Mitte Mai 1944 ging Achmatowas Exil in Usbekistan zu Ende. Sie wurde zunächst nach Moskau ausgeflogen, wo es sie aber nur wenige Tage hielt. Am letzten Maitag traf sie in dem bis zur Unkenntlichkeit verwüsteten Leningrad ein. Nur hierhin zurück hatte es sie all die Jahre in der Ferne gezogen. Das Erlebnis des asiatischen Taschkent aber blieb unauslöschlich in ihren Erinnerungen. Heute kann man sich ihre Eindrücke von dort nur noch schwer vorstellen, denn Taschkent wurde nach dem verheerenden Erdbeben von 1966 in den siebziger Jahren vollständig neu errichtet, mit mehrstöckigen Wohnhäusern, modernen Hotels, einer Universität, großen Plätzen und vielen Grünanlagen. Achmatowa hatte vom alten Taschkent starke ästhetische Eindrücke empfangen. Sie war dort zu neuartigen literarischen Versuchen stimuliert worden. Das Bild dieser Jahre wird aber lückenhaft bleiben müssen, denn die Dichterin hat aus Angst um ihren Sohn verschiedene ihrer Texte vernichtet, ohne sie sich vorher eingeprägt zu haben. Das waren vor allem zwei dramatische Entwürfe, von denen nur Titel und knappe erinnernde Beschreibungen erhalten sind.[152] Auch ihr Requiem und eine Fassung des Poem ohne Held wurden damals vernichtet, konnten aber vor allem mit Tschukowskajas Hilfe rekonstruiert werden.
Achmatowa war in Taschkent einer anderen Welt begegnet - dem Orient, konzentriert auf engstem Raum. Für ihre Sensibilität war das wie ein Überfall: ungewohnte Klänge, Gerüche und Bilder; Basare, Ausschreier, die seltsame Kleidung, die fremden Gesichter; selbst Sonne, Sterne und Mond waren anders als im geliebten Norden.
Einige dieser Eindrücke wie die Kühle der Innenhöfe, der südländische Sternenhimmel, die Landschaft gelangten als Details in ihre Dichtung. Man darf davon ausgehen, daß Achmatowa von dieser fremden Welt zwar fasziniert, aber nicht generell in eine neue thematische oder ästhetische Bahn gelenkt worden ist. Bekannte bezeugen, daß sie in Taschkent ständig von Heimweh geplagt wurde. Auch asiatische Exotik vermochte nicht dagegen anzukommen. Zu bewußt blieb ihr immer die Situation der Zwangsevakuierung. Gerade dieses Bewußtsein verhinderte eine unvoreingenommene Konzentration auf die orientalische Welt. Die Situation war insgesamt für sie widersprüchlich und unbefriedigend. Kommunikation über Schaffensprobleme fand unter den Exilierten kaum statt. Lektüre war Mangelware. Sicher bezeugt ist nur, daß Achmatowa in Taschkent Michail Bulgakows «Der Meister und Margarita» mit großem Interesse gelesen hat.
Ihr mehrstrophiges Taschkent-Gedicht Mond im Zenit (Luna v Zenite) lebt von den Widersprüchen und Vergleichen zwischen dem Orient und Europa: Von den dräuenden Plätzen Leningrads, / von den gesegneten Sommerfeldern / hast du mir solch eine Kühle geschickt/ Und mit Pappeln geschmückt die Gärten / Und mit Myriaden asiatischer Lampions / meine Trauer behängt? An anderer Stelle dieses Textes heißt es: Den dritten Frühling fern von Leningrad. / Den dritten? Und mir scheints der letzte. / Doch nie bis in die Stunde des Todes / Vergeß ich / Wie froh das Plätschern des Wassers im hölzernen Schatten für mich war. / Der Pfirsich hat geblüht, /Der Veilchen Hauch / Stets wonniglich. / Wer traut zu sagen mir ins Gesicht / Ich sei in der Fremde hier.[153] (Übersetzung: Wolfgang Hässner).
