Vorwort

Für ein Buch wie dieses ist es höchste Zeit. Seit Jahren wird der Mangel beklagt: In Frauenringvorlesungen und auf den Tagungen feministischer Literaturwissenschaftlerinnen wird verheißungsvoll von den spannenden Entdeckungen der Kolleginnen und Schwestern aus den englischsprachigen Ländern berichtet — nachvollziehen, teilhaben können nur wenige. Selbst wenn die fremde Sprache kein Hindernis darstellt, sind Texte schwer zu finden. Die bundesrepublikanischen Bibliotheken statten sich nur spärlich mit feministischen Zeitschriften aus, und Textsammlungen oder gar Monographien zu feministischer Literaturkritik sind auch in den USA und in Großbritannien ein ganz junges Phänomen. Dieser Band präsentiert in deutscher Übersetzung eine Auswahl einflußreicher Texte von feministischen Kritikerinnen aus England und Nordamerika, mit kleinen Exkursen nach Afrika und Westbengalen.
Wer vor zehn Jahren noch hoffen konnte, sich mit Fleiß einen Überblick über die neu erblühte feministische Forschung zur Literatur zu verschaffen, steht heute vor einer schier unüberwindlichen Materialflut. Ein von Mary Eagleton herausgegebener Reader Feminist Literary Theory (Oxford 1986) vereint zum Beispiel Textausschnitte aus fast siebzig Aufsätzen und Büchern und vermittelt so höchstens einen Vorgeschmack, die Möglichkeit, je nach Appetit die anderen Texte aufzusuchen. Auch die hier abgedruckten Texte sind nur eine kleine Auswahl, bieten einen ersten Einblick in die Themen, Argumentationsweisen und Blickwinkel unterschiedlicher Gruppen von Autorinnen, die sich mit den Inhalten, Zielen und Strukturen feministischer Literatur und deren Kritik auseinandersetzen.
Der Reader Mit verschärftem Blick wendet sich an Literaturliebhaberinnen allgemein. Literatur ist in der Frauenbewegung eng mit Bewußtwerdung, Austausch über Realitäten, Nachdenken über die Überwindung des Patriarchats, Auskundschaften von gesellschaftlichen und persönlichen Veränderungen verknüpft. Feministische Schriftstellerinnen, Kritikerinnen und Literaturwissenschaftlerinnen sind aus der Frauenbewegung hervorgegangen und verstehen sich als Teilnehmerinnen am Kampf um die Befreiung der Frauen aus den unterdrückerischen Strukturen. Sie bemühen sich, die Welt nicht nur neu zu interpretieren, sondern sie zu verändern. So geht es in den Texten immer um beides, um die Literatur — die imaginäre Repräsentation — und um die Wirklichkeit. Texte werden analysiert, um Realitäten zu begreifen, Schreibweisen reflektiert, um nicht erfaßte Realitäten beschreibbar zu machen.
Feministische Literaturkritik setzt dort ein, wo eine Leserin ihre persönlichen Reaktionen auf Geschriebenes formuliert und implizit kritische Standpunkte, die für sich Objektivität in Anspruch nehmen, von sich weist. Die hier gesammelten Aufsätze machen ihre Kritik an herrschenden autoritären Verstehensweisen explizit und legen offen, welche Hilfsmittel sie zur Interpretation verwenden. Die Aufsätze sind so gewählt, daß sie keine »reinen Theorien« enthalten: Theoretische Reflexionen werden durch praktische Anwendungen ergänzt. Dabei wurde besonderes Augenmerk darauf gerichtet, daß die analysierten Texte nach Möglichkeit in deutscher Sprache vorliegen. Die Leserin wird so in die Lage versetzt, Ziele von Interpretationsansätzen einzuschätzen, Stoßrichtungen und Ergebnisse anhand der praktischen Ausführungen zu beurteilen, die Tragweite der Fragestellungen zu erkennen, einiges zu übernehmen, einiges abzulehnen, Mischformen auszuprobieren, eigene Interessen abzuwägen.
Die Texte des Bandes bewegen sich zwischen akademischer Text- und Kulturanalyse und radikalen Aufbrüchen, zwischen zentralitätsgewohnten weißen heterosexuellen Autorinnen und solchen, die auch in der euro-amerikanischen Frauenbewegung bisher »die Anderen« waren. Das politische Selbstverständnis prägt die inhaltlichen Ziele. Die Kontroversen zwischen den unterschiedlichen Feminismen bleiben auch hierzulande noch auszutragen.
Zum Zustandekommen dieses Projektes haben viele beigetragen. Danken möchte ich den vielen Frauen, die immer wieder die Sehnsucht nach dem Lesenkönnen der wichtigen Texte der feministischen Kritikerinnen aus England und Nordamerika formuliert haben, dem Verlag Frauenoffensive, der sich bereit gefunden hat, auf diese Sehnsucht zu reagieren. Erica Carter, Gisela Ecker, Birgit Ermlich, Karin Meissenburg und Sigrid Weigel danke ich für konkrete Hilfen bei der Textauswahl, dem Arche Verlag, Zürich, für die freundliche Überlassung der Gertrude Stein-Auszüge. Mein besonderer Dank gilt jedoch Merrilyn Julian -, ohne sie kein Buch.

Hamburg, im Juli 1987
Karen Nölle-Fischer

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