Die Neuartigkeit der Gedanken Qiu Jins

Diese kurze Untersuchung der Anfänge der Frauenbefreiungsbewegung hat uns gezeigt, daß die Probleme, die sich aus der Situation der Frau ergeben, in China zu Beginn unseres Jahrhunderts an der Tagesordnung waren. Diese neue Gedankenströmung, die durch die Presse und Literatur Verbreitung findet, spricht einen Teil der aufgeklärten Bourgeoisie an, die sich die Forderungen zur Verbesserung der Lage der Frauen zueigen macht. Die öffentliche Meinung ist sensibilisiert worden, es ist offenkundig geworden, daß eine Veränderung notwendig ist, und daß diese Veränderung mit Sicherheit kommen wird.
Dies muß man im Auge behalten, wenn man den Feminismus der beiden großen Führer der Reformbewegung in China, Kang Yuoqwi und Liang Qichao, richtig einschätzen will. Beide sind gleichzeitig die Initiatoren der Frauenbefreiungsbewegung. Die Praktik des Bandagierens der Füße ist eine Schande für das Land und das chinesische Volk. Ein modernes Volk kann es sich nicht leisten, solche Bürden aus der Vergangenheit mit sich herumzuschleppen. Sie müssen abgelegt werden. Die Schulbildung für Frauen ist unerläßlich, da ein modernes Land eine gebildete Elite braucht. Außerdem ist die Frau nun einmal die erste, die einen Einfluß auf die Kinder ausübt, also muß dieser Einfluß gut sein. In einem modernen, sich entwickelnden Land braucht man eine aktive Bevölkerung, und die Frauen müssen an diesem wirtschaftlichen Aufschwung mitarbeiten. ***226.10.1.*** Diese Forderungen zum Wohl der Frauen sind sehr punktuell und stammen von einzelnen Individuen, die liberal gesinnt und überzeugte Nationalisten, sowie von der Entwicklung der westlichen Länder beeindruckt sind. Sie möchten, daß China unabhängig wird, indem es den Weg der industriellen Revolution einschlägt, wie es die westlichen Länder getan haben. Sie wissen, daß die Neugestaltung der chinesischen Wirtschaft tiefgreifende politische Reformen verlangt, die das Wesen des chinesischen Staates verändern werden. Man muß sich also gegen alles wenden, was den erwünschten Fortschritt hemmt, und da ist der Status der chinesischen Frau als Sklavin kein geringes Hindernis. Nationalisten aller Schattierungen haben das begriffen. Sie nehmen also den Kampf gegen das auf, was sie als einen hemmenden Faktor bei dem Prozeß, China in eine moderne Nation zu verwandeln, empfinden. Sie fordern für die Frauen das Recht, sich nicht mehr die Füße bandagieren zu müssen, das Recht auf eine gewisse Erziehung und eine gewisse Freiheit, da das die notwendigen Bedingungen für die aktive Beteiligung der Frauen an der modernen Produktionsweise ist, die sich an der der westlichen kapitalistischen Länder orientiert. Man kann feststellen, daß die Frauenbefrelung eng mit der Umwandlung des alten China in einen modernen Staat verbunden ist. Aber diese Befreiung ist gleichzeitig der erste Schritt zu einer neuen Form der Unterdrückung, der Unterdrückung der Lohnarbeiter durch das Kapital. Aus diesem Grunde bin ich der Ansicht, daß die meisten Forderungen, die damals zur Verbesserung der Lage der Frauen erhoben wurden, punktuellen Charakter haben. Damit will ich zum Ausdruck bringen, daß sie nicht unbedingt revolutionär sind, selbst wenn sie einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Befreiung der chinesischen Frau darstellen. Die Veränderung der Situation der Frau fordern, ohne dies mit anderen allgemeinpolitischen Forderungen zu verbinden, wie es die meisten Liberalen der damaligen Zeit taten [2], bedeutet, das Spiel der neuen Bourgeoisie mitzuspielen, die die Macht ergreifen wollte, indem sie in China die kapitalistische Produktionsweise einführte. Die Ereignisse, die mit dem Sturz des Kaiserreiches einhergehen, sind der Beweis für diese These.
