November

1. NOVEMBER
Von all den ersten Novembern, die ich in Deutschland erlebt habe, ist mir ein erster November im Saarland am stärksten im Gedächtnis geblieben: In einem kleinen Dorf, das zauberhaft gewesen wäre, wenn die Gemeindevertreter sich nicht bemüßigt gefühlt hätten, es zu einer Vorstadt herauszustaffieren, gab es eine Messe von Mozart, wunderbar vorgetragen von den Gemeindegliedern, und anschließend eine Prozession zum Friedhof, wo inmitten der Gräber das »Dies irae, dies illa« erklang. Am Abend war der auf einem Hügel gelegene Friedhof, der sich bis hinunter an die Saar erstreckt, ganz und gar von Kerzen erleuchtet, die man in ihren roten Gläsern direkt auf den Boden gestellt hatte, wo sie in der kalten Luft hin und her flackerten.
Aber Allerheiligen ist kein protestantisches Fest. In der Bild vom 1. November dieses Jahres finde ich nicht die geringste Anspielung darauf. Bild ist eine Hamburger Zeitung, Hamburg ist protestantisch und Deutschland ein dezentralisiertes Land.

2. NOVEMBER
Mein Briefpartner mit der Sütterlin-Schrift hatte mir ein Foto von den Bayern-München-Fans mit ihren Plastiktüten geschickt. Es ist mir heute wieder in die Hände gefallen, und ich sehe es mir aufmerksam an. Das Foto ist ziemlich groß, so daß man die Gesichter deutlich erkennen kann: alles anständige Jungen, ordentlicher Haarschnitt, frische Gesichtsfarbe, sauberes Sweat-Shirt.

3. NOVEMBER
In den heutigen Fernsehnachrichten nimmt ein technisches Problem den Ehrenplatz ein. Im Norden Deutschlands mußten einige EC-Karteninhaber, die ihre Karte am Anfang der Woche benutzt hatten, feststellen, daß ihr Konto um zwei zusätzliche Nullen belastet war: 5000 statt 50 DM!
Das wird die Deutschen nicht gerade ermutigen, ihre Karte zu benutzen. In Deutschland gebraucht man sie ohnehin nicht so häufig, genausowenig wie einen Scheck. In Deutschland wird bar bezahlt: Man achtet das Geld. Man geht zur Bank, um es abzuheben, man holt es sich nicht rasch am Automaten, während man auf den Bus wartet; man stopft es nicht irgendwie in seine Tasche, man weiß, »wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.« Das Geld ist ein Wert an sich, es ist kein Mittel: Es ist nicht »der Nerv des Krieges und der Liebe« oder ein nützliches Werkzeug, um zu repräsentieren, zu reisen und zu verführen.
Diese Achtung vor dem Geld hat im übrigen nichts mit Geiz zu tun. Die großzügigsten meiner Freundinnen vergleichen aufmerksam die Preise... und machen dann die prächtigsten Geschenke.
Die Verkäuferin aber, bei der man 432,60 DM für Holzspielzeug ausgegeben hat, wartet geduldig auf die letzten zehn Pfennige, nach denen sie einen sehr..., sehr lange suchen läßt. Ich weiß es, denn ich habe mir - ich gestehe es - dieses Spielchen ein paarmal erlaubt.
Die Deutschen erinnern sich an Luther, der die Sparsamkeit zu einer Tugend erklärte; wir Franzosen entsinnen uns jener großspurigen, noblen Gesten, wo Geldbörsen durchs Theater oder aus dem Fenster flogen, so wie es der Herzog von Richelieu tat, um auf diese Weise seinem Sohn vorzuführen, wie man »seinen Rang hält«.

4. NOVEMBER
Über die Fusion Krupp-Thyssen sickern neue Nachrichten durch.
Die Ankündigung der Vorstände, wonach die Verschmelzung beider Konzerne Synergien von 450 Millionen DM einbringen und nur 2000 Arbeitsplätze von insgesamt 190 000 kosten würde, sei bei den Belegschaften wie bei den Politikern auf mehr Zustimmung gestoßen als der Vorstoß vom März, schreibt die Zeitung. Was man bezeugen kann.
Der Beweis ist erbracht, daß die feindlichen Übernahmen noch immer genausowenig salonfähig, noch immer genauso »schlecht angesehen« sind. Wird das Modell des rheinischen Kapitalismus Bestand haben?

5. NOVEMBER
Der wegen Vergewaltigung und Mord gesuchte Verbrecher soll eine Zeitlang in der Fremdenlegion gewesen sein, was von manchen Medien besonders hervorgehoben wird. Die Fremdenlegion übt nicht nur Faszination auf die Deutschen aus, sie löst auch Ängste aus.
Ganz mit unseren eigenen Ängsten beschäftigt, ist uns gar nicht bewußt, daß wir unsererseits ebenfalls Ängste provozieren. Daß wir Angst vor den Deutschen haben, braucht man nicht extra zu betonen, aber wenn man die Deutschen ein wenig kennt, wird einem klar, daß unser Temperament sie ebenso beunruhigt. Das beginnt mit unserer Tradition des »Mantel- und Degenromans« (kein D'Artagnan, Lagardere oder Cyrano in Deutschland), unserem Hang zur »schönen Geste« um ihrer selbst willen und zum »l'art pour l'art«, unserer Begeisterung für schneidiges Auftreten, unserer Lässigkeit. Das setzt sich fort mit dem, was sie als unsere »Willkür« empfinden - die von einer kleinen Minderheit rasch getroffenen und ebenso rasch wieder zurückgenommenen Entscheidungen, das in ihren Augen übermäßige Vertrauen in eine »Elite«. Dazu kommt unsere Auffassung von der Freiheit, die vornehmlich darin besteht, nein sagen zu können, unsere Neigung zum Ungehorsam und zur Fronde, zur Schnelligkeit und zu allem Neuen (schon Cäsar sagte über die Gallier, daß sie verum novarum cupidi wären), und endlich unsere Fähigkeit, die bewährtesten Prinzipien über Bord zu werfen, was mit einem gewissen Gleichmut einhergeht, mit der unausgesprochenen Überzeugung, daß das Leben eigentlich nur das Leben ist und die Zeit ohnehin alles auslöscht, ebensowie mit der Weigerung, den irdischen Dingen allzu große Bedeutung beizumessen.
All das verunsichert die Deutschen und liefert ihnