuchen. Aufgezogen wurden sie von den Schwestern ihres Vaters, einer Erzieherin und einem Dienstmädchen, die, wie die Familienchronik lapidar vermerkte, "ihrer Aufgabe nicht gewachsen" waren. [44]
Die Ähnlichkeiten zwischen beiden Geschichten sind frappant. Beide spielten im gleichen Milieu, nahmen in etwa den gleichen Verlauf - mit dem Unterschied, daß einmal der Liebhaber und das andere Mal der Ehemann starb. Für die Ehefrauen war der Unterschied minimal: In beiden Fällen mußten sie ihre Kinder, ihr Heim, ihren Verwandten-, Bekannten- und Freundeskreis aufgeben und an fremdem Ort von vorn anfangen.
4. Ehebrüche
Beide Geschichten behandelten Ehrkonflikte der klassischen Art - Konflikte, an denen sich das, was weibliche und männliche Ehre hieß, gewissermaßen im Extremzustand herausarbeiten läßt. Im Mittelpunkt stand der Ehebruch, genauer: der von Frauen verursachte Ehebruch. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Frau oder ihr Liebhaber die Initiative ergriffen hatten; ausschlaggebend war lediglich, daß die Ehe seitens der Ehefrau gebrochen worden war. Was hatte nun ein Ehebruch, wie er sich im 19.Jahrhundert tagtäglich ereignen mochte, mit Ehre zu tun? Weshalb führte der Seitensprung einer verheirateten Frau einen Ehrkonflikt herbei? Und was geschah, wenn der Ehemann fremd ging? Wurde auch hierdurch die Ehre gekränkt, und wenn ja, wessen Ehre? Aus heutiger Sicht ist Ehebruch zuallererst eine moralische Verfehlung, ein Vertrauensbruch zwischen Ehepartnern. Er mag eine emotionale Entfremdung des Paares nach sich ziehen, manchmal sogar seine Trennung. Mit Ehre und Ehrverletzung wird er gemeinhin nicht mehr in Verbindung gebracht, und Pistolenduelle zwischen Ehemann und Liebhaber sind ebenfalls seit einigen Jahrzehnten nicht mehr überliefert. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war das anders. Bereits das Strafrecht nahm eine Koppelung von Ehebruch und Ehrverlust vor, und zwar besonders, wenn nicht gar ausschließlich auf seiten der schuldigen Ehefrau. Als man im Vormärz über neue Strafrechtskodifikationen nachdachte, bestand mehrheitlich Übereinstimmung darin, den Ehebruch einer Ehefrau strenger als den eines Ehemanns zu bestrafen. Die damit befaßte Kommission des preußischen Staatsrats entschied 1843 mit 21 gegen 14 Stimmen, daß
"der Ehebruch der Frau im höheren Grade, als der des Mannes, unsittlich sey... (und) der Mutter die Achtung der Angehörigen entziehe". [45]
Der revidierte Strafrechtsentwurf begründete 1845, warum "die Verschuldung der Frau in der Regel eine sehr viel schwerere" sei:
Die Bedeutung der Frau liegt hauptsächlich in der sittlichen und geschlechtlichen Reinheit und mit dem Verlust derselben ist die Würde des Weibes, sowie der eheliche und häusliche Friede vernichtet."
Im Gegensatz dazu werde der Ehebruch des Mannes
"in sehr vielen Fällen die Ehre und den Frieden des Hauses nicht untergraben". [46]
Noch klarere Worte fand 1848 der preußische Justizminister von Savigny, als er das "allgemeine Gefühl" beschwor, wonach "der Mann in seiner Stellung, in seiner Ehre ungleich tiefer verletzt sei durch den Ehebruch der Frau, als umgekehrt...
Es ist die allgemeine Ansicht, daß der Mann, welcher wissentlich einen fortgesetzten Ehebruch der Frau duldet, geringgeschätzt wird, während die den Ehebruch des Mannes still duldende Frau häufig Anspruch auf besondere Achtung und auf Mitgefühl haben wird." [47]
Diese "allgemeine Ansicht" erwies sich zwar letztlich doch als nicht mehr kodifikationsfähig und fand keine Aufnahme in das seit 1851 geltende preußische Strafgesetzbuch. Dennoch ließ der Gesetzgeber sie gleichsam durch die Hintertür wieder ein, indem er es in das Ermessen des Richters stellte, sie bei der Festsetzung der Strafdauer zu berücksichtigen. [48] Offenbar blieb das "allgemeine Gefühl" in dieser Frage erstaunlich stabil. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa las man in einem Schriftsatz der deutschen Anti-Duell-Liga, der Ehebruch sei die "schwerste Kränkung, die einem Ehemann widerfahren" könne, schwerer als "durch irgend eine Beleidigung zugefügt". [49] Ähnlich argumentierte das Hannoveraner Schwurgericht 1902 im Prozeß gegen Oswald Falkenhagen. Strafverschärfend zog es in Betracht,
"daß Falkenhagen seinem von ihm getöteten Gegner durch den Anlaß des Zweikampfes, nämlich den lange Zeit hindurch fortgesetzten Ehebruch mit dessen Frau, den größten Schimpf angetan hat, der einem Ehemanne zugefügt werden kann". [50]
Die gute, tonangebende Gesellschaft stimmte offenbar über viele Jahrzehnte hinweg darin überein, daß die Ehre eines Mannes durch den Ehebruch seiner Frau auf das tiefste verletzt wurde. Umgekehrt aber galten andere Grundsätze. Das "Extragehen" eines Mannes verletzte weder seine eigene Ehre noch die seiner Ehefrau. Es galt lediglich als leicht verzeihlicher "momentaner Fehltritt", wie es der preußische Strafrechtsentwurf 1845 formulierte. [51] In den Worten des Abgeordneten Freiherrn von Gaffron aus dem Jahre 1848:
"Ich gebe zu, daß der Mann durch den Ehebruch nicht so tief fällt als die Frau, weil ihm andere Gebiete des Wirkens und Strebens offen stehen. Die Frau fällt aber tiefer als der Mann, weil ihr Beruf als Mutter und Gattin ihr höchster ist."
Auch Savigny war der "Überzeugung, daß durch den Ehebruch die Frau tiefer sinkt als der Mann, weil sie vorzugsweise vor dem Manne ihren Lebensberuf in der Familie hat, während der Mann in vielen anderen Beziehungen der Welt angehört". [52]
Im Klartext: Die Frau verlor ihre Ehre durch einen Ehebruch, der Mann nicht. Zugleich aber verletzte ihr Ehebruch seine Ehre, während sein Ehebruch der ihren nichts anhaben konnte. Ihr Ehebruch bewirkte demnach eine doppelte Ehrverletzung; er beschädigte oder zerstörte die soziale Identität zweier Personen, wogegen sein Ehebruch diese Identität vollkommen unberührt ließ. Heutigen LeserInnen mag eine solche Konstruktion abenteuerlich bis irrsinnig vorkommen; den Zeitgenossen des 19. und frühen 20.Jahrhunderts jedoch leuchtete sie unmittelbar ein. Zwar waren sie sich durchaus bewußt, daß jenes Denkmodell Frauen und Männer ungleich behandelte. Darin vermochten sie allerdings nichts Verwerfliches zu erkennen. Schließlich habe die Natur die Geschlechter unterschiedlich geformt, so daß es seitens des Rechts und der öffentlichen Moral nur gelte,
"den Unterschied, welcher die Geschlechter trennt, auch fernerhin anzuerkennen". [53]