Während der Revolution von 1911 greifen die Frauen in den revolutionären Kampf ein, indem sie an den Auseinandersetzungen in Frauenbataillons [3] kämpfend teilnehmen. Sie verteilen Flugblätter des Inhalts: "Auf unseren Lanzen als Kopfkissen ruhend laßt uns die Morgendämmerung erwarten. Stark sein wie Männer und Heldentaten vollbringen (..) Massenhaft in den Kampf eingreifen. Es ist nur gerecht, daß die Frauen ihre Entrüstung zeigen ..." [4]. Sie wollen ihre Gleichwertigkeit mit den Männern durch Taten beweisen, und sie fühlen sich berechtigt zu der Forderung, daß die provisorische Verfassung, wie sie nach dem Sturz des Kaiserreichs verabschiedet wird, explizit die Gleichberechtigung von Männern und Frauen enthält. Das wird aber nicht geschehen  [5]. ihr Kampf beginnt erst [6], als sie einsehen müssen, daß die Männer weiter die Innenpolitik in Händen behalten, und daß sie die Sache der Frauen gegenüber dem, was sie im Moment für die politischen Prioritäten halten, hintenanstellen. Es scheint im übrigen, daß Qiu Jin sich der Gefahren, die der Reformismus mit sich bringt, stets bewußt gewesen ist. Sie zeichnet sich durch eine klare politische Zielvorstellung aus. Sie hat weder die Zeit, noch wahrscheinlich den Wunsch gehabt, ein theoretisches Werk zu veröffentlichen, das ihren diesbezüglichen Standpunkt herausgestellt hätte. Alle ihre Schriften bilden zusammen ein Propagandawerk, dessen Hauptanliegen es ist, möglichst viele Menschen möglichst einfach und direkt anzusprechen. Aber der Inhalt der Aufrufe, die sie ergehen läßt, zeugt von einem soliden politischen Bewußtsein. Die ihren einfachen Parolen zugrundellegenden Analysen weisen sie als einen im Vergleich zu ihren Zeitgenossen wahrhaft politischen Menschen aus.

Die Frauenbefreiung ist ein allgemeinpolitisches Problem.

Für Qiu Jin hängt das Problem der Frauenemanzipation mit einer generellen Opposition zur bestehenden Gesellschaft zusammen. Sie zieht eine enge Parallele zwischen der Situation Chinas und der Situation der chinesischen Frauen. Das chinesische Volk ist den Mandschus unterworfen, die sie beherrschen, knechten, unterdrücken. Das chinesische Volk muß von der Mandschuherrschaft befreit werden und die Frauen von der Männerherrschaft. Dieser Kampf gegen die Männer ist eigentlich ein Kampf gegen den Mann, wie er gesellschaftlich bestimmt ist, nämlich gegen den Mann als Unterdrücker in einem Unterdrückungssystem. Qiu Jins feministisches Engagement ist nur eine Seite ihres politischen Engagements. Es ist eine besondere Kampffront und entstand als Folge eines Bewußtwerdungsprozesses, der die Einsicht zum Ausgangspunkt hatte, daß die feudale chinesische Gesellschaft alle Formen der Unterdrückung in sich trägt. Es ist demnach Teil eines Kampfes auf breiterer Ebene gegen alle Formen der Herrschaft von Menschen über Menschen: der Herrschaft der Mandschu-Dynastie, der herrschenden Kaste, der ausländischen Imperialisten. Ihre Vorstellung von der Befreiung der chinesischen Frauen impliziert also notwendigerweise eine politische Revolution, die alle Grundlagen des chinesischen Staates umstürzen soll. Es ist Qiu Jin niemals eingefallen, für die Integration einer Minderheit privilegierter Frauen in die bestehende Gesellschaft zu kämpfen. Es lag ihr im Gegenteil sehr am Herzen, daß man an Frauenbefreiung nicht losgelöst von der Befreiung des ganzen Volkes denken kann. Das eine wird nicht ohne das andere geschehen. Sie geht sogar noch einen Schritt weiter und sieht die Frauenbefreiung als einen unentbehrlichen Faktor für die Befreiung und Neuordnung des Landes an. Die Frauen müssen die Avantgarde in den Kämpfen stellen [7]. Qiu Jin gibt zu, daß die Frauen als Avantgarde besondere Probleme haben und zeigt diese Probleme auf, indem sie ihnen einen Großteil ihrer Schriften widmet. Sie willigt ein, auf diesem besonderen Gebiet der Frauenbefreiung zu kämpfen, indem sie alle frauenspezifischen Forderungen unterstützt. Aber sie trennt diesen Kampf nie vom Kampf gegen die Herrschenden und gegen die traditionelle Gesellschaft. Dies geht aus ihrem politischen Engagement in den revolutionären Organisationen an der Seite der Männer klar hervor.