Es bedarf sicher nicht unbedingt eigenen Erlebens, um die Faszination vieler poetischer Bilder aufzunehmen, die Achmatowa für Asien, für ihre Gefühle damals gefunden hat: Es sind deine Luchsaugen, Asien, / Die etwas in mir erspäht, / Die hervorlockten etwas Verborgenes, / Das die Stille gebar, / Das schwer zu ertragen und quälend /[...] Als ob der Vorzeit Gedächtnis wie glühende Lava / mir in das Bewußtsein sank [...].[154] (ohne Titel, 1945; Nachdichtung: Heinz Czechowski).
In diesem wie in anderen Taschkent-Texten bleibt vieles in der Schwebe; vage deutet sich an, daß Mittelasien etwas Neues für Achmatowas Zeitempfinden brachte: das Gefühl für die Unendlichkeit der Zeit, ihre Unvergänglichkeit, aber auch ihre Trägheit und Gleichgültigkeit. Jedenfalls spürt sie deren Last und Schwere. Wie Gewitter weit / Rollt Stille, die mein Wort nicht hört - / In rembrandtischen Ecken / versammelt sich die Schwärze /[...] Der Wirtin schwarzer Kater schaut mich an / Wie's Auge der Jahrhunderte.[155] (ohne Titel, 28. März 1944; Nachdichtung: Heinz Czechowski).
Trotz des sich abzeichnenden Sieges über den faschistischen Aggressor bestand für Anna Achmatowa wie für Millionen ihrer Landsleute kein Grund zum Siegestaumel. Zu grauenhaft war das Durchlebte. Nicht nur lag das Land zu weiten Teilen in Schutt und Asche, nicht nur waren unschätzbare Kulturgüter vernichtet oder geraubt. Auch das im Land allgegenwärtige und in den Kriegsjahren noch verschärfte Zwangsregime, dessen ungezählte Opfer unter allen Schichten der Bevölkerung, die von Stalin initiierten Repressionen gegen zahlreiche Völkerschaften im angeblich freien internationalistischen Sowjetstaat ließen keinen wirklichen Jubel über den Sieg aufkommen.
Als Achmatowa am 31. Mai 1944 in Leningrad aus dem Flugzeug stieg und ihre furchtbar entstellte Stadt wiedersah, war sie trotz aller Vorwarnungen ihrer Freunde tief erschrocken.
Kummer und Leid hatten die Dichterin gezeichnet und vorzeitig altern lassen. Sie war völlig ergraut und hatte sich während des Exils in ihrem Äußeren stark verändert; sie war füllig, ja massig geworden. Allein ihre natürliche Würde war unverändert geblieben. Achmatowa kam mit der Last der Ungewißheit über das Schicksal ihres Sohnes nach Leningrad. Dieser war im selben Jahr aus Lagerhaft und Verbannung in ein Strafbataillon an die Front entlassen worden. Der Krieg war zwar nun für Achmatowa in weiter Ferne, aber noch nicht zu Ende. Würde Lew überleben? In einem Strafbataillon war diese Chance minimal. Die Mutter wußte nicht einmal, wo er war. Es sah zunächst so aus, als würde sich nach dem militärischen Sieg Achmatowas Leben doch endlich zum Guten hin wenden. Aus Taschkent hatte sie immerhin eine kleine, dort erschienene Ausgabe alter und neuer Gedichte mitgebracht, neue wichtige Texte im Kopf und viele Pläne. Hunderttausende ihrer Landsleute hofften ähnlich wie sie, daß nun endlich die Zeit der Ängste und Schrecken, durch den unerbittlichen Feind diktiert, der Vergangenheit angehören würde.