Man hatte also ein gutes Gewissen, wußte sich im Einklang mit den Gesetzen der Natur, als man für Frauen und Männer unterschiedliche Strafmaße für das gleiche Delikt beantragte. Und selbst jene Männer im Preußischen Landtag, die diese Konsequenz nicht ziehen wollten, beriefen sich in ihren Sondervoten auf die natürliche Geschlechterdifferenz: Als der schwächere und daher leichter verführbare Teil dürfe die Frau nicht mit größerer Schuld und Strafe belegt werden als der Mann, der stärker "an Vernunft" sei, seine Leidenschaften gemeinhin besser unter Kontrolle habe und für sein Verhalten eher mehr als weniger Verantwortung trage. [54] Diese aus der Perspektive des ausgehenden 20. Jahrhunderts unverständlichen Argumentationen führen mitten hinein in den normativen Geschlechterdiskurs des bürgerlichen Zeitalters. Letzteres trat für eine scharfe Trennung männlicher und weiblicher Lebenswelten ein, womit es vormoderne Verhältnisse in spezifischer Weise vereinheitlichte und radikallsierte. Tendenziell homogenisierend, Unterschiede sozialer, ethnischer oder religiöser Art nivellierend wirkte die Vorstellung universell gültiger Geschlechtscharaktere, die jeder Frau und jedem Mann angeblich von Natur aus eigneten. Aufgabe und Ziel der bürgerlichen Gesellschaft müsse es denn auch sein, gesellschaftlich bedingte Abweichungen von dieser natürlichen Norm auf ein Mindestmaß zu reduzieren, sprich.- allen Männern und allen Frauen die Möglichkeit zu verschaffen, in Übereinstimmung mit ihrem Geschlechtscharakter zu leben. Gerade daran erweise sich die Fortschrittlichkeit bürgerlicher gegenüber vorbürgerlichen Verhältnissen. Liberale und Konservative gleichermaßen wurden nicht müde zu betonen, daß erst in der bürgerlichen Gesellschaft, einer "höchsten Stufe vernünftiger Civilisation", die Natur zu ihrem Recht gelange, indem man hier die "Besonderung" der Geschlechter zum Programmpunkt erhoben habe. [55] Über solchen Verbeugungen vor der Natur vergaß man allerdings keineswegs, daß die säuberliche Unterscheidung von Frauen und Männern, ihrer Gefühle, Einstellungen und Handlungsräume, den nicht gerade naturverbundenen Organisationsprinzipien hochdifferenzierter Gesellschaften ausgesprochen entgegenkam. Unter Rückgriff auf angeblich natürliche Wesensunterschiede der Geschlechter ließ sich eine besondere Form der Arbeitsteilung installieren, auf die moderne Sozial-, Wirtschafts-und Kultursysteme existentiell angewiesen waren. [56] Um Männer ohne Reibungs- und Zeitverlust in den Funktionskreislauf jener Systeme einbeziehen zu können, übertrug man ihre emotionale und soziale Reproduktion an Frauen, die ihr Leben ganz in den Dienst ihrer Männer zu stellen hatten. Der Raum, in dem dieser Dienst verrichtet wurde, hieß Familie. Hier fand eine Frau, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel es 1821 formulierte, "ihre substantielle Bestimmung" [57] ; hier ging sie der Sorge für das leiblich-seelische Wohlergehen ihrer Angehörigen nach und erfüllte ihre Pflichten als "Wirtschafterin, Gattin, Mutter, Erzieherin und Freundin". [58] Dabei galt es als
"ihr erster und großer Beruf", "Gehülfin des Mannes zu seyn", ihm zu gefallen und seinen Bedürfnissen nachzuleben; erst an zweiter und dritter Stelle folgten ihre Aufgaben als "Mutter" und "Hausfrau". [59]
Ein solcher ganz auf den Mann zugeschnittener Pflichtenkanon band Frauen mit Körper und Geist an ein häusliches Leben. Das Haus, formulierte der Nationalökonom Lorenz von Stein 1875, sei "das eigentliche Reich der Frau, in dem sie die Königin ist". [60] Das bedeutete jedoch nicht, daß sie, wie eine echte Königin, Herrschaftsrechte besaß. Ökonomisch abhängig vom Haushaltsgeld des Ehemanns, dessen Versorger-Rolle sie nie aus den Augen verlor [61], war sie moralisch und rechtlich nicht befugt, als Herrscherin aufzutreten. Schließlich fungierte der Mann als "Haus-Regent", wie Knigge 1788 vermerkte, [62]; er repräsentierte das "Haupt" der Familie, das sie rechtlich gegen andere vertrat und dem die "Disposition und Verwaltung des Familienvermögens" oblag. [63] Zugleich ging seine Existenz darin nicht auf, fand er doch, um noch einmal Hegel zu zitieren,
"sein wirkliches substantielles Leben im Staate, der Wissenschaft und dergleichen, und sonst im Kampfe und der Arbeit mit der Außenwelt und mit sich selbst". [64]
In der "häuslichen Geborgenheit" schöpfte er nur die Kraft, "zu walten in dem weitern Gebiete der bürgerlichen Gesellschaft", wie es Gotthelf Wilhelm Christoph Starke 1797 ausdrückte. [65]
Dennoch - obwohl Männer außerhalb von Haus und Familie ihren eigentlichen, hochgeschätzten Wirkungsraum fanden, blieben sie doch auf vielfältige Weise an jenes innere, private Terrain gebunden. Diese Bindung war längst nicht nur materieller Art; daß sie zu Hause bekocht, bewaschen und gepflegt wurden, war nur ein Teil der Leistungen, die sie im Austausch gegen das Wirtschaftsgeld erwarten durften. Mindestens ebenso wichtig, eher wichtiger war die emotionale Zuwendung, die sie hier erfuhren und die in ihnen eine umfassende "Selbstachtung" erzeugte. [66]
Nicht unerheblich war zudem der soziale Nutzen, den Männer aus ihrer Funktion als Familienoberhäupter zogen. Wenngleich sich die bürgerliche Gesellschaft theoretisch als Vereinigung einzelner Individuen definierte, verstand sie sich doch faktisch als eine Gemeinschaft der Hausväter. [67] Die Tatsache, daß der Haus- oder Familienvater kein "Einzelner als solcher" war, sondern "ein Allgemeines- repräsentierte, qualifizierte ihn zum aktiven Mitglied einer Gesellschaft, deren Zwecke und Interessen ebenfalls nicht "selbstsüchtig", sondern auf ein Allgemeinwohl orientiert waren. [68]
Aber auch im weniger grundsätzlichen Sinn profitierten Männer von ihrem Familienstand: Der Status eines Familienvaters, meinte (nicht nur) Hegel, sei
"die beste Rekommendation für Beförderung usf." [69]
Das Ansehen eines Mannes, könnte man resümieren, hing von seiner Eigenschaft als Familienoberhaupt ab - und damit letztlich auch von der Qualität seiner Ehefrau. Nur dann, wenn sie die ihr zugewiesenen Aufgaben als Gattin, Mutter und Hausfrau perfekt erfüllte, hob sich sein gesellschaftilcher Status. Anders ausgedrückt: Nur wenn die Frau ihrem Mann Ehre machte, blieb seine Ehre intakt.
5. Quellen der Ehre
Ehre, definierte 1734 Zedlers Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste,
"ist eine Meynung andrer Leute, nach der sie einem Menschen einen Vorzug vor den andern beylegen". [70]
An dieser Begriffsbestimmung änderte sich in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten wenig. Zwar häuften sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Versuche, Ehre rein innerlich zu fassen und in der moralischen Selbstachtung eines Individuums zu verankern. [71] Diese Ansicht konnte sich jedoch nicht gegen jene durchsetzen, die unter Ehre, wie Arthur Schopenhauer 1851 formulierte,
Objektiv, die Meinung anderer von unserem Wert, und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung verstand. [72]
Auch der Brockhaus von 1898 machte sich Schopenhauers Diktum zu eigen, wenn er Ehre "die Anerkennung unseres persönlichen Werts durch andere" nannte, und ein Jurist bilanzierte 1908 kurz und knapp: "Der Begriff der Ehre ist freilich bestritten... Im wesentlichen stehen sich zwei Ansichten gegenüber: die eine beschränkt den Ehrbegriff auf die sittlichen Qualitäten, die andre dehnt ihn weiter aus... Die letztere Ansicht ist die herrschende. [73]
Ehre war demnach auch in der bürgerlich-individualistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts keine persönliche, an innere Tugendhaftigkeit gebundene Eigenschaft, sondern ein soziales Konstrukt, das an der "öffentlichen Seite einer Person" haftete. [74] Woran sich Ehre im Sinne sozialer Anerkennung knüpfte, hing davon ab, in welchen "Kreisen" (Simmel) sich jene Person bewegte. Es hing aber auch, und zwar in wachsendem Maße, davon ab, welchem Geschlecht sie angehörte. Für Männer und Frauen galten, quer durch verschiedene Stände, Klassen und Kulturen, unterschiedliche Ehrbegriffe. "Noch heute", schrieb 1897 die Frauenrechtlerin Marie Raschke, "wird die Ehre gewogen nach Geburt, Beruf und Geschlecht. Während die männliche Ehre sich hauptsächlich nach dem Berufe bemißt und ein Ausfluß des bürgerlichen Sonderrechts des Mannes ist, wurzelt nach den willkürlichen Einrichtungen unserer Zeit, welche der Frau jede bürgerliche Ehre versagen, die weibliche Ehre hauptsächlich im Geschlecht." [75] Die Ehre einer Frau, so die allgemeine Ansicht, beruhte auf ihrer "geschlechtlichen Integrität« [76] , auf ihrem Verzicht auf vorund außereheliche sexuelle Beziehungen. Die Ehre eines Mannes dagegen schöpfte aus anderen Quellen: aus seinen beruflichen Erfolgen und Leistungen, aus seiner Rolle als ein mit politischen Rechten ausgezeichneter Hausvater und Staatsbürger. Solche Ehren waren für Frauen prinzipiell unerschwinglich: Von vielen, gerade angeseheneren beruflichen Tätigkeiten und Ämtern förmlich ausgeschlossen, kamen sie außerdem erst 1918/19 in den vollen Genuß der bürgerlichen Ehrenrechte und der damit zuvörderst verbundenen "Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten".[77]
Die Frau, hieß es schon beim Freiherrn von Knigge, mache
"eigentlich gar keine Person in der bürgerlichen Gesellschaft aus" [78]
von daher war es nur folgerichtig, ihr einen selbständigen Anspruch auf bürgerliche Ehre - im beruflichen und politischen Sinn vorzuenthalten. Hundert Jahre nach Knigge erneuerte der Berliner Philosophie- und Pädagogikprofessor Friedrich Paulsen die Negation, als er schrieb:
"Die Frau hat keine selbständige Ehre, weder politische noch sociale, sie hat Teil an der des Mannes. Der Ehrtrieb, der in ihr ist, kann also nur indirekt Befriedigung finden: dem Mann anziehend zu sein, ist für sie unter allen Umständen der gewiesene Weg zu jedem Ziel.[79]
Diese Haltung entsprach den rechtlichen Vorgaben des 18. und 19.Jahrhunderts, die das, was das Allgemeine Landrecht zusammenfassend Standesehre genannt hatte, als vorwiegend und im wesentlichen männliches Besitztum abhandelten. Zwar nannte der Text des ALR neutral nur "Personen" oder "Leute , die Ehre besäßen oder in ihrer Ehre gekränkt werden mochten. Doch schon die rechtswissenschaftlichen und rechtspolitischen Kommentare benutzten konsequent und ausschließlich männliche Sprachformen. Inhaber und Träger sozialer Ehre war danach zunächst und vor allem das männliche Subjekt, "der Mann aus der niedrigsten Klasse", der "rechtliche Mann" usw. [80] Nur vermittelt über ihn konnte eine Frau Ehre erlangen, indem sie, wie es das Landrecht bekräftigte, als seine Gattin "an den Rechten seines Standes" teilnahm." [81] Daß diese Rechte auch das Recht auf Ehre beinhalteten, beleuchtet ein Vorfall, der sich 1746/47 am Hof zu Meiningen abspielte. Im offiziellen Rangreglement des Herzogtums gebührte der damals 50jährigen Christiane Auguste von Gleichen, Frau des Meininger Landjägermeisters, der erste Platz unter den Damen. Das änderte sich, als 1746 ein Regierungsrat namens von Pfaffenrath eingestellt wurde, der mit einer geborenen Gräfin verheiratet war. Dieser Gräfin mußte Christiane