Sich auf die eigene Kraft verlassen

Die Frauenbefreiung kann nur von den Frauen selbst ausgehen. Nie findet sich in Qiu Jins Schriften der Gedanke, die Hilfe der Männer zu gewinnen. Die Frauen müssen ihre eigene Befreiung selbst in die Hand nehmen, so wie sie auch nie vergessen dürfen, daß indirekt auch ihre Unterdrückung von ihnen selbst verursacht wird. In "Die Steine des Vogels Jingwel" fordert Qiu Jin die Frauen mehrfach auf, nicht passiv zu ertragen, was man ihnen aufzwingt und sich lieber selbst zu kritisieren, anstatt sich zu beklagen. Die Frauen sind verantwortlich für die Situation, in der sie sind. Dieser Begriff von Verantwortung geht oft einher mit der Ansicht, daß jeder über sein Schicksal selbst bestimmen kann. Er ist auch immer mit der Vorstellung verbunden, daß "früher einmal Männer und Frauen gleich waren." [8] Es war also erforderlich, daß die Frauen in einem bestimmten historischen Augenblick bereit waren, auf ihre Rechte zu verzichten. In einem Artikel in der Nr. 2 des baihuabao [9], in dem Qiu Jin sich von Japan aus an ihre zweihundert Millionen Schwestern in China wendet, schreibt sie: "... Zu Beginn gab es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen ... Meine Freundinnen, ihr müßt wissen, daß wir nicht für alles jemanden anderen verantwortlich machen können. Wir müssen uns auf uns selbst verlassen. Wenn wir Mut haben, so müssen wir uns zusammentun, um solche Dummheiten vom Schlage: Der Mann ist edel, die Frau gemein, bei einer Frau ist der Mangel an Geistesgaben eine Tugend, der Mann ist die wichtigste Stütze der Frau, wie sie von den korrupten Konfuzianern verbreitet werden, zu bekämpfen. Und wenn wir nur einen Funken Würde im Leib haben, müssen wir Armeen aufstellen, um die Verbrecher, die das Bandagieren der Füße erfunden haben, zu bestrafen. Wenn wir das nicht tun, warum sollten wir uns dann wundern, wenn man uns die Füße bandagiert? (...) Und das alles konnte nur geschehen, weil wir uns dafür nicht verantwortlich fühlten (...) Warum sollten sie uns nicht unterdrücken von dem Moment an, in dem wir ihre Sklavinnen waren? Man erntet, was man sät. Wer soll dafür verantwortlich gemacht werden?" und sie beendet ihren Artikel mit den Worten "meine Freundinnen, ihr müßt wissen, daß unser Land sich in einer verzweifelten Lage befindet. Die Männer konnten diese Situation nicht abwenden, warum sollten wir ihnen noch weiter vertrauen? Wenn wir uns nicht selbst erheben, um zu handeln, wird unser Land zugrunde gehen, und es wird zu spät sein." Die Warnung vor der Passivität der Frauen, die in dieser Information enthalten ist, hängt für Qiu Jin mit der Warnung vor einer reformistischen Politik eng zusammen. Denn ihrer Meinung nach hat eine Frau, der es gestattet ist, ihre Füße nicht länger zu bandagieren, eine Bildung zu erwerben und sich so zu verheiraten, wie sie will, ganz offensichtlich noch längst nicht ihre Unabhängigkeit erreicht. Dahinter steckt die Idee, die von grundlegender Bedeutung ist, daß die Reformen der Situation der Frau, wie sie gerade modern geworden waren, den Frauen aus mehreren Gründen keine echte Befreiung bringen konnten. Erstens wird den meisten Frauen dieses neue Recht, das ihre Lebensbedingungen verändert, einfach in den Schoß gelegt. Sie brauchen nicht dafür zu kämpfen: bestenfalls nehmen sie es an, schlimmstenfalls muß man es ihnen aufzwingen. Zweitens bringen diese von einer Männergesellschaft den Frauen aufoktroylerten Rechte noch nicht durch ihr bloßes Vorhandensein den Eintritt der Frauen in die Produktionssphäre und die damit verbundenen politischen Erfahrungen mit sich, die sie brauchen, um sich zu verteidigen.