Aber es kam anders. Die Hoffnungen Achmatowas, wie die vieler ihrer Schriftstellerkollegen, gingen nicht auf. Sowohl Pasternak, der sich vom Sieg der Sowjetunion ergriffen zeigte und eine neue Ära der historischen Existenz Rußlands voraussagte, als auch Konstantin Simonow, der Beeindruckendes über den Krieg geschrieben hatte und auf eine Liberalisierung, vor allem engere Kontakte mit der progressiven Intelligenz des Westens hoffte, sahen sich bald tief enttäuscht. Oder sollte man sie Schwärmer nennen?
Im Jahre 1944 war Andrej Shdanow neuer Sekretär für Kulturpolitik im Zentralkomitee der KP geworden. Man weiß heute sicher, daß er es war, der dafür gesorgt hat, daß die bis dahin verfemte Anna Achmatowa, einer Weisung Stalins folgend, wieder als «bedeutende patriotische Sowjetschriftstellerin» in der Öffentlichkeit bezeichnet werden sollte. Ein landesweites Klima der Achtung für sie als Leningrader Patriotin sollte verbreitet werden. Schon bald kam es zu Lesungen und bis 1946 sogar zu verschiedenen Ehrungen Achmatowas und bewegenden Auftritten in der Öffentlichkeit Leningrads und Moskaus. Achmatowas Würde, das Charisma einer unerschütterlichen Festigkeit und Härte trotz unermeßlichen Leids, auch ihre immer wieder mahnenden Worte zur Besinnung auf die großen Traditionen Rußlands - das paßte in den ersten Monaten nach Kriegsende noch gut ins Bild vom Sowjetschriftsteller und Sowjetmenschen, der unter größten persönlichen Opfern und Entbehrungen und mit eiserner Disziplin den Sieg über die braune faschistische Pest errungen hatte; der damit auch propagandistisch wirksam als Retter europäischer Kultur und des Humanismus darzustellen war. Im Bild der Achmatowa klang all das in scheinbar idealer Weise zusammen.
Die Dichterin hat sich aber von der absurden Kehrtwendung der Politik ihr gegenüber nicht täuschen und verführen lassen, wie aus Selbstzeugnissen und Erinnerungen ihrer engsten Freunde bekannt ist. Daß sie nach allen persönlich erlittenen Repressalien und Ungerechtigkeiten ernsthaft an eine grundsätzliche gesellschaftliche Wende glaubte, ist völlig unwahrscheinlich. Immer wieder wird beschrieben, daß sie offizielle Ehrungen generell mit Ironie aufnahm, was ihrem ganzen Wesen auch am ehesten entsprach.
Kurzzeitig gab es in der Sowjetunion nach dem militärischen Sieg über den Faschismus eine gewisse Lockerung in den Beziehungen zu den anderen Ländern des siegreichen alliierten Militärbündnisses. Dies brachte Anna Achmatowa eine zugleich anregende wie verhängnisvolle Begegnung: in Leningrad traf sie in ihrer Wohnung zweimal mit dem britischen Philologen und Philosophen Sir Isaiah Berlin zusammen, der als Berater des britischen Botschafters in der Sowjetunion tätig war. In Riga geboren, beherrschte dieser die russische Sprache und interessierte sich außerordentlich stark für russische Literatur. Die Folgen seiner beiden Kurzbesuche bei Achmatowa würde man allerdings überschätzen, wenn man glaubt, er sei der Spiritus rector für die späteren internationalen Auszeichnungen gewesen, die Achmatowa in den sechziger Jahren bekommen sollte. (Man sprach damals sogar vom Nobelpreis für sie.) Auch die rigorose Abrechnung mit Achmatowa noch im Jahre 1946 durch die sowjetischen Parteiorgane kann nicht ursächlich auf ihre Kontakte mit Isaiah Berlin zurückgeführt werden, obwohl Achmatowa selbst einen solchen Zusammenhang nicht nur einmal betont hat. Viel wichtiger aber ist, daß Isaiah Berlin Achmatowas poetische Leistung außergewöhnlich hoch bewertet hat, geradezu überschwenglich. Achmatowa sei «eine Dichterin von göttlicher Begabung und eine als Märtyrerin ihrer Zeit herausragende Figur» gewesen, erklärte er. Sie gehöre zu den größten Dichtern, die die russische Literatur seit der Revolution von 1917 hervorgebracht habe.[156]
Isaiah Berlin beeindruckte seinerseits die Achmatowa durch seine Persönlichkeit und sein literarisches Wissen und regte ihre Phantasie stark an. In den folgenden Jahren bis zu ihrem Tode taucht er m wichtigen ihrer Dichtungen als lyrisches Gegenüber auf. Vor allem im Poem ohne Held findet sich ein vieldeutiges Bild ihrer inneren Beziehungen zu diesem Mann, wie im folgenden Textauszug zu erkennen ist:
Will nicht länger mehr Eis sein vor Furcht und Gewimmer,
Ruf mir lieber die Bachsche Chaconne in mein Zimmer,
Und dann wird erscheinen ein Mensch.
Nicht zur Ehe will ich ihn gewinnen,
Doch wir zwei werden etwas vollbringen,
Das dieses Jahrhundert beschämt.
Vielleicht wollt in ihm ich jenen nur denken,
der einem geschenkt wird von den Sakramenten,
Durch die man das Bitterste teilt.
Zu mir in das Haus mit dem Springbrunnen kommen
wird er zu spät, wenn, im Nebel verschwommen,
Die Nacht ihren Neujahrswein trank.
Den Dreikönigsabend behält er im Herzen.
Den Ahorn vorm Fenster, die Hochzeitskerzen,
Den Flug des Poems in den Tod...
Doch wird er den ersten Flieder noch bringen,
Kein süßes Flehen und auch nicht die Ringe,
Nur Verderben bringt er mir mit.[157]
{Poem ohne Held, Dritte und letzte Widmung, 1956;
Nachdichtung: Heinz Czechowski).
Aber auch schon im Dezember 1945, kurz nach Isaiah Berlins Abreise aus Leningrad, waren in der Literaturzeitschrift «Leningrad» unter dem italienischen Titel Cinquem fünf Liebesgedichte erschienen, in denen Achmatowa ihre Begegnung mit Isaiah Berlin poetisch verarbeitet hat. Anatolij Naiman, ihr Sekretär und Vertrauter in den sechziger Jahren, ist sich sicher, daß die Dichterin immer wieder ihr poetisches Spiel mit dieser Beziehung getrieben hat, zwischen Ernst und Gefahr: Nie seit ich mich erinnre wollt ich I bedauert werden -heut/ Von deinem Mitleid einen Tropfen, I Geh ich, die Sonne im Leib. / Darum also Morgenrot ringsum, I Geh ich, schaff Wunder, I Aus diesem Grund [159] (Cinque,[158] 20. Dezember 1945; Nachdichtung: Rainer Kirsch)
Stilisierungen von Sentiment und Elegie sind nicht zu überhören. Der fragend-ironische Ton des Blok-Zitats am Gedichtbeginn «Zeigt sich das Jenseits mild?» unterstreicht deutlich, daß noch ein Jahrzehnt später die Anziehungskraft dieser Beziehung nicht erloschen war: Prophetisch oder nicht war dieser Traum .../Der Mars erstrahlte zwischen allen Sternen, / Glutrot geworden, funkelnd, unheildrohend - / Doch ich in jener Nacht erträumte dich. Ihr Schwärmen wird maßlos: Du warst in allem... Warst in Bachs Chaconne, / Warst in den Rosen, die umsonst erblühten, / Warst in den Dörfern selbst im Glockenton / Über der Schwäne aufgepflügter Erde.[160] (Die Heckenrose blüht. Aus einem verbrannten Heft, Nr. 6; Nachdichtung: Heinz Czechowski)
Wenige Jahre vor ihrem Tod widmete sie schließlich mit dem Vergil-Vers «Gegen meinen Willen, Königin, habe ich dein Land verlassen» erneut ein Gedicht dieser Beziehung: Erschrick nicht-denn ich kann in dieser Stunde /Uns beide ähnlich sehen wie noch nie. / Ob du ein Geist bist, ein Passant - aus irgendeinem Grunde / Bewahr ich deinen Schatten auf, denn sieh: / Du warst nicht lange damals mein Aeneas. / Ein Scheiterhaufen reichte für mich aus. /Ja, wir verstehen es, uns zu verschweigen. / Vergessen hast du mein verfluchtes Haus. / Du hast vergessen die in Qual und Grauen / Durchs Feuer ausgestreckten Hände ...[161] (ohne Titel, 1962; Nachdichtung: Heinz Czechowski)
