Miss Marple, die alte Jungfer

»Betagte Klatschtanten, schnurrige alte Schachteln sind die einzig möglichen weiblichen Detektive, und Miss M. ist reizend«, schrieb Dorothy L. Sayers bald nach der Veröffentlichung des ersten Miss Marple-Buchs, Mord im Pfarrhaus, im Jahr 1931, an Agatha Christie. Im gleichen Jahr hatte Dorothy L. Sayers ihre eigenen Klatschtanten vorgestellt - Frauen »der in liebloser Weise als 'überflüssig' bezeichneten Kategorie«. Sie gehören zu dem scherzhaft »Katzenhaus« (Cattery) genannten und als Schreibstube getarnten Detektivbüro, das Lord Peter Wimsey in Starkes Gift begründet. Die meisten dieser überflüssigen Frauen im Schreibbüro sind alte Jungfern; ihren unausgefüllten Stunden und leeren Geldbörsen verhilft Wimsey mit Wohltätigkeit und Scharfsinn zu neuem Inhalt, denn er überträgt ihnen Aufgaben im Bereich der kriminalistischen Ermittlung. Leiterin des »Katzenhauses« ist Miss Climpson, die sich wie Miss Marple darauf spezialisiert hat, Verbrecher durch Klatsch zu enttarnen.
Zwar gab es die Figur der Detektivin schon in den Romanen der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, doch die altjüngferliche Kriminalistin ist eine spätere Entwicklung, die laut Michele B. Slung zum ersten Mal in Miss Amelia Butterworth Gestalt annahm, dem »aufdringlichen ältlichen Fräulein« in Anna K. Greens The Affair Next Door (1897) (Michele B. Slung: Crime on Her Mind, 1976, S.xxii). Allerdings war dies ein amerikanischer Roman; im englischen Detektivroman dagegen mußte die alte Jungfer auf die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts warten, als Agatha Christie entdeckte, welche Möglichkeiten in solch einer Figur schlummerten. Sie fand sie in Miss Sheppard, der Schwester des Arztes in Alibi: »Sie war in diesem Buch meine Lieblingsfigur gewesen: eine neugierige, bissige alte Jungfer, die alles wußte und alles hörte; das ideale Detektivbüro für den Hausgebrauch« (Meine gute alte Zeit, S.437). Dr. Sheppard betrachtet seine Schwester mit liebevoller Herablassung als Klatschbase und Wichtigtuerin, aber Hercule Poirot erkennt ihre Macht und ihren Nutzen als Sammlerin von Informationen und als intuitive Entdeckerin der Wahrheit an: »Frauen beobachten ständig Tausende kleiner Details, ohne daß sie sich dessen bewußt sind. Ihr Unterbewußtsein fügt diese kleinen Dinge zusammen - und das Ergebnis nennen sie Intuition« (Alibi), Kap. 13).
In Miss Sheppards Art von detektivischem Spürsinn liegt bereits der Keim von Miss Marples Fähigkeit, triviale Details des Alltags zu sammeln und sie miteinander in Beziehung zu setzen, um zur Wahrheit über das Verbrechen zu gelangen. Es ist lehrreich, diese Vorgehensweise mit dem kriminalistischen Geschick der einzigen anderen detektivischen alten Jungfer in den Kriminalromanen der zwanziger Jahre zu vergleichen, nämlich Patricia Wentworths Miss Maud Silver. Auf den ersten Blick scheint Miss Silver ähnlich altjüngferliche Eigenschaften wie Miss Marple zu besitzen und damit ihre Vorgängerin zu sein. Wie Miss Marple verehrt auch Miss Silver den Dichter Tennyson, und in anderer Hinsicht ist sie ebenfalls altmodisch; insbesondere gibt sie sich mit Leidenschaft dem Stricken hin: »Was für eine kleine viktorianische Person! [Charles] bemerkte den halbfertig gestrickten Strumpf auf ihrem Schoß, der noch von Nadeln starrte ... Sie nahm den Strumpf auf und begann zu stricken, wobei sie die Nadeln auf deutsche Art hielt« (Patricia Wentworth, The Grey MaskfDie graue Maske] [1929], Kap. 11). Doch was ihren Spürsinn betrifft, hat Miss Silver nichts von der Glaubwürdigkeit einer Miss Sheppard oder Miss Marple. Auf ganz unmögliche Art und Weise taucht sie am Ort eines potentiellen Verbrechens auf, errät ohne Erklärung oder Logik, wer der Mörder ist, und wäre eigentlich eher in einem platten Thriller am Platz als in den von logischen Schlußfolgerungen geprägten Kriminalgeschichten, die in der Zeit zwischen den Weltkriegen ihren Höhepunkt erreichten. Miss Silvers altjüngferliche Erscheinung paßt ebensowenig zu ihrem erstaunlichen Verhalten wie zu der weithergeholten Handlung der Romane, in denen sie auftritt. Im Gegensatz dazu zeigt der Charakter Miss Marples einen klischeehaft gezeichneten Realismus, der überzeugend genug ist, um unsere Ungläubigkeit für die Dauer der Erzählung aufzuheben. Sie entspricht unserem Bild einer älteren Jungfer, und ihre detektivischen Methoden beruhen auf den Eigenschaften, die wir einer solchen Person zuschreiben. Auch Rahmen und Handlungsverlauf der Miss Marple-Geschichten passen zu der Lebensweise einer alten Jungfer. Allerdings ist es durchaus möglich, daß Agatha Christie als begeisterte Krimileserin die Bücher von Patricia Wentworth kannte, sich für die Idee einer solchen Detektivin begeisterte und einige Eigenschaften Miss Silvers - insbesondere das Stricken - entlehnte, als sie im Jahr nach der Veröffentlichung von Die graue Maske ihre eigene altjüngferliche Detektivin zum Leben erweckte.
Doch bevor Miss Marple tatsächlich auf der Bildfläche erschien, tauchte die Gestalt der alten Jungfer im Werk Agatha Christies ein zweites Mal flüchtig auf, und zwar in einem 1928 veröffentlichten Poirot-Roman, Der blaue Expreß, in dem St. Mary Mead, das Dorf in Kent, in dem Miss Marple schließlich leben wird, erstmals Erwähnung findet. Agatha Christie schätzte diese zweitrangige Arbeit überhaupt nicht; es war der erste Roman, den sie nach dem Scheitern ihrer Ehe mit Archie Christie schrieb und den sie sich abrang, weil sie Geld brauchte. Sie behauptete, mit diesem Buch habe sie sich von einer Amateurin zu einer professionellen Schriftstellerin gewandelt, was bedeutete, »daß man schreiben muß, auch wenn einem nicht danach zumute ist und auch, wenn man nicht sehr gern oder besonders gut schreibt« {Meine gute alte Zeit, S.361).
Die eher nichtssagende, unverheiratete Heldin aus Der blaue Expreß lebt seit zehn Jahren als Gesellschaftsdame einer gewissen Mrs. Harfield in St. Mary Mead. Diese stirbt zu Beginn des Romans und hinterläßt Katherine eine Erbschaft. Während der abenteuerlichen Auslandsreisen, die sie mit diesem Geld unternehmen kann und in deren Verlauf sie auch einen Mord aufklärt, denkt Katherine oft wehmütig an das geordnete, normale Leben in St. Mary Mead; einmal kehrt sie sogar dorthin zurück, um eine ältere Freundin zu pflegen, eine lebhafte alte Dame, die an Miss Sheppard erinnert. Am Ende des Romans heiratet Katherine höchst unwahrscheinlicher Weise einen charmanten, verantwortungslosen Mann und vermeidet dadurch das Los, das ihr bestimmt gewesen zu sein schien, nämlich, selbst eine ehrenwerte alte Jungfer zu werden. Es ist schwer, in dieses Ende nicht auch autobiographisches Wunschdenken hineinzu-lesen; denn die Zukunft einer alten »Jungfer«, die Agatha Christie als geschiedener Frau aller Voraussicht nach selbst bevorstand, wird hier durch eine romantisierende Lösung ersetzt: ein launischer Mann erkennt die Unsinnigkeit seiner Launen und klammert sich an eine sensible, reife Frau. Außerdem kommt dieser Schluß dem Ro-mantizismus entgegen, den Agatha Christie damals als notwendiges Beiwerk einer Detektivgeschichte betrachtete, während sie ihn später als störende Ablenkung verwarf.