Wenn Qiu Jin die Frauen wachrütteln möchte, so geht es ihr darum, auch deren politisches Bewußtsein zu schärfen. Sie will keinen Aufstand auslösen, ohne dessen Ziele anzugeben. Sie fürchtet bereits, daß die Frauen von reformistischen Gedanken beieinflußt werden. Sie weiß, daß eine ganz klare Formulierung der Bedingungen, die für eine echte Befreiung der Frauen gegeben sein müssen, erforderlich ist. Ihre Befürchtungen in dieser Richtung waren nicht gegenstandslos, wie sich ganz deutlich an den Überlegungen Soong Ching-lings über die gebildeten Frauen aus dem Jahr 1930 [10] aufzeigen läßt: "Die Mehrzahl der diplomierten Studentinnen der Schulen und Gymnasien der christlichen Missionsstationen stehen nicht im Berufsleben. Sie sind in ihren Familien geblieben oder aber zu Porzellanvasen - was ein Ausdruck für mondäne Frauen, die keinen Beruf ausüben, ist - geworden. Diese Frauen, die verheiratet oder auch Junggesellinnen sind, wurden nach ihrer Befreiung von den feudalen Sitten zu einem schönen Spielzeug der Gesellschaft und zu bürgerlichen Schmarotzern. Es gab damals viele Frauen, die in der Textilindustrie arbeiteten, aber sie litten unter der kapitalistischen Ausbeutung bei niedrigen Gehältern und in Armut."

Was soll man tun?

Das Engagement Qiu Jins für die Frauenbefreiung ist nicht das einer Menschenfreundin, der die Ungerechtigkeit, die in der Situation der Frauen liegt, zu Herzen gegangen wäre. Sie hält sich nie bei der bloßen Anprangerung einer brutalen Sitte auf, ebensowenig wie bei der Frage, wie unglücklich eine Frau verheiratet ist. Ihre Einmaligkeit beruht auf der Tatsache, daß sie genau darlegt, daß es nicht ausreicht, bloß Forderungen zu stellen. es ist wesentlich, daß man weiß, warum und was man damit erreichen will. Ihr Engagement, das vor allen Dingen ein politisches ist, ist Teil einer umfassenderen und langfristiger orientierten Überlegung. Das beweist diese Bemerkung, die aussagt, welche Tendenz ihre "Zeitung der chinesischen Frau" [11] haben soll: "... der Weg, den wir gehen müssen, ist unendlich lang. Wohin wird er uns führen? Den Anstoß geben ist noch gar nichts, aber es ist eine ungeheure Aufgabe, unser Werk zuende zu führen. Wenn wir keine genau festgelegte politische Stoßrichtung haben, wird uns der geringste falsche Schritt auf endlose Abwege führen."
Qiu Jins politische Richtung kann man den Ratschlägen und Ermahnungen, die sie an ihre chinesischen Schwestern richtet, entnehmen: "Bildet euch, verdient euren Lebensunterhalt selbst, kämpft für die Befreiung unsres Landes." Diese Ermahnungen zeigen, daß sie begriffen hatte, daß es vor allem darauf ankam, die Frauen aus dem Rahmen herauszuführen, auf den man sie festlegen wollte. Man mußte, anders ausgedrückt, die Strukturen der tratitionellen Familie sprengen.
Die feudale Familie ist mit Sicherheit eines der wichtigsten Angriffsziele Qiu Jins. Wenn man sie nicht zerstört, werden die Frauen nichts erreichen. Sie sagt das nicht ausdrücklich, da sie sich nicht die Gegnerschaft der Frauen selbst zuziehen möchte, die nicht in der Lage waren, ihre derzeitigen kulturellen Werte derart heftig in Frage zu stellen. Aber sie weiß, daß alle Formen des Handelns, die sie propagiert, unausweichlich dazu führen, eine der verfestigtsten Strukturen der feudalen Gesellschaft zu sprengen.