Es waren nur wenige Monate der Hoffnung vergangen, als im August 1945 ein neuer niederträchtiger Anschlag auf Achmatowas Ansehen als Dichterin und Persönlichkeit erfolgen sollte. Unter Stalins persönlicher Regie kam es zu einer Kampagne gegen Achmatowa und weitere Leningrader Schriftsteller und Verleger. In der Wahl Leningrads lag eine besondere Infamie: sie war Ausdruck der lebenslangen Unsicherheit und Aversion Stalins gegenüber der meist kritischen künstlerischen und wissenschaftlichen Elite des Landes, die in Leningrad ihre wichtigste Heimstatt hatte. Eingeleitet wurde diese Kampagne mit dem Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU über die Zeitschriften <Swesda> und <Leningrad>» vom 14. August 1946.[162]
Dieser Beschluß konstatierte, daß die Redaktionen der beiden in Leningrad erscheinenden Literaturzeitschriften völlig unbefriedigend geführt würden, daß in letzter Zeit viele «ideenlose, ideologisch schädliche Werke» erschienen seien. Als erster wurde der Satiriker Michail Soschtschenko gerügt,[163] der sich darauf verlegt habe, »üble Ideenlosigkeit, Banausentum und politische Enthaltsamkeit zu propagieren, der nichtige, inhaltlose und abgeschmackte Machwerke fabriziert, durch die unsere Jugend desorientiert und ihr Bewßtsein vergiftet werden soll.[164]
Beschimpfungen wie «obzönes Pasquill», «fade, niederträchtige Seele», «verkommene gesellschaftlich-politische und literarische Physiognomie», «Hohlkopf», «Gauner» gingen auf den bekannten Satiriker und Humoristen nieder.
Diesen Schmähungen folgten «Charakteristika» der Achmatowa: «Achmatowa ist die typische Vertreterin einer unserem Volk wesensfremden, leeren, ideenlosen Poesie. Ihre vom Geist des Pessimismus und der Depression durchdrungenen Gedichte bringen den Geschmack der alten Salonpoesie zum Ausdruck.»[165] Die globalen Beschuldigungen gipfelten darin, sie habe Liebedienerei gegenüber dem Westen und Ausländerkult betrieben. An die Adressen der Redakteure, bekannte Schriftsteller jener Zeit, gerichtet, hieß es, sie hätten vergessen, daß Literaturzeitschriften politische Erziehungsinstrumente seien. Mangelnde politische Wachsamkeit, Liberalismus und Kumpanei waren weitere Vokabeln des Beschlusses, der zu unverzüglichen Maßnahmen verpflichtete: sofortige Einstellung der Tätigkeit der Zeitschrift «Leningrad», Publikationsverbot für Soschtschenko, Achmatowa und «ihresgleichen», Ersetzung des Chefredakteurs der verbleibenden Zeitschrift «Swesda» durch einen Parteifunktionär aus Moskau(!)[166]
