Vorbemerkung

O nein, ich möchte nicht umsonst gelebt haben,
wie die meisten Menschen. Ich möchte für die
Menschen, die um mich herum leben, von Nut
zen oder eine Freude sein, auch wenn sie mich
nicht kennen. ich möchte weiterleben, auch
nach meinem Tod.
Aus Anne Franks Tagebuch, 25. März 1944

Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, so könnte ich meine gegenwärtige Stimmungslage beschreiben. So viel Gegensätzliches stürmt auf uns ein. Entwicklungen, die zu bisher unvorstellbaren Hoffnungen ermutigen ebenso wie Schreckensnachrichten von Katastrophen und Tragödien, die die eigene Ohnmacht bewußt werden lassen, und nicht zuletzt die schockierende Erkenntnis, daß es bei uns angesichts der Wandlungen in Osteuropa so etwas wie Angst vor dem Frieden zu geben scheint. Nach mehr als vierzig Jahren Kaltem Krieg, Aufrüstung und Teilung Europas in zwei waffenstarrende Militärblöcke scheint die Utopie einer gewaltfreien Transformation der Systeme zumindest in einigen osteuropäischen Ländern in greifbare Nähe zu rücken. Glasnost und Perestroika haben z. B. die Bedrohungsängste im Westen entscheidend gemindert. Die Politik der militärischen Stärke und der atomaren Abschreckung verliert an Akzeptanz; über ein Drittel unserer Bevölkerung wünscht den Abzug aller alliierten Truppen aus der Bundesrepublik; die Zahl der Kriegsdienstverweigerer steigt »in besorgniserregendem Maße«, so Ex-Minister Rupert Scholz; und sogar in der Schweiz, wo jede Kritik an der Armee tabu ist, besteht Gefahr für das Alpenheer, weil die Initiative »Für eine Schweiz ohne Armee« mit weit über 100 000 Unterschriften eine Volksabstimmung in dieser Frage durchgesetzt hat.
Auch bei den Militärblöcken, NATO und Warschauer Pakt, tut sich Erstaunliches: Trägersysteme von Mittelstreckenwaffen werden auf beiden Seiten abtransportiert und zersägt oder zerquetscht (ausgenommen bleiben allerdings die atomaren Gefechtsköpfe, die wiederverwendet werden!), Rüstungskontrollinspektoren geben sich in Moskau und Washington die Klinken in die Hand, rund eine halbe Million sowjetischer Soldaten sollen aus Mitteleuropa zurückgezogen werden, ungarische Grenztruppen demontieren Teile des Eisernen Vorhangs an der österreichisch/ungarischen Grenze, und die jahrelang unterdrückte Solidarnosc-Bewegung in Polen hat sich gewaltfrei durchgesetzt. Und Moskau will den Militäretat bis 1995 halbieren. Auch andere Nachrichten wirk-en beflügelnd: Immerhin ist das Ende der WAA in Wackersdorf besiegelt, und in Osteuropa beginnt eine AKW Ausstiegsdiskussion. UdSSR und Ungarn beginnen mit der Rehabilitierung der Opfer der Vergangenheit. Die Bundesregierung hat es nach vierjährigem unwürdigen Gezerre endlich geschafft, der Antifolterkonvention zuzustimmen, trotz der makabren Bedenken des bayerischen Innenministers Stoiber, der befürchtet, daß so ein neuer »Asyltatbestand« geschaffen würde. Und Grün wächst, jedenfalls in Frankreich und Großbritannien bei den Europawahlen 1989. Doch der schöne Schein trügt leider nur allzu oft! Hinter der Abrüstungskulisse setzt die NATO, mit den USA an der Spitze, die maritime Hochrüstung fort, um auch nach einer Verringerung der Landstreitkräfte ihre Überlegenheit über die Sowjetunion zu bewahren. Und US-Rüstungsexperten berichten sogar von der Entwicklung neuer amerikanischer Superwaffen mit bislang unerreichter Durchschlagskraft und Dimension, die in der Lage sein sollen, die Wände der tiefsten unterirdischen Befehlszentralen zu durchschlagen. Die »Enthauptungsstrategie« der frühen 80er Jahre bestimmt also immer noch die Rüstungsentwicklung! Doch zur Verharmlosung wird jeder neue Rüstungsschritt als »Modernisierung getarnt. Das auch für die Aushöhlung des INF-Vertrags, dessen Zugeständnisse von der NATO mit einer Vielzahl neuer Waffensysteme ausgeglichen werden. Auch unserer Aussöhnung mit dem Osten werden immer wieder Steine in den Weg gerollt. Z. B. mit der Rede des CSU Vorsitzenden Theo Waigel beim Schlesiertreffen 1989, in der ausdrücklich festgestellt wurde, daß die deutsche Frage rechtlich, politisch und geschichtlich offen sei, so als ob es Willy Brandts Ostpolitik und die von ihm geschlossenen Verträge nie gegeben hätte. Doch sicher war das nicht die letzte Verbeugung eines führenden Christdemokraten vor den in die Parlamente drängenden Rechtsextremen, deren Aufwachsen auch damit zusammenhängt, daß es bei uns mehr Verdrängung und Beschönigung als ehrliche Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit gegeben hat. Daß man auch bei den Offiziellen im zweiten deutschen Staat von Veränderungen wenig hält, ist angesichts der wenig rühmlichen, gesamtdeutschen Inflexibilität schon nicht mehr erstaunlich. Zwar hat man demonstrativ einen jüngeren zum Staatsratsvorsitzenden gemacht, doch erschweren die alten Autoritäten, SED, Staatssicherheitsdienst und Volkspolizei weiterhin das Streben nach einem demokratischen Sozialismus.

Wußte man sich doch sogar mit der bluttriefenden Greisenriege in Peking einig, der man in abstoßender Weise zur »Zerschlagung der Konterrevolution« auf dem Platz des Himmlischen Friedens gratulierte. Gorbatschows »Europäisches Haus« hat leider auch noch andere dunkle Keller, im Westen wie im Osten, wie die Beispiele Türkei und Rumänien zeigen, um nur diese zu nennen. Und auch in der Sowjetunion selbst ist der Erfolg des neuen Denkens noch keineswegs gesichert. Nicht umsonst fürchtet A. Sacharow einen konservativen Rückschlag. Er nennt Mangelwirtschaft, das Fehlen von sozialer Gerechtigkeit und Nationalitätenprobleme als Gründe für die prekäre innenpolitische Lage und fordert die Regierung auf, die wirtschaftlichen und ethnischen Probleme zu lösen, um eine Katastrophe wie in China zu verhindern. Was dort geschah und geschieht, gehört zu den schwärzesten Alpträumen der Gegenwart. Im letzten Kapitel dieses Buches gehe ich darauf ein. Politik mit dem Tod ist allerdings nicht auf den Fernen Osten beschränkt. Wirtschaft und Industrie im Westen, nicht zuletzt in der Bundesrepublik, haben keinerlei Hemmungen, am Tod zu profitieren, wenn es nur die Auftragsbücher füllt. Deutsche Beteiligungen am Giftgaseinsatz gegen Kurden und im Iran/ Irak-Krieg, bei der nuklearen Bewaffnung z. B. von Indien, Brasilien, Südafrika, bei der Produktion von Mittelstreckenraketen in verschiedenen Ländern demaskieren die Schamlosigkeit eines Wirtschaftens ohne Moral. Um so bedrückender ist der Gedanke, daß im Zuge des Ausbaus des EG-Binnenmarktes unter dem Deckmantel einer harmonisierten Technologie- und Industriepolitik das aggressive Export-Marketing der Europäischen Rüstungsindustrie noch stärker in die Krisengebiete der Dritten Welt drängen wird. Hand in Hand damit ist der Aufbau einer westeuropäischen atomaren Abschreckungsmacht zu befürchten, wofür jüngst sogar Egon Bahr bei rot/grünen »Geheim"-Gesprächen plädiert hat, wie in diesem Sommer in den Zeitungen zu lesen war.
Laut »Spiegel« vom 24. 7. 1989 hat bei einem dieser Gespräche Egon Bahr nicht einmal dann Widerspruch von den grünen Realos geerntet, als er apodiktisch erklärte, ohne ein Bekenntnis zur NATO gehe überhaupt nichts mit der SPD. Markiert dies den Abschied der Grünen Partei von der urgrünen Position der Blockfreiheit und der Entmilitarisierung Europas? Von einer Position, die uns Grüne für so viele zum Hoffnungsträger gemacht hat! Wird dieser Abschied dadurch erträglicher, daß er z. B. vom Vorstandssprecher Ralf Fücks in die Mogelpackung gesteckt wird, man wolle ein Programm, das Abrüstung und Blocküberwindung »unterhalb« der NATO-Frage formuliere? Eher sieht es danach aus, daß der Koalitionsmöglichkeit wegen auf alle, der SPD nicht genehmen, authentischen grünen Positionen verzichtet werden soll! Dafür sprechen schon die Äußerungen Joschka Fischers, der einen Austritt der Bundesrepublik aus der NATO für kontraproduktiv und im Ergebnis reaktionär hält (»Die Zeit« vom 7. 4. 1989) und sehr geschickt das visionäre ökologische Umbauprogramm der Grünen zum Thema Industriegesellschaft in ein SPD-nahes Wirtschafts-Reparaturprogramm umgewandelt hat. Und das zu einem Zeitpunkt, in dem in Ungarn immer ungenierter ein späterer Austritt aus dem Warschauer Pakt zugunsten einer ungarischen Neutralität gefordert wird, weil »die Idee der Neutralität zu einem Bestandteil der ungarischen demokratischen politischen Kultur werden soll«, wie es z. B. die ungarischen Freien Demokraten formuliert haben. Grüner Realismus zeigt sich auch, wenn zwei führende grüne Realpolitikerlnnen schreiben: »Wir verhehlen nicht, daß uns die Vorstellung, auf Katzenpfoten an die Bonner Regierungsmacht zu kommen - geräuschlos, gewandt und mit Eleganz -, keineswegs unsympathisch wäre.« »Vlsionen gehören nicht auf die Regierungsbank« meinen die beiden außerdem und beweisen damit gerade jenes opportunistische Machterwerbsdenken, zu dessen Überwindung die Grünen einst aufgerufen haben. Welch ein Armutszeugnis, wenn in unserer gefährdeten Welt rettende Visionen gerade von einer grünen Regierungsbank ferngehalten werden sollen und die berühmten Sachzwänge den rot/grünen Alltag in unserer Republik bestimmen sollen. Da halte ich es lieber mit Christa Wolf, die gesagt hat: »Es ist der Geist der real existierenden Utopie, ohne den jede Wirklichkeit für den Menschen unlebbar wird.« Allerdings habe ich in meiner Bonner Zeit erfahren müssen, daß auch in der Opposition die Grünen immer mehr an visionärer Kraft verloren haben, ständig um den Nachweis bemüht, als künftiger Partner in einer Regierungskoalition akzeptabel zu sein. Als ob das ein Maßstab für konsequente ökologische Politik wäre. Und als ob es nicht viel mehr darauf ankäme, anstatt Macht über Menschen oder in ihrem Namen auszuüben, mit vielen Machtlosen eine Gegenmacht für eine zivile Gesellschaft zu mobilisieren. Gerade in den Jahren der Opposition hatten wir Grüne ja die Chance, wie Franz Alt sagt, notwendige Lernschritte zu tun: um-fühlen, um-denken, um-handeln. Beim Einzug in den Deutschen Bundestag 1983 hatten wir versprochen, die sozialen Bewegungen niemals zu verraten. Das bedeutete für mich, unsere »Koalitionen an der Basis« zum Beispiel mit Greenpeace, ai, Selbsthilfegruppen, Kriegsdienstverweigerern, Elterngruppen krebskranker Kinder, Ureinwohnern, alten und kranken Menschen zu festigen. Dabei habe ich mich beharrlich und kompromißlos für Menschen und Themen eingesetzt, die bisher weitgehend unbeachtet geblieben waren.
Viel Ausdauer und Unnachgiebigkeit, viel Energie und das Ertragen der totalen Nichtachtung von Medien wie auch der Häme mancher Kolleglnnen waren und sind da nötig. Ebenso der Glaube an die Notwendigkeit überparteilicher Lösungen in bestimmten Fragen. Daß ich solche überparteilichen Lösungen zum Beispiel im Fall der besseren psychosozialen Versorgung krebskranker Kinder und bei der Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen in Tibet und in China herbeiführen konnte, zeigt mir, daß Politik in Bonn auch Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit bedeuten kann. Es liegt an uns, Politik so zu gestalten, daß sie für den Menschen Partei ergreift, und zwar für den schwächsten zuerst. Die Seinswerte im Sinne Erich Fromms müssen Vorrang haben vor den Besitzwerten. Das ist nichts weniger als politisches Denken mit spiritueller Einsicht zu verbinden, denn mit Politik allein läßt sich kein einziges Problem lösen. Wie recht hatte Albert Einstein, als er sagte: »Nicht die Atombombe ist das Problem, sondern das Herz des Menschen.« Aber bei vielen Journalisten und Politikern im Bonner Raumschiff wird solch stille Weisheit ignoriert, weil Politik nur als Geschäft begriffen wird, bei dem es in erster Linie auf große Gesten, Worthülsen und taktische Spielchen ankommt. Dieses Politikverständnis sollte längst überwunden sein, doch leider findet es immer mehr Anhänger, auch bei den Grünen. Wer sich hier ausschließt, weil er gewissenhafte kontinuierliche politische Arbeit leisten will und deshalb überhaupt keine Zeit hat zu nächtlichem Geklüngel mit Medienvertretern, muß in Kauf nehmen, daß die Öffentlichkeit von seinen Initiativen so gut wie nichts erfährt. Das zählt auch zu meinen Bonner Erfahrungen, ist allerdings kein Grund, sich entmutigen zu lassen, denn wenn man nicht aufgibt, kann man zusammen mit anderen auch im Stillen Vieles bewirken. Das habe ich ebenfalls in Bonn gelernt. Gegen die Gleichgültigkeit, der man so oft begegnet, muß man sich wehren - man darf nicht an ihr zerbrechen! Anknüpfend an mein Buch »Um Hoffnung kämpfen« vor dem Einzug in den Bundestag, soll diese Textsammlung die Leserlnnen mit einigen meiner politischen Schwerpunkte in meiner Bundestagsarbeit bekannt machen. Dabei sind die Bereiche »Kinderkrebs« und »Menschenrechtsverletzungen in Tibet« ausgeklammert geblieben, weil sie in gesonderten Veröffentlichungen bereits vorgestellt worden sind. Manch anderes Thema konnte aus Platzgründen leider nicht behandelt werden.

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