Qiu Jin spricht die chinesischen Frauen ihrer Zeit in deren Eigenschaft als dieser Institution Familie unterworfene Menschen an. Welcher sozialen Herkunft eine chinesische Frau auch immer sein mag [12], sie hat ihren Platz im Schoße der traditionellen Familie. Diese ist die Kernzelle, in der ihr die Achtung vor der Hierarchie und die totale Unterordnung unter eine über ihr stehende Macht eingeschärft wird [13]. Die unterwürfige Haltung ist die wichtigste Eigenschaft guter Untertanen. Auf der sozialen Stufenleiter stehen die Frauen mit den Kindern zusammen auf der untersten Stufe. Aber während der Status der Kinder ein vorübergehender ist, ändert sich an dem der Frauen nichts, es sei denn am Ende ihres Lebens, wenn ihr hohes Alter ihnen für kurze Zeit Achtung und Ruhe verschafft, eine letzte Belohnung für die Erfüllung ihrer Aufgabe als diejenige, die den Fortbestand der Gesellschaft sichern. Als Frau wird die Chinesin also von einer Gesellschaftsordnung unterdrückt, die ihr den Rang einer Sklavin zuweist. Ihre Lage hängt von der Moral der jeweils herrschenden Klasse ab. Selbst wenn die Armen aus wirtschaftlichen Gründen nicht immer die Gebote dieser Moral halten können [14], so stellt diese doch das kulturelle Verhaltensmuster, das die Beziehungen der Einzelnen untereinander bestimmt. Qiu Jin meint, daß die Lage der Frauen in China eine allen Frauen gemeinsame Situation ist, die dann die besonderen Formen der Unterdrückung hervorbringt. Die repressivsten Aspekte dieser Unterdrückung, die mit den tradierten Kulturnormen zusammenhängen, sind nicht spezifisch für irgendein soziales Milieu und finden im Schoß der traditionellen Familie statt [15]. Erst wenn sie das Joch dieser Familie abschütteln, werden die Frauen sich befreien, denn "das ist die Wurzel des Unglücks; da wir unser Leben in unseren Häusern eingeschlossen zubringen, können wir unseren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen."
Die beiden Schlüsselbegriffe, die den Frauen den Weg zu Unabhängigkeit und Selbständigkeit freimachen sollen, sind. sich den Lebensunterhalt selbst verdienen und etwas lernen.

a) sich den Unterhalt selbst verdienen

  • Das Motiv der arbeitenden Frau, die ihren Unterhalt selbst verdient und wirtschaftlich unabhängig ist, kehrt in den Schriften Qiu Jins immer wieder. Die Unterwerfung der Frauen ist die Folge ihrer ökonomischen Abhängigkeit, der Tatsache, daß sie sich unnütz und unqualifiziert fühlen. "Es ist unbedingt nötig, daß die Frauen nicht länger von anderen abhängig sind und ihren Unterhalt erbetteln." "Sich auf jemand anderen zu verlassen, ist nie eine gute Lösung." Das sind Worte, die sich in "Die Steine des Vogels Jingwei" immer wiederholen. Das Erlernen eines Berufs kann die Frauen ökonomisch unabhängig machen, und es erlaubt ihnen, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten [16]. Sie sind dann nicht mehr völlig von aller Realität abgeschnitten und können sich endgültig von jenem Ruf der Nichtsnutzigkeit freimachen, der den Frauen anhaftet. Der Gedanke, daß die Frauen sich nur durch Arbeit und unmittelbare Teilnahme am Leben ihres Landes von den Fesseln befreien können, die ihnen die Männer auferlegen, taucht immer wieder in allen Texten auf, in denen sich Qiu Jin an die Frauen ihres Landes wendet [17]. Sie fordert sie auf, mit einer Tradition zu brechen, die besagt "daß die einzigen Arbeiten, die sich für eine chinesische Frau geziemen, die Arbeit im Haushalt, die Arbeit, die sie mit nach Hause nehmen kann, oder die Arbeit, die sie allein auf dem Feld verrichten kann, ist" [18]. Dennoch bleibt Qiu Jin bei vagen Andeutungen stehen, wenn es darum geht, den Frauen einen konkreten Beruf zu empfehlen. Sie schlägt ihnen die Tätigkeit im Unterrichtswesen, im Handel, im Handwerk, in der Fabrik und als Krankenschwester vor [19].

Man kann Qiu Jin den Vorwurf machen, daß sie keine Analyse über die Folgen des Eintritts der chinesischen Frauen in die Produktionsphäre angestellt hat: nämlich einerseits die Folgen für die Frauen, die in der Mehrzahl ein integraler Bestandteil der ausgebeuteten Klasse werden, und zum anderen die wirtschaftlichen Folgen für das ganze Land. Sie hätte zweifellos die Frauen warnen und ihnen erklären können, daß die Arbeit, die sie von ihren Familien befreien konnte, auch eine Kehrseite haben würde, nämlich die, daß sie unmittelbar die Ausbeutung durch das Kapital erfahren würden. Es erscheinen damals jedoch Artikel über Marx und Lasalle. Die Grundsätze des Marxismus wie das Primat der Ökonomie, die Existenz der Klassengesellschaft und des Klassenkampfes werden im November 1905 und im Juni 1906 im minbao, dem Organ der "verschworenen Liga" (Tongmeng hui), die von Sun Yat Sen gegründet worden war, und in der Qiu Jin arbeitete - wie wir gesehen haben - kommentiert. Es ist also unwahrscheinlich, daß sie die neuen Ideen aus dem Westen nicht gekannt hätte. Dennoch lassen sich Gründe dafür finden, daß sich in ihren Schriften nichts davon findet. Qiu Jins Aufrufe mußten den unwissenden Frauen, die nicht belesen waren und kein politisches Bewußtsein besaßen, utopisch und sehr weit von der täglichen Realität entfernt erscheinen. Qiu Jin wußte das und hat sich vielleicht deshalb bewußt auf provozierende Parolen beschränkt, ohne sich auf theoretische Erörterungen einzulassen, die ohnehin niemand verstanden hätte. im übrigen erklärt es sich vielleicht auch durch die Neuheit der marxistischen Ideen, daß Qiu Jin sie nicht explizit in ihr Gedankengebäude aufgenommen hat.