Der zuständige ZK-Sekretär für Kultur, Andrej Shdanow, erläuterte in einer mehrstündigen Brandrede [167] vor den Mitgliedern des Schriftstellerverbandes die Beschlüsse der Parteiführung. Uneingeweihten erscheinen die unflätigen Beschimpfungen und schamlosen Lügen dieser Rede heute kaum nachvollziehbar. Aber sie wurden seinerzeit, wie ausdrücklich im Protokoll vermerkt, mit «stürmischem Beifall» und Erheben von den Plätzen aufgenommen.[168] Entgegen den Tatsachen reihte Shdanow die Achmatowa «als Vertreterin des reaktionären Obskurantismus und des Renegatentums in Politik und Kunst», ja gar unter die Emigranten wie Dmitrij Mereshkowskij, Sinaida Hippius, Fjodor Sologub und Andrej Belyj ein.[169] Sodann folgte die «Bewertung» ihrer Dichtung und Person. Sie wolle nichts von ihrem Volk, dessen Nöten und Interessen wissen. Kennzeichnend für ihre Lyrik seien Wolkenferne, religiöse Mystik und Dürftigkeit. Esoterische Motive wie Sehnsucht, Tod und Verhexung, dunkle Töne und Hoffnungslosigkeit dominierten in ihr. Achmatowa sei eine Scherbe der unweigerlich untergegangenen Adelskultur. «Sie ist halb Nonne, halb Dirne, oder richtiger Dirne und Nonne, bei der sich Unzucht und Gebet verflechten.»[170] Als Beispiel für die «Widerwärtigkeit» ihrer Dichtung zitierte Shdanow im Referat die folgenden Verse ihres Gedichtes von 1921: Nun ist alles geplündert, zerrissen. / Wie der Tod vorüberstiebt!/ Unsere Schwermut hat alles zerbissen. / Daß es Helligkeit da noch gibt![171] (Juni 1921; Nachdichtung: Kay Borowsky)
Das Gedicht war einer Petersburger Bekannten - Natalja Rykowa - gewidmet, bei der Achmatowa 1919/20 gewohnt hatte, die Devastation des ehemaligen Zarensitzes Zarskoje Selo vor Augen.
Achmatowas Ausschluß aus dem Schriftstellerverband erfolgte unverzüglich, und das bedeutete zugleich Berufsverbot. Ihre beiden zu dieser Zeit bereits in einer großen Auflage gedruckten Gedichtbände wurden eingestampft. Der Parteibeschluß mußte jahrelang in allen Bildungseinrichtungen «studiert» werden. Die schärfsten Verfechter des Beschlusses wollten gar den Entzug der Lebensmittelkarten für Achmatowa erreichen, was dank der Bemühungen ihrer Freunde nicht gelang.
Es muß nach all diesen Niederträchtigkeiten auch angenommen werden, daß die Verantwortlichen darauf eingewirkt haben, Achmatowas Sohn für die unterstellte Unbotmäßigkeit seiner Mutter erneut zu strafen, um sie damit zu quälen. Lew Gumiljow wurde, wie man heute weiß, nach dem Krieg für alles, was man Achmatowa vorwarf, völlig unschuldig viele Jahre lang seiner Freiheit beraubt. Dieses sippenhaftartige Unrecht traf einen hochbegabten Mann, der sich mit bewundernswerter Energie und Beharrlichkeit gegen alle Gemeinheiten und Demütigungen zu behaupten wußte. Nach seiner Demobilisierung setzte er seine in den zwanziger und dreißiger Jahren begonnenen Studien zur Geschichte Mittelasiens fort, schrieb eine Dissertation «Zur politischen Geschichte des 1. Turk-Khanats 546-659» und promovierte 1948 an der Leningrader Universität.