Auguste nun weichen, da der Herzog ihr aufgrund ihrer hohen Geburt den ersten Damen-Rang zubilligte. Ein solcher Ehrenvorzug war nach Meinung der Landjägermeisterin völlig unbegründet, und sie ließ deshalb nichts unversucht, ihn wieder rückgängig zu machen. Sie zog Erkundigungen über Frau von Pfaffenraths voreheliche Abenteuer ein und ließ darüber anonyme Briefe zirkulieren. Der Konflikt eskalierte, als die angegriffene Rivalin sich beim Herzog beschwerte. Letzterer verlangte vom Landjägermeister, seine Frau zur Abbitte zu bewegen, was jener von sich wies und deshalb in Arrest kam. Frau von Gleichen wurde daraufhin von der Regierung einvernommen und auf Befehl des Herzogs aufgefordert, sich knieend und fußfällig bei Frau von Pfaffenrath zu entschuldigen. Sie weigerte sich und wurde ebenfalls arretiert. In einem Schreiben an den Herzog verteidigte sie ihren Ranganspruch mit dem Argument, Frauen müßten nach dem Rang ihrer Männer eingestuft werden. Selbst wenn sie von Geburt aus einen höheren Stand besäßen, gäben sie diesen doch durch ihre Heirat mit einem Mann niederen Standes auf. Nachdem sie sich solcherart ins Recht gesetzt hatte, bat sie für ihre inkriminierten Handlungen - die anonymen Briefe - um Verständnis:
"Ich bin niemals sensibler, als auf dem point d'honneur gewesen, dannen hero muß mir allerdings sehr schmerzlich fallen, wenn in meine alten Tage solch verlieren sollte."
Die ihr angetragene Abbitte hielt Christiane von Gleichen
"vor solch eine terrible Schande, die ich nimmer auswetzen kann, und würde mich vor keinen honetten Menschen mehr sehen lassen dürfen... Ihro Durchlaucht strafen mich, wie sie wollen; nehmen sie mir mein Leben, wenn ich es verdient habe, aber um Gottes Barmherzigkeit willen, lassen sie mir meine Ehre! Die kann ich mir nicht nehmen lassen. Ich habe 50 Jahre mit Ehren gelebet, man hat mir auch solche an Königlichen und Fürstlichen Höfen, wo ich gewesen, ungekränket gelassen; also werden mir Ew. Hoch-Fürstliche Durchlaucht nicht ungnädig nehmen, wenn ich zur Conservirung derselben auch jetzo alle Mühe anwende."
Zum Schluß bat sie um Gnade für ihren verhafteten Mann, den keine Schuld treffe: Sie habe alles ohne sein Vorwissen gethan; denn was meine Ehre versiret, keine Bothmäßigkeit des Mannes statuire. [82]
An diesem Grundsatz hielt die streitbare Dame auch weiterhin fest. Als der Herzog auf der Abbitte bestand, rief das internierte Ehepaar das Reichskammergericht zu Wetzlar an. Letzteres forderte den Herzog auf, die beiden freizulassen, was aber nicht geschah. Daraufhin wurde Herzog Friedrich III. von Gotha damit beauftragt, die Freilassung zu erwirken, und es kam zum Krieg zwischen beiden Herzogtümern. Daß das gekränkte Ehrgefühl einer Adligen in einer militärischen Auseinandersetzung mündete, war auch im 18. Jahrhundert sicherlich nicht die Regel. Trotzdem gibt der Konflikt allgemeine Hinweise auf Struktur und Qualität ständischer Ehre, vor allem aber, was hier besonders interessiert, auf ihren geschlechterspezifischen Gehalt. Dabei fällt zunächst auf, daß die an den Stand geknüpfte Ehre beiden Geschlechtern offensichtlich gleichermaßen eigen war. Sowohl die formale Institution des höfischen Reglements als auch die Individuen selber, Frauen nicht anders als Männer, verwendeten eine Ehrenskala, die mit dem Geburtsstand und dem sozialen Rang eines männlichen Amtsinhabers korrespondierte. Frauen figurierten als standesgleich mit ihren Männern. Auch das preußische Hof-Rang-Reglement von 1878 ordnete die "courfähig verheirateten Damen" nach dem Rang ihrer Männer ein; nur ausnahmsweise konnten