In der frühen Kurzgeschichtensammlung Der Dienstagabend-Club (engl. 1932) findet sich in Miss Marples Haus ein Kreis von Freunden zusammen, um sich nach einer kurzen, einführenden Handlung mysteriöse Ereignisse zu erzählen, die ihnen im Laufe ihres Lebens untergekommen sind. Natürlich ist es jedes Mal Miss Marple, die die Lösung des Rätsels liefert. Der Kreis nennt sich »Dienstagabend-Club«, und die Mitglieder sind alte Bekannte aus Miss Marples Welt: Sir Henry Clithering, Ex-Kommissar von Scotland Yard; Dr. Pender, ein Geistlicher; Mr. Petherick, der Anwalt; und Raymond West, Miss Marples Neffe, sowie dessen Freundin und spätere Ehefrau Joyce Lempriere. Anfangs will die Gruppe Miss Marple nicht in ihr Detektivspiel miteinbeziehen - »Ich hätte nicht gedacht, daß es Ihnen Spaß machen würde«, sagt Joyce -, und zuerst behandeln die anderen sie mit einer gewissen Belustigung, als sie ein Beispiel für ein ungelöstes Geheimnis erzählt, den Fall der verschwundenen Krabben:
»Gestern früh ist Mrs. Carruthers etwas sehr Seltsames passiert. Sie kaufte ein halbes Pfund gepulte Krabben bei Elliot, und dann ging sie in zwei weitere Geschäfte. Als sie nach Hause kam, stellte sie fest, daß sie die Krabben vergessen hatte. Also ging sie in die zwei Läden zurück, in denen sie etwas besorgt hatte, aber die Krabben waren wie vom Erdboden verschluckt. So etwas nenne ich höchst ungewöhnlich.« »Wirklich nicht ganz koscher«, pflichtete Sir Henry Clithering ihr ernsthaft bei. »Es gibt natürlich alle möglichen Gründe dafür«, fuhr Miss Marple fort, wobei sich ihre Wangen vor Aufregung rosig färbten. »Zum Beispiel, jemand anderes ...« »Meine liebe Tante«, sagte Raymond West leicht amüsiert, »ich dachte dabei eigentlich nicht an dörfliche Begebenheiten. Ich dachte an Morde und geheimnisvolles Verschwinden ...«
(The Thirteen Problems: »Tuesday Night Club«; in der dt. Ausg. blieb diese Stelle unübersetzt)
Bereits im ersten Miss Marple-Roman, Mord im Pfarrhaus, finden die gepulten Krabben (diesmal nur ein Viertelpfund) Erwähnung, als Griselda sagt: »Ich wollte, Sie würden den Fall aufklären, Miss Marple, wie damals, als Sie herausfanden, wie die gepulten Krabben von Miss Wetherby verschwanden. Und nur, weil diese Sache Sie an etwas völlig anderes erinnerte, das mit einem Sack Kohlen zusammenhing« (Kap. 11). Auch in dem späteren Roman Ruhe unsanft werden die Krabben erwähnt, aber mittlerweile sind sie eingelegt (pickied) und nicht gepult (picked), vermutlich deshalb, weil der letztere Ausdruck zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans (1976) ungebräuchlich geworden war. Doch mittlerweile gehören die Krabben, in welcher Form auch immer, zum Mythos um Miss Marple:
»Sie liebt Probleme ... Jede Art von Problemen. Warum die Frau des Lebensmittelhändlers ihren Regenschirm an einem schönen Abend auf eine Kirchenveranstaltung mitnahm. Warum ein Viertelpfund eingelegter Krabben an einer ganz bestimmten Stelle aufgefunden wurde. Was mit dem Talar des Pfarrers passierte. Das ist alles Wasser auf die Mühlen von Tante Jane.« (Sleeping Murder [Ruhe unsanft], Kap. 3)
Zu diesem Zeitpunkt sind die Krabben bereits zu einem Sinnbild für Miss Marples detektivische Methoden geworden, denn sie verkörpern sowohl das Banale als auch das Geheimnisvolle des Alltags. Sie bilden die grundlegende Prämisse der Marple-Romane, die besagt: Wenn eine Person das Geheimnis der verschwundenen Krabben lösen kann, dann kann sie auch wesentlich schwierigere Probleme lösen, bis hin zum Mord. Die menschliche Natur ist immer gleich, ob sie nun Krabben stiehlt oder einen Plan zur Ermordung eines anderen Menschen entwirft, und St. Mary Mead in seiner dörflichen Beschaulichkeit ist ebenso ein Ort des Bösen (und des Guten) wie die geschäftigste Großstadt; dieser Einsicht schließen sich Miss Marples Freunde, und insbesondere ihr Neffe Raymond, indes nicht immer an. So sagt Miss Marple zu ihm:
»Ihr glaubt sicher alle, daß ich wahrscheinlich nichts Interessantes erlebt habe, weil ich mein ganzes Leben in diesem abgelegenen Fleckchen zubrachte. ... [Aber] die menschliche Natur ist überall ziemlich die gleiche, und natürlich hat man in einem Dorf bessere Gelegenheit, sie aus der Nähe zu studieren.« (Der Dienstagabend-Club: »Der Daumenabdruck des heiligen Petrus«)
Nur anmaßende und gedankenlose Menschen halten St. Mary Mead für einen Ort, der sich nicht dazu eignet, die menschliche Natur zu studieren und dadurch kriminalistische Fähigkeiten zu entwickeln, wie Miss Marple dem »sehr distinguierten jungen Mann« Raymond vor Augen führt:
»Für mich ist St. Mary Mead wie ein abgestandener Tümpel.« »Das ist wirklich kein sehr guter Vergleich, lieber Raymond«, sagte Miss Marple lebhaft. »Wenn man es unter dem Mikroskop betrachtet, ist doch nichts so voller Leben wie ein Wassertropfen aus einem abgestandenen Tümpel.« »Leben - na ja, eine gewisse Art von Leben«, gab der Schriftsteller zu. »Im Grunde ist das Leben doch überall ziemlich gleich, findest du nicht?« meinte Miss Marple. (The Murder at the Vicarage [Mord im Pfarrhaus], Kap. 21)
Die Kurzgeschichten in Der Dienstagabend-Club machen die Schlichtheit von Miss Marples detektivischen Methoden besonders deutlich, und insbesondere zeigen sie, daß die Umgebung für das Verbrechen im Grunde keine Rolle spielt. Jede Geschichte wird von einem anderen Teilnehmer erzählt, und jede erzeugt ihre eigene Stimmung, die anfangs von entscheidender Bedeutung zu sein scheint. »Der Tempel der Astarte« (The Idol-House ofAstarte) erinnert an eine Schauergeschichte, »Die verschwundenen Goldbarren« (Ingots of Gold) an eine Schmugglergeschichte aus Cornwall, »Der rote Badeanzug« (The Bloodstained Pavement) an eine Gespenstererzählung. Doch im Verlauf der Geschichte zeigt sich, daß die Stimmung eine falsche Spur ist, die die weniger logisch denkenden und klarsichtigen Mitglieder des Dienstagabend-Clubs in die Irre führt und die Leserinnen, die nach Hinweisen suchen, zeitweilig ablenkt. Doch Miss Marple als gute positivistische Denkerin erblickt hinter der Fassade von Schauplatz und Atmosphäre die Tatsachen, die sie zur Wahrheit über das Verbrechen führen. In »Der rote Badeanzug« ist das, was anfänglich wie Vorahnung aussieht, ein Verbrechen, bei dem der Täter einen falschen, früheren Zeitpunkt des Unfalls vortäuscht, und in »Der Tempel der Astarte« beweist Miss Marple, daß ein Mann, der scheinbar ermordet wurde, während sich niemand in dem Haus aufhielt, bei einem Sturz das Bewußtsein verlor und erst danach von jemandem getötet wurde, der ihm zu Hilfe kam. Die Wirkung dieser Geschichten besteht natürlich darin, den Lesenden zu bestätigen, daß die menschliche Logik auch angesichts des Unheimlichen greift; selbst wenn die Wirklichkeit irreal und bedrohlich scheint, unterliegt sie doch den Gesetzen der Rationalität.
In allen Büchern wird Miss Marple, eine kleine alte Dame in einem Dorf, als die ideale Detektivin dargestellt. »In England gibt es keinen Detektiv, der einer altjüngferlichen Dame unbestimmten Alters mit jeder Menge Zeit das Wasser reichen kann«, sagt der Pfarrer in Mord im Pfarrhaus, und Sir Henry Clithering beschreibt Miss Marple laut Inspektor Craddock folgendermaßen:
»... der gerissenste Detektiv auf Gottes Erdboden, ein natürliches Genie, das sich in einer günstigen Umgebung entwickelte. Er sagte, ich solle niemals -« Dermot Craddock hielt kurz inne, um ein besseres Wort für »alte Katzen« zu finden - »ältere Damen verachten. Er meinte, sie könnten einem oft sagen, was hätte passieren können, was hätte passieren müssen, und sogar, was tatsächlich passiert ist. Und ... sie könnten einem sagen, warum es geschehen ist. Dann fügte er noch hinzu, diese - äh -ältere Dame, von der hier die Rede sei, gehöre zur Spitzenklasse.« (4.50 from Paddington [16 Uhr 50 ab Paddington], Kap. 16)
Die Fähigkeiten, über die alte Damen verfügen - zu wissen, was, wie und warum etwas passierte und was hätte passieren sollen -, stellen einige der Hauptmerkmale eines Detektivs dar: ein starkes moralisches Empfinden, Kenntnis der menschlichen Natur und die Fähigkeit, aus genau beobachteten Indizien Rückschlüsse zu ziehen. Aus alten Damen können gerade deshalb so hervorragende Detektivinnen werden, weil sie ein »banales« oder »triviales« Leben führen, denn sie haben jede Menge freie Zeit, besitzen die Weisheit der Erfahrung und ein gutes Gedächtnis, sind kaum in private Dramen verwickelt und verfügen über die Fähigkeit, stellvertretend zu leben, indem sie das Leben anderer beobachten und darüber klatschen. In Gyn/Ökologie bemerkt Mary Daly, daß das Wort trivia einer der Namen der alten dreifachen Göttin war, von der die christliche Vorstellung der Dreifaltigkeit abstammt; erst in neuerer Zeit hat es eine abwertende Bedeutung angenommen für alles, was oberflächlich, unwesentlich und alltäglich ist, doch die frühere Bedeutung hatte etwas mit Allgegenwart zu tun, mit Alltäglichkeit im Sinne von überall sein und in alle Richtungen blicken. In der Gestalt Miss Marples greift Agatha Christie die patriarchale Vorstellung des Trivialen auf und verwandelt es in etwas, das seiner früheren Bedeutung nahekommt. Das gewöhnliche, von Klatsch geprägte, unbeachtete Leben einer alten Dame wird zur einflußreichen Macht des Guten, und die ungeschmälert weibliche, sehr personalisierte Herangehensweise an die Gesellschaft wird in Miss Marple zum Element lebensrettender Notwendigkeit. Agatha Christie war keine ausgesprochene Feministin, wie sie in ihrer Autobiographie klarstellt, und in ihren Romanen verrät sie eine tiefe Abneigung gegenüber Karrierefrauen, doch legte sie großen Wert auf herkömmliche weibliche Eigenschaften und Gewohnheiten, die in der Gestalt Miss Marples zu Trägern von Logik, Moral und Gerechtigkeit werden. In dieser Hinsicht unterscheidet Agatha Christie sich von vielen ihrer eindeutig progressiven Zeitgenossinnen, denn innerhalb ihres eigenen Rahmens ist Miss Marple nicht nur moralisch und fürsorglich -die traditionellen Eigenschaften einer guten Frau innerhalb des Patriarchats -, sondern auch eine geistige Kraft, die in die männliche Domäne von Logik und Rationalität vordringt. Dadurch wird sie, wie Inspektor Craddock erkennt, »gefährlich wie eine Klapperschlange«. Ein Großteil des Vergnügens an der Miss Marple-Lektüre und den entsprechenden Verfdmungen entsteht aus dem Widerspruch, daß eine kleine alte Dame, die aufgrund des Jugendkults von der Gesellschaft bestenfalls als reizende Exzentrikerin und schlimmstenfalls als lästige Nervensäge gesehen wird, eine strengere Logik hat als die kompetentesten Polizeibeamten, aber auch verderbter ist als der ehrgeizigste Übeltäter - in dem Sinn, wie Mrs. Dane Calthrop sagt: »Sie weiß mehr über die verschiedenen Arten menschlicher Schlechtigkeit als jede andere Person, die ich je gekannt habe« (The Moving Finger [Die Schattenhand], Kap. 14).
Eine der Haupteigenschaften Miss Marples ist, zumindest angeblich, ihre Fähigkeit zu klatschen, eine Schwäche, die insbesondere alten und unverheirateten Frauen zugeschrieben wird. Agatha Christie spielt mit diesem Bild der alten Jungfer und verwendet sogar mehrmals das negative Bild der dörflichen Klatschbase:
Miss Wetherby, eine spitznasige, säuerliche alte Jungfer, verbreitete die sensationelle Neuigkeit als erste. Sie erschien bei ihrer Freundin und Nachbarin, Miss Hartneil. »Verzeih, daß ich so früh komme, Liebste, aber ich dachte, vielleicht hast du noch nicht gehört, was passiert ist.«
»Was ist passiert?« fragte Miss Hartneil. Sie hatte eine tiefe Baßstimme und besuchte unermüdlich die Armen, denen es trotz heißem Bemühen nicht gelang, sich vor der Barmherzigkeit des alten Fräuleins zu retten. (Die Tote in der Bibliothek, Kap. 4)
So verbreitet sich die Nachricht von der Leiche in Colonel Bantrys Bibliothek, und es dauert nicht lange, bis ihm eine geschmacklose und mörderische Liaison angedichtet wird:
»... ich hörte ganz deutlich, wie er dem Chauffeur die Adresse angab - wohin, glauben Sie?« Fragend blickte Mr. Clement sie an. »Eine Adresse in St. John 's Wood!« Mrs. Price Ridley schnaufte triumphierend. Der Pfarrer blieb völlig verständnislos.
»Das - sollte ich meinen - ist Beweis genug«, sagte Mrs. Price Ridley. (Die Tote in der Bibliothek, Kap. 4)
Damit mißdeutet Mrs. Price Ridley die verschiedenen Informationsbruchstücke, die ihr zugetragen wurden. Die Leiche in der Bibliothek Colonel Bantrys, sein Widerstreben zu reden, die Tatsache, daß St. John's Wood traditionell ein Bezirk war, in dem Londoner Männer ihren Geliebten ein Liebesnest einrichteten, werden in falsche Beziehung zueinander gesetzt und führen somit zu einem irrigen »Beweis«. Mrs. Price Ridley ist nicht nur eine schlechte Detektivin, sondern auch keine gute Klatschbase, denn ihre Schlußfolgerungen gehen nicht tief genug und werden auch nicht mit moralischer Zurückhaltung eingesetzt. Miss Marple hingegen ist eine gute Klatschbase und somit auch eine gute Detektivin. Sie interessiert sich ebenfalls für jede kleine Information und hätte auch bemerkt, daß Colonel Bantry mit dem Taxi nach St. John's Wood fuhr. Aber sie hätte auch in Betracht gezogen, daß er kaum ein Mann war, der sich eine Geliebte hielt, und deshalb andere Erklärungen dafür gesucht, warum er dorthin fuhr. Insbesondere hätte sie ihre Spekulationen niemandem mitgeteilt, ohne sich vorher zu vergewissern, daß dies richtig und notwendig war. Sie klatscht nicht ohne Sinn und Verstand. In einem Kapitel in Ein Mord wird angekündigt, das in der englischen Ausgabe treffenderweise den Titel »Miss Marple Comes to Tea« (etwa: Teestunde mit Miss Marple) trägt, sehen wir, wie Miss Marple Klatsch positiv einsetzt. Sie kommt Letitia Blacklock »in ihrer freundlich tratschenden Art sehr reizend« vor und scheint eine jener alten Damen zu sein, die sich »ständig mit Einbrechern beschäftigen«. Da sich in Miss Blacklocks Haus ein Mord ereignet hat, erscheint es unverdächtig und sogar unvermeidlich, dieses Thema anzuschneiden; außerdem erlaubt dieser Umstand Miss Marple, forschende Fragen zu stellen und, wichtiger noch, er regt andere Personen zu Indiskretionen an. Das scheinbar triviale und von Zufälligkeiten bestimmte Gespräch steuert dabei genau auf die Themen hin, die Miss Marple beschäftigen, und eines davon ist die Frage, ob Miss Blacklock ihren Neffen und ihre Nichte bereits als Kinder kannte. An diesen Punkt tastet sie sich durch das Gespräch über Möbel heran.
»Ich muß gestehen«, sagte nun Miss Marple, »daß auch ich an meinen wenigen Besitztümern sehr hänge ... es sind so viele Erinnerungen damit verknüpft, verstehen Sie. Und ich liebe vor allem mein Fotoalbum. Ich habe Bilder von meinen Neffen und Nichten als Babys, dann als Kinder und so weiter.« Jetzt wandte sie sich an Patrick.
»Ihre Tante wird wohl viele Fotografien von Ihnen haben?« (Ein Mord wird angekündigt, Kap. 11)
Die Frage wird im richtigen Moment gestellt, die Auskunft wird ohne jedes Mißtrauen erteilt und dann in Miss Marples Gedächtnis gespeichert, um später in das Puzzle eingefügt zu werden. Auf keinen Fall wird die Information zur müßigen Spekulation benutzt, wie Mrs. Price Ridley es tut. Für den Fall, daß den Leserinnen Miss Marples Strategie - und damit auch eine wesentliche Information -entgangen ist, endet das Kapitel mit einer Koda:
»Hast du das mit Absicht getan?« fragte Bunch, als sie und Miss Marple nach Hause gingen. »Ich meine, als du von den Fotos angefangen hast?«
»Weißt du, mein Kind, es war interessant zu erfahren, daß Miss Blacklock weder ihren Neffen noch ihre Nichte je vorher gesehen hatte ...«
(Ein Mord wird angekündigt, Kap. 11)
Wenn die Leserinnen glauben, dadurch mit der Nase auf Hinweise gestoßen zu werden, sollten sie daran denken, daß auch andere Hinweise eingestreut werden, wobei einer (die Letty/Lotty-Verwirrung) besonders wichtig ist. Dies ist (wie wir später feststellen) Miss Marple nicht entgangen, auch wenn sie dazu keinen Kommentar abgab:
»O Letty!« rief nun Miss Bunner aufgeregt. »Ich habe ganz vergessen, dir zu erzählen, daß der Inspektor heute morgen höchst merkwürdig war. Er bestand darauf, die zweite Tür zu öffnen - die zum Nebenraum, die seit Jahren verschlossen ist...« Zu spät merkte sie, daß Miss Blacklock ihr durch Zeichen Schweigen bedeutete, und einen Augenblick saß sie mit weitaufgerissenem Mund da. - Dann stieß sie hervor: »Oh, Lotty ... ach, entschuldige bitte, Letty ... oh, mein Gott, wie dumm bin ich doch!« (Ein Mord wird angekündigt, Kap. 11)
Die arme Dora Bunner, die eine eher törichte als boshafte Klatschbase ist, stirbt, weil sie ihre Zunge nicht im Zaum halten kann und zudem Miss Marple gestattet, diese Schwäche auszunutzen. Beim Morgenkaffee im Cafe »Zum Blauen Vogel« unterhalten sich die beiden über Rheumatismus, Ischias und Neuritis und kommen dann auf die Armut und die Rechtschaffenheit früherer Zeiten zu sprechen, auf Miss Blacklocks Besucher, die sie Doras Ansicht nach ausnutzen und sogar zu töten versuchen, und schließlich darauf, daß eine Lampe durch eine andere ersetzt wurde. Inmitten dieser Fülle von unverarbeiteten Informationen erscheint Miss Blacklock: »Kaffee mit Klatsch, Bunny?« fragt sie drohend. Später sagt Miss Marple: »Ich fürchte, daß unser Gespräch im Cafe Doras Schicksal besiegelt hat... Aber ich glaube, letzten Endes wäre es auf das gleiche hinausgelaufen ... Denn für Charlotte war das Leben nicht sicher, solange Dora Bunner lebte.« Wie Mrs. Price Ridley liefert Dora Bunner ein Beispiel für Klatsch, der gedankenlos ausgetauscht wird; ob aus Boshaftigkeit oder aus Dummheit, mißbrauchen doch beide die Informationen, die sie haben, und kommen zu falschen Schlüssen, die in Dora Bunners Fall zum Tode führen.
Die Romane Agatha Christies sind, wie alle Kriminalromane, voller falscher Fährten, die die Leserinnen auf die Probe stellen und hinters Licht führen und außerdem das Finale und das überragende Können der Detektivin hervorheben sollen. In der dörflichen Welt der Miss Marple-Romane ist das, was die Leute erfahren und von Gesprächen mit anderen, von Aussehen und Verhalten erinnern -der Stoff für Klatsch -, eine Quelle von Wahrheit und Unwahrheit, und eine gute Detektivin muß sich einen Weg durch widersprüchliche Beweismittel bahnen, um die Wahrheit aufzudecken. Agatha Christies Romane lassen nie einen Zweifel daran, daß es die Wahrheit gibt, doch wird auch vermittelt, daß sie von vielen Menschen -ob nun absichtlich oder nicht - verzerrt wahrgenommen wird. Das zeigt sich in der ersten Mordszene von Ein Mord wird angekündigt, denn die Worte, die der Schütze von sich gab, werden unterschiedlich wiedergegeben -je nach dem Charakter der erzählenden Person und danach, welche Detektivromane sie gelesen hat. Keine dieser Personen hat, wie wir später erfahren, zu diesem Zeitpunkt einen Grund zu lügen. Die sehr feminine Miss Murgatroyd hörte »Hände hoch, bitte«, während ihre eher männliche Freundin sagt, von »Bitte!« sei keine Rede gewesen; die romantische Mrs. Swettenham verstand »Geld oder Leben!«, während Patrick Simmons sich für »Die Hände hoch!« entscheidet und seine 'Schwester' Julia für »Pfoten hoch, Herrschaften!«
Die wichtigen Hinweise in dieser wesentlichen Szene von Ein Mord wird angekündigt, zu denen eine Tischlampe, eine Vase mit Veilchen und eine verschlossene Tür gehören, sind allen Beteiligten bekannt, und alle können daraus Schlußfolgerungen ziehen, was die meisten Romanfiguren auch tun; aber nur einige kommen der Wahrheit nahe, und lediglich eine, nämlich Miss Marple, deckt sie vollständig auf. Der parallel verlaufende detektivische Handlungsstrang, der beinahe zum Erfolg führt, ist derjenige, in dem Murgatroyd von Hinchliffe dazu gezwungen wird, sich die Ereignisse der Mordszene in Erinnerung zu rufen, und dabei wendet Hinchliffe Marple-ähnliche Methoden der Schlußfolgerung an. Diese amüsante Szene, in der Murgatroyd dazu aufgefordert wird, »die Holzwolle einzusetzen, die du dein Gehirn nennst«, wird kurz vor der Aufklärung durch einen Telefonanruf unterbrochen, mit dem Hinchliffe gebeten wird, einen Hund vom Bahnhof abzuholen. Als sie und Miss Marple später die ermordete Murgatroyd betrachten, sagt Hinchliffe: »Tn gewisser Hinsicht ist es meine Schuld, daß Murgatroyd dort draußen liegt. Ich habe ein Spiel daraus gemacht... Mord ist kein Spiel.' 'Nein', sagt Miss Marple, 'Mord ist kein Spiel.'« Doch natürlich ist Mord in diesen Büchern ein Spiel - allerdings eines, das nur eine sehr versierte Klatsch-Detektivin mit Erfolg spielen kann, wie der Dialog zeigt, der auf die Entdeckung von Murgatroyds Leiche folgt. Hinchliffe ist aufgrund von Murgatroyds letzten Worten an sie - »Sie war nicht da« - davon überzeugt, daß der Mörder eine von drei Frauen gewesen sein muß, entweder Mrs. Swettenham, Mrs. Easterbrook oder Julia Simmons. Aber Miss Marple gibt zu bedenken, daß es sehr wichtig sei, wie etwas gesagt und betont
werde, und als Hinchliffe einräumt, daß Murgatroyd sagte: »Sie war nicht da«, kann Miss Marple die Hinweise besser deuten als Miss Hinchliffe. Das Detektivspiel ist wie das Leben selbst: Wenn wir es falsch angehen, kann das zum Tod führen. Und wenn wir zulassen, daß Unwägbarkeiten des Lebens, wie die telefonische Aufforderung, einen Hund vom Bahnhof abzuholen, das Detektivspiel unterbrechen, kann auch das zum Tod und zum Scheitern als Detektivin führen.
Die Miss Marple-Bücher stecken voller rivalisierender Detektive, etwa der Pfarrer und Raymond West in Mord im Pfarrhaus, Jerry Burton in Die Schattenhand und die Schuljungen in Die Tote in der Bibliothek und 16 Uhr 50 ab Paddington. Meist sind die erwachsenen Detektive schwer von Begriff, ziehen voreilige Schlüsse, führen halbdurchdachte psychologische Erklärungen an (insbesondere Raymond West beherrscht dies meisterlich) und übersehen vieles, aber die Schuljungen - für die Agatha Christie eine Schwäche hat -schneiden um einiges besser ab. Wie der Pfarrer über seinen heranwachsenden Neffen sagt, sei in dessen Alter »eine Kriminalgeschichte eines der besten Dinge des Lebens ... Der Tod bedeutet einem Sechzehnjährigen sehr wenig«, und die Begeisterung und skrupellose Neugier der Schuljungen läßt sie zu nützlichen Hilfsdetektiven werden. In Die Tote in der Bibliothek findet der junge Peter Carmody einen wichtigen Fingernagel und bewahrt ihn auf, und in 16 Uhr 50 ab Paddington ziehen die zwei Jungen »ganz wie in den Detektivgeschichten« Handschuhe an und bringen einen wichtigen Briefumschlag zum Vorschein.
Am häufigsten führt natürlich die Polizei parallel zu Miss Marple Ermittlungen durch; schließlich ist es ihre Aufgabe, Verbrechen aufzuklären. Dabei gibt es Polizeibeamte, die mit Miss Marple zusammenarbeiten, sie respektieren und ihr vertrauen, wie etwa Inspektor Craddock und Sir Henry Clithering (der sich selbst als Miss Marples Watson bezeichnet), und solche, die mißtrauisch und gehässig sind wie Inspektor Slack, der alle Frauen ablehnt, insbesondere aber die »sich ständig einmischende alte Jungfer« Miss Marple. Slack ist eine mißmutige Version des komischen und unfähigen Polizisten, den Leserinnen und Autorinnen von klassischen Kriminalromanen so ins Herz geschlossen haben; zur Freude der Leserinnen zeigt sich seine Professionalität wesentlich weniger beeindruckend als die Fähigkeit der Amateurdetektivin. Sein großer Nachteil ist, daß er kein Talent zur Klatschbase hat; er kann nicht zuhören, und er handelt voreilig:
Inspektor Slack war stets mit Wonne bereit, sich in große Betriebsamkeit zu stürzen. In einem Auto davonsausen - Leute, die darauf brannten, ihm alles mögliche zu erzählen, grob zum Schweigen zu bringen - jedes Gespräch auf das absolut Notwendige beschränken -, das war für Inspektor Slack das Um und Auf. (Die Tote in der Bibliothek, Kap. 3)
In Mord im Pfarrhaus baut Inspektor Slack seine Lösung des Falles auf dem unmittelbaren Beweis eines Geständnisses auf: »Das war die Lösung - ein klarer Fall. Mr. Redding konnte es sozusagen nicht erwarten, gehängt zu werden.« Doch Miss Marple weist ihm nach, daß es leichtgläubig und bequem ist, die Äußerungen eines Menschen zu akzeptieren, ohne sie zu hinterfragen. Obwohl Inspektor Slack, wie der Pfarrer sagt, »mehr als jeder andere versuchte, seinen Namen zu widerlegen« [A.d.Ü.: »slack« bedeutet »lasch, bequem«], ist dieser Name eine treffliche Beschreibung seiner Person, denn weder ist er aufmerksam, wenn es darum geht, anderen Menschen zuzuhören und zu entschlüsseln, was sie eigentlich sagen, noch gibt er sich Mühe beim Zusammenfügen der wichtigen Informationen. In diesem Fall hat er zufällig recht - Laurence Redding ist ein Mordkomplize -, aber die Handlung muß noch einige Hürden nehmen, bevor diese Tatsache enthüllt wird, sich durch Bluff und Doppelbluff arbeiten, und es ist nicht Slack, der schließlich die Wahrheit an den Tag bringt, auch wenn er das Verdienst dafür in Anspruch nimmt. Die Polizeibeamten, die Miss Marple beim Aufspüren am erfolgreichsten Konkurrenz machen, sind diejenigen, die ihr am ähnlichsten sind. Das trifft etwa auf Chefinspektor Fred Davy in Bertrams Hotel zu, der »Vater« genannt wird:
Er war eine gemütliche, behäbige Erscheinung und besaß ein so wohlwollendes und freudliches Wesen, daß viele Verbrecher unangenehm überrascht waren, wenn sie entdeckten, daß er weniger jovial und leichtgläubig war, als sie gedacht hatten. (Bertrams Hotel, Kap. 4)
Vater sitzt herum, summt ein paar Schlagertakte und ißt gerne Muf-fins. Insbesondere hört er, im Gegensatz zu Slack, genau zu, wenn Leute ihm etwas sagen wollen, und genießt in gewissem Maße auch unbewiesene Gerüchte und Klatsch. Er besitzt eine kluge Passivität, die auch Miss Marple zu eigen ist, eine Fähigkeit, mit der es ihm gelingt, verschiedenste Informationen aus Menschen hervorzulocken, aufzunehmen und zu speichern, um sie im richtigen Augenblick zusammenzusetzen und das Rätsel des Verbrechens zu lösen:
»Es ist eigentlich komisch, wissen Sie«, fuhr er in einer geschwätzigen Art fort, wobei er wie ein Farmer aussah, der über sein Vieh und sein Land spricht, »jahrelange Erfahrung hat mich gelehrt, einer Sache nicht zu trauen, wenn sie zu einfach und logisch aussieht. Einfache Kausalzusammenhänge sind oft zu schön, um wahr zu sein ... in Wirklichkeit können die Dinge ganz anders liegen.« (Bertrams Hotel, Kap. 26)