Es muß jedoch noch einmal besonders hervorgehoben werden, daß Qiu Jin niemals den Frauen dazu geraten hat, ins aktive Berufsleben einzutreten, ohne sich gleichzeitig am politischen Kampf zu beteiligen. Dieser Kampf steht bei ihr immer an erster Stelle. Ihre Heldinnen kämpfen in revolutionären Organisationen, in denen eine von ihnen eine sehr verantwortliche Position einnimmt. Die Arbeit wird nie als ein Selbstzweck für die Frauen dargestellt, sondern als ein Mittel, mit dessen Hilfe sie ihr Vaterland und sich selbst retten können. Bei diesem Unternehmen, das sie an der Seite derjenigen Männer, die sich ihnen anschließen  [20], ausführen sollen, müssen sie sich der Tatsache bewußt sein, daß sie gemeinsam handeln müssen. In allen Texten, die wir bisher erwähnt haben, finden sich Ermahnungen an die Frauen, sich zusammenzuschließen, um wirksam handeln zu können, und es war eins der Ziele der "Zeitung der chinesischen Frau", die Grundlage für eine politisch ausgerichtete Frauenorganisation zu legen.

b) Etwas lernen

  • Qiu Jin schreibt der Erziehung eine wichtige Funktion bei der Emanzipation des Volkes im allgemeinen und der Frau im besonderen zu. Sie ist das Einzige, was den Fortschritt der Menschheit wirklich vorantreibt, und sie ermöglicht es einem, sich aus der Unwissenheit zu befreien, die der schlimmste aller Entfremdungszustände ist [21].

Wie all ihre Zeitgenossen ist Qiu Jin davon überzeugt, daß die Erziehungsinhalte sich nicht mehr auf die Klassiker und die Geschichte, die Gegenstände der traditionellen Männererziehung beschränken dürfen. Es geht darum, wie in den westlichen Ländern die neuen Wissensgebiete, die noch sehr selten in China gelehrt werden, einzuführen: Physik, Chemie, Biologie, Fremdsprachen etc. Man muß darauf bestehen, daß diese Inhalte an den Mädchenschulen gelehrt werden und diese das gleiche Niveau wie die Knabenschulen haben. Der Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter läuft über den Kampf um das Recht auf eine gleiche Ausbildung, deren Inhalte darüber hinaus erneuert werden müssen. Aber dieser allgemeinen Forderung fügt Qiu Jin noch eine wichtige und neuartige Idee hinzu: sie warnt die Frauen sogleich auch vor diesem neuen Wissen, das ihren Zeitgenossen so attraktiv erscheint. Sie ist der Ansicht, daß Bildung allein noch nicht ausreicht, um die Gesellschaft zu verändern: "Wir haben die lauten Rezitationen, wie sie gefordert wurden, als das klassische Prüfungssystem noch in Kraft war, aufs Entscheidendste bekämpft und an ihre Stelle den schrittweisen Erwerb von Kenntnissen der Fremdsprachen und ausländischer Literatur gesetzt. Und nun sieht man voller Erstaunen auf die neue Generation, die so herangewachsen ist. Aber diese Generation hat kein Gefühl für Tugend und Gerechtigkeit und für das, was wahr und richtig ist. Wer studiert, tut es ohne Grundsätze und ohne rechtes Bewußtsein, und das Ergebnis davon ist, daß eine große Anzahl junger und begabter Menschen zu willenlosen Instrumenten der Übersetzer und Compradores [22] geworden sind. Ist das nicht unendlich traurig! ..." Qiu Jin warnt die Frauen ihres Landes und beschwört sie, sich anzusehen, was in der Welt der Männer, die doch gebildet sind, vor sich gegangen ist und daraus ihre Konsequenzen zu ziehen. Qiu Jin möchte aufzeigen, daß Reformen und Aktionen, die sich nicht auf einer politischen Ebene abspielen, zum Scheitern verurteilt sind. Fünfzig Jahre vor der chinesischen