Man kann heute mit Fug und Recht sagen, daß der Sohn im unwürdigen Spiel gegen die Mutter benutzt wurde, um sie an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen. Diese Strategie wurde besonders nach dem Krieg konsequent fortgesetzt. Am 6. November 1949 verhaftete man Lew Gumiljow erneut und verurteilte ihn nach einjähriger Untersuchungshaft zu zehn Jahren Arbeitslager in Sibirien (Omsk, Karaganda). Seine Energie blieb jedoch ungebrochen. Er vertiefte während der Haft seine persischen Sprachkenntnisse und schrieb ein Manuskript zur Geschichte der Hunnen. Außerdem arbeitete er zur mittelalterlichen Geschichte der Türken. Nach seiner Rehabilitierung wurden diese Arbeiten Ende der fünfziger Jahre die Grundlage für seine Berufung zum Professor. Diese Rehabilitierung erfolgte allerdings nach jahrelangen Eingaben und Bemühungen von Alexander Fadejew, Ilja Ehrenburg, Alexej Surkow [172] sowie Wissenschaftlern der Universität erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956.
Anna Achmatowa wartete als Mutter Monat für Monat in den Schlangen vor dem Innenministerium, um das erlaubte Paket und eine Geldsendung für den Sohn abzugeben. Dazu waren meistens Reisen nach Moskau erforderlich.
Noch zu Lebzeiten des Diktators schrieb die Achmatowa, dem Rat von Freunden folgend, einige Lobgedichte [173] in der Hoffnung, Stalin damit in der Angelegenheit ihres Sohnes umzustimmen. Über diese Gedichte gibt es bis heute Verwunderung, denn sie fallen völlig aus dem Rahmen von Achmatowas bisheriger Manier. Sie sind ganz in der offiziell gewünschten Art verfaßt, demonstrativ und plakativ. In ihnen besingt Achmatowa die Unbesiegbarkeit des sowjetischen Menschen, die Kraft seines Willens, mit der er den Pamir versetzen könne, jeden beliebigen Fluß umleiten, ja durch den er der wirkliche Herr des Lebens, Gebieter über Flüsse und Berge [174] geworden sei. Ihr Land sei ein Land der Hoffnung, des Friedens, in dem die Stimme der Dichter erklinge und der Rhythmus der ruhigen, friedlichen Arbeit. In einem anderen Text findet man einen Toast auf die jungen Wälder, gepflügten Felder, die lärmenden Kinder und die freien Völker. Im Gedicht An Moskau [175] leuchtet die rote Sonne, Arbeitssirenen ertönen, und die roten Kremlmauern zeigen den Weg. Schließlich schreibt Achmatowa ein Geburtstagsgedicht für Stalin (Der 21. Dezember 1949), in dem sie ihn als Retter, Lehrer und Freund im hohen Kreml besingt, der mit Adleraugen wacht: Wir sind gekommen, es zu sagen: Wo Stalin ist, da ist Freiheit, Frieden und Größe des Landes.[176]
Schwülstigkeit und Falschheit dieser Texte waren so offensichtlich und demonstrativ als Persiflage auf die opportunistischen Gedichte ungezählter Tagesschriftsteller gemacht, daß keiner ihrer wirklichen Freunde und der Kenner ihres Werkes sie für bare Münze nehmen konnte. Daß Achmatowa sich nun mit den in Riesenauflagen verbreiteten Gedichten auf die Sowjetmenschen, auf den Frieden, auf ein Pionierlager und auf Stalin doch noch dem allgemeinen Ton untergeordnet haben sollte, konnten im Grunde nicht einmal ihre literarisch weniger erfahrenen Leser annehmen. Aber ganz sicher war 'ich Achmatowa darin nicht: Ihre Zweifel führten sie immer wieder
zu Selbstvorwürfen - manchmal fürchtete sie, ihrem Sohn einen Bärendienst erwiesen und seine Freilassung verzögert zu haben. Zur Rechtfertigung ihres Verhaltens suchte sie literaturgeschichtliche Parallelen und fand eine solche zum Beispiel in Gawrila Dershawins Ode an die Zarin Katharina II.[177] Die Auswirkungen ihrer poetischpolitischen Provokation waren jedenfalls zwiespältig: auf der einen Seite mußte Achmatowa noch Jahre auf die Haftentlassung ihres Sohnes warten, auf der anderen erfolgte gleich nach den Veröffentlichungen ihre zweite Wiederaufnahme in den Schriftstellerverband, wodurch sie das Recht auf Arbeitsmöglichkeiten als Schriftstellerin bekam, eine bessere Wohnung und medizinische Hilfe.
