2. DEZEMBER
Mein Au-pair-Mädchen kommt an diesem Dezembervormittag mit rosigen Wangen aus dem Jardin du Luxembourg zurück und erzählt mir, was für ein Vergnügen ihr der Spaziergang bereitet hat.
Ich bin ihr dankbar dafür, denn ich erinnere mich an ein anderes Mädchen, für das der Luxembourg zur Qual wurde.
Sie stammte aus einer hübschen kleinen Stadt im Schwarzwald, und ein paar Tage nach ihrer Ankunft stand sie an einem erstickend heißen Julitag in Saint-Michel auf dem engen Bahnsteig des RER. Entsetzt über den Lärm, die Asphaltausdünstungen, die vorbeihastenden Menschenmassen, das Kunterbunt der Nationalitäten, das Geschubse, die ganze Hektik, war sie von dort in die Rue de Buci gegangen, die sie nun, am Ende des Tages, mit den unordentlichen Auslagen, den Resten, in denen clochardähnliche Gestalten herumstocherten, ebenso mit Grauen erfüllte. Obdachlose mit ihren Hunden hatten dort gebettelt, eine Drogensüchtige hatte sie um etwas Geld gebeten. Ihre Beschreibung meines Viertels erinnerte mich an meine Eindrücke von New York in den siebziger Jahren.
Um sie mit Paris zu versöhnen, nahm ich sie mit in den Luxembourg. Das war noch schlimmer. Die mißhandelte Natur, all die beschnittenen und gestutzten Bäume, die Alleen, die Laubengänge, die Spalierbäume, all die Pflanzen in Kübeln ließen sie die ruhige und einfache Schönheit des Schwarzwalds vermissen, die Tauben waren für sie eine Armee von geflügelten Ratten mit aggressivem Hals, und die Reitesel weckten ihr Mitleid. Wie konnte man diese armen Tiere nur so quälen? Und alles kostete etwas: Karussell, Fahrräder, Toiletten, Spielpark; das Kasperletheater war nicht kindgemäß genug, und bei den Schaukeln ging es ungerecht zu: Willkürlich wird entschieden, wie lange jedes Kind schaukeln darf. Die einzige moralisch akzeptable Aktivität, der kostenlose Sandkasten für die Kleinen, war dagegen vom hygienischen Standpunkt aus anfechtbar.
Ich gab es auf.
Mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, ist das die Reaktion der meisten jungen Mädchen, wenn sie gerade aus ihren »idyllischen« Kleinstädten - gleich ob Celle oder Bad Säckingen - eingetroffen sind. Im allgemeinen sind sie nach ein paar Wochen in der Großstadt heimisch geworden, genießen die Freiheit und entfalten sich.
Aber die Vorstellung, die sie von unserer Umgebung haben, ist ansteckend, und es brauchte eine Weile, ehe der Jardin du Luxembourg auf mich wieder seinen alten Zauber ausstrahlte.
Bei derjenigen, von der hier die Rede ist, war der Widerwille zu stark. Sie fuhr nach Ablauf von drei Wochen wieder ab, schickte mir aber als Nachfolgerin eine äußerst charmante Freundin, der es so großartig in Paris gefiel, daß sie heute in Berlin lebt.
3. DEZEMBER
Ich weiß nicht wieso, aber seit Anfang des Monats empfange ich jetzt nach dem Morgenmagazin auf den öffentlichen Sendern ARD und ZDF über Satellit um neun Uhr das Programm des Brandenburger Fernsehens.
Die Sendung überbringt Glückwünsche an Gisela X. oder Petra Y. im Altersheim von Ludwigsfelde, Luckenwalde oder Königswusterhausen, von den Kindern, dem Kirchengemeinderat oder häufig auch vom Heimpersonal. »Glück, Gesundheit, einen Riesenstrauß Blumen, einen Strahl Sonne oder ein Stückchen Ewigkeit Gottes in deinem Herzen«, lauten die Wünsche.
Es freut mich, die Namen all dieser kleinen Ortschaften zu hören, die ich ein bißchen kenne, ebenso wie die Sänger, die zwischen den Geburtstagsgrüßen auftreten. Sie sind angenehm, im Stil von »Zum weißen Rößl«; daneben wirkt Mireille Mathieu wie ein Monster an Modernität.
Und ihre Enkel, sage ich mir, gehen zur Love Parade oder in den »Tresor«, die Disko von Berlin, um sich mit Techno-Musik zu betäuben, während man in der DDR noch nicht einmal richtigen Rock hören konnte.
Jahrelang hat sich die Welt ohne sie verändert - entsetzlich schnell in den letzten zwanzig Jahren - und der Graben zwischen den Generationen hat sich vertieft. Wie werden sie es anstellen, ihn zu überbrücken?
6. DEZEMBER
Ich komme von einem Kolloquium in Genshagen.
Wie immer zu solchen Anlässen residiert die französische Delegation im Hotel von Großbeeren, dem benachbarten Marktflecken, »berühmt« wegen einer... Niederlage Napoleons (bei seinem letzten Deutschlandfeldzug nach dem Rückzug aus Rußland). Die Fenster des Hotels gehen auf das Denkmal das den Hauptplatz ziert und eben jener Niederlage Oudinots gegen die preußischen Generäle gewidmet ist, von denen etliche einen französischen Namen tragen.
Als die Mitglieder der französischen Delegation heute morgen die Tür ihres Zimmers öffneten, fanden sie auf dem Gang einen kleinen Schokoladenweihnachtsmann vor, der dort brav auf sie wartete. Heute ist Nikolaustag.
Und auf dem Flughafen, bei der Sicherheitskontrolle, hatten sich Polizisten neben der Sicherheitstür eine rote brennende Adventskerze und daneben einen Teller Kekse und Kaffee aufgestellt.
Weihnachten nimmt nach und nach von Deutschland Besitz.
7. DEZEMBER
Seit Anfang Dezember beschäftigt jedermann die Frage: Wie soll man den Weihnachtsschock überstehen? In Deutschland gibt es ebensoviele Alleinstehende wie in Frankreich (in den Großstädten besteht jeder zweite Haushalt aus einer Person), und wenn man dann die Ausmaße bedenkt, die das Weihnachtsfest annimmt...
Von Angst erfüllt, versucht man offensichtlich, sich darauf einzustellen. In Restaurants werden Tische für sechs Personen eingerichtet, wo man sich hinzugesellen kann, Vereine veröffentlichen Listen mit Hobbies for Singles...
Alle beißen die Zähne zusammen.
7. DEZEMBER
Zweiter Advent. Man muß die zweite Kerze am Adventskranz anzünden.
Im Fernsehen höre ich, daß eine Klasse einer katholischen Schule in Süddeutschland beschlossen hat, ein neues Unterrichtsfach in den Lehrplan aufzunehmen: Compassion (das englische Wort für Mitgefühl). An den theoretischen Unterricht schließen sich vierzehn Tage Praktikum an. Die ganze Klasse hat vierzehn Tage in Krankenhäusern, Pflegeheimen usw. verbracht. Man stellt ihnen Fragen. Sie sind sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Es ist beeindruckend.
Ihr Lehrer bringt es auf den Punkt: »Ein Mensch allein ist kein Mensch.«
8. DEZEMBER
Vertraulichkeiten
Es ist der Vorteil des Staus, daß er zu vertraulichen Mitteilungen anregt. Eingeschlossen in einem Auto, das nicht weiterkommt, was bleibt einem da auch anderes übrig? So erfahre ich viel über die Art und Weise, wie man in Ostdeutschland die Wiedervereinigung aufgenommen hat: »Ganz klar, niemand will wieder dorthin zurückkehren, niemand trauert der Stasi, der SED, der Mauer hinterher, oder daß man zehn Jahre auf ein Auto warten mußte, oder der Tatsache, daß man ständig unter Kontrolle lebte. Aber wenn Sie von mir wirklich hören wollen, was für mich die Wiedervereinigung bedeutet hat, dann sage ich es Ihnen: mit einem Wort - Demütigung. Wir sind nicht nur die armen Verwandten, wir sind auch die Gelackmeierten der Geschichte. Selbstverständlich hatte das System seine Glaubwürdigkeit verloren, war von innen her ausgehöhlt. Aber was ist heute mit denen, die es bekämpft haben?
Der Umbruch war fürchterlich: der Verlust der industriellen Infrastruktur, die vielleicht keine war, aber die die ganze Organisation des Lebens aufrechterhielt, das Verschwinden der Partei, die zwar verhaßt war, aber sich um alles gekümmert hat; ein Haufen Leute stand auf einmal ohne Wohnung und ohne Arbeit da - mit Arbeitslosenunterstützung und in Wohnsiedlungen, die der Westen gebaut hat. Natürlich haben die Leute unterschiedlich reagiert: Manche haben sofort begriffen und sich blitzschnell angepaßt, anderen ist das nicht gelungen. Sie waren nicht in der richtigen Marktlücke: Historiker, Wirtschaftswissenschaftler wurden einfach nicht mehr gebraucht. Die Ärzte haben sich besser umgestellt, die Techniker selbstverständlich auch... In den Ehen hat das schreckliche Gräben aufgeschüttet: Der eine hat sich erfolgreich angepaßt, der andere nicht, und dann haben sie sich scheiden lassen - so wie ich. Ich habe es geschafft, ich bin dem Trend der Zeit gefolgt..., so ist das. In meinem Alter, in den Dreißigern, sind praktisch alle meine Freunde geschieden. Manchmal haben sie obendrein noch unangenehme Geschichten aus der Vergangenheit erfahren..., Ja, natürlich, mit der Zeit... Aber um die Wende gut überstanden zu haben, durfte man 1990 nicht älter als zehn Jahre sein...
Na, jetzt geht es weiter! Schauen Sie, das war wegen der Bauarbeiten hier an der Kreuzung, die Autos müssen auf einer Spur fahren. Wir kommen doch nicht zu spät.«
8. DEZEMBER
Als ich an meinem Weihnachtsbaum die Zinnfiguren und Messingengel anbringe, muß ich beim Gedanken an einen lieben, inzwischen verstorbenen Freund lächeln; schon seit langem Junggeselle, hatte er einmal in einem trostlosen Dezembermonat, als ihm die Weihnachtstümelei in seiner Heimatstadt München (Plastiktannen, mit bunten Kugeln gespickt, Musikboxen, aus denen Weihnachtslieder dröhnen usw.) ganz besonders auf die Nerven gegangen war, eine Annonce aufgegeben: »Wer will Weihnachten in München ohne Tanne, ohne Engel und ohne Kerze verbringen? Und ohne Lametta.« Er bewahrte eine ausgezeichnete Erinnerung an das Ergebnis dieser Initiative. Die Geschichte hat sogar ein Weilchen angehalten.
15. DEZEMBER
Ich neige häufig zu der Ansicht, daß man in Deutschland etwas zu schnell Zeter und Mordio schreit; aber diesmal möchte ich auch aufschreien. Und ich stelle fest, daß ich nicht die einzige bin, der es so geht.