In diesem Roman ist der Polizist kein Narr; auch wenn er sich gelegentlich so anhört oder so aussieht - groß, dick, kuhäugig, summend wie eine Hummel -, ist er doch scharfsinnig und logisch, wobei er in seiner Analyse die Aspekte berücksichtigt, die mit der Situation in Zusammenhang stehen, aber auch die eher impressionistischen Momente nicht vergißt, die den äußerlichen Eindruck bestimmen. In diesem Roman tritt Miss Marple eher als seine Vertraute und Helferin auf und nicht als die Architektin der Ermittlung wie etwa in Ein Mord wird angekündigt. Doch am Ende hat sie recht, wo er sich irrt - nicht bei der Entdeckung des Verbrechersyndikats, das Bess Sedgwick von Bertrams Hotel aus leitet und das Vater erfolgreich aufdeckt, sondern indem sie ahnt, daß an diesem Ort etwas Böses lauert, und indem sie den einzigen Mord vorhersagt, der in diesem Roman stattfindet:
»Ich bin froh, daß ich von hier fortgehe«, gestand Miss Marple mit leichtem Schaudern. »Ehe etwas passiert.« Chefinspektor Davy blickte sie neugierig an. »Was soll denn Ihrer Meinung nach geschehen?« fragte er. »Irgendeine Übeltat«, erwiderte Miss Marple. »Übeltat ist ein ziemlich starkes Wort ...«
»Sie halten es für zu melodramatisch? Aber ich habe einige Erfahrung. Ich bin nämlich - ziemlich oft - mit Mord in Berührung gekommen.«
»Mord?« Chefinspektor Davy schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Mordverdacht. Es geht hier nur um die nette, gemütliche Aushebung einer auffallend raffinierten Verbrecherbande.«
»Das ist nicht dasselbe. Mord - der Wunsch, einen Mord zu begehen - ist etwas ganz anderes. Es ist - wie soll ich mich ausdrücken? - es ist eine Verachtung Gottes.« Davy blickte sie an und sagte mit sanfter, beruhigender Stimme: »Es wird kein Mord stattfinden, Miss Marple.« (Bertrams Hotel, Kap. 20)
Kaum hat Chefinspektor Davy dies gesagt, wird ein Mord verübt, und zwar - wie sich herausstellt - von einer Person, die wie »ein Engel in einem Gemälde der frühen italienischen Meister« aussieht, von allen bemitleidet und für unschuldig gehalten wird. In diesem Roman laufen zwei verbrecherische Handlungsstränge parallel, und Chefinspektor Davy konzentriert sich zu zielstrebig nur auf den einen. Aber Miss Marple erkennt mit ihrem »trivialeren« Ansatz auch den zweiten, mörderischen Strang, der mit der Leidenschaft eines jungen Mädchens für einen skrupellosen Mann, den Geliebten ihrer Mutter, zusammenhängt. Chefinspektor Davy sieht ein, daß er und alle anderen in moralischer Hinsicht verglichen mit Miss Marple sehr naiv sind: »Zu viele nette Leute, die von Schlechtigkeit keine Ahnung haben. Im Gegensatz zu meiner alten Dame... Sie hat in ihrem langen Leben viel Erfahrung mit dem Bösen gehabt: sie hat Augen dafür, sie ist mißtrauisch, und sie zieht aus, um das Böse zu bekämpfen.« (Bertrams Hotel, Kap. 22)
Diese Bemerkung wiederholt, was in den anderen Romanen, oft von Polizisten, schon vielfach gesagt wurde, was die Frage nach Miss Marples grundlegender Einstellung gegenüber dem Leben und anderen Menschen aufkommen läßt. Bislang haben wir nur über solche Aspekte ihres Spürsinns gesprochen, die mit ihrer Rolle als kleine alte Dame in einem kleinen Dorf zusammenhängen. Aber in Romanen wie auch in der Realität leben viele Menschen in kleinen Dörfern und werden dort alt, ohne detektivische Fähigkeiten zu entwickeln. Abgesehen von Miss Marples klatschhaftem Interesse an Einzelheiten, das andere, insbesondere unverheiratete Frauen, mit ihr teilen, gibt es in ihrem Charakter auch Aspekte, die wir philosophisch nennen können und die ihr einen Vorsprung vor anderen Detektiven geben. Diese Aspekte sind ihr Glaube, daß die Menschheit schwach, irrend und manchmal böse ist, und ihre Überzeugung von der Unveränderlichkeit des menschlichen Charakters; beide Momente führen sie dazu, Analogien als vorrangiges Instrument bei der Ermittlung einzusetzen.
Bereits im ersten Roman Mord im Pfarrhaus wird Miss Marple als durchaus weltzugewandt vorgestellt. »'Mein lieber Pfarrer', sagte Miss Marple, 'Sie sind so weltfremd. Wenn man die menschliche Natur so lange beobachtet wie ich, dann, so fürchte ich, erwartet man nicht mehr allzu viel von ihr.'« Diese Ansicht zieht sich durch alle Romane, obwohl sie gelegentlich in abgeschwächter Form als Mitleid für die Dummheit der Menschen erwähnt wird: »... mir kommt es vor, als wären viele Menschen weder gut noch böse, sondern einfach sehr dumm« (The Thirteen Problems: »The Tuesday Night Club« [Der Dienstagabend-Club: »Der Dienstagabend-Club«]). Zur Dummheit der Menschen gehört auch, wie in den späteren Romanen immer deutlicher wird, das Böse. In Die Tote in der Bibliothek besitzt Miss Marple einen Verstand, »der die Abgründe menschlicher Schlechtigkeit erforscht hat«, und in Die Schattenhand (engl. 1942) weiß sie »mehr als jeder andere Mensch über die verschiedenen Arten menschlicher Boshaftigkeit«. In Das Geheimnis der Amseln (engl. 1953) ist der Pessimismus, den Agatha Christie ihrer »Tante Oma« entlehnte, bei Miss Marple bereits voll entwickelt, denn sie »glaubt immer an das Schlimmste. Traurig ist dabei, daß man das meistens mit vollem Recht tut.« In Das Schicksal in Person (engl. 1971) ist das Heitere früherer Romane wie Mord im Pfarrhaus verschwunden, und das Böse steigt auf wie ein Miasma oder der Knöterich, der das Grab der allzu geliebten Verity Hunt bedeckt: »Die Liebe ist etwas Entsetzliches. Sie ist dem Bösen ausgesetzt und kann eines der schlimmsten Dinge sein, die es gibt.«
Es ist das Leben in einem Dorf, das Miss Marple so zynisch werden ließ, und aus ihrer Erfahrung mit diesem »abgestandenen Tümpel« kann sie Schlußfolgerungen ziehen, die alle Lebensumstände betreffen. Die Parallelen zum Dorfleben bilden die Grundlage von Miss Marples Spürsinn. Zu Anfang von Mord im Pfarrhaus bemerkt sie, daß Colonel Protheroe, das Mordopfer, an Joe Buckneil von dem Pub »Zum Blauen Eber« erinnert - beide sind die »Sorte Mann, die sich eine falsche Vorstellung in den Kopf setzt und darin verrennt« -, und das ist die erste einer ganzen Reihe von Parallelen im Roman. Dr. Stone erinnert sie an eine Betrügerin, die vorgab, sie »vertrete die Sozialfürsorge«, und später an den Mann, »der sich als Gasableser ausgab« und »eine ziemlich gute Ausbeute machte«. Bei Lettice, Protheroes Tochter, muß sie an »die Tochter vom armen Elwell« denken, »so ein hübsches, zartes Mädchen, das versuchte, ihren kleinen Bruder zu ersticken«; das fehlende Geld aus der Kirchenkollekte ruft Erinnerungen an das Geld für den Ausflug der Chorknaben wach, das der Organist nahm - und so weiter. Einige der Parallelen sind irrelevant oder irreführend, falsche Fährten, die bei der abschließenden Aufklärung nicht beachtet werden. Doch was zur Wahrheit über den Mord führt, ist ein richtiges Lesen von Analogien, neben der Wachsamkeit gegenüber den Kleinigkeiten des Lebens. Gegen Ende von Mord im Pfarrhaus erklärt Miss Marple dem Pfarrer, es sei ihr Hobby, die menschliche Natur zu studieren. Da zur Aufklärung eines Verbrechens ein besonderes Verständnis für die menschliche Natur nötig ist und Motiv und Persönlichkeit dabei die ausschlaggebenden Faktoren sind, ist jemand wie Miss Marple zwangsläufig eine erfolgreiche Detektivin:
»... es ist schon immer eine Liebhaberei von mir gewesen, mich mit der Natur des Menschen zu beschäftigen. Sie hat so viele Spielarten - und ist so faszinierend. ... Zuerst teilt man die Leute in Gruppen ein, genauso wie Vögel oder Blumen: Gattung, Familie, Art. Manchmal macht man dabei natürlich Fehler, aber die werden im Lauf der Zeit immer seltener. Und dann stellt man sich selbst auf die Probe ...« (Mord im Pfarrhaus, Kap. 26)
In Die Tote in der Bibliothek ist Miss Marple »zu Ruhm gekommen durch ihre Fähigkeit, triviale Ereignisse im Dorf mit schwerwiegenderen Dingen auf eine Weise zu verbinden, daß letztere erhellt werden«. Als Miss Marple eine ihrer ausgefalleneren Parallelen zieht -»Tommy Bond ... und Mrs. Martin, unsere neue Schulrektorin. Sie ging, um die Uhr aufzuziehen, und ein Frosch sprang heraus« -, fragt eine der anderen Romanfiguren: »Ist die alte Dame ein bißchen wirr im Kopf?« Doch es ist gefährlich, die von Miss Marple favorisierte Methode der Analogisierung so einfach abzutun, wie der Fragesteller - der sich schließlich als der Mörder erweist - zu seinem eigenen Nachteil feststellen muß.