Frauen auch durch ihren "Geburtsrang" die Hoffähigkeit erlangen. Junge Mädchen besaßen ebenfalls keinen selbständigen Rang, sondern wurden "unter denjenigen ihrer Eltern" - genauer: ihrer Väter - einregistriert". [83] Ebenso wie Frauen den Stand ihrer Ehemänner bzw. Väter annahmen, teilten sie auch die Ehre, die daran haftete. Mit der Eheschließung erwarben sie, die bisher an der Ehre des väterlichen Standes partizipiert hatten, das Anrecht auf Ehrenbezeugungen und Vergünstigungen, die sich an den Stand und an die soziale Position ihres Gatten knüpften. Diese Klassifikation war keinesfalls nur formaler Natur, sondern ein zentrales Element weiblicher Identität. Das zeigte sich etwa daran, daß bürgerliche Frauen sich im 19. Jahrhundert unter dem Titel ihrer Ehemänner vorstellen und anreden ließen. Aber auch das geschilderte Exempel der Christiane Auguste von Gleichen, die Mitte des 18. Jahrhunderts mit allen Mitteln um die Ehre ihres angeheirateten Standes kämpfte, verdeutlicht, wie tief sich die soziale Zuordnung in die Selbstbilder und Eigenwahrnehmung von Frauen eingeschrieben hatte. Der Fall der Meininger Adligen steht aber noch für etwas anderes, weniger Geborgtes. Daß die Frau Landjägermeister derart kompromißlos, selbstbewußt und eigenständig für ihre Ehre eintrat, war ihrer Umgebung keineswegs selbstverständlich. Der Autonomieanspruch dieser Dame, die in bezug auf ihre Ehre "keine Bothmäßigkeit" Dritter duldete, sprengte augenscheinlich den Rahmen des Herkömmlichen. Üblich wäre es gewesen, ihrem Mann die Vertretung ihrer Ansprüche zu übertragen. Als sie sich selber unehrenhaft verhielt, indem sie die Ehre ihrer Widersacherin durch anonyme Beschuldigungen verletzte, wandte man sich denn auch zunächst an den Gatten, der seine Frau zur Räson bringen sollte. Dieses Verfahren entsprach dem zeitgenössischen Verständnis, wonach Ehemänner eine Art von Vormundschaft über ihre Angetrauten ausübten und stellvertretend für sie Geschäfte abschlossen, Prozesse führten sowie ihr Vermögen verwalteten. "Der Mann", hieß es demgemäß im Allgemeinen Landrecht, "ist schuldig und befugt, die Person, die Ehre und das Vermögen seiner Frau, in und außer Gerichten zu vertheidigen." In der Regel durfte die Ehefrau daher "ohne Zuziehung und Einwilligung des Mannes" keine gerichtliche Klage erheben, und auch bei Injurienprozessen, in denen sie selber angeklagt war, mußte der Gatte sie "auf seine Kosten" verteidigen. [84]
Die Pflicht und das Recht ehemännlicher Stellvertretung oder, wie es im juristischen Fachjargon hieß, "ehelicher Vormundschaft" wurden gemeinhin mit dem Hinweis auf die "weibliche Schwäche und die Unerfahrenheit der Weiber in bürgerlichen Angelegenheiten" begründet. [85] Tatsächlich aber entsprangen sie dem Prinzip ehemännlicher "Familiengewalt", das bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts rechtswirksam war. Diese Gewalt galt als gleichsam natürliche Grundlage einer jeden Ehe, in deren Wesen es liege, daß sich die Frau freiwillig dem Manne unterordne. Das staatliche Eherecht akzeptierte diese Unterordnung "als ein vor allen Gesetzen vorher gegebenes Faktum" und sicherte sie ab, indem es den Mann als "Haupt der ehelichen Gemeinschaft" inthronisierte. Da die Frau nun "zufolge ihres eignen durch Anerkennung der Ehe vom Staat garantirten Willens die Ausübung aller ihrer Gerechtsame dem Mann übertragen hat", verstand es sich von selber, daß in bürgerlichen Angelegenheiten Niemand mit der Frau unmittelbar und allein verhandeln kann". [86] Diese Interpretation des Allgemeinen Landrechts blieb im ganzen 19. Jahrhundert gültig.