Die Geschichte, die der »Spiegel« von dieser Woche »auspackt«, ist ziemlich beunruhigend. Die Führungsakademie, das Äquivalent zur Militärhochschule in Frankreich, soll einen gewissen Roeder zu Vorträgen eingeladen haben. Roeder ist eine für seine rechtsextremen Ansichten wohlbekannte Person; er ist nicht nur ein Intellektueller der »Neuen Rechten«. Im Anschluß an den Skandal hat er in einem Fernsehinterview erklärt, daß der Osten das natürliche Expansionsgebiet Deutschlands wäre und Hitler ein »Genie der Gemeinschaft« gewesen sei, der aus einem dem Chaos ausgelieferten, geschwächten Volk ein machtbewußtes, fest zusammengeschweißtes Volk gemacht habe.
Selbstverständlich hat Deutschland nach wie vor seine Punks, Skins und Neonazis. In allen Zeitungen gibt es Werbeseiten, auf denen Erotikvideos mit diskretem Hausversand angeboten werden, genauso wie Videos mit der »wahren Geschichte der Waffen-SS« oder dem »Afrikakorps und Rommel-Feldzug«, wenn nicht gar mit der »wahren Geschichte der Gestapo«.
Daß sich ehemalige Soldaten, die Stalingrad »mitgemacht« haben, Panzer nach Stalingrad beschaffen möchten, ist ganz normal, ja natürlich, aber daß junge Leute in den Kasernen an Hitlers Geburtstag Nazilieder singen, daß Fotos von der Wehrmacht beim Überfall auf Rußland oder Belgien gänzlich unkommentiert die Kasernenwände schmücken, daß Soldaten Spaß daran haben, Videos mit Hitlergruß und nachgestellten Partisanenerschießungen zu drehen, ist viel alarmierender. Und darüber wird jetzt überall gesprochen. Denn plötzlich lösen sich die Zungen: bei den Jugendlichen, die ihren Wehrdienst abgeleistet haben und nicht wagten, ihre Entrüstung laut werden zu lassen, bei ihren Eltern, und bei all denen, die irgendwelche Kontakte zur Bundeswehr haben, jeder hat irgend etwas zu berichten. Die Diplomaten ihrerseits bedauern, daß die Militärs so unpolitisch sind.
Man kann jedoch nicht sagen, daß die Bundeswehr wirklich unpolitisch ist. Nach dem Krieg mit dem Anspruch des Modells einer demokratischen Armee geschaffen, hat sie, auf Anstoß von General Baudissin, das Prinzip der inneren Führung durchgesetzt, eine Art Gegengewicht zu den vormals betonten Werten der »Treue« und des »Gehorsams«.
Aber sie ist trotzdem immer wieder von den »Linken« attackiert worden; gleich nach dem Krieg von all denjenigen, die überhaupt keine Armee wollten (keine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik): die Ohne-mich; dann, in den sechziger Jahren, wurden die Atomwaffen, die in Deutschland stationiert werden sollten (die berühmten Pershing), und die Bundeswehr von den Protestbewegungen in einen Topf geworfen und gleichermaßen geschmäht. Auf Demonstrationen gab es Transparente mit der Aufschrift Soldaten sind Mörder, und das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, daß eine solche Behauptung nicht strafbar sei. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer hat außerordentlich zugenommen (mehr als 100 000 pro Jahr!), sie genießen in Deutschland mittlerweile ein hohes Ansehen und den Ruf der »moralisch Besseren« (man kann sich nicht mehr vorstellen, wie die Sozialstationen, die Pflege- und Behindertenheime ohne sie funktionieren würden).
Kurzum, die Bundeswehr hat allen Grund, sich von einem Feind, der ihr ausschließlich aus der »linken« Ecke zu kommen scheint, moralisch angegriffen zu fühlen. Dennoch hatte man die berechtigte Hoffnung, daß ihre Chefs - eben jene, die in der berühmten Führungsakademie die Elite ausmachen und sie heranbilden - mehr Fingerspitzengefühl gehabt, einen liberaleren Geist vermittelt, mehr Augenmaß bewiesen und über Möglichkeiten nachgedacht hätten, der Bundeswehr wieder eine Tradition zu verleihen und sich die Geschichte Deutschlands auf konstruktive Weise anzueignen, die es den deutschen Soldaten erlaubt hätte, sich als Mitglieder einer Gemeinschaft und nicht neuerlich als nur aggressiv »deutsch« und nichts anderes zu empfinden.
Und das ist der Grund, weshalb ich dieser Tage überall lauter sorgenvolle Gesichter sehe.
18. DEZEMBER
Ich hatte vergessen, was es heißt, zu frieren. Gleich nachdem ich das letzte Kind zur Schule geschickt hatte, war ich Hals über Kopf nach Hamburg aufgebrochen, wo ich eine Reihe von Verabredungen hatte. Nach Pariser Art nur leicht bekleidet, war mir schon auf dem Flugplatz mein Irrtum bewußt geworden: Bei minus zehn Grad umfing mich die Kälte wie ein tödlicher Panzer und rief in mir das Bild von Sankt Petersburg hervor.
Glücklicherweise gewährten mir die großen cremefarbenen Mercedes-Taxis Obdach.
Wie schön Hamburg ist! Selbst bei dieser grauen, feuchten und nebligen Kälte ist die Stadt von einer zurückhaltenden Eleganz, einem strengen Schick, was nichts von dem Eindruck der Macht, den sie ausstrahlt, zurücknimmt.
Das gilt für Sankt-Pauli und die Reeperbahn mit ihren Hafenarbeitern und Matrosen ebenso wie für die Binnenalster und die Eibchaussee, wo ein unablässiger Strom blonder junger Frauen in blanken, schwarzen Schuhen und mit perfektem Haarschnitt unterwegs ist, um sich zum Tee bei der Schwiegermutter zu begeben, während auf der Elbe langsam die Schiffe vorüberziehen.
Hamburg wählt sozialistisch - einen äußerst wohlerzogenen Sozialismus; und es ist die Stadt der Zeitungen: »Die Zeit«, »Der Spiegel«, »Stern«, »Bild«...
Die Zeit sitzt in einem alten Gebäude in der Nähe des Hotels »Vier Jahreszeiten«, wo man noch etwas von der Atmosphäre spürt, wenn Visconti Thomas Mann verfilmt. Von den modernen Büroräumen des Spiegel hat man einen überwältigenden Blick auf die Depotanlagen, den Hafen mit seinem Wald von Kränen... und auf die Grünspantürme der Stadt: Petri, Jakobi und Michaelis...
Wie lange wird das alles noch so bleiben? Ist die Regierung erst einmal in Berlin, wandern dann, wie von einem unwiderstehlichen Magneten angezogen, auch alle Zeitungen dorthin? Oder aber genügt der Transrapid, diese Magnetschwebebahn, die Hamburg und Berlin in einer guten Stunde miteinander verbinden soll, um die jetzige Situation zu erhalten, wie es manche hoffen?
Wenn auch noch die Zeitungen weggehen - die Werften (mit Ausnahme von Blohm & Voss) sind ohnehin bereits stillgelegt - wird die Arbeitslosigkeit in Hamburg dann noch weiter ansteigen? Wird der Hafenbetrieb ausreichen? Hamburg hatte etwas vom Geist Preußens geerbt; jetzt hat es ein wenig Angst vor Berlin.
19. DEZEMBER
Ich bin bei den N.s in Hamburg, es ist wohlig warm bei ihnen. Die dritte Adventskerze ist angezündet. Bei Kaffee und einem Stück Christstollen plaudern wir ein bißchen. Mit den Kerzen auf den Schwibbogen, die in den Fenstern stehen, ähneln die Straße und das ganze Viertel einer riesigen Weihnachtskarte.
Er ist zur Zeit ganz ohne Verpflichtungen - böse politische Überraschungen - sie, ein Traum von einer deutschen Frau, ist Lehrerin und Anna-Seghers-Spezialistin. Sie sind seit langem mit Günter Grass befreundet, wohin wir heute abend zum Essen gehen. Falls es keinen Eisregen gibt, der die Straßen mit Glatteis überzieht.
Doch wir haben Glück.
Der Patriarch der deutschen Literatur, Autor gewaltiger Mythologien zur deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts, auf denen das moderne Deutschland beruht, scheint weitaus mehr mit der Welt im Reinen zu sein, als man gemeinhin vermutet. Das Alter, der Erfolg, der Charme seiner Frau? Er hat gerade eine Reihe von Aquarellen fertiggestellt, die auf dem Boden des Ateliers trocknen, in dem er malt, Holzschnitte macht und zeichnet. Farbig, fröhlich, direkt von Portugal inspiriert, heben sie sich von seinen früheren, meist düsteren Grafiken ab.
Seine Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels? Nein, er hatte niemals die Absicht zu schockieren - und es hat ihn betrübt, daß danach mehr über seine Rede als über das Werk von Yasar Kemal gesprochen wurde; er hat nur wiederholt, was er überall und immer sagt: Die Deutschen seien im allgemeinen ganz und gar nicht fremdenfeindlich, er habe vielmehr - wegen der Kurden - die Waffenlieferungen an die Türkei angeprangert, ebenso wie die Haftbedingungen von Leuten, die abgeschoben werden sollen, das sei antidemokratisch, skandalös; sehen Sie sich um, dann wissen Sie Bescheid...
Er ist vor allem über die ethnische Auffassung von der Nationalität in Deutschland empört. Wie soll Integration vonstatten gehen? Ohne doppelte Staatsbürgerschaft? Wie kann man zu behaupten wagen, daß Deutschland kein Einwanderungsland sei, wenn es in manchen Schulklassen dreißig Prozent und mehr Ausländer gibt?
Ja, sein so verunglimpftes Buch, Ein weites Feld, ist in Frankreich - außer vom Figaro - freundlicher aufgenommen worden als in Deutschland. Aber die Ostdeutschen mögen das Buch sehr: Sie erkennen sich darin wieder. Und er, Günter Grass, ist wohl der einzige, der einige weniger angenehme Aspekte der Wiedervereinigung beim Namen nennt: die Machenschaften der Treuhand, das Geld von Brüssel, das für den Osten bestimmt war und wie im Falle der Bremer Vulkanwerft im Westen versickert ist... Und was die enormen 150-Milliarden-Transfers pro Jahr angeht, derer sich die Regierung rühmt, wieviele Aufträge haben sie den Großunternehmen im Westen eingebracht? Nein, nein, er schockiert nur deshalb, weil die anderen nichts sagen.
Ob er heute dasselbe schreiben würde? Stehend, seine Pfeife stopfend, zuckt er mit den Schultern: Im Moment gibt es zwischen Ost und West nur Gemeinsames, wo es entschieden angestrebt wird. Nichts tut sich spontan zusammen. »Es wächst nicht zusammen*, jedenfalls noch nicht. Ja, Willy Brandt hatte recht mit seinem Ausspruch: »Jetzt •wächst zusammen, was zusammengehört*, aber das gilt für die Politik im Osten selbstverständlich genauso.
Der Osten - Polen - ist ganz offensichtlich das Thema, das ihm am meisten am Herzen liegt, und wenn das Essen im Haus nicht bereit stünde, wären wir noch lange im Atelier geblieben.
Bei kochendheißer Suppe reden wir von Paris. Paris, wo er vier Jahre verbracht hat, aber meint, daß er nie von Franzosen eingeladen worden ist. Er war mit Ausländern zusammen.
Vor kurzem ist er zu seiner Wohnung in der Avenue d'Italie gepilgert und war gerührt, als die Concierge ihm erzählte, daß in diesem Haus ein sehr berühmter Schriftsteller gewohnt habe. Er schrieb damals Die Blechtrommel. Vielleicht brauchte er eine solche Distanz zu Deutschland, damit er diesen Sturzbach deutscher Geschichte aufs Papier bringen konnte.
Und dann - wie um gleichzeitig zum nächsten Werk, dem berühmten Butt, überzugehen - kam das Hauptgericht, ein traditionelles Essen in der Weihnachtszeit: ein köstlicher, riesiger Karpfen, ganz frisch aus dem Teich nebenan gefischt.
Ich genoß das Bild, das sich mir bot: der gediegene, bei dieser Kälte besonders einladende und gemütliche Raum, unsere fünfköpfige Tischgesellschaft, an der Wand mir gegenüber das berühmte Blatt mit dem Butt, der eine Frau küßt, und neben mir Günter Grass, der, stehend und redend, den riesigen, dampfenden Fisch zerteilt.
Frankreich, ja, die romantische französische Literatur liegt ihm besonders, Der große Meaulnes von Alain-Fournier; die Figur des Mahlke in Katz und Maus geht weitgehend darauf zurück, er hat sich direkt davon inspirieren lassen. Dieser Junge, den alle Welt bewundert... das ist bisher noch keinem Kritiker aufgefallen.
Und sonst, die Franzosen? Auf politischem Gebiet hat er große Sympathien für Mendes-France; aber ihre höfischen Sitten..., und ihre Vorstellung von der Nation... Sie haben es gut, ihnen ist das mit der »Nation« geglückt. Deutschland hat damit immer nur Katastrophen zustande gebracht - aber soll das die Zukunft sein? Die Schwächung Brüssels und die Entwicklung der Regionen ist alles, was man sich erhoffen kann, mit einem europäischen Parlament, das wirkliche Kompetenzen hat.
Eine physische, affektive Beziehung zur Nation? Ein »Ich liebe Frankreich« in bezug auf Deutschland? Ein literarischer Kanon, der etwas Verbindendes bewirkt? Unmöglich; unmöglich vor allem, damit eine historische Kontinuität herzustellen.
Aber seine Liebe zu Fontane, von dem ein Porträt auf dem Kaminsims lehnt? Ach ja, Fontane, und sein Gesicht hellt sich auf, darüber müßte man ausführlicher reden... Ja, natürlich, soziale Fragen haben Fontane nie wirklich interessiert. Dabei kannte er Zola, er fand das jedoch alles fürchterlich: die Lebensbedingungen des Arbeiters, die Armut... Es gibt bei ihm indessen durchaus ein politisches Denken und soziologische Beschreibungen. Und was für eine Verbindungslinie zwischen Frankreich und Deutschland, vor allem heute, wo alles, was sein Leben ausmachte - die Ländereien, die Schlösser und Städte Brandenburgs - wieder zugänglich ist! Da ist tatsächlich eine Kontinuität neu zu erschaffen... Tun wir etwas... Unter solchen Versprechungen sind wir auseinandergegangen. Draußen, in der nebligen Nacht, schienen die kahlen Bäume und das Haus wie aus einem Bild von Balthus aufzusteigen.
22. DEZEMBER
»Unmittelbarkeit«
»Es weihnachtet sehr«, heißt es um diese Zeit in Deutschland; überall ist Weihnachten zu spüren. Das erinnert mich an einen Artikel, den ich vor einiger Zeit in einer Wochenendbeilage der FAZ - diese auf Hochglanzpapier in die Zeitung eingelegten Seiten - gelesen habe und der mich sehr gefesselt hatte. Darin war die Rede von einem kleinen Werk, das der deutsche Philosoph Schleiermacher zu Anfang des vorigen Jahrhunderts verfaßt hat. Er hat es in Halle unter einem Pseudonym veröffentlicht, um so die Reaktionen besser beobachten zu können; Henriette Hertz hat ihn jedoch sofort erkannt. Caroline Schlegel hat es sehr gemocht, Schelling hingegen war empört. Man sehe selbst, weshalb.
An einem Weihnachtsabend debattieren in einem bürgerlichen Hause Freunde über den Sinn dieses Festes. Der Auffassung des ersten Redners zufolge seien Feste »gewisse zu bestimmten Zeiten wiederkehrende Handlungen«, mit denen »das Andenken großer Begebenheiten gesichert und erhalten« werde. Für die Tradierung des christlichen Glaubens seien sie grundlegend. Jeder Kundige wisse, daß das Christentum nur auf schwachen geschichtlichen Grundlagen ruhe... Es sei problematisch, in dem frommen jüdischen Wanderprediger aus Nazareth den Stifter der neuen Weltreligion oder gar den Gründer der Kirche zu sehen. Um so wichtiger der Weihnachtskult... Die römisch-katholische Kirche habe den Mangel an Historizität durch die Erfindung von Traditionen ausgeglichen. Im Interesse des gegenwärtigen Glaubens habe sie für ihre Heiligen immer neue Wundergeschichten ersonnen... Beim Weihnachtsfest sei es kaum anders. Da sich die Erinnerung an Person und Lehre Jesu von Nazareth, erst recht an seine Geburt, nicht durch objektive historische Kenntnisse begründen lasse, habe sie in der weihnachtlichen Festkultur und den Mythen von der wunderbaren Geburt des göttlichen Kindes in der Krippe verankert werden müssen.... Überall in der Welt werde Weihnachten als Fest der Freude gefeiert. Und das Prinzip der Freude sei die Idee der Erlösung. Erlösung bedeute die Aufhebung der elementaren Entzweiung, die den Menschen als endliches Vernunftwesen prägt. Der einzelne wisse sich selbst als erlöst, wenn für sein Bewußtsein die Gegensätze zwischen Erscheinung und Wesen, Zeit und Ewigkeit, Bedingtem und Unbedingtem aufgehoben sind. Weihnachten werde gefeiert, um sich des »innersten Grundes und der unerschöpflichen Kraft des neuen ungetrübten Lebens bewußt« zu werden. Es sei das Fest vom wiedergefundenen höheren Leben des Menschen: »Und das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns«... »Das Fleisch aber ist nichts anders als die endliche beschränkte sinnliche Natur; das Wort dagegen ist der Gedanke, das Erkennen.« Die Fleischwerdung des Logos versinnbildliche die Aufgabe der Menschheit, Vernunft in eine noch unvernünftige Wirklichkeit einzuzeichnen... In Christus, dem idealen Repräsentanten der Menschheit, sei die unmittelbare »Einerleiheit des Göttlichen und Irdischen« symbolisiert. In diesem Urbild werde der Mensch seiner eigenen Bestimmung ansichtig... Deshalb sei die ideale Kirche die wahre Trägerin des Fortschritts humaner Kultur. Sie stehe für ein Selbstverständnis des Menschen, in dem alle Unterscheidungen nach Stand, Geschlecht, Nationalität und Rasse als unwesentlich gelten: Weihnachten, ein Fest wahrer Humanität.
Seine Freunde haben ihm mit jener Geduld zugehört, die deutsche Unterhaltungen kennzeichnen, aber Josef, der zuletzt Eingetroffene, meldet sich etwas schneller als die anderen zu Wort; er lehnt es jedoch ab, nun gleichfalls eine gelehrte Rede zu halten. Durch Reflexion werde der Sinn des Weihnachtsfestes von vornherein verfehlt. Denn Reflexion sei das Medium von Unterscheidung und Entzweiung.
Durch Musik soll sich das religiöse Gefühl unmittelbarer Einheit von Gott und Mensch direkt ausdrücken können: »Der sprachlose Gegenstand verlangt oder erzeugt auch mir eine sprachlose Freude, die meinige kann wie ein Kind nur lächeln und jauchzen«. Und er beendet allen Streit durch die Aufforderung, sich jener Unmittelbarkeit zu öffnen, um die es Weihnachten geht.
Da ist es - das große Wort. Die Unmittelbarkeit, ohne die die deutsche Kultur nur schwer zu begreifen ist.
Dieses Un-Vermittelte findet man selbstverständlich auch im Protestantismus; diese Art und Weise, Gott ins Antlitz zu sehen, ohne den Beistand eines Priesters oder von Heiligen und - fast - ohne Sakramente; oder in diesem bevorrechteten Hang zur Musik, spricht sie doch die Seele direkt an, ohne auf Worte zurückgreifen zu müssen.
Aber die Religion, die Musik, das betrifft doch vor allem die Vergangenheit, wird man darauf erwidern; dieser Text stammt aus dem Jahre 1806, und seitdem ist viel Zeit verflossen. Was für eine Bedeutung soll das heute noch haben? Ja, vielleicht..., aber trotz alledem heißt in Deutschland leben heute immer noch, in gewisser Weise ohne einen Vermittler, »exponierter« als in Frankreich zu leben.
Eure Freunde werden euch viel direktere Fragen stellen, sie werden eure schamvolle Zurückhaltung, euer non-dit - euer Nicht-Ausgesprochenes - eure indirekten Ausflüchte, die sie nicht als solche auffassen, weder begreifen noch akzeptieren. Unsere höfische Kultur ist der Antipode der Unmittelbarkeit: Vielleicht liegt darin der Grund, weswegen deutsche Liebesbeziehungen oftmals solch unauslöschliche Spuren hinterlassen, wie es schon Charles de Villers Madame de Stael in einem Text auseinandersetzte, in dem er die Liebe in Deutschland hundert Fuß höher plazierte als die banalen Gefühle, mit denen man in Frankreich herumexperimentiert.
Ist das auch der Grund, weshalb die deutsche Poesie diese aufrüttelnde Kraft besitzt, diese Fähigkeit, einen abrupt, ja geradezu spielend vom Banalen zum Erhabenen zu führen, ohne Angst vor den Klippen der Lächerlichkeit, und einen somit im Innersten zu berühren?
Und vielleicht beruht diese Unmittelbarkeit, dieses Unvermittelte, ja in gewisser Weise auf der Einsicht dessen, daß einen nichts schützt, weder Ironie, Bedauern, noch Zweifel, eine bestimmte Art, sich zu öffnen, sich hinzugeben und zu glauben.
Ans Absolute rühren..., und sich mitunter die Flügel verbrennen?