Wie intensiv sich Agatha Christie mit ihrer gescheiterten Ehe auseinandersetzte, zeigt sich am deutlichsten in den Mary Westmacott-Romanen, die sie etwa zur gleichen Zeit wie die Miss Marple-Bücher zu schreiben begann. In Bibliotheken sind die Mary Westmacott-Romane, von denen zwischen 1930 und 1956 sechs veröffentlicht wurden, meist unter der Kategorie »Liebesromane« zu finden. Doch es handelt sich dabei nicht um Geschichten von Liebe-und-Heirat à la Barbara Cartland, sondern vielmehr um eine literarische Verarbeitung von Erfahrungen und Ängsten aus Agatha Christies eigener Vergangenheit. Vor allem Das unvollendete Porträt (engl. 1934) ist ein außerordentlich autobiographischer Bericht über eine Frau, ihre glückliche Kindheit, die Ehe mit einem selbstsüchtigen, charmanten Mann und ihren Selbstmordversuch, als ihre geliebte Mutter stirbt und der Ehemann sie und ihre Tochter verläßt. In ihrer Autobiographie Meine gute alte Zeit schreibt Agatha Christie, sie rufe sich den Zeitraum, in dem sie selbst solche Erfahrungen machte (1926-27), »nur sehr ungern ins Gedächtnis zurück« (S.348). Doch in diesem Roman, der acht Jahre später unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde, dachte sie durchaus, und zwar in allen Einzelheiten, daran zurück. Am Ende des Romans steht die Heldin von Das unvollendete Porträt vor einer ungewissen Zukunft. Die Selbstmordgefahr ist gebannt, ihre Tochter hat geheiratet, und es gibt für sie keine einfache Lösung durch eine Liebesheirat, sondern nur die Vermutung, daß sie »in die Welt zurückkehren wird, um ein neues Leben zu beginnen«. Mittlerweile hatte Agatha Christie selbst wieder geheiratet, aber die Ängste einer Frau, die allein, ohne die Liebe und den Schutz eines Mannes dasteht, verließen sie lange Zeit nicht und waren der fruchtbare Boden, aus dem die Figur der Miss Marple erwuchs; diese wird zeigen, daß auch eine Existenz ohne Mann durchaus aufregend und nützlich sein und sogar ein eigenes Potential an Macht beinhalten kann.
Durch ihre Scheidung zählte Agatha Christie plötzlich zu den »überschüssigen Frauen«, deren Existenz seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Thema geworden war. 1911 gab es in England und Wales 1,3 Millionen mehr Frauen als Männer. Diese Zahl stieg bis zur Volkszählung 1921 auf 1,7 Millionen an und blieb bis weit in die dreißiger Jahre konstant; erst dann begann sich durch die Auswanderungswelle das Verhältnis zwischen Männern und Frauen wieder auszugleichen. Doch als Agatha Christie Ende der zwanziger Jahre über Miss Marple zu schreiben begann, waren von tausend Menschen 43 Junggesellinnen oder Witwen (Ruth Adam: A Woman's Place, 1975, S.85), die nicht damit rechnen konnten, daß sich ihr Familienstand ändern würde, denn es gab einfach nicht genügend Männer. Im 19. Jahrhundert waren »überflüssige Frauen« im allgemeinen Gegenstand des Mitleids und der Verlegenheit, während ihre Situation in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zwar noch zum Gespött Anlaß gab, aber doch auch interessant und sogar etwas unheimlich schien. »Es gibt einfach zu viele Frauen in diesem Teil der Welt«, sagt Colonel Melchett (Mord im Pfarrhaus, Kap. 7), und für ihn bedeutet dieser Überschuß eine Störung des geordneten Dorflebens. Die Angst vor der unverheirateten Frau und der damit einhergehende Frauenhaß waren teilweise ein Vermächtnis des Ersten Weltkriegs, in dem Frauen dazu ermutigt worden waren, ökonomisch unabhängig zu werden und Arbeiten zu verrichten, die bislang als Männerdomäne gegolten hatten. Der Krieg hatte auch eine Mischung von Schuldgefühlen und Ressentiments gegenüber Frauen, insbesondere alten Jungfern, hinterlassen: So viele Männer waren tot, und so viele Frauen führten ein scheinbar nutzloses oder zumindest unfruchtbares und damit ungerechtfertigtes Leben. Zudem waren in dem Jahrzehnt nach Kriegsende Gesetze erlassen worden, die Frauen bislang ungekannte politische Rechte und Arbeitsmöglichkeiten einzuräumen schienen. Zwar zeitigten wenige dieser Gesetze praktische Folgen, doch bereits ihr Tenor - etwa das Parlamentsgesetz (Qualification of Women [Qualifikation von Frauen]) von 1918 und das Gesetz zur Aufhebung der geschlechtlichen Benachteiligung [Sex Disqualification (Removal) Act] von 1919 - rief bei zahlreichen Institutionen und Individuen, vom Beamtenapparat bis zur Gewerkschaft, von D.H. Lawrence bis zu Lloyd George, Ängste und Rückschrittsbestrebungen hervor. Doch trotz des Widerstands und der fortdauernden Diskriminierung war diese Zeit, wie Ruth Adam sagt, »die Ära der alten Jungfer. Nachdem ihr so viele Jahre lang die Daseinsberechtigung abgesprochen worden war, wurde sie endlich anerkannt« (Ruth Adam: A Woman 's Place, 1975, S.100).
Das Los der alleinstehenden Frau war ein wesentliches Motiv in vielen Viktorianischen Romanen gewesen, von Elizabeth Sewells The Experience of Life (1853) bis zu George Gissings The Odd Woman (1893). In der Nachkriegszeit trat es in der Literatur noch stärker in den Vordergrund und wurde auch unterschiedlicher behandelt. Wie groß die Bandbreite der damaligen Ansichten zu diesem Thema war, läßt sich aus vier Romanen der zwanziger Jahre ablesen: Life and Death of Harriett Frean (1922) von May Sinclair, The Unlit Lamp (1924) von Radclyffe Hall, The Crowded Street (1924) von Winifred Holtby und Lolly Willowes (1926) von Sylvia Townsend Warner.
May Sinclair, beeinflußt von der Psychologie Freuds, zeichnet in Life and Death of Harriett Frean das Leben als alte Jungfer als unvermeidliche Folge der unterdrückten Sexualität eines »braven« Mädchens aus der Mittelschicht, das nur aufgrund von sexueller Unwissenheit und Heuchelei anständig sein kann. Harriett hat die Möglichkeit, eine Ehe einzugehen, aber das aufopferungsvolle Leben einer pflichtbewußten Tochter, die zu Hause bleibt, entspricht ihrer repressiven Konditionierung mehr als die Ehe. In May Sinclairs umwerfend zielstrebiger und schematischer Darstellung dieser Art von altjüngferlichem Leben stirbt Harriet an einem Krebs, den sie für ein Baby hält, wobei sie auch sich selbst als Baby vorstellt und dadurch buchstäblich zu dem Infantilismus zurückkehrt, der ihr ganzes Leben bestimmte.
May Sinclairs zweiter Roman über eine pflichtbewußte Tochter, Mary Olivier (1919), erinnert in gewisser Hinsicht an Radclyffe Halls The Unlit Lamp, denn in beiden Büchern sind die Heldinnen Opfer von gebrechlichen, tyrannischen, verwitweten Müttern. Doch Mary Olivier verwandelt ihre Knechtschaft in einen Triumph der Selbsterziehung (sie ist das Gegenstück zu Harriett Frean), während Radclyffe Halls Heldin Joan Ogden, »mit schweren Knochen ... schlaksig wie ein Junge«, sich dem öden Alltagstrott der Fürsorge für ihre egoistische Mutter unterwirft und dafür nicht nur ihrer Karriere, sondern auch der leidenschaftlichen Zuneigung zu einer anderen Frau entsagt. In dem Roman wird klar, daß daran nicht nur die Macht der Mutter schuld ist, sondern auch der mangelnde Mut der Tochter, die sich zwar widerstrebend, aber auch erleichtert an die Ideale aufopfernder Weiblichkeit klammert.
Winifred Holtbys The Crowded Street vermittelt ein positiveres Bild von der gesellschaftlichen Rolle der alleinstehenden Frau. Die Heldin Muriel verschwendet ihre Jugend mit dem Warten auf eine Ehe, doch als sich schließlich die Chance zu heiraten bietet, lehnt sie ab. Der Roman Winifred Holtbys verwandelt die Einsamkeit und Entwürdigung von Muriels Leben sozusagen in eine feministische Aussage über Unabhängigkeit, Persönlichkeit und die Hingabe an ein Ideal, das mehr als nur das Häusliche umfaßt. Das ist ein kühnes und fortschrittliches Junggesellinnendasein:

»Ich habe eine Vorstellung ... eine Vorstellung vom Dienen - und sie ist nicht nur vage und sentimental, sondern setzt sich auch in ganz praktische Dinge um. Vielleicht mache ich nichts damit, aber eins weiß ich genau: Wenn ich dich heiraten würde, müßte ich all das Neue aufgeben, das mich zu einer Person hat werden lassen ... Ich kann erst dann eine gute Ehefrau sein, wenn ich gelernt habe, eine Person zu sein ... und vielleicht werde ich am Ende überhaupt nie Ehefrau werden.« (The Crowded Street, Kap. 39)

Lolly Willowes ist einfallsreicher als diese drei Romane und von einer bitteren Fröhlichkeit und Schrulligkeit geprägt.  Der heidnische Glaube löst die Probleme der Heldin, die aus der behüteten Abhängigkeit von ihrem Bruder und seiner Familie ausbricht, um auf dem Land zu leben, eine gute Hexe zu werden und sich sexuell mit dem Teufel zu vereinigen. Wie Lolly sagt, werden Frauen wie sie zu solchen Extremen gezwungen, »um ein eigenes Leben führen zu können und nicht eine Existenz, die einem von anderen als Almosen gegeben wird, als mildtätige Brosamen ihrer Gedanken, ein paar Gramm abgestandenes Leben pro Tag.«
Die Tatsache, daß Agatha Christie Miss Marple schuf, muß vor diesem Hintergrund des gesellschaftlichen und literarischen Interesses an alleinstehenden Frauen gesehen werden. Und nicht nur das -ihre gesamten Detektivgeschichten beweisen ein scharfsinniges Verständnis für die vielfältigen Arten des Junggesellinnendaseins, denn es gibt neben Miss Marple noch zahlreiche andere ledige Frauen in ihren Romanen. In Ein Mord wird angekündigt (engl. 1950) etwa kommen besonders viele ledige Frauen vor, und das Rückgrat der Handlung und die Ursache des Verbrechens beruhen auf deren Zusammenwirken. Anfangs gibt es zwei Paare von alten Jungfern: Miss Blacklock und Miss Bunner, die zusammen in Little Paddocks wohnen, und Miss Hinchliffe und Miss Murgatroyd, die in Boulders leben. Diese Frauen sind ungefähr sechzig Jahre alt, und da der Roman Ende der vierziger Jahre spielt, gehörten sie wohl zu jener Generation von jungen Frauen, deren potentielle Ehemänner im Ersten Weltkrieg ums Leben kamen. In der Tat hält Miss Blacklock Miss Bunner für eine der vom Leben Benachteiligten, weil sie nicht heiraten konnte: »Sie hätte, so dachte ihre Freundin, einen netten Offizier oder einen Provinzanwalt heiraten sollen ... Sie hatte sich selbst ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Sie war gewissenhaft, aber nicht tüchtig gewesen.« Auch Miss Blacklocks eigene Jugend war unglücklich gewesen, weil ihr starrköpfiger, engstirniger Vater sich geweigert hatte, ihren entstellenden Kropf behandeln zu lassen. Aber Miss Blacklock ist natürlich nicht die Miss (Letitia) Blacklock, die sie zu sein vorgibt, sondern deren Schwester Charlotte. Genau daran, daß eine Schwester durch die andere ersetzt wird, macht sich die Mordhandlung fest, und zu dieser Vertauschung der Personen kommt es, weil Charlotte Blacklock sich durch das Geld, das ihre Schwester erben soll, für die Jahre, die sie als ärmliche, invalide Junggesellin verbrachte, schadlos halten will. Doch ihre Schwester Letitia (Letty) stirbt vorzeitig, und deswegen beginnt Charlotte (Lotty) ihr Leben der Täuschung, indem sie vorgibt, eine andere zu sein. Die einzige Gefahr stellt dabei die langweilige, bedürftige, warmherzige Dora Bunner dar, die als Kind beide Schwestern kannte und aus diesem Grund in das Geheimnis und dessen finanziellen Segen miteinbezogen werden muß. Schließlich wird sie gerade wegen ihres Wissens ermordet. Das Band zwischen Miss Blacklock und Dora Bunner beruht auf ihrem gemeinsamen Wunsch, der Armut und den Beschränkungen des Altjungfernlebens zu entrinnen. Es ist ein Band der Schuld und letztlich zerstörerisch, doch Agatha Christie wirbt um Verständnis, als sie Miss Blacklock um die Ermordete trauern läßt: »Es ist Dora, die mir fehlt - nach dem Tod Doras war ich ganz allein - seit ihrem Tod - bin ich allein.«
Die beiden Miss Blacklocks, Letitia und Charlotte, verkörpern zwei gegensätzliche Klischees der unverheirateten Frau, die in der Zeit zwischen den Kriegen gang und gäbe waren: die geschlechtslose Karrierefrau und die frustrierte Ehefrau und Mutter. Letitia wurde zur Steuerberaterin ausgebildet und »dachte eigentlich wie ein Mann. ... Ich glaube nicht, daß sie jemals in einen Mann verliebt war. ... Das Vergnügen, eine Frau zu sein, war ihr fremd«, sagt die sehr feminine Mrs. Goedler. Charlotte hingegen kannte das Vergnügen, eine Frau zu sein - »ein hübsches, leichtfertiges, liebesweites Mädchen« -, und eben diese verhinderte Weiblichkeit und der Widerwille gegen das Junggesellinnendasein führen zur Katastrophe.
Miss Hinchliffe und Miss Murgatroyd leben offenbar aus gegenseitiger Zuneigung zusammen. Sie werden als ein etwas theatralisches lesbisches Paar dargestellt, das sich gegenseitig mit Hinch und Murgatroyd anspricht, wobei Hinch, die »einen kurzen, männlichen« Haarschnitt hat und Kordhosen und eine Uniformjacke trägt, die törichte, liebenswerte Murgatroyd wie ein Mann unter Kontrolle hält: Das Paar könnte aus Radclyffe Halls Quell der Einsamkeit (engl. 1928) stammen, aber bei Agatha Christie sind die beiden Frauen mit ihrer Beziehung zufrieden und werden vom Dorf akzeptiert. Im Gegensatz zu Stephen im Roman von Radclyffe Hall werden sie nicht von Schuldgefühlen heimgesucht und von der Gesellschaft ausgestoßen, und ihre Tragödie liegt allein darin, daß sie den Tod finden, weil sie zu viel wissen und als Detektivinnen zu unvorsichtig vorgehen.
Inmitten dieser und anderer lediger Frauen, denen weniger Bedeutung im Roman zukommt, ist Miss Marple die Königin der alten Jungfern. Wenn die anderen alten Damen Spielarten dieser Idee darstellen, ist sie die Idee selbst. Ihrer Erscheinung, ihrem Alter, ihrem Benehmen und ihrer sozialen Herkunft nach verkörpert sie den Inbegriff der englischen alten Jungfer, zumindest die alte Jungfer in der englischen Literatur, die ihren Stammbaum bis zu Miss Bates in Jane Austens Emma, Betsy Trotwood in Dickens' David Copperfield und den Amazonen in Elizabeth Gaskeils Cranford zurückverfolgen kann und vielleicht auch Oscar Wildes Miss Prism in Die Kunst, ernst zu sein (The Importance ofBeing Earnest) oder Charlotte Bart-lett in E.M. Forsters Zimmer mit Ausblick einen schwesterlichen Blick zuwirft. Bei ihnen allen handelt es sich um komische und freundliche Charaktere, doch es ist nicht schwer, eine Verbindung zwischen ihnen und den grotesken und bedrohlichen Bildern der unverheirateten Frau herzustellen, die in der Populärunterhaltung so beliebt sind: die häßlichen Schwestern, die von einem Mann gespielte Dame in englischen Märchenaufführungen, die Hexe im Lebkuchenhaus. Sheila Jeffreys stellt die These auf, daß die Vorurteile gegen ledige Frauen, die in der Gesellschaft stets bestanden haben, in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts und in der Nachkriegszeit besonders bösartig wurden. Sheila Jeffreys zitiert aus der Zeitschrift Freewoman, die Junggesellinnen aufs Korn nahm und ihren Angriff in der ersten Ausgabe mit einem Artikel begann, der »Die alte Jungfer« hieß und »Von einer solchen« geschrieben war:

Ich schreibe über die Hohepriesterin der Gesellschaft. Nicht über die Mutter von Söhnen, sondern über ihre unfruchtbare Schwester, den verdorrten Baum, das säuerliche Werkzeug, unter dessen bleichem Schatten wir erschauern und erblassen. Ich schreibe über die alte Jungfer. Wegen ihrer Macht und ihres Einflusses. Sie, unauffällig, bescheiden, leisetreterisch, still, verschämt, blutleer und rückgratlos, verdünnt zu Geist, dringt in die geheimen Nischen des Verstandes ein, sitzt an den geheimen Quellen des Handelns und formt und bildet unsere verweichlichte Gesellschaft. Sie ist unsere gesellschaftliche Rachegöttin. {Freewoman, November 1911, zit. in Sheila Jeffreys: The Spinster and Her Enemies, 1985, S.95)