Stand es einer verheirateten Frau nicht zu, ihre Ehre "in und außer Gerichten" selbständig zu verteidigen - ein Grundsatz, den Christiane Auguste von Gleichen offenkundig nicht beherzigte - war sie darüber hinaus auch nicht befugt, Ehrenkränkungen, die ihrem Mann galten, auf sich zu beziehen. Umgekehrt aber durfte sich der Ehemann durch eine seiner Frau zugefügte Ehrverletzung "mittelbar" beleidigt fühlen und dagegen vor Gericht ziehen. Das Allgemeine Landrecht, das den Tatbestand mittelbarer Beleidigung auf Ehemänner, Väter und Vormünder beschränkte, ließ allerdings offen, ob dieses Klagerecht nur ein Ausfluß ehemännlicher bzw. väterlicher Vormundschaft und Stellvertretung war oder ob damit bereits das gemeint war, was später in die Nähe eines unumstößlichen Naturgesetzes gerückt wurde: daß Männer den Ehrverlust ihrer Frauen als Angriff auf ihre eigene, höchstpersönliche Ehre werteten. Als man sich seit den 1820er Jahren um eine Straffung und Modernisierung des Strafrechts bemühte, löste man jene Ambivalenz zunächst zugunsten des ersten Arguments auf. Der Begriff der mittelbaren Beleidigung verschwand, und der Ehemann sollte die seiner Frau zugefügten Beleidigungen lediglich "an ihrer Stelle rügen". [87] Diese Auffassung hatte jedoch keinen Bestand; bereits der revidierte preußische Entwurf von 1833 wollte "Ehrenbeleidigungen, welche der Ehefrau... zugefügt werden", "als mittelbare Ehrenbeleidigungen des Ehemannes" ansehen. Zur Begründung wurde angeführt: "Ehegatten sind so genau verbunden, daß die bürgerliche Ehre des einen mit der des andern steigt und fällt... bei solchen Verhältnissen verletzt die Verletzung der Ehre des Einen zugleich mittelbar auch die Ehre des Andern. Der Ehemann und Vater hat nicht bloß die Befugniß, die seiner Ehefrau und seinen Kindern zugefügten Injurien, als natürlicher Vormund dieser Personen, an deren Stelle und in deren Namen zu rügen... ; er ist vielmehr der mittelbar Beleidigte, und verfolgt daher in seinem eigenen Namen sein eigenes Recht, wenn auch der Injuriant nicht die Absicht gehabt haben sollte, zugleich auch seine Ehre zu kränken." [88] Die Argumentation ging zwar anfänglich von einer Reziprozität der doppelten Ehrverletzung aus, nahm sie aber im weiteren Verlauf zurück, bis schließlich nur das Recht des Ehemannes, seine eigene Ehre in der seiner Frau gekränkt zu wissen, übrig blieb. Dieses Recht fand man so tief in den ehelichen "Verhältnissen" begründet, daß man es auch gesetzlich begünstigen wollte. Schließlich würden jene Verhältnisse "eine schiefe, selbst eine unnatürliche Grundlage erhalten, wenn die Ansicht, daß in der Ehre der Frau auch die Ehre des Mannes... berührt werde, jemals verschwinden könnte".[89] Vom umgekehrten Fall war hier nicht mehr die Rede, und auch das endgültige, 1851 in Kraft tretende Strafgesetzbuch ließ kein selbständiges Klagerecht der Ehefrau bei Beleidigungen ihres Mannes zu. Statt dessen gab es dem Ehemann das Recht, Beleidigungen der Gattin auch gegen deren Willen gerichtlich zu verfolgen, womit es sich die Positionen der 1830er Jahre zu eigen gemacht hatte." [90]