Im Grunde sind Miss Marples Parallelen Gleichnisse und Metaphern, in denen Menschen mit anderen Menschen innerhalb einer relativ geringen Bandbreite von Typen verglichen werden. Alle Mitglieder der Gemeinde werden in Kategorien eingeordnet, wobei die ungewöhnlichen, skurrilen oder gesellschaftlich bedingten Aspekte der menschlichen Natur zugunsten der Vorhersagbarkeit des Charakters vernachlässigt werden können:
»Ich muß sagen«, erklärte Sir Henry bedrückt, »die Art, wie Sie uns alle über einen Leisten schlagen, ist mir sehr peinlich.« Miss Marple schüttelte traurig den Kopf. »Die Menschen sind überall so ziemlich gleich, Sir Henry.« »... Ich möchte nicht persönlich werden, aber haben Sie vielleicht für meine Wenigkeit auch schon einen Doppelgänger in Ihrem Dorf entdeckt?« »Aber gewiß! Briggs.« »Wer ist Briggs?«
»Er war der Obergärtner in Old Hall. Der beste, den sie je hatten.« (Die Tote in der Bibliothek, Kap. 8)
Damit wird den Leserinnen eines Marple-Romans zu verstehen gegeben, daß Unterschiede in bezug auf Wohlstand und soziale Schicht (allerdings vielleicht nicht in Alter und Geschlecht) wenig bedeuten, und daß Menschen von jedem, der genügend Erfahrung mit den begrenzten Spielarten der menschlichen Natur besitzt, wie Zeichen gelesen werden können. Auch wenn der Zufall, die Umwelt und das Unerwartete das Wesentliche gelegentlich verschleiern, wird durch die Kontrolle, die Miss Marple letzten Endes über den Handlungsablauf und die Beteiligten ausübt, eine grundlegende metaphorische Beziehung aufrechterhalten, in der Menschen sicher typisiert werden und chaotische oder unberechenbare Elemente sich nicht lange behaupten können. Darin unterscheidet sich Miss Marple von Hercule Poirot, dessen kleine graue Zellen aus einer Reihe von Ereignissen eine Struktur bilden. Das macht Miss Marple zwar auch, doch zudem verwendet sie etwas, das sie »besonderes Wissen« nennt - ein bereits bestehendes Muster, entwickelt aus bestimmten Typen im Dorf, in das sie neue Charaktere einordnet. Während Hercule Poirot als Detektiv rationalistisch vorgeht, ist Miss Marple strukturalistisch: Da sie vor ihrem geistigen Auge eine Struktur der Menschentypen sieht, die sie aus der Beobachtung ihrer dörflichen Gemeinschaft kennt, braucht sie lediglich darauf zu warten, daß ihr weitere Zeichen begegnen, die auf solche Typen hindeuten. In diesem deterministischen Menschenbild können Personen und Charaktere bestimmten Kategorien zugeordnet werden, und selbst wenn das nicht genügt, um das Verbrechen aufzuklären, ist es doch die unabdingbare Voraussetzung, um die dabei auftauchenden Indizienbeweise zu einem sinnvollen Ganzen zu fügen. Dies wird in Agatha Christies letztem Marple-Roman Das Schicksal in Person, dem bedrückendsten und moralischsten ihrer Romane, deutlich zu verstehen gegeben:
»Ich würde mich nicht als gute Menschenkennerin bezeichnen«, meinte Miss Marple. »Ich würde nur sagen, daß bestimmte Menschen mich an andere Menschen erinnern, die ich kannte, und daß ich deshalb davon ausgehen kann, daß auch ihre Handlungen eine gewisse Ähnlichkeit haben.« (Das Schicksal in Person, Kap. 11)
In diesem Roman erinnert die Mörderin weniger an ein leibhaftiges Vorbild aus St. Mary Mead, als vielmehr an Klytämnestra aus Agamemnon. Die Menschentypen lassen sich durch die Jahrhunderte zurückverfolgen und sind in der großen Literatur ebenso verewigt wie in Miss Marples Gedächtnis. In Ruhe unsanft schreit Gwenda während einer Aufführung von Die Herzogin von Malfi laut auf bei den Zeilen: »Bedeckt ihr Antlitz. Trüb werden meine Augen. Sie starb jung«, weil sie dadurch an den Tod ihrer Stiefmutter erinnert wird, die wie die Herzogin von einem »teuflischen und gemeinen« Mann ermordet wurde. Der wiederum erinnert an Mr. Barrett aus der Wimpole Street, eine Art Mann, dessen Zuneigung »besitzergreifend und ungesund« wird.
Aufgrund der Überzeugung, daß der Charakter unveränderlich und typisierbar ist, verachtet Miss Marple (und durch sie auch Agatha Christie) die moderne Auffassung, daß Umwelteinflüsse menschliche Vergehen entschuldigen könnten:
»Wenn Sie von mir erwarten, daß ich Mitgefühl habe oder Bedauern, eine traurige Kindheit geltend mache oder schlechten Einflüssen die Schuld gebe, wenn Sie von mir erwarten, daß ich Tränen vergieße über Ihren jungen Mörder, dann muß ich Sie enttäuschen. Ich mag keine bösen Menschen, die böse Dinge tun.« (Das Schicksal in Person, Kap. 12)
In Das Schicksal in Person dient Professor Wanstead als Vertrauter Miss Marples, ein Pathologe und Psychologe, der sich besonders für »die verschiedenen Arten der Gehirne von Kriminellen« interessiert. Seine Ansichten sind vielleicht noch extremer als die Miss Marples:
»Sie können sich gar nicht vorstellen, was ich in meinem Beruf von Leuten zu leiden habe, die jammern und heulen und alles auf irgendein Ereignis in ihrer Vergangenheit schieben ... Die Übeltäter sind zu bedauern, ja, sie sind zu bedauern, wenn ich das so sagen darf, wegen der Erbanlagen, mit denen sie geboren wurden und über die sie keine Kontrolle haben.« (Nemesis [Das Schicksal in Person], Kap. 12)
Der Charakter ist genetisch bestimmt, und das bedeutet, daß einige Menschen eine Veranlagung zum Mörder haben, wenn die Umstände entsprechend und die Verlockungen stark genug sind; genauso gibt es Menschen, die vom Typ her nicht morden, auch wenn sie in anderer Hinsicht unehrenhaft sein mögen. Ein solcher Mensch ist Michael Raphiel in Das Schicksal in Person: Zwar wird er aufgrund von belastenden Aussagen wegen Mordes verurteilt, doch Professor Wanstead »typisiert« ihn, was unter anderem »eine ganze Reihe körperlicher Untersuchungen« einschließt, und erklärt ihn schließlich für unschuldig an dem Verbrechen. Selbst zunehmende Senilität oder »Absonderlichwerden« kann die grundlegende Persönlichkeit nicht überlagern:
»Manchmal gibt man einfach all seinen Besitz weg ... Sehen Sie, daß heißt, daß Sie zwar absonderlich sein mögen, aber im Grunde eine gute Veranlagung haben. Aber natürlich, wenn man absonderlich ist und eine schlechte Veranlagung hat - nun ja, dann passieren solche Dinge.« (16 Uhr 50 ab Paddington, Kap. 25)
Das alles gehört zur Botschaft von gesundem Menschenverstand und Sicherheit, die in klassischen Kriminalgeschichten vermittelt wird, in denen die Komplexität und die Launen der menschlichen Persönlichkeit und Existenz auf eine Anzahl vorherbestimmter Typen reduziert werden, auf eine Frage der Erbanlagen. Wenn dies willkürlich und allzu vereinfacht erscheint - Menschen, die uns direkt in die Augen blicken, sind oft Lügner, Frauen tragen stets Handtaschen (und wenn sie es nicht tun, führen sie etwas Böses im Schilde), Pfarrer sind immer weltfremd, Colonels sind barsch und Dienstmädchen näseln -, so liegt es doch genau im Wesen der klassischen Kriminalliteratur, Vorurteile zu nähren und dabei zu behaupten, Wahrheit und Gerechtigkeit auf der Spur zu sein. Professor Wanstead steht im Gegensatz zu jenen Psychiatern in den Miss Marple-Romanen, die gewissermaßen der Denkrichtung Laings nahestehen und die offenbar häufig unfähig sind, verrückt von böse zu unterscheiden. In Fata Morgana entgeht es dem Psychiater, daß Edgar Lawson bloß vortäuscht, schizophren zu sein, und auf ähnliche Weise führt Dr. Penrose in Ruhe unsanft Hallidays durch Drogen herbeigeführte Überzeugung, er habe seine Frau getötet, auf eine »untergründige kindliche Fixierung« zurück. Anstatt das zu tun, was Miss Marple stets empfiehlt - zuerst die einfachste Erklärung in Betracht zu ziehen, nämlich, daß die Frau wirklich ermordet wurde -, schlägt der Psychiater den irrigen Freudschen Pfad ein, den sogar der Patient selbst zurückweist: »Ich kann mit dem hochgestochenen Blödsinn nichts anfangen. Ob ich meine Mutter geliebt habe? Ob ich meinen Vater gehaßt habe? Ich glaube kein Wort davon. Ich gehöre vor Gericht und nicht in die Klapsmühle.« (Kap. 10) Damit wird nicht nur die moderne Psychiatrie auf den Arm genommen, es ist auch ein Beispiel dafür, wie der klassische Kriminalroman sein Revier des logischen Spiels gegen den Einfluß Freudscher Theorien des Irrationalen und Unbewußten verteidigt. Als Gwenda in Ruhe unsanft befürchtet, verrückt zu werden, erklärt Miss Marple ihre unheimlichen Erlebnisse damit, daß sie durch eine tatsächliche Erinnerung hervorgerufen wurden, mithin wirklich stattfanden. Der eitle und dumme Colonel Easterbrook in Ein Mord wird angekündigt ist derjenige, der den psychologischen Ansatz billigt: »das ist das einzig Mögliche heutzutage... man muß den Kriminellen verstehen.« Seiner Theorie nach leidet Rudi Scherz an einem Minderwertigkeitskomplex, den er zu überdecken versucht, indem er sich wie ein Filmgangster aufführt: »... klar wie Kloßbrühe«, sagt der Colonel. Als Theorie mag das auch stimmen, doch als Mittel zum Aufdecken der Wahrheit vernachlässigt es Beobachtung, Schlußfolgerungen und ein Wissen um die Grundtypen der menschlichen Natur und der menschlichen Motive.