Obwohl Agatha Christie Miss Marple vorwiegend als komischen und alltäglichen Charakter darstellt, beschwört sie doch viele der widersprüchlichen Gefühle herauf, die die Gestalt der alten Jungfer auslöst, und setzt sie auch gezielt ein: natürlich Herablassung und Verachtung, aber auch verschiedene Formen von Angst. Die alte Jungfer ist Schiedsrichterin in Fragen der Moral, ein Bollwerk gegen Laster und Unordnung und ein Bild der Unterdrückung. Außerdem entspricht sie nicht den üblichen Erwartungen an ein Frauenleben in der patriarchalen Gesellschaft, was sie einerseits herabsetzt, ihr aber auch die Macht des Anomalen über das Normale verleiht: die Macht, zu bedrohen, zu richten, zu untergraben und zu zerstören. Weil Agatha Christie beide Seiten - die alte Jungfer als furchteinflößende Außenseiterin und als moralische Kraft - in die Strukturen und Konventionen des Detektivromans einspannt, sind die Miss Marple-Krimis besonders überzeugende Beispiele des Genres. Wie wir im folgenden zeigen werden, klärt Miss Marple ein Verbrechen nicht nur auf eine für alte Jungfern typische Art auf, sie übt später auch eine fast übernatürliche Macht aus, die Lolly Willo-wes' Ketzerei völlig in den Schatten stellt. Sie wird, wie schon die Autorin des Artikels in Freewoman warnend vorhersagte, zur gesellschaftlichen Rachegöttin, zur Nemesis.
Wie jede volkstümliche Figur betritt Miss Marple die literarische Bühne als fertig entwickelte Gestalt und als beständiges Element der pastoralen Szenerie von St. Mary Mead, die, wenn auch nur kurzzeitig, durch einen Mord erschüttert wird. Bei ihrem ersten Auftritt in Mord im Pfarrhaus erfahren wir nur sehr wenig über sie. Weitere Romane folgen, Miss Marple erobert Agatha Christies Zuneigung (sie wird später sehr viel mehr geschätzt als Poirot), und erhält nach und nach mehr Tiefe. Damit wird es möglich, ihrer Vergangenheit nachzuspüren, denn Agatha Christie konnte der Versuchung nicht widerstehen, Andeutungen darüber fallenzulassen. Die verbleibenden Lücken lassen sich mit Methoden füllen, die Miss Marples Billigung gefunden hätten: Einzelheiten sammeln und Analogien bilden.
Das erste Mal hören wir von Miss Marple durch Griselda, der jungen Frau des Pfarrers in Mord im Pfarrhaus, die sie als »die schlimmste alte Katze im ganzen Dorf« beschreibt. Die Bezeichnung »(alte) Katze« taucht in den Romanen immer wieder auf, mal in freundlichem oder respektvollem Ton, mal verärgert oder geringschätzig, insbesondere von höherrangigen Polizeibeamten. Der Ausdruck verweist auf ein Interesse, sogar eine Besessenheit für Klatsch und für die kleinsten Einzelheiten des dörflichen Lebens. Aber er deutet auch Bösartigkeit an und vielleicht sogar Hexerei, ebenso wie die Verfasserin des Artikels in Freewoman das unheimliche, hexenhafte Verhalten alter Jungfern für »katzengleich« hält: »leisetreterisch, still«. Aber Miss Marple ist weder bösartig noch unheimlich und hat auch bislang noch nichts Ungewöhnliches an sich. Zwar meint Griselda, daß Miss Marple »immer genau weiß, was vor sich geht - und immer die schlimmsten Schlüsse daraus zieht«, doch ihre Allwissenheit beruht auf genauer Beobachtung, und es käme ihr nie in den Sinn, ihre Informationen einzusetzen, um Unschuldige zu belasten oder eine Person mutwillig zu kränken, im Gegensatz zu den anderen »Katzen« im Dorf, Mrs. Price Ridley, Miss Wetherby und Miss Hartnell. Im Grunde spricht Miss Marple sehr wenig über andere Menschen, hört aber genau zu, was die Leute sagen und was über sie gesagt wird. Wenn sie aus dem Gehörten nachteilige Schlußfolgerungen zieht, behält sie es für sich, bis die Gerechtigkeit verlangt, daß sie damit an die Öffentlichkeit tritt.
In Mord im Pfarrhaus wird Miss Marple uns auch als »eine weißhaarige Dame mit liebenswürdigem, ansprechendem Wesen« vorgestellt. Das heißt, wie Agatha Christie uns erzählt, daß sie »im Alter von fünfundsechzig oder siebzig geboren [wurde], was sich ... sehr ungünstig auswirkte, weil ich ihre Dienste noch viele Jahre in Anspruch nehmen mußte.« (Meine gute alte Zeit, S.440). Das heißt auch, daß sie ihre Kindheit in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts und ihre Jungmädchenjahre in den siebziger Jahren erlebt hat und ihr Leben als erwachsene Frau während der letzten zwanzig Jahre des viktorianischen Zeitalters verbrachte. Somit wäre Jane Marple in Ruhe unsanft (engl. 1976), dem letzten Roman, in dem sie als Hauptfigur auftritt, weit über hundert Jahre alt. Zwar wird auch in der Welt der Marple-Romane darauf hingewiesen, daß nicht alles so bleibt, wie es ist, aber Miss Marple selbst verändert sich kaum. In Das Schicksal in Person erscheint sie in vertrauter Gestalt als eine penible, etwas rheumatische ältliche Dame, die fast ebenso gebrechlich ist wie vierzig Jahre zuvor in Mord im Pfarrhaus, und die nach wie vor in den uns vertrauten Begriffen von sich denkt: »'Eine alte Katze', sagte Miss Marple zu sich. 'Ja, ich kann mir gut vorstellen, daß ich als eine alte Katze gelte. Es gibt so viele alte Katzen, und alle sind sich so ähnlich.'« In den dazwischenliegenden Romanen gibt es einige Hinweise darauf, daß Miss Marple älter und welker wird, und es findet sich sogar die Andeutung, daß ein bestimmter Fall ihr letzter sein könnte. In Ein Mord wird angekündigt (engl. 1950) »wirkte sie ausgesprochen alt«, und in 16 Uhr 50ab Paddington (engl. 1957) wird sie als eine »gebrechliche alte Dame« beschrieben, die ihre frühere Krankenschwester Lucy Eyelesbarrow damit beauftragen muß, die detektivischen Ermittlungen für sie zu erledigen. In Mord im Spiegel (engl. 1962) ist Miss Marple zu schwach, um selbst noch gärtnern zu können, denn sie hatte eine schwere Bronchitis und mußte eine Zeitlang sogar von einer Pflegerin versorgt werden, wobei, wie meist in diesen Fällen, ihr Neffe Raymond West für die zusätzlichen Kosten aufkam. In Mord im Spiegel empfiehlt Dr. Haydock - der gleiche Dr. Haydock, der zweiunddreißig Jahre zuvor als Mann mittleren Alters in Mord im Pfarrhaus aufgetreten war -, Miss Marple »einen netten Mord« als Stärkungsmittel, und zur gleichen Arznei rät er auch gegen die Folgen einer Grippe in der Kurzgeschichte »Die Hausmeisterin« (aus dem Band Die Uhr war Zeuge). Aber in den letzten zwei Romanen, Bertrams Hotel und Das Schicksal in Person, ist Miss Marple wieder bei guter Gesundheit. Allerdings kann Agatha Christie es nicht lassen, auf Kosten Miss Marples und der Leserinnen einen Witz zu machen und Lady Selena Hazy sagen zu lassen: »Es ist doch kaum zu glauben, daß das wirklich die alte Jane Marple ist. Ich hätte gedacht, sie wäre schon seit Jahren tot. Sie sieht aus wie hundert.« Doch wie alt sie auch aussehen mag, in diesen letzten Romanen ist Miss Marple so jugendlichältlich wie eh und je. In Das Schicksal in Person ist sie sogar besonders lebhaft und tatkräftig, und dies ist auch einer der wenigen Romane, in dem sie sich selbst in körperliche Gefähr begibt. Wenn sie in dieser Geschichte Müdigkeit und Schwäche eingesteht und sich vergeßlich stellt, dann nur, um Informationen zu bekommen.
Im ersten ihrer Romane erfahren wir über Miss Marples Äußeres nichts weiter, als daß sie weißhaarig ist, ein penibles, aber ansprechendes und sanftmütiges Wesen hat und bei Aufregung oder Verlegenheit leicht errötet. Erst in der Kurzgeschichtensammlung Der Dienstagabend-Club (engl. 1932; allerdings entstand das Buch vor Mord im Pfarrhaus) nimmt sie deutlichere Konturen an. Sie sieht wie eine Dame der viktorianischen Zeit aus, oder vielmehr wie die verwitwete Königin Victoria, wie wir sie von Holzschnitten aus dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts kennen (A. Bott und I. Cle-phane: OurMothers, 1932, S.43):

Miss Marple trug ein in der Taille eng zusammengerafftes Kleid aus schwarzem Brokat, und Brabanter Spitzen fielen in Kaskaden über ihren Busen. Sie hatte schwarze Spitzenhandschuhe ohne Finger an, und ein schwarzes Spitzenhäubchen thronte auf dem kunstvoll aufgetürmten schneeweißen Haar. ... Ihre blauen Augen, die so gütig und freundlich dreinschauten, glitten mit sanftem Wohlgefallen über ihren Neffen und seine Gäste. (Der Dienstagabend-Club, »Der Dienstagabend-Club«)