23. DEZEMBER
Heute vormittag im Fernsehen eine Werbung für elektronische Produkte im Sonderangebot.
Achtung, sagt die Stimme, Tele-Marketing in Reinform, diese Aktion gilt nur bis zum vierten Advent.
24. DEZEMBER
Eigentlich habe ich in Genshagen zu tun, aber ich habe in Berlin eine Verabredung, die mir wichtig ist - eine günstige Gelegenheit, um bei der ausgezeichneten Patisserie Leysieffer vorbeizuschauen.
Provenzalischer Herkunft, kann ich mir Weihnachten ohne die traditionellen »dreizehn Desserts«, ohne Quittenbrot, Nugats, mendiants und fondants nicht vorstellen. Aber ich kann es mir ebensowenig ohne jenes Backwerk vorstellen, das mir das ganze Deutschland zu enthalten scheint: den Christstollen und vor allem die Elisenlebkuchen aus Nürnberg. Mit ihrem schweren, kompakten, gehaltvollen Teig voller Gewürze, kandierter Früchte und Mandeln entströmen ihnen Düfte wie aus dem Mittelalter, Gerüche aus allen Ecken Mitteleuropas, Backdünste, die aus einer warmen, freundlichen, leuchtend hellen Küche inmitten einer in der Winterkälte erstarrten Stadt aufsteigen; sie machen satt, und sie laden ein, sich auf die Reise zu begeben, verlocken einen, in Gedanken unterwegs zu sein: Sie vereinen alle Freuden: zu Hause zu sein und zugleich in der großen weiten Welt.
Mit einem Wort, sie gehören zu den großen Momenten der deutschen Gastronomie.
25. DEZEMBER
Die deutsche Zeit
Das Jahr geht zur Neige. Ist Weihnachten vorüber, beginnt sich Silvester abzuzeichnen, in Deutschland wie üblich sehr laut mit seinen Böllern und Feuerwerkskörpern. Die Zeitungen sind übervoll von Rückschauen auf das vergangene Jahr.
Und wie immer zu dieser Zeit überkommt mich ein seltsames Gefühl, wenn ich Deutschland vor Augen habe.
Ich spüre so etwas wie ein Geheimnis - etwas, was mir entgeht, was sich hinter den Gedanken meiner Freunde verbirgt, etwas, was in ihrem Kopf ist und nicht in meinem, etwas, was außerhalb des Verhaltens existiert, das sie an den Tag legen oder es vielleicht auch teilweise bestimmt, etwas sehr Wesentliches, das ich vage fühle und das nicht ausgesprochen wird.
Ich frage mich, ob das nicht ganz einfach etwas mit der Zeit zu tun hat.
Seit 1945 sind fünfzig Jahre vergangen, und ich begegne vielen Deutschen, die diese Feststellung ganz gelassen hinnehmen.
»Wie die Zeit vergeht«, sagen sie oder eher noch: »Wie die Zeit fortschreitet...«
Selbstverständlich schnürt uns alle gleichermaßen dieselbe unumstößliche Gewißheit die Kehle zu: die unabänderliche Flüchtigkeit der menschlichen Dinge, die Unfähigkeit, den Strom der Zeit aufzuhalten. Bei uns wie bei ihnen verwelken die Blumen, vergeht die Schönheit und erwartet einen der Tod.
Aber das drückt sich auf unterschiedliche Weise aus, und vor allem sind die Reaktionen auf diese fundamentale Gegebenheit des menschlichen Lebens unterschiedlich.
Man findet in der deutschen Literatur nicht so viele Frauen, die sich gegen die Zeit auflehnen und zäh ihre Verführungskunst zu behaupten versuchen: Man begegnet kaum einer Sanseverina, die, sich auf die Lippen beißend, abwechselnd ihr Konterfei im Spiegel betrachtet und aus dem Fenster nach Fabrice del Dongo Ausschau hält.
Neugierig geworden, habe ich mich daran gemacht, in Anthologien nachzuschlagen - insbesondere in solchen, die nach Themen geordnet sind - eine angenehme Art und Weise, seine Zeit zu verbringen, sie »vergehen zu lassen«.
Und es hat sich herausgestellt, daß diese vergehende Zeit nicht gerade ein Thema ist, das viele deutsche Dichter inspiriert hat. Sie ziehen es vielmehr vor, sich dem zuzuwenden, was ewig ist: der Liebe, dem Schönen, dem Wahren, dem Mond, der Natur, dem Tod usw.... Insofern sie sich für die Zeit interessieren, geschieht das auf ganz andere Weise als bei uns. Wenn auch die Gedichte oft voller Trauer feststellen, daß alles bedroht sei, dann schließen sie doch mit der fröhlichen Gewißheit, in den Himmel zu gelangen: »In den himmlischen Garten, freue dich schönes Blümelein...«, oder auch, wie bei Eichendorff nach dem Tod seines Sohnes: »Du fand'st dich längst nach Haus...«
Wenn schon ein tiefer Glaube nicht dazu verhilft, sich in das Schicksal zu ergeben, was am häufigsten der Fall ist, so nimmt man es auf eine andere Art und Weise an: »Auch ein Klagelied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich...«, befindet Goethe. Hofmannsthal tröstet sich mit dem Tod, weil er selbst nur eine Etappe innerhalb dieser Menschheit darstellt, an der er durch die Jahrhunderte hindurch teilhat: »... daß ich auch vor hundert Jahren war... und meine Ahnen... mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar.«
Und dann schließlich bei Hesse und vielen anderen dieses »Alles stirbt, alles stirbt gern. Nur die ewige Mutter bleibt, von der wir kamen...«
Die in der französischen Dichtung geläufigste Haltung gegenüber diesem unerbittlichen Abschiednehmen von uns selbst, die der Klage oder der Revolte, taucht so gut wie nicht auf. Wohl findet man bei Storm »das kann ich nicht ertragen...« (daß das Leben ohne dich weitergeht), doch findet man nirgends, wie bei Lamartine, dieses »O Zeit, halte ein in deinem Fluge...«, man erfleht nicht, wie Marie-Antoinette auf dem Schafott, »noch fünf Minuten, Henker«, und vor allem, vor allem zieht man nirgends die Konsequenz: »Ihr Stunden, höret auf zu fließen... Drum laß uns lieben, und genießen!« wie es in Lamartines Gedicht weiter heißt, oder wie es Ronsard ausdrückt: »Drum lebe, glaub es mir, eh es zu spät, und pflücke heute noch die Rosen dieser Erde!«. Wenigstens nicht in den Anthologien, die man während der ersten Semester seines Germanistikstudiums in die Hände bekommt. Aber auch draußen, im Leben, heißt es nicht wie bei Serge Reggiani, wenn er von der unmöglichen Liebe eines alternden Mannes zu einer jüngeren Frau singt: >Il suffirait de presque rien... peut-etre dix annees de moins...<- »Es genügte ein kleines Nichts... vielleicht nur zehn Jahre jünger...« - noch klagt man sonst sein Liebesleid. Die Zeit mit ihrer Abfolge von Alter und bedrohter Liebe ist nicht wie in Frankreich eine Obsession.
Man könnte meinen, daß die Zeit den Deutschen keine Angst macht. Ihre Haltung gleicht vielmehr der im Faust: »Gebraucht die Zeit, sie geht so schnell von hinnen, doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen.«
Also keine Hast, keine Eile; und jeder Pariser sollte den Flughafen, auf dem er in Deutschland ankommt, als eine Art Schleuse betrachten, wonach er keinem Mann mehr begegnen wird, der, den Aktenkoffer in der einen Hand, mit dem Handy in der anderen telefoniert und dabei ein Taxi heranwinkt, keiner Frau, die beim Friseur eifrig fürs Büro arbeitet, keinem Unvorsichtigen, der bei Grün - für die Autos - über die Straße geht, noch jemandem, der sich in der Schlange vordrängelt: In Deutschland wartet man und wird nicht ungeduldig. Man macht die Dinge ordentlich, eins nach dem anderen.
Bei den Ostdeutschen ist das noch ausgeprägter, sie hatten sich daran gewöhnt, praktisch ohne Telefon, ohne Fax, ohne Kopierer, fast ohne Auto auszukommen, ohne all die Dinge, die den Rhythmus des Lebens beschleunigen.
Und im Osten wie im Westen werden Geburtstage mit großem Aufwand gefeiert.
Wenn man sich darüber mit einem befreundeten Philosophen austauscht und ihm sein Erstaunen darüber zu verstehen gibt, lächelt er nur: Ja, natürlich, die Zeit schreckt die Deutschen nicht, sie ist für sie ein innerer Faktor, mehr als eine äußere Macht. Bei Kant wird die Zeit als eine Folge von Seelenzuständen begriffen.
Wenn es sich folglich nur um die innere Umwandlung des Subjekts handelt, liegt es tatsächlich nahe, zu versuchen, der Zeit ihre Grausamkeit zu nehmen: Der Mythos von der Ewigen Wiederkehr oder der Begriff vom »Rad der Zeit« laufen beide auf eine solche Bezähmung hinaus. Man muß sich also, wie es scheint, in Deutschland mit der Ordnung der Dinge abfinden, akzeptieren, daß die Zeit vergeht und sich sagen, daß sie etwas Zweitrangiges darstellt. Faust wird endgültig verdammt, als er die verbotenen Worte ausspricht: »Verweile doch, du bist so schön...«.
Wenn es schließlich stimmt, daß sich die deutsche Literatur nicht der in Agnes verliebten alten Herren annimmt - so wie Moliere in der Schule der Frauen - noch der reifen Damen, die ihr Herz an ihren Neffen verlieren - so wie es Stendhal in der Kartause von Parma tat - wenn die deutsche Dichtung in der Tat nicht ernsthaft gegen die Vergänglichkeit des Glücks und der Zeit rebelliert, sondern die Liebe und die Schönheit vielmehr mit dem Begriff der Ewigkeit verbindet..., einer tiefen, tiefen Ewigkeit, wie Nietzsche schreibt, wenn die deutsche Philosophie der Zeit ihre absolute, unwiderrufliche Dimension nimmt, indem sie sie als etwas eher Innerliches denn als etwas Äußerliches ansieht, dann ist es ganz normal, daß die Politik ihrerseits sie nicht als einen wesentlichen Wert, als eine zu respektierende Macht betrachtet.
Die deutschen Schulkinder lernen indessen ebenso wie bei uns, wenn sie Philosophieunterricht haben (was nicht immer der Fall ist), daß man nicht zweimal in demselben Fluß badet...
Ist es nun Zufall? Zwei kurze französische Wörter, die die ganze Sehnsucht nach etwas endgültig Entschwundenem ausdrücken, sind inzwischen in der deutschen Sprache fest integriert. Will man im Deutschen sagen, etwas sei wirklich vorbei, seufzt man häufig »es ist perdu« oder auch »es ist passe«.
So wie dieses Jahr 1997.