Revolution nimmt Qiu Jin folgenden Gedanken, den sie den Frauen begreiflich machen möchte, vorweg: daß nämlich eine Erziehung, die nicht in einem politischen Rahmen stattfindet, noch nicht die Keime einer Gesellschaftsveränderung in sich trägt. "Ich kenne eine Menge Studenten, für die der Aufenthalt in Japan nur der kürzeste Weg zur Verwirklichung ehrgeiziger Pläne war. Für sie waren die neuen Schulen nur eine Verbesserung des alten Systems ... Ach! Soll man das als einen Fort- oder als einen Rückschritt ansehen? Ich traue mich nicht, dazu etwas zu sagen" Qiu Jins Worte besagen, daß die Erziehung noch nicht deshalb unbedingt revolutionär sein muß, weil sie für alle einen Fortschritt darstellt. Sie fügt dieser Einschätzung noch eine wichtige Bemerkung hinzu: hütet euch, so sagt sie, vor denen, die das Wissen besitzen, denn das sind die, die die Macht in Händen haben, und diese Macht bezeichnet sie als Zaubermacht. Man darf dieser Macht derer über die Ungebildeten, die über ein Wissen verfügen, nicht auf den Leim gehen: "diese Zaubermacht darf keine Zwietracht in den Reihen der Frauen säen. Wir dürfen solche Fehler unsrerseits nicht wiederholen, in diesem Punkt wenigstens kann ich mich mit Bestimmtheit äußern . .....
Qiu Jin betrachtet die Erziehung also als eine Waffe, wenn sie einer politischen Stoßrichtung untergeordnet ist. Eine Person unterrichten, das heißt in erster Linie, ihr die Mittel für ihren Kampf zur Verfügung zu stellen. Immer, wenn sie von Erziehung redet, verbindet sich der Begriff mit dem des Wachrüttelns, Bewußtmachens, Mobilisierens und Handelns. Sie will ein Wissen vermitteln, das den traditionellen Rahmen, der die Situation der Frauen bestimmt, in Frage stellt. So zum Beispiel, indem den Frauen erklärt wird, daß es auch andere Gesellschaftsordnungen gibt, in denen die Frauen einen anderen Status innehaben. Auf diesem Gebiet bietet sich die chinesische Geschichte als Beispiel an, da es aus der Vergangenheit viele Berichte über Frauen gibt, die eine bedeutende Rolle in der Geschichte ihres Landes gespielt haben.
Die gleiche Erziehung für alle, die Bestimmung der Lehrinhalte, und schließlich das Wissen, welche Ansprüche man an die Wissenden richten darf, das sind Begriffe, die die allgemeine Forderung nach dem Recht auf Ausbildung inhaltlicher machen und erweitern. Sie beweisen, daß Qiu Jin sich Gedanken über den Nutzen des Wissens macht, und dieses Problem zu Gunsten ihrer revolutionären Bestrebungen gelöst sehen möchte.
Noch ein weiterer Aspekt des Erziehungsproblems beschäftigt Qiu Jin. Sie weiß, daß nur eine Minderheit der Frauen Zugang zu einer Ausbildung haben wird, wie das auch nur für eine Minderheit der Männer, die Intellektuellen, der Fall war. Sie prangert schon im vorhinein dieses Privileg als solches an und begreift die Notwendigkeit, mit anderen Mitteln ein Grundwissen zu vermitteln. Diejenigen Frauen, die in die in der Entstehung begriffenen Mädchenschulen [23] eintreten, werden das nötige Wissen für die Ausübung eines Berufes erhalten. Aber all die anderen? "(...) Der Rest der Bevölkerung kann nicht lesen, aber das sind genau diejenigen, die man wachrütteln muß. Alles, was in der Welt geschieht, kann man ihnen mündlich erklären [24] Politische Rede, pädagogische Propaganda, das werden also die wichtigen Waffen des politischen Kampfes in einem Land sein, in dem das Analphabetentum den meisten Leuten den Zugang zur geschriebenen Presse verwehrt.
Diejenigen, die etwas lernen, müssen die anderen an ihrem Wissen teilhaben lassen. So sollen insbesondere Schnellkurse von chinesischen Studentinnen an der Universität Tokio eingerichtet werden. Auf diese Weise "bleiben die Vorteile einer Ausbildung nicht nur auf eine kleine Minderheit unter den Frauen beschränkt, wie das heute der Fall ist." [25]
Die Presse soll ebenfalls eine Rolle in diesem Zusammenhang bekommen, in dem Maße, wie es sich dabei nicht um irgendeine Presse handelt. [26] Sie soll die mündliche Propaganda verbreitern, indem sie diejenigen informiert, die lesen können, damit diese ihre Kenntnisse weitergeben können. Sie soll die Frauen zum Wissen hinführen und ihr Grundlagenwissen immer mehr erweitern. So versteht Qiu Jin die Aufgabe ihrer "Zeitung der chinesischen Frau". Die Frauen aus ihrem schlaftrunkenen Zustand wachrütteln, sie auf alle möglichen Gefahren vorbereiten, dann werden sie schon Taten ins Auge fassen. Ist das nicht besser, als ihnen sagen zu wollen, was sie tun müssen?" [27] Dieser nicht-elitäre Wissensbegriff wird in "Die Steine des Vogels Jingwei" ganz deutlich in dem Abschnitt, in dem die Hauptfigur Jurui sich mit der jungen Dienerin unterhält: "Später, wenn ich einmal frei bin, werde Ich dich aus dieser Stellung einer Sklavin, in der du gefangen bist, befreien, das schwöre ich dir. Wie verschworene Schwestern werden wir zusammen unser Wissen vervollkommnen, da wir uns von den anderen Frauen positiv unterscheiden müssen." Ihr ganzes Gespräch ist voll von Begriffen, die Gleichheit ausdrücken. Wenn die jungen Mädchen sich in verschiedenen sozialen Stellungen befinden, so ist das die Folge unterschiedlicher sozialer und ökonomischer Ausgangsbedingungen, aber sie sind einander potentiell gleich und können dieselben Bestrebungen haben. Qiu Jin hat ihren Zeitgenossinnen ein Beispiel gegeben, indem sie all ihre Ideen in ihrem eigenen Leben in die Tat umsetzte. Sie hat sich vom Zugriff der traditionellen Familie befreit, indem sie Mann und Kinder verließ, weil sie sich ganz der revolutionären Sache verschreiben wollte. Sie hat stets Solidarität bewiesen, indem sie ihren Gefährtinnen half. In Japan unterstützte sie moralisch und finanziell Frauen, die hierher gekommen waren, um zu studieren. Ein Freund Qiu Jins berichtet in seinen Memoiren [28], wie seine eigene Mutter von Qiu Jin Ermunterung bekam: "Sie empfing meine Mutter sehr freundlich. Sie sprach zu ihr öfter über die Gleichheit von Männern und Frauen und sagte zu ihr, daß die Frauen eine Ausbildung erhalten müßten. Schließlich überredete sie meine Mutter, nach Japan zu kommen, um dort zu studieren. "Um ihre Ansichten durchzusetzen und Wirklichkeit werden zu lassen, handelte sie nie allein, sondern stützte sich dabei auf alle, die daran interessiert waren. Als Chen Fan, der Besitzer des Subao, nach dem Prozeß gegen diese Zeitung mit seinen beiden Konkubinen nach Tokio kam, half Qiu Jin diesen beiden, sich zu befreien. Sie berief eine Versammlung der chinesischen Gemeinde aus Zhejiang ein, woher die beiden Konkubinen stammten, und forderte sie auf, den beiden ein Studium zu finanzieren. [29] Ebenso berief Qiu Jin alle Frauen der chinesischen Studentengemeinde in Tokio ein, als Chen Xiefen [30] auf Wunsch ihres Vaters Konkubine eines reichen Kaufmanns werden sollte, und hielt eine strenge Rede gegen den Nutznießer dieses Plans. Sie sagte, daß es konterrevolutionär sei, eine Frau dazu zu zwingen, Konkubine zu werden und daß dies eine Sache sei, die die ganze Gemeinschaft angehe, da es ihren guten Ruf in Frage stelle. Qiu Jins Engagement für die Befreiung der Frauen unterscheidet sich von dem der meisten ihrer Zeitgenossinnen dadurch, daß sie davon überzeugt war, daß nur die Revolution die Bedingungen für die wirkliche Befreiung der Frauen schaffen würde. Als überzeugte militante Revolutionärin unterstrich sie immer wieder, daß die ökonomische Unabhängigkeit zwar unbedingt notwendig, jedoch nicht hinreichende Vorbedingung ihrer völligen Emanzipation sei. Die ökonomische Revolution mußte mit einer Umwälzung der Strukturen der alten Gesellschaft selbst einhergehen.