Die Miss Marple-Romane reagieren mit konservativer Verärgerung auf die neuen psychologischen Theorien, weil diese dazu neigen, das Böse zu leugnen und den Kriminellen zu entschuldigen, und weil sie die logischen Grundlagen der Detektivgeschichten dieser Art bedrohen. Wenn die Menschen nicht mehr kategorisiert werden können, wenn Zeichen bedeutungslos sind und Umstände sich nicht zu einem Muster fügen lassen, besteht die Gefahr, daß der Verbrecher nicht nur unentdeckt und unbestraft bleibt, sondern auch unbekannt und unerkennbar ist. Dadurch wird die Möglichkeit verringert, Fremdes aus der Gesellschaft zu entfernen, und die Gemeinschaft ist der Veränderung und dem Verfall von innen heraus preisgegeben.
Trotzdem ist Agatha Christies Haltung gegenüber der modernen psychiatrischen Theorie und Praxis nicht ganz eindeutig. So läßt sie eine ihrer Figuren sagen: »Ich habe die Nase voll von dem ganzen psychologischen Jargon, der heute auf alles mir nichts, dir nichts angewendet wird - aber wir kommen nicht darum herum«, und in ihren Romanen und ihrer Autobiographie kehrt sie häufig und mit Leidenschaft auf die Frage zurück, was die Ursache von Schlechtigkeit ist und wie mit ihr umgegangen werden soll. Das ist eine beunruhigende und ungelöste Frage, und Agatha Christies Interesse daran wird in späteren Romanen immer vielschichtiger. Zwar sagt sie in ihrer Autobiographie, sie habe »größeres Interesse für den Geschädigten als für den Kriminellen« (S.444), doch das kann wohl kaum der Wahrheit entsprechen; die Opfer in den letzten zwei Marple-Romanen, Helen in Ruhe unsanft und Verity in Das Schicksal in Person, sind im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen unschuldige und liebenswerte Menschen, doch im Mittelpunkt der Romane stehen die Motive (nicht Habgier, sondern Liebe) derer, die sie ermordeten oder hätten ermorden können. Was Agatha Christie interessiert, ist die Kriminalität und wie wir damit umgehen können, wenn sie entdeckt wird. Einer ihrer Vorschläge in der Autobiographie lautet, jene, »die angefault sind von Grausamkeit und Haß ... in ein großes weiträumiges Land [zu verbannen], nur von primitiven Menschenwesen bevölkert, wo die Rechtsbrecher in einer einfacheren Umgebung leben können« (S.443). Ihr Denken scheint von einer Evolutionstheorie über die Entwicklung des menschlichen Charakters bestimmt - »Der schlechte Mensch von heute könnte der erfolgreiche Mensch der Vergangenheit gewesen sein« (ebd.) -, doch es ist eine eugenische Evolution: »Vielleicht gibt es auch einmal einen operativen Eingriff, um die Schlechtigkeit zu heilen ... der Tag mag kommen, da man imstande ist, die Träger unserer Erbanlagen umzugruppieren oder unsere Zellen zu verändern« (S.444). Diese Vision mag wenig verlockend erscheinen, paßt aber zu Miss Marples Auffassung, das menschliche Leben sei ein abgestandener Tümpel und der Detektiv eine Art Darwinscher Beobachter, der unter einem Mikroskop das wimmelnde Leben in einem Wassertropfen untersucht.
In ihrer Autobiographie verrät Agatha Christie allerdings auch ein Unbehagen über den Determinismus ihres eigenen Denksystems. Nachdem sie über das Böse und die Schlechtigkeit gesprochen hat, folgt ein seltsames Eingeständnis, daß eine Schriftstellerin, insbesondere eine von Kriminalgeschichten, wohl verrückt wirken muß: »Man schlendert die Straße entlang ... spricht zu sich selbst, hoffentlich nicht zu laut -, rollt ausdrucksvoll die Augen und merkt plötzlich, daß die Leute einen anstarren und ängstlich zur Seite weichen - sie halten einen offenbar für verrückt« (S.444f.). Das Gegenüberstellen von evolutionärer Vererbungslehre einerseits und Rationalismus und Spiel im Kriminalroman andererseits ist in der Tat beunruhigend und widersprüchlich: Wenn alles biologisch determiniert ist, was ist dann mit dem Detektiv, dem Vertreter der menschlichen Autonomie, des freien Willens und der logischen Autorität? Ist auch er/sie nichts anderes als ein Typus, eine genetisch determinierte Ziffer in einem semiotischen System?
Im Gegensatz zu späteren Kriminalschriftstellern verfolgt Agatha Christie diesen Widerspruch nicht bis zu seinem dekonstruktiven Ende, doch in ihren späten Marple-Geschichten kommen eine Klaustrophobie und ein Defätismus zum Ausdruck, die gar nichts mit der Fröhlichkeit und dem Selbstbewußtsein ihrer frühen Werke gemein haben. Während sich Agatha Christies Gefühl für die Existenz der Bösen im Lauf der Romane verstärkt, entwickelt sich Miss Marples Charakter weiter, oder vielleicht sollten wir eher sagen, daß die Art ihrer Macht sich verändert und erweitert. Vielleicht besteht die Lösung des Problems der menschlichen Schwäche darin, den Detektiv zu einem etwas mehr als normalen Menschen zu machen, ihn wenn nicht eben gottähnlich, dann doch mit einigen Zügen der Göttlichkeit auszustatten. »Es ist wie ein Wunder«, sagt Watson häufig über Sherlock Holmes mit seinem detektivischen Spürsinn, und es hat den Anschein, als konnte auch Agatha Christie letztlich nicht der Versuchung widerstehen, Miss Marple ähnlich außergewöhnliche detektivische Eigenschaften zu verleihen.
Ihre Apotheose findet ganz allmählich statt. In Mord im Pfarrhaus wird sie zwar als »die furchtbare Miss Marple« beschrieben, und der Pfarrer glaubt, daß ihr »nur wenige Dinge verborgen bleiben«, doch ihre ehrfurchtgebietende Gabe beschränkt sich auf psychologische Klugheit und ein Talent, Ereignisse sachlich zu beobachten; wie der Pfarrer sagt: »Miss Marples Allwissenheit findet immer eine völlig normale und einleuchtende Erklärung.« Die Bodenständigkeit ihres Spürsinns findet sich auch in den folgenden Romanen, bis in Das Geheimnis der Amseln ein neuer Ton angeschlagen wird; in diesem Roman ist Miss Marple nicht anwesend, wenn sich die Morde ereignen, sondern kommt eigens angereist, um zu ermitteln, und bemüht sich explizit, den »bösen Mörder« zu finden, weil »die bösen Menschen nicht unbestraft bleiben dürfen«. Wie Inspektor Neele klar wird, hat Miss Marple die Rolle der Rächerin übernommen: »Insgeheim dachte er, daß Miss Marple so gar nicht dem üblichen Bild der rächenden Furie entsprach. Trotzdem, genau dafür hielt er sie.« In Das Geheimnis der Amseln deutet sich an, daß der »sehr schlichte und, ich fürchte, sehr weibliche Weg«, den Miss Marple bislang eingeschlagen hatte, jetzt aufgegeben wird zugunsten einer aktiveren und rächenderen Rolle, bei der auch überirdische Kräfte zum Tragen kommen. Als sie in Yewtree Lodge eintrifft, werden zwar ihr rosiger Teint und ihre Vergeßlichkeit erwähnt, aber auch ihre aufrechte Haltung und ihr Ausdruck von Mißbilligung. Auf ihrem Hut steckt eine Vogelfeder. Sie erscheint wie eine Mischung aus einer strengen Gouvernante und einem übernatürlichen Wesen, das gerade zur Erde herabgestiegen ist, eine Göttin, die Gerechtigkeit sucht, oder eine geflügelte Furie. Was sie zum Einschreiten veranlaßte - so sagt sie auf der letzten Seite -, sind Mitleid und Wut über den Mord an einem schwachen Mädchen, das früher einmal bei ihr arbeitete, und ihre Reaktion am Ende ist Triumph, weil der Mörder vor den Richter gebracht wird.
Zeitgleich mit dieser umfassenderen Dimension von Miss Marples Rolle wird auch ihr Stricken stärker hervorgehoben. Was anfangs lediglich eine harmlose, altjüngferliche Beschäftigung ist, wird zu einem Motiv nicht nur für ihre klatschhafte, weibliche Art des Auf-spürens, sondern auch für ihre Rolle als Schicksalsgöttin, eine Frau, die am Los der Menschen strickt. In Karibische Affäre kann Mr. Rafiel kaum glauben, daß Nemesis ihm in »flauschiger rosafarbener Wolle« erscheint, doch er akzeptiert den Namen, den sie sich gegeben hat, und in Das Schicksal in Person tritt er von jenseits des Grabes auf sie zu und fordert sie dazu auf, ein altes Unrecht zu vergelten.
»Ich sehe Sie vor mir, wie Sie in einem Sessel sitzen, einem bequemen Sessel ... und wahrscheinlich verbringen Sie den Großteil Ihrer Zeit mit Stricken. Ich sehe Sie vor mir wie damals in jener Nacht, als Ihre Not mich aus dem Schlaf aufschreckte, in einer Wolke aus rosafarbener Wolle ... Wenn Sie lieber weiterstricken wollen, dann ist das Ihr gutes Recht. Wenn Sie lieber der Gerechtigkeit dienen wollen, dann hoffe ich, daß die Sache zumindest interessant für Sie wird.« (Das Schicksal in Person, Kap.2)
Mr. Rafiel entgeht hier, daß Stricken und das Eintreten für Gerechtigkeit nicht unvereinbar sind; tatsächlich ist das eine Insignie des anderen, und was als Sinnbild einer Frau als Detektivin begann - ein Muster aus handgestrickten Beweisen zu herzustellen -, ist schließlich das Kennzeichen eines Wesens, das nicht direkt übernatürlich ist, das aber doch die Macht von Gesetz und Gerechtigkeit darstellt. Und das ist das Schicksal all jener, die sie übertreten, die einen Mord begehen, was in Miss Marples Worten eine Sünde gegen Gott ist. »'[Der Mörder] wurde gehängt', entgegnete Miss Marple knapp. 'Und das geschah ihm recht. Ich habe es niemals bereut, daß ich dazu beigetragen habe, diesen Mann vor den Richter zu bringen. Ich habe nichts übrig für diese modernen humanitären Skrupel wegen der Todesstrafe'« (The Thirteen Problems: »A Christmas Tragedy« [Der Dienstagabend-Club: »Eine Weihnachtstragödie«]).
Moderne humanitäre Skrupel werden in Mord im Pfarrhaus von Dr. Haydock vertreten, dessen Überzeugung, daß »der Tag kommen wird, an dem wir schaudernd zurückdenken, daß wir Kriminelle gehängt haben«, auf die Unsicherheit zurückgeht, ob es Gut und Böse überhaupt gibt:
»Angenommen, das wäre alles eine Frage der Drüsensekretion. Die eine Drüse arbeitet zu viel, die andere zu wenig - und so entsteht der Mörder, der Dieb, der Gewohnheitsverbrecher ... Ich glaube wirklich, daß das Verbrechen ein Fall für den Arzt ist, nicht für den Polizisten und auch nicht für den Pfarrer.« (Mord im Pfarrhaus, Kap. 14)
Auch wenn der Gegenstandpunkt - »Heutzutage gibt es immer einen guten Grund für jede schmutzige Tat, die begangen wird ... dieser sentimentale Quatsch ärgert mich« - vom unsensiblen und dogmatischen Colonel Melchett vertreten wird, ist doch deutlich, daß humanitäre Skrupel leicht zu erschüttern sind, wenn sie auf die Probe gestellt werden:
Da durften wir nun unmittelbar miterleben, was Miss Marple mit dem Unterschied zwischen Theorie und Praxis gemeint hatte. Haydock hatte seine Meinung um 180 Grad verändert, und ich glaube, er hätte den Kopf [des Mörders] am liebsten auf einem Silbertablett gesehen ... »Wenn die Sache stimmt«, erklärte er, »können Sie sich auf mich verlassen. Der Kerl verdient es nicht zu leben!« (Mord im Pfarrhaus, Kap. 31)
Die bereitwillige Gehilfin von Lawrence Redding beim Mord an Colonel Protheroe und dem versuchten Mord an Hawes, dem Vikar, ist Anne Protheroe, die Frau, die der Mörder nach vollübtem Verbrechen heiraten will. In Agatha Christies Romanen werden die Morde oft von Frauen begangen - in der Hälfte der Marple-Romane sind die Mörder Frauen, entweder allein, wie in Ein Mord wird angekündigt, Mord im Spiegel, Bertrams Hotel und Das Schicksal in Person, oder in mörderischer Zusammenarbeit mit anderen, wie in Mord im Pfarrhaus und Die Tote in der Bibliothek. Statistisch gesehen ist dies nicht repräsentativ, denn Frauen begehen weitaus seltener Morde als Männer. Cora Kaplan sieht diese Vorliebe für weibliche Verbrecher als einen Aspekt von Agatha Christies Anti-feminismus; wie die anderen Krimi-Königinnen bereitet es ihr Vergnügen, rachsüchtig die ehrgeizige und sexuell manipulierende Frau als große Bedrohung der festgefügten Gesellschaft darzustellen, welche die konservative Ideologie der Romane zu bewahren sucht. Kriminalautorinnen, so Cora Kaplan, sind im allgemeinen »schlimmstenfalls explizit antifeministisch und bestenfalls höchst ambivalent gegenüber der Sprengung traditioneller Geschlechterbeziehungen« {An Unsuitable Genre for a Feminist, 1986, S.18). Sicher, in den Romanen Agatha Christies wird die Ehe als Institution nie in Frage gestellt, und mehrere Miss Marple-Geschichten enden - zeitgleich mit (und in manchen Fällen als Ergebnis) der Aufdeckung des Mörders - mit einer schicklichen Eheschließung: in 16 Uhr 50 ab Pad-dington willigt Lucy Eyelesbarrow ein, Bryan zu heiraten, in Die Tote in der Bibliothek heiratet Adelaide Hugo, und in Mord im Pfarrhaus erwarten der seit kurzem verheiratete Pfarrer und seine Frau ein Kind. In all diesen Fällen wurde der Mord von Menschen begangen, die die eheliche Verbindung mißbrauchten, um zu Reichtum oder sozialem Status zu gelangen, und diese anrüchigen Partnerschaften dienen in den Romanen als Folie für die tugendhaften Ehen. Ein gutes Beispiel ist die Mörderin in Die Tote in der Bibliothek, die selbst heiratete, um durch mögliche Erbansprüche zu Wohlstand zu gelangen. Sie ermordet eine Person, von der sie befürchtet, sie könne die Zuneigung des künftigen Wohltäters gewinnen. Als der geheimnisvolle Mord schließlich geklärt ist, hinterläßt der geläuterte Wohltäter das Geld dem rechtmäßigen Erben, seinem Enkel. Es ist, als hätte die falsche und mörderische Ehe der Gesellschaft, die durch sie manipuliert werden sollte, einen notwendigen Schock versetzt und auf diese Weise die Menschen an ihre Pflichten gegenüber ihrer Familie und ihrer Gesellschaftsschicht erinnert. In gewisser Hinsicht ist die Gesellschaft besser, stärker und ihrer traditionellen Werte sicherer als vor dem Mord.
Bei Frauen, die im Alleingang handeln, geht es aber nicht mehr nur um eine zielstrebige Frau, die ihre sexuelle Anziehungskraft dafür einsetzt, um mit einem Mann eine kriminelle Partnerschaft einzugehen und Wohlstand und Ansehen zu gewinnen. In Ein Mord wird angekündigt macht Habgier eine Frau zur Mörderin, doch diese Habgier kann nur im Zusammenhang mit den jahrelang erlittenen Entbehrungen und mit der Ungerechtigkeit des Lebens, die ihr Jugend und Glück raubte, verstanden werden. In Mord im Spiegel geht es um die Rache einer Schauspielerin an einer Frau, die sie früher aus Nachlässigkeit mit Röteln ansteckte und dadurch an dem ungeborenen Kind der Schauspielerin einen bleibenden Gehirnschaden verursachte. In Bertrams Hotel mordet eine unmoralische junge Frau, weil sie von einem Mann sexuell besessen ist und ihn nur mit Geld an sich binden kann. In Das Schicksal in Person gehen die Morde auf die übertrieben besitzergreifende Liebe einer Frau zu ihrer Adoptivtochter zurück und auf Eifersucht auf den Liebhaber der Tochter. Diese Detektivgeschichten sind eher psychologische Mordstudien, während die Partnerschaftsromane, etwa Mord im Pfarrhaus und Die Tote in der Bibliothek, Kriminalerzählungen über gesellschaftlichen Aufstieg und Eigentumsverhältnisse sind, in denen der Psychologie der Mörder wenig Beachtung geschenkt wird. Die Vorstellung mag verlockend erscheinen, daß die Charakterzeichnung einer eigenständig handelnden Mörderin Agatha Christie zu größerer psychologischer Komplexität veranlaßte und sogar ihr Mitgefühl bei der Beschreibung solcher Gestalten wachrief. In diesen Detektivgeschichten werden Motive und Charaktere der Mörderinnen und die Verlockungen, denen sie - oftmals allein und auf sich gestellt - ausgesetzt sind, beschrieben. Das gleiche Thema behandelte Agatha Christie auch in ihren Mary Westmacott-Romanen. Das unvollendete Porträt (engl. 1934) erzählt von einer Frau, die verzweifelt ist, weil sie von dem verantwortungslosen Mann, den sie liebt, verlassen wurde; in Ein Frühling ohne dich (engl. 1944) geht es um die Identitätssuche einer Frau in mittleren Jahren, die in der Wüste gestrandet ist und nun über ihr besitzergreifendes und selbstherrliches Verhalten gegenüber ihrer Familie nachdenkt; Thema von Sie ist meine Tochter (engl. 1952) ist eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung. Die autobiographischen Aspekte in diesen Westmacott-Romanen finden ihre Negativprojektion in den Gestalten der Mörderinnen in Agatha Christies Detektivromanen, zum Beispiel in den Frauen in Bertrams Hotel, Ein Mord wird angekündigt und Das Schicksal in Person.