Bei Mrs. Bantrys Dinnerparty in der gleichen Kurzgeschichtensammlung trägt Miss Marple wiederum schwarze Spitzenhandschuhe und ein Spitzenfichu über Haar und Schultern. Doch in Das Geheimnis der Amseln (engl. 1953) hat sie ihre viktorianischen Gewänder gegen Kleider eingetauscht, die von ungefähr an die Zeit König Edwards erinnern: »... einen altmodischen Tweedmantel und -rock, zwei oder drei Schals und einen kleinen Filzhut mit einem Vogelflügel.« In Das Schicksal in Person (engl. 1971) ist ihre Aufmachung wieder etwas moderner geworden und stammt jetzt etwa aus der Zeit zwischen den Kriegen: »... ein leichtes Tweedkostüm, eine Perlenkette und einen kleinen Kapotthut aus Samt.« Zwar verändert sich Miss Marples Kleidung, doch ist sie immer altmodisch, wie wir es von einer alten Jungfer erwarten, die über wenig Geld verfügt aber, wie vielfach betont wird, sehr wohl eine Dame ist und sich deshalb kaum billig oder auffallend kleidet:»... ein alter, aber guter Koffer lag vor ihr auf dem Boden. [Inspektor] Crump wußte, wann er eine Dame vor sich hatte.« Dieses Bild einer alten Dame in den dreißiger Jahren, die ordentlich ist, Tweed trägt und einfache Vornehmheit ausstrahlt, vermittelte auch Joan Hickson mit so großem Erfolg in den Fernsehfassungen der Romane in der BBC.
Das altjüngferliche Image Miss Marples wird noch hervorgehoben durch ihr Strickzeug, mit dem sie ständig beschäftigt ist. Offensichtlich strickt sie Sachen für Babys, und wir fragen uns, wessen Babys das wohl sein mögen. In Mord im Spiegel wird erklärt, daß die »vielen kleinen Wolljäckchen« für den Nachwuchs der »netten Mädchen« sind, die Miss Marple früher beschäftigte, und in Das Schicksal in Person wird angedeutet, daß sie Pakete mit Stricksachen an Wohlfahrtsorganisationen schickt. Doch die Frage, für wen Miss Marple strickt, ist im Grunde irrelevant, denn das Stricken dient eigentlich nur als Zeichen für ihre Altjüngferlichkeit und als Metapher für ihren kriminalistischen Spürsinn. Doch die Möglichkeiten, die in diesem Motiv stecken, erkannte Agatha Christie erst nach und nach. Im ersten Roman, Mord im Pfarrhaus, strickt Miss Marple noch nicht, doch im »Dienstagabend-Club« (1932) treffen wir sie zu Hause an, wie sie »etwas Weißes, Weiches und Flauschiges« strickt. In Die Tote in der Bibliothek verschwindet das Stricken wieder, taucht aber in einem Roman des gleichen Jahres, Die Schattenhand, wieder auf, ebenso wie in Ein Mord wird angekündigt, wo sie beschrieben wird als »verstrickt in flauschige Wolle ... die sie zu etwas verarbeitete, was sich als Babyschal herausstellte«. Dies Bild - Miss Marple inmitten von weicher Wolle - spiegelt natürlich ihr zartes Äußeres und ihr vorsichtiges Auftreten wider, deutet aber auch an, daß sie wie eine Gottheit von einer Wolke umhüllt ist. Dieses Bild wird in Das Schicksal in Person noch weiterentwickelt, wenn Mr. Rafiel von jenseits des Grabes schreibt: »... ich sehe Sie ... in einer Wolke rosafarbener Wolle vor mir.« Die Tatsache, daß sie für Babys strickt, zeigt sie als Beschützerin der Unschuldigen, aber auch als diejenige, die die Fäden des Verbrechens zusammenknüpft. Und in ihrem letzten, treffenderweise Das Schicksal in Person (Nemesis) genannten Roman tritt die volle Bedeutung des Strickens als Insignie ihrer Person zutage: Miss Marple übernimmt die Rolle der vergeltenden Göttin und strickt an den Schicksalen von Männern und Frauen.
Miss Marples zweite praktische Beschäftigung ist das Gärtnern. Wie das Stricken scheint es eine passende Betätigung für eine alte Jungfer zu sein, die in einem Dorf lebt, ist aber darüber hinaus ebenfalls ein Hilfsmittel bei den detektivischen Ermittlungen. Stricken entwaffnet und beschwichtigt die Menschen und läßt sie vertrauensseliger werden, und Gartenarbeit stellt eine ausgezeichnete Gelegenheit zum Spionieren dar. In Mord im Pfarrhaus liegt Miss Marples Garten strategisch äußerst günstig (die meisten Ausgaben des Romans enthalten einen Plan des Dorfs, aus dem ersichtlich ist, wie vorteilhaft er gelegen ist), so daß sie sehr gut beobachten kann, was in St. Mary Mead passiert, insbesondere, wer zum Pfarrhaus geht und es verläßt. Außerdem liefert ihre Gartenarbeit in dieser Geschichte den wesentlichen Hinweis auf die Identität des Mörders, denn beim Versuch, belastendes Beweismaterial loszuwerden, gibt er ihr »den falschen Stein für meinen Steingarten! Das hat mich auf die richtige Spur gebracht!« Und wie das Stricken wird auch das Gärtnern zur Metapher für Miss Marples Rolle als Detektivin; hübsche und nützliche Pflanzen werden zum Gedeihen ermuntert, während das Unkraut unter Kontrolle gehalten wird. Dies gilt auch für Menschen.
Wie viele Heldinnen vor ihr hat Miss Marple keine Familie, ausgenommen ihren Neffen Raymond West und - nach Der Dienstagabend-Club (in dem er sich verlobt und seine Freundin Joyce genannt wird) - dessen Frau Joan An 16 Uhr 50 ab Paddington (engl. 1957, das heißt, siebenundzwanzig Jahre, nachdem Raymond West erstmals erwähnt wird), gibt es den Großneffen David West, Raymonds zweiten Sohn, der für die englische Eisenbahngesellschaft arbeitet, doch wird er hier nur eingeführt, um Miss Marple beim Aufklären eines Eisenbahnmordes zu helfen. Raymond West, der düstere, modernistische und sehr erfolgreiche Romane schreibt, und seine Frau, eine Malerin, die ihre Bilder für avantgardistisch hält -»vorwiegend Krüge mit welkenden Blumen und zerbrochene Kämme auf Fenstersimsen«, lautet Miss Marples Beschreibung -, dienen als intellektuelle, großstädtische Folie für Miss Marples scheinbare Naivität, »eingebettet in diesem idyllischen Landleben.« Außerdem ermöglichen es ihr die beiden, ihrer Betätigung auch außerhalb von St. Mary Mead nachzugehen, da sie viel Geld verdienen und bereit sind, ihrer Tante den einen oder anderen Urlaub zu bezahlen. In Ein Mord wird angekündigt hat Raymond Miss Marple einen Aufenthalt im Royal Spa Hotel in Medenham Wells finanziert, so daß sie praktischerweise bei den im Dorf Little Cleghorn stattfindenden Morden zur Stelle sein kann, und in Bertrams Hotel zahlen Raymond und Joan für Miss Marples Unterbringung in diesem teuren Etablissement. Und natürlich wird Miss Marples Reise nach Westindien in Karibische Affaire von Raymond finanziert - »Warum kümmert er sich wohl so sehr um seine alte Tante?« fragt sich Miss Marple. »Vielleicht hat er sie wirklich ins Herz geschlossen ... auf eine etwas enervierte und herablassende Art« -, damit sie sich von den Folgen einer Lungenentzündung erholen kann.
Raymonds Großzügigkeit läßt natürlich die Frage nach Miss Marples finanzieller Lage aufkommen. Vermutlich erhält sie jährlich eine feste Summe, die ihr von ihren seit vielen Jahren verstorbenen Eltern vermacht wurde. Sie gehört zu der Gruppe von Damen in St. Mary Mead, die »in finanziell beschränkten Verhältnissen in ordentlichen Häuschen rund um die Kirche lebten und über alle Verstrickungen in den besseren Familien im Dorf bestens Bescheid wußten, auch wenn sie streng genommen selbst nicht unbedingt zu den besseren Kreisen gehörten« (Das Geheimnis der Amseln, Kap. 21). Für ihren Status als Dame ist es wesentlich, daß sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdient und daß jede Arbeit, die sie übernimmt - einschließlich der Aufklärung von Morden -, weder bezahlt noch offiziell anerkannt wird. So schreibt sich der unsympathische Inspektor Slack in Mord im Pfarrhaus ganz allein das Verdienst dafür zu, daß die Verbrecher vor den Richter gebracht werden: »Miss Marples Anteil an der ganzen Sache wurde natürlich mit keinem Wort erwähnt. Aber dann wäre sie auch beim bloßen Gedanken daran schon entsetzt gewesen.«
In vieler Hinsicht könnte Miss Marples Erziehung der der Schwestern Madden in George Gissings The Odd Women ganz ähnlich gewesen sein. Auch sie waren in den siebziger Jahren des 19. Jahrhundertsjunge Mädchen, und ihr Vater, ein Arzt, teilte voll und ganz Ruskins Lehre, daß Frauen innerhalb des Hauses eine eigene Sphäre brauchen, »die bis zum Letzten gegen kleinliche Sorgen verteidigt werden muß ... ob jung oder alt, Frauen sollten niemals an Geld denken müssen.« Die Madden-Schwestern hatten den für ihre Erziehung schicklichen Unterricht erhalten, und im Haus herrschte eine geistige Atmosphäre:

Aber Dr. Madden kam es nie in den Sinn, daß es für seine Töchter von Vorteil sein könnte, für berufliche Zwecke zu lernen. In düsteren Stunden fürchtete er natürlich die Gefahren des Lebens und beschloß, einige praktische Vorkehrungen für seine Familie zu treffen, aber er hatte es immer wieder verschoben ... Doch der Gedanke, daß seine Töchter für Geld arbeiten müßten, rief eine solche Abscheu in ihm hervor, daß er ihn nie ernstlich ins Auge fassen konnte. (The Odd Women, Kap. 1)

Miss Marples Vater muß bessere Vorsorge für seine Tochter getroffen haben als Dr. Madden für seine armen Mädchen, deren Überlebenskampf das pathetische Motiv des Romans von George Gissing bildet. Zwar kann auch Miss Marple das Geld nicht mit vollen Händen ausgeben; anders aber als bei den Madden-Schwestern treibt ihre vornehm-kärgliche Lebensweise sie weder in eine unschickliche Ehe noch in die Arme der Kirche oder zum Alkoholismus, sondern dient dazu, ihre Beobachtungsgabe für menschliches Verhalten zu schärfen und ihr bewußt zu machen, welchen finanziellen Nöten und Verlockungen manche Menschen ausgesetzt sind. In Ein Mord wird angekündigt bemerkt sie, daß ein von ihr ausgestellter Scheck gefälscht wurde, wodurch sie auf die Gaunereien des Mordopfers aufmerksam wird, aber auch erkennt, daß dieses Verhalten nicht einem Mörder entspricht, wie alle anderen glauben

Eine geschäftige, jung verheiratete Frau oder ein verliebtes Mädchen - die schreiben alle möglichen Schecks über alle möglichen Summen aus und wissen oft nicht mehr, wann sie wofür wieviel bezahlt haben. Aber eine alte Frau, die mit jedem Penny rechnen muß und die vor allem ganz bestimmte feste Gewohnheiten hat - die ist genau das falsche Opfer. Siebzehn Pfund! Über eine solche Summe würde ich nie einen Scheck ausschreiben. Zwanzig Pfund, eine runde Summe, für monatliche Löhne oder sonstige fixe Ausgaben. Und für meine persönlichen Dinge hebe ich immer sieben Pfund ab - früher waren es fünf, aber es ist alles so teuer geworden ... Im Grunde genommen war er doch ein harmloser junger Mann, er hat ab und zu kleine Betrügereien gemacht ... [aber] das sieht ihm doch gar nicht ähnlich ... das ist doch unmöglich! (Ein Mord wird angekündigt, Kap. 8)

Im gleichen Roman kann Miss Marple Mitgefühl empfinden für Dora Bunner und ihr jahrelanges Leben in »Ärmlichkeit. Sich die Kleider flicken und hoffen zu müssen, daß niemand es bemerkt. ... Und die Miete - immer die Miete -, die bezahlt werden muß, weil man sonst auf der Straße sitzt.« Zwar ist Miss Marple keineswegs so arm, wie Dora Bunner es war, doch kennt sie das entbehrungsreiche Leben alter Jungfern zur Genüge und weiß deshalb, wie dankbar Dora einer Person sein mußte, die ihr ein angenehmes Leben ermöglichte, selbst wenn sie dafür über einen Betrug hinwegzusehen hatte. Obwohl Miss Marple in vornehmer Altersarmut lebt, hat sie ein Hausmädchen. Anhand der Marple-Romane ist es möglich, die Lebensbedingungen weiblicher Dienstboten von den zwanziger bis zu den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts zu verfolgen und durch Agathas Christies skizzenhafte Beschreibungen hindurch eine Art sozialer Revolution zu erkennen. Mord im Pfarrhaus erschien 1930, als es 1,3 Millionen vorwiegend weibliche Hausangestellte gab (Carol Dyhouse: Feminism and the Family in England, 1989, S.109), und in diesem Roman ist Miss Marples Mädchen die gesichtslos bleibende Emily, der nicht zuzutrauen ist, daß sie die Betten richtig lüftet, bevor Raymond West zu Besuch kommt. Vielleicht war Emily eines der »netten Mädchen«, an die Miss Marple sich in Mord im Spiegel erinnert: Amy, Clara, Alice und andere, die aus dem Waisenhaus St. Faith stammten und von Miss Marple ausgebildet wurden, bevor sie anderswo in Dienst gingen:

Manche von ihnen waren ziemlich einfaltig gewesen, und Amy sogar eindeutig schwachsinnig. Sie hatten mit den anderen Dienstmädchen im Dorf geredet und geklatscht und waren mit dem Gehilfen des Fischhändlers ausgegangen, oder mit dem Hilfsgärtner von Old Hall oder einem der zahlreichen Assistenten von Mr. Barnes, dem Lebensmittelhändler. (Mord im Spiegel, Kap. 1)

Es ist eines dieser jungen, in der Ausbildung befindlichen Mädchen aus dem Waisenhaus St. Faith, Gladys Martin, das in Das Geheimnis der Amseln ermordet wird.

»Als Gladys zu mir kam, war sie siebzehn, und ich brachte ihr bei, wie man bei Tisch bedient, das Silber poliert und solche Dinge. Natürlich ist sie nicht lange geblieben. Das tut keine. Sobald sie ein bißchen Erfahrung gesammelt hatte, hat sie eine Stelle in einem Cafe angenommen. Das tun die Mädchen praktisch immer. Sie meinen, sie wären dann freier und hätten ein lustigeres Leben.« (Das Geheimnis der Amseln, Kap. 13)

Doch zumindest konnte sich Gladys, als dieser Roman 1953 geschrieben wurde, ihre Stellung aussuchen, im Gegensatz zu »meiner treuen Florence«, an die Miss Marple in 16 Uhr 50 ab Paddington zurückdenkt und deren einzige Alternative zum Los einer Hausangestellten anscheinend darin bestand, ihre alten Eltern bis zu deren Tod zu pflegen. Mittlerweile (1957) nimmt Florence in Brockhampton zahlende Gäste auf, und das liegt dem Ort des Verbrechens nahe genug, damit Miss Marple bei ihr wohnen und die Nachforschungen überwachen kann, die Lucy Eyelesbarrow anstellt.
Der wirkliche Wandel in der Lage von Hausangestellten zeigt sich in Mord im Spiegel (1962). In diesem Roman wird Miss Marple von Cherry versorgt, die aus einer Sozialsiedlung namens Development stammt und zum »Heer der jungen Ehefrauen [gehört], die im Supermarkt einkaufen gehen und Kinderwagen durch die stillen Straßen von St. Mary Mead schieben.« Cherry übernimmt Arbeiten im Haushalt, um Ratenzahlungen für Anschaffungen zu finanzieren; sie ist fröhlich und intelligent, und auch wenn ihre Abwaschkünste zu wünschen übriglassen, hat Miss Marple sie ins Herz geschlossen. Sogar im letzten Marple-Roman, der geschrieben wurde, Das Schicksal in Person, arbeitet Cherry noch bei ihr. »Es ist seltsam, daß es heute die gebildeten Mädchen sind, die Arbeit in Haushalten annehmen«, denkt Miss Marple: »Studentinnen aus dem Ausland, Au-pair-Mädchen, Studentinnen in den Semesterferien, junge Ehefrauen wie Cherry Baker.«
In Das Geheimnis der Amseln wird deutlich, daß Miss Marple irgend etwas mit der Leitung des Waisenhauses St. Faith zu tun hatte; dabei handelt es sich offensichtlich um ein kirchliches Waisen heim, das sich um Kinder kümmert, deren Eltern gestorben sind oder die ausgesetzt wurden. Noch einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gab es relativ viele solcher Institutionen, und sie waren stolz darauf, den jungen Leuten ehrbare und einfache Arbeitsplätze zu vermitteln - die Mädchen wurden Krankenschwestern oder Haus angestellte, die Jungen Handwerker oder Armeeangehörige. Miss Marples Einstellung gegenüber dem Waisenhaus ist von wohlwollen der Herablassung geprägt: »Wir tun unser Bestes für die Mädchen    \ dort, versuchen, ihnen eine gute Ausbildung zu geben und derlei.« Hausangestellte, insbesondere Dienstmädchen, werden in Agatha Christies Romanen häufig von oben herab behandelt: »Weibliche Hausangestellte zählten damals zu den am meisten unterdrückten sozialen Gruppen, aber Agatha Christie hat kein Mitleid mit ihnen«, sagt Robert Barnard (A Talent to Deceive, 1980, S.42) und führt dies auf Christies klischeeverhafteten und kühlen Realismus zurück: »Ihrer Erfahrung nach waren Küchenmädchen ungebildet und wenig wortgewandt, und deshalb wurden sie auch so dargestellt« (S.43). Jedoch ist die Beziehung zwischen Hausherrin und Angestellter in den Marple-Geschichten vielleicht herzlicher, als Robert Barnard wahrhaben will, und gelegentlich veranlaßt die ungerechte Behandlung eines Hausmädches Miss Marple dazu, ihren detektivischen Spürsinn einzusetzen. In der Kurzgeschichte »Die Perle« aus Die Uhr war Zeuge verteidigt sie Gladys - »ein impertinentes Ding und viel zu sehr von sich eingenommen, aber letztlich grundehrlich« -   gegen den Vorwurf der Unehrlichkeit, und in Das Geheimnis der  Amseln rächt sie den Tod einer anderen Gladys. Doch diese Fälle dienen eher dazu, Miss Marple als integre und mitfühlende Person darzustellen, und weniger, das Leben und die Persönlichkeit der Dienst boten zu zeigen. Im allgemeinen nämlich ist Miss Marples Einstellung mehr von einer für die Mittelschicht typischen Gereiztheit und Verständnislosigkeit angesichts der Dummheit und Nachlässigkeit der Arbeiterklasse geprägt: »Sechs Spinnweben auf der Bilderleiste, das fiel Miss Marple ins Auge. Diese Mädchen schauen doch nie nach oben! Trotzdem war sie zu freundlich, um ein Wort darüber zu verlieren.« Es erhärtet Robert Barnards Bemerkung über den Realismus Agatha Christies, daß erst mit der Gestalt der unabhängigen, intelligenten Cherry - ein Produkt des Wohlstands und der Bildungsmöglichkeiten der Nachkriegszeit - in Mord im Spiegel (engl. 1962) einer Beziehung zwischen Miss Marple und einer ihrer Angestellten Beachtung geschenkt und die gesellschaftliche Stellung des »Hausmädchens« überhaupt beschrieben wird.
Wir erfahren nie genau, wer oder was Miss Marples Eltern waren, doch aus Andeutungen können wir entnehmen, daß ihr Vater ein Geistlicher war und sie zu einer Pfarrersfamilie gehörte. In Fata Morgana denkt sie an eine Reise nach Florenz zurück, als sie »ein englisches Mädchen mit rosigem Teint aus dem Bezirk um die Kathedrale« war, und dann fallen Bemerkungen über einen Onkel Thomas, der Stiftsherr von Ely, und einen weiteren Onkel, der Stiftsherr der Kathedrale in Chichester gewesen war. Sie wurde, wie es in dieser Gesellschaftsschicht im 19. Jahrhundert üblich war, von einer Gouvernante erzogen, und davon erzählt sie Inspektor Slack in »Die Perle« (Die Uhr war Zeuge):

»Es ist so schwierig, sich genau auszudrücken, finden Sie nicht? ... sehen Sie, wenn man keine moderne Erziehung genossen hat, wie heute - nur eine Gouvernante, die einem die Regierungszeiten der englischen Könige beibrachte und ein bißchen Allgemeinbildung ... Und wie man Etiketten macht und derlei. Sehr weitschweifig, wissen Sie, aber nicht, wie man bei einer Sache bleibt.«

Wie wir sehen werden, führt die weitschweifige Methode - Miss Marples Markenzeichen bei ihrer detektivischen Arbeit - zu besseren Ergebnissen als das geradlinige Vorgehen der Detektive, die mit ihr im Wettstreit stehen, insbesondere Inspektor Slack. Und dann ist »Etiketten« eine nette, ironische Bemerkung, denn diese scheinbar nutzlose Betätigung ist eine weitere von Miss Marples Stärken beim Aufklären von Verbrechen: Gerade das Klassifizieren und »Etikettieren« von Menschen anhand von Analogien führt sie häufig untrüglich zum Verbrecher.
Durch flüchtige Einblicke können wir die Kindheit Miss Marples erahnen: Ein großes, etwas verfallenes Pfarrhaus, der Vater ein geistesabwesender Pfarrer, der ein wenig an den Kanonikus Penny-feather in Bertrams Hotel erinnert, eine energische Mutter und Großmutter, mit denen sie gelegentlich Reisen nach Paris oder London unternahm, eine Tante Helen und mindestens eine Schwester, von der wir zwar nie hören, auf die wir aber aus der Existenz des Neffen Raymond West schließen müssen. Miss Marples Vergangenheit erinnert in gewisser Weise an Agatha Christies eigene Kindheit, an die sie so gern zurückdachte und die ihr als reiche Quelle für Nostalgie diente.
In Bertrams Hotel wird diese Nostalgie am nachhaltigsten herauf beschworen, aber auch als eine verdächtige Mischung von Erinne rung und Täuschung dargestellt. Chefinspektor Davy fällt auf, daß das Hotel ein Schwindel ist, insbesondere aber bemerkt er die alte Dame »mit dem weißen, weichen Haar und dem Strickzeug ... Fast könnte sie auf der Bühne stehen, oder? Der Inbegriff einer Groß tante.« Miss Marple ist eine »authentische« Großtante, während die meisten anderen Gestalten aus der alten Zeit nicht das sind, was zu sein sie vorgeben. Der kriminalistische Kunstgriff besteht darin, diese Gestalten zu entlarven und als das darzustellen, was sie in Wirklichkeit sind, nämlich Diebe und Betrüger. Es entbehrt nicht der Ironie, daß die anachronistischste und nostalgischste dieser Gestalten, Miss Marple, das Mittel zur Enthüllung ist: der Mythos, der sich selbst entlarvt. Doch während die doppelsinnige Enthüllung vor sich geht, werden bei den Leserinnen Erinnerungen oder Phan tasiebilder wachgerufen, wie ein gutes Hotel früher zu sein pflegte, und es wird eine verlorene, sehnlichst herbeigewünschte Welt ehr baren Wohlstands, bequemen Lebens und guten Essens beschworen, wozu insbesondere die Muffins der Kindheit gehören. An einer Stelle dieses Romans begibt sich Miss Marple auf eine sentimentale Reise durch London, sucht all die Geschäfte, Gärten und Plätze auf, die sie als Mädchen kannte, und bemerkt die Veränderungen: Familienhäuser, die in Mietwohnungen unterteilt wurden, und ein riesiger Wolkenkratzer modernster Bauweise (wir befinden uns im Jahr 1965) am Lowndes Square, wo Lady Merridew, eine entfernte Cousine, früher einmal in gewissem Wohlstand lebte. Auch für die Leserinnen ist dies eine sentimentale Reise, insbesondere für solche, die mit freundlichem Bedauern auf die Vorkriegszeit zurück blicken können, als eine wohlhabende Frau der Mittelschicht, wie Miss Marples Tante Helen, eine geschlagene Stunde mit einer persönlichen Bedienung in der Lebensmittelabteilung der Army and Navy Stores verbringen konnte und »an jedes nur mögliche Nahrungsmittel dachte, das gekauft und für den künftigen Gebrauch in der Speisekammer aufbewahrt werden konnte«.
Aber diese Welt brachte auch Einschränkungen mit sich, vor allem für ein junges Mädchen wie Jane Marple, die eine vornehme Erziehung genoß. Während Tante Helen ihre Einkäufe tätigte, zappelte die kleine Jane herum und mußte sich sagen lassen, sie solle »in die Glasabteilung gehen und sich dort vergnügen«. Was ihr Vergnügen betraf, mußten Mädchen in jener Zeit sich mit sehr wenig zufrieden geben. »Das Motto meines Vaters lautete, daß Jungen überall hingehen und alles kennenlernen sollten, während ein Mädchen zu Hause bleiben und nichts kennenlernen sollte«, schrieb M V. Hughes in A London Childofthe 1870s (1977). Wenn dies tatsächlich die allgemeine Einstellung war - und MV. Hughes beschreibt ihre Kindheit als außergewöhnlich glücklich -, dann konnte es wirklich als ein aufregender Zeitvertreib für ein junges Mädchen gelten, sich in der Glasabteilung umzusehen.
Durch diese gelegentlichen Verweise auf das lebhafte kleine Mädchen, dessen Erfahrungen starkauf denen Agatha Christies mit ihrer Mutter und ihrer Oma-Tante beruhen, erfahren wir zwar einiges über Miss Marples Kindheit, aber über ihre Jahre als junge Frau hören wir nichts weiter. Während Agatha Christie (zweimal) heiratete,  ein Kind bekam, Schriftstellerin und Amateurarchäologin wurde, Reisen unternahm und Geld und Ruhm einheimste, führte Jane Marple eher ein Schattendasein, von dem wir sehr wenig erfahren, bis sie sich im Alter detektivisch betätigt. »Ich bin an Kranke gewöhnt«, sagt sie in Das Schicksal in Person, »im Laufe meines Lebens habe ich viel Umgang mit ihnen gehabt.« Aus dieser Bemerkung können wir schließen, daß sie ihre mittleren Lebensjahre damit verbrachte, ihre gebrechlichen Eltern und vielleicht auch andere Verwandte zu pflegen. Außerdem spricht sie von der Einsamkeit des Alters: »Ich habe Neffen und Nichten und liebe Freunde - aber es gibt niemanden, der mich als junges Mädchen kannte - niemand, der zu der alten Zeit gehört. Jetzt bin ich schon ziemlich lange allein« (Ein Mord wird angekündigt, Kap. 17). Bevor sie sich von ihrer Reifezeit verabschiedete, muß sie viele Jahre - wenn auch auf wohlerzogene Weise - damit zugebracht haben, auf den richtigen Mann zu warten; und selbst wenn sie das gar nicht ersehnte oder wünschte, wurde es doch von ihr erwartet. Wie angenehm ihr das Leben als unverheiratete Frau auch gewesen und wie dankbar sie später dafür sein mochte, kann ihr doch nicht entgangen sein, daß es eine gewisse Schande bedeutete, nicht geheiratet zu haben, und das Stigma der alten Jungfer muß, nachdem sie die Blüte der Jugend hinter sich gelassen hatte, an ihr gehaftet haben, wie an der Heldin von Winifred Holtbys The Crowded Street:

Jetzt wußte sie, für was die anderen sie hielten - ein stures altes Fräulein, gemein und boshaft. Sie sah sich mit den Augen der jungen Mädchen vor der Tür. Sie verglich deren fröhliche, rücksichtslose Jugend mit ihrer eigenen bitteren Reife. Sie sah die zehn vergeudeten Jahre, die hinter ihr lagen, und ihre öde Zukunft. Sie sah sich, vor Enttäuschung verbittert, wie sie Delia ihr Glück und Connie ihre Freiheit neidete und sich über Aufgaben ärgerte, die andere ebensogut hätten erledigen können, und wie sie Großzügigkeit von Frauen annehmen mußte, die sie verachtete. (The Crowded Street, Kap. 24)

Doch als wir Miss Marple schließlich kennenlernen, scheint sie es nicht zu bedauern, keine Ehe eingegangen zu sein. In Bertrams Hotel erinnert sie sich dankbar daran, wie ihre Mutter eine unpassende Jugendliebe verhinderte:

Jane Marple, dieses lebenslustige junge Mädchen mit dem rosigen Teint... ein ziemlich törichtes Geschöpf in vieler Beziehung ... ach, wer war denn noch der recht unpassende junge Mann, dessen Name - oh, du liebe Güte, sie konnte sich nicht einmal mehr darauf besinnen! Wie weise von ihrer Mutter, daß sie diese Freundschaft so entschlossen im Keim erstickt hatte. Jahre später war sie ihm wieder begegnet - und er war wirklich ganz schrecklich! Damals aber hatte sie sich mindestens eine Woche lang jeden Abend in den Schlaf geweint. (Bertrams Hotel, Kap. 2)

Vielleicht hält sich ihr Bedauern darüber, nicht geheiratet zu haben, auch deshalb stark in Grenzen, weil sie keine allzu hohe Meinung von den Männern hat. Zwar weiß sie deren Männlichkeit durchaus zu schätzen - »ihre offenen blauen Augen nahmen die männlichen Proportionen und das ansprechende Gesicht von Detective-Inspek-tor Craddock mit ausgesprochen weiblich-viktorianischer Bewunderung wahr ... Detective-Inspektor Craddock errötete« -, doch abgesehen davon läßt sie spitze Bemerkungen über »die Herren der Schöpfung« fallen und hält das andere Geschlecht »für eine Horde wilder Tiere«. Meist zielen ihre Bemerkungen über Männer darauf ab, daß sie kindisch und fordernd sind: »Männer sind im allgemeinen ziemlich egoistisch ... Männer fühlen sich so leicht vernachlässigt«, sagt sie in Die Tote in der Bibliothek, und sie sind weitaus gefühlsbetonter und weniger logisch, als sie gerne glauben möchten, »häufig nicht so nüchtern, wie sie erscheinen«. In den Romanen wird auch wiederholt gezeigt, daß die männliche Logik zwar, wie Miss Marple sagt, »immer dazu fähig zu sein scheint, Dinge eindeutig einzuordnen«, doch entgehen Männern die wirklich aussagekräftigen Tatsachen, oder sie tun diese als irrelevant ab. Auch in moralischer Hinsicht lassen Männer oft zu wünschen übrig; sie sind tyrannisch wie Colonel Protheroe in Mord im Pfarrhaus, besitzergreifend wie Dr. Kennedy in Ruhe unsanft oder schlicht und ergreifend lästig wie Major Palgrave in Karibische Affaire. Vor allem aber sind Männer nicht wirklich vertrauenswürdig; da sie ökonomisch und sexuell mehr Macht besitzen als Frauen, sind sie habgierig und nicht fürsorglich:

»Frauen haben immer und überall das Nachsehen in dieser Welt. Sie sind verletzlicher. Sie bekommen Kinder, und dann machen sie sich Sorgen - schreckliche Sorgen - um ihre Kinder. Und sobald sie nicht mehr schön sind, werden sie von den Männern, die sie lieben, nicht mehr geliebt. Sie werden betrogen und verlassen und beiseite geschoben.« (Fata Morgana, Kap. 16)

Eine junge Frau, nicht Miss Marple, sagt diese Worte, doch sie haben ein unverkennbares Gewicht, und zusammen mit den vielen spitzen Bemerkungen, die Miss Marple über Männer macht, legen sie nahe, daß es vielleicht gar nicht so schlecht ist, unverheiratet zu sein, und daß das Junggesellinnendasein durchaus seine Vorzüge hat.
Im letzten Miss Marple-Roman, Das Schicksal in Person, erzählt Miss Marple dem Anwalt, von dem sie nach der erfolgreichen Aufdeckung des Falls die versprochene Geldsumme abholt, daß es ihr Spaß bereiten wird, es auszugeben:

An der Tür warf sie einen Blick zurück und lachte. Einen Augenblick lang mußte Mr. Schuster ... an ein hübsches junges Mädchen denken, das bei einer Gartenparty auf dem Land den Pfarrer begrüßte. Einen Augenblick später wurde ihm bewußt, daß es eine Erinnerung an seine eigene Jugend war. Doch eine Minute lang hatte Miss Marple ihn an dieses junge, fröhliche Mädchen erinnert, das sich amüsieren wollte. (Das Schicksal in Person, Kap. 23)

Damit wird nicht nur angedeutet, daß Jane Marple als junge Frau lebhaft und attraktiv war, sondern auch, daß sie immer noch jung ist, daß sie durch ihr Leben als alte Jungfer nichts von ihrem sprühenden Geist eingebüßt hat, daß sie die Energie, die eine Ehe vielleicht aufgezehrt hätte, in andere Dinge steckt, insbesondere in detektivische Ermittlungen. Gerade durch den Umstand, daß sie unverheiratet ist und somit bestimmten Aktivitäten nachgehen kann, bleibt sie jung. In dieser Hinsicht erinnert Miss Marple, die alte Jungfer, an der die Zeit mehr oder minder spurlos vorübergeht, an das Dorf St. Mary Mead, in dem sie lebt. Beide scheinen eine Art mythischer Dauerhaftigkeit zu besitzen, die sie vor biologischen und gesellschaftlichen Veränderungen bewahrt. Als St. Mary Mead in Mord im Pfarrhaus erstmals Erwähnung findet, wird der Ort zwar kaum beschrieben, aber es gibt einen Plan, auf dem die typischen Bauten eines englischen Dorfes verzeichnet sind: die Kirche und das Pfarrhaus, das Haus des Arztes, der Bahnhof, der Pub »Zum Blauen Eber«, der Gemeindesaal am Rand des Dorfes und verschiedene kleine Landhäuser und Geschäfte. Auch in den folgenden Romanen hält Agatha Christie an diesem Grundriß fest, doch durch Miss Marple schildert sie äußerliche Veränderungen:

Der alte Kern von St. Mary Mead existierte noch. Der »Blaue Eber« war noch da, ebenso wie die Kirche und das Pfarrhaus und die kleine Gruppe von Häusern aus der Zeit Königin Annes und König Georges, zu der das ihre gehörte. ... Die Häuser sahen noch mehr oder minder wie früher aus, aber das konnte man von der Dorfstraße nicht behaupten. Wenn ein Laden den Besitzer wechselte, führte das zu sofortiger und maßloser Modernisierung. (Mord im Spiegel, Kap. 1)

Mord im Spiegel wurde 1962 veröffentlicht. Zu dieser Zeit also denkt Miss Marple über diese Veränderungen nach, insbesondere über die neue Sozialbausiedlung hinter dem Pfarrhaus, wo früher die Kühe des Bauern Giles weideten. »Und warum auch nicht? fragte Miss Marple sich streng. Solche Dinge mußten einfach sein. Die Häuser waren notwendig, und sie waren gut gebaut, wie ihr zumindest versichert worden war.« Dies ist ein Beispiel dafür, wie Agatha Christie Miss Marple dazu veranlaßt, das Vergehen der Zeit und das Aufkommen neuer Ideen anzuerkennen. In Ein Mord wird angekündigt (engl. 1950) etwa kommen unter anderem der Kalte Krieg, der Niedergang des Bergbaus, psychologische Theorien, Kriegerwitwen, Flüchtlinge und Landarbeiterinnen zur Sprache, und in Bertrams Hotel (engl. 1965) erwähnt Miss Marple nicht nur Marx, sondern auch die Beatles. Auf etwas versteckte Art erhalten die Geschichten so einen Anstrich von Modernität. In Bertrams Hotel, beschreibt Lady Seiina Hazy, jene knauserige Zeugin einer gemeinsamen Vergangenheit mit dem treffenden Namen [hazy: verschwommen, nebelhaft] St. Mary Mead als ein »reizendes, unberührtes Dorf ... Ich nehme an, es sieht dort aus wie eh und je?« Doch Miss Marple widerspricht und denkt an »die Vergrößerung des Gemeindesaals und das veränderte Aussehen der Hauptstraße mit ihren modernen Ladenfassaden«. Aber es sind nur die Fassaden der Läden, die sich verändert haben, und der Gemeindesaal wird vergrößert, nicht abgerissen; es ist beruhigend, daß die grundlegende Struktur des Dorfes die gleiche bleibt, ebenso wie die Menschen, die dort leben:

Die neue Welt war die gleiche wie die alte. Die Häuser sahen anders aus, die Straßen hießen jetzt anders, die Kleider waren anders, die Stimmen waren anders, aber die Menschen waren genauso wie eh und je. Und auch wenn etwas andere Wörter und Redewendungen verwendet wurden, drehten sich die Gespräche um die gleichen Themen. (Mord im Spiegel, Kap. 2)

Wie Miss Marple, die ihre viktorianischen Kleider ablegt, verändert St. Mary Mead die äußere Erscheinung, bleibt sich im Grunde aber treu. Und da St. Mary Mead sinnbildlich für die ganze Gesellschaft steht, wird damit angedeutet, daß sich auch die menschliche Gesellschaft und die menschliche Persönlichkeit nicht verändern. In der konservativen Welt des Detektivromans gelten Dauerhaftigkeit und Beständigkeit: der Wandel ist oberflächlich, die Störung kurzfristig, der Mörder wird entdeckt, und die typischen Eigenschaften der Menschen können durch eine weise, erfahrene Person richtig erfaßt und eingeordnet werden. Im nächsten Kapitel sehen wir, daß die alte Jungfer Miss Marple genau diese weise und erfahrene Person ist, die sich über die unveränderlichen Launen der menschlichen Natur den Überblick bewahrt. Es entbehrt natürlich nicht der Ironie, daß sie eine Gesellschaft beschützt, die ihr Verachtung entgegenbringt oder bestenfalls mit amüsierter Toleranz begegnet. Als erfolgreiche Detektivin untergräbt Miss Marple zwar die Kategorie der »alten Jungfer«, mit der sie von der Gesellschaft herabgesetzt und nicht ernstgenommen wird, aber ihre Rolle besteht nichtsdestoweniger darin, diese Gesellschaft mit ihren patrilinearen Erbrechten und Eigentumsverhältnissen zu schützen und zu stabilisieren, die sich immer am härtesten gegen unverheiratete Frauen gerichtet haben.