Die beschriebenen Ausgrenzungen und Demütigungen, die ganze individuelle Situation der Achmatowa, mehr oder weniger im Blickfeld Stalins, geben eine stringente Erklärung für ihr pragmatisches Verhalten auf höchst gewagter Ebene: der bewußten Verletzung eigener künstlerischer Ansprüche.
Dazu kommt, daß natürlich auch bei anderen ihrer Tätigkeiten pragmatische Aspekte mitspielen, so bei ihrer seit den dreißiger Jahren intensiv ausgeübten Übersetzungstätigkeit fremdsprachiger Lyrik. Eine sowjetische Werkausgabe vermittelte 1986 erstmals eine Vorstellung von Umfang und Spannweite dieser Tätigkeit bei ihr.[178] Achmatowa hat diese, wie sie es nannte, harte Arbeit vorrangig als «Broterwerb» gesehen.
Übersetzungen, in der Regel vermittelt von Freunden in den Redaktionen, bildeten eine sehr wichtige materielle Lebensgrundlage während der langanhaltenden Publikationsverbote ihrer eigenen Lyrik. Sie erlaubten ihr auch die monatlich gestatteten Geldzuwendungen an den Sohn im sibirischen Arbeitslager. Lyrikübersetzungen gehörten also sowohl zu ihrem individuellen Profil, wie sie auch für die meisten anderen sowjetischen Lyriker aus den verschiedensten materiellen und ideellen wie psychologischen Gründen unverzichtbar waren.
Anfang der dreißiger Jahre begann Achmatowa, Rubens-Briefe und Gedichte armenischer Poeten zu übersetzen. Im Taschkenter Exil dann waren es die Klassiker der usbekischen Literatur. «Soweit es für uns feststellbar ist bis jetzt», heißt es in der erwähnten Werkausgabe, «hat Achmatowa in den fünfziger und sechziger Jahren, hauptsächlich auf der Grundlage von Interlinearübersetzungen, fast 150 verschiedene Dichter aus dreißig Sprachen übersetzt.»[179] Mit Ausnahme deutscher und englischer Dichtung finden sich Übersetzungen aus fast allen europäischen Literaturen bei ihr, besonders aus den slawischen Literaturen und von Texten der verschiedenen Völker der multinationalen Sowjetunion. Neben ihrer Sorgfalt bei diesem «täglichen Dienst» sind auch ihre Warnungen und Befürchtungen gegenüber jüngeren Dichterfreunden wie Joseph Brodsky hervorhebenswert, daß ein zu tiefes Eindringen in fremde Dichtung die eigene Imaginationskraft stören, ja zerstören könne.
Der Verweis auf Achmatowas ausgedehnte Übersetzertätigkeit wirft ein bezeichnendes Licht auf die in allen Literaturen herrschende Sorge um die materielle Existenz von Lyrikern. Zugleich relativiert er auf spezifische Weise das verbreitete Argument von Achmatowas praktischer Unbeholfenheit, von ihrer sogenannten Lebensuntüchtigkeit. Mit ihren Lyrikübersetzungen hat Achmatowa auch in den schlimmsten Zeiten ihrer Isolierung vom literarischen Leben Verbindung mit ihm gehalten und auf Dauer den kulturellen Annäherungsbemühungen zwischen den nationalen Literaturen gedient.