Inmitten all dieser Frauenkriminalität stellt Miss Marple das Gegenstück des weiblichen Gewissens und weiblicher Vernunft dar. Dazu ist sie in der Lage, weil sie als ältere Jungfer »außerhalb der sexuellen, familiären und wirtschaftlichen Verstrickungen steht, die das Leben der meisten Mitglieder einer Gemeinschaft bestimmen« (Cora Kaplan, An Unsuitable Genre fora Feminist, 1986, S.18). Cora Kaplan weist darauf hin, daß dieser Abstand zur Leidenschaft nur dazu dient, »die zerstörerische Macht der weiblichen Sexualität in der Bevölkerung insgesamt« zu betonen. Allerdings trifft die Abkehr von den Leidenschaften auf die meisten Detektive, ob männlich oder weiblich, zu, wie Sherlock Holmes, Hercule Poirot und überwiegend sogar Marlowe beweisen. Daraus läßt sich eher schließen, daß das zur Ermittlung erforderliche logische Vorgehen durch jedes Gefühl außer Jagdfieber und Gerechtigkeitsstreben entschärft und verzerrt wird. Zumindest in klassischen Detektivgeschichten ist der/die verliebte Detektivin nicht so erfolgreich, wie er/sie sein könnte, wie sich etwa bei Dorothy L. Sayers' Harriet Vane und Peter Wimsey zeigt. Interessant ist dabei, daß sich Agatha Christie nur bei einer älteren Frau Distanz und Vernunft vorstellen konnte; junge Frauen, so vernünftig sie auch sein mögen, erliegen letztlich ihren Gefühlen, wie etwa Lucy Eyelesbarrow in 16 Uhr 50 ab Paddington, oder sie sind zu stark in ihre Familie eingebunden, wie Bunch Har-mon in Ein Mord wird angekündigt oder die verletzliche und willensstarke Gwenda in Ruhe unsanft. Gwenda ist diejenige junge Frau in den Miss Marple-Büchern, die sich am meisten detektivisch betätigt und damit an die Detektivin in Agatha Christies Geschichten mit Tommy und Tuppence erinnert. Aber sowohl Gwenda als auch Tuppence haben männliche Partner, die sie beschützen und ihnen Halt geben. Wenn es schon eine alleinstehende Detektivin gibt, dann muß sie eine alte Dame sein.
Weil sie eine alte Dame ist, spielt sich Miss Marples detektivische Arbeit vorwiegend im Sitzen ab; nur sehr selten unternimmt sie Reisen oder wird körperlich aktiv. Es ist ein Lehnstuhl-Spürsinn in mehrerer Hinsicht: Miss Marple führt die Ermittlungen von ihrem Lehnstuhl aus durch, und wir lesen davon, während wir selbst im Lehnstuhl sitzen. Dadurch können wir Parallelen ziehen zwischen ihren Ermittlungen und unserer Lebensweise mit der vertrauten Umgebung von Wohnzimmer, Garten, den kleinen Geschäften, Besuchern zum Tee und all den üblichen häuslichen Utensilien des Alltags (der Mittelschichten). Miss Marple hilft uns nicht nur, den Mörder im Roman zu entdecken, sondern auch unsere eigene Welt im Roman zu entschlüsseln - oder zumindest eine Welt, die ihr relativ ähnlich ist. Die Miss Marple-Romane sind Völksmärchen über das Provinzleben im 20. Jahrhundert, und Miss Marple selbst ist in diesen Erzählungen das leitende Genie, die gute Fee und die Führerin. Die typische Handlung ihrer Romane ist deshalb eine Abenteuergeschichte für die britische Leserin mittleren oder höheren Alters, die der Mittelschicht angehört, einen Haushalt leitet und mehr oder minder an das Haus gebunden ist. Die Tote in der Bibliothek ist ein klassisches Beispiel für eine solche Abenteuergeschichte.
Sie beginnt mit einem Traum - Mrs. Bantrys Traum von einer Blumenausstellung -, und das gibt der Geschichte ein gewisses phantastisches Element; wir betreten eine verlockende Scheinwelt. Das erinnert an den »Es war einmal«-Anfang von Mord im Pfarrhaus, den der Pfarrer erzählt. Dennoch lassen sowohl der Inhalt des Traums (ein erster Preis für ihre Wicken) als auch Mrs. Bantrys Nachdenken über ihre allmorgendliche Routine auf eine sichere, geordnete und wohlhabende Welt schließen, die nicht zu weit entfernt ist von dem, was die Leserin gern für die Wirklichkeit halten möchte. In diese Welt bricht dann eine Herausforderung ein (wie es meistens der Fall ist, basiert diese auf Klassenkonflikten und sexueller Bedrohung) in Gestalt der Leiche einer erwürgten, blonden jungen Frau aus der Arbeiterklasse, die in der Bibliothek aufgefunden wird. Daraufhin sammeln sich rasch die Kräfte des Widerstands -die falschen (die Polizei) und die richtigen (Miss Marple). Und an diesem Punkt setzt der detektivische Vorgang ein; mehrere Hinweise werden gestreut, scheinbar zufällige Informationen, die in Wirklichkeit wesentlich für die Aufklärung sind, aber nur Miss Marple nimmt sie wahr. Als sie die Leiche sieht, sagt sie: »Ein wenig erinnerte sie mich an Mrs. Chettys Jüngste - Edie, weißt du -, aber ich glaube nur, weil dieses arme Mädchen auch Nägel kaute und weil ihre Vorderzähne ein wenig vorstehen. ... Edie liebte auch diese sogenannte billige Eleganz« (Die Tote in der Bibliothek, Kap. 1). Dann tritt die Handlung in eine neue Phase ein, während der drei weitere Gruppen von Menschen eingeführt werden: die Tänzer und Tänzerinnen im Majestic Hotel (Josie und Raymond), der Filmregisseur Basil Blake und seine Frau sowie die Familie Jefferson. Zwei dieser Gruppen sind Eindringlinge in die wohlhabende Welt, die durch die Bantrys verkörpert wird - Basil Blake als Bohemien, die Tänzer als sozial aufsteigende Möchtegern-Nutznießer der wohlhabenden Schichten. Die Familie Jefferson besteht aus einem be-tuchten Mitglied und zwei Anhängseln, die ebenso wie die Tänzer als potentielle Mörder aus Gewinnsucht dargestellt werden können. Daneben gibt es einige Randfiguren, etwa das zweite Mordopfer Pamela Reeves und deren Familie. Das Feststellen der Motive und Handlungen nimmt nun den großen Mittelteil des Romans ein, in dem sowohl Miss Marple als auch die Polizei soviel Informationen wie möglich zusammentragen. Doch zum Schluß bringen die ersten Hinweise, die Miss Marple erwähnte und die aufmerksamen Leserinnen hätten auffallen müssen - die abgebissenen Fingernägel und die vorstehenden Zähne -, die detektivische Handlung wieder zum Ausgangspunkt zurück und decken eine kriminelle Verschwörung auf, mit der die rechtmäßigen Erben um ihr Geld gebracht werden sollten. Die Entwicklung dieser Geschichte läßt sich in konzentrischen Kreisen darstellen, wobei der innerste die psychologische Ebene darstellt, um die sich die Kreise der Aufdeckung drehen - vorwiegend Miss Marples, aber auch die der Polizei und aller anderen Figuren, die das Geheimnis lüften wollen -, und sie alle führen nach innen, zum psychologischen Kern der Handlung. Gleichzeitig gibt es einen entgegengerichteten Kreis der Mordhandlung, dem im Verlauf der detektivischen Handlung sozusagen rückwärts nachgegangen wird. Die Verbindungen zwischen den einzelnen Kreisen sind soziale Schicht, Geld und Sexualität. Was dabei geschieht, läßt sich in einem Diagramm (vgl. Abbildung) darstellen.
Genau wegen dieses geschlossenen Kreises - dem Gefühl von Erfüllung und Vollendung - sind klassische Detektivromane als Genre so beruhigend zu lesen. Bereits durch die Form vermitteln sie die Botschaft, daß zum Ende alles gut sein wird; das Rätsel um Informationsbruchstücke wird geklärt, die Einzelteile des verbalen Puzzles passen zusammen, das Leseabenteuer wird mutig in Angriff genommen und im Triumph abgeschlossen. Und natürlich ist es besonders reizvoll, daß als Führerin durch dieses Labyrinth verbaler Zeichen eine altjüngferliche Dame dient, deren Sprachgewalt nicht immer ganz sicher und strukturiert zu sein scheint (es tatsächlich aber ist). Wer könnte der freundlichen, indirekten Autorität einer solchen Gestalt schon böse sein? Hier sitzt sie, bei der Auflösung zu Die Tote in der Bibliothek, und fügt die Puzzlestücke zum Besten der anderen Romanfiguren und der Leserinnen zusammen. Es ist eine Auflösung, bei der im Grunde lose Fäden verknüpft werden, und was die Fäden verknotet, ist natürlich die Heirat. Dadurch wird sehr geschickt auf die Erbschaftsfrage verwiesen, die für den Roman (und allgemein für klassische Kriminalgeschichten) so zentral ist, aber es dient auch als Metapher zum Verbinden einer Zeichengruppe mit einer anderen - abgebissene Nägel mit kurzgeschnittenen, vorstehende Zähne mit eingebogenen -, um Sicherheit zu erzeugen, wie der folgende Abschnitt zeigt:
»Nun hatte ich zwei Hälften; jede einzelne war überzeugend, aber sie paßten nicht zusammen. Es mußte ein Verbindungsglied geben, aber ich konnte es nicht finden ...
Anmerkung: ohne Dinah Lee wäre ich nicht darauf gekommen - auf das Nächstliegende in der Welt. Das Rathaus! Eine Heirat! ... Wenn einer von den beiden verheiratet war ... Aber im stillen wußte ich natürlich, wer es war. Man konnte ja nicht darum herumkommen - nicht wahr - um diese abgebissenen Nägel? ... Abgebissene Nägel und kurzgeschnittene Nägel sind völlig verschieden! Niemand, der auch nur das mindeste von Mädchennägeln versteht, kann sich da irren. ...
... die Leute reden doch immer zuviel. Diesmal war es Mark Gaskell. Als er von Ruby Keene sprach, sagte er: 'Winzige, eingebogene Mäusezähnchen.' Das tote Mädchen in Colonel Bantrys Bibliothek jedoch hatte vorstehende Zähne.« ... »Es ist doch so schön, wenn man seiner Sache sicher sein kann - nicht wahr?« »Jawohl, jetzt sind wir sicher«, murmelte Jefferson bitter. (Die Tote in der Bibliothek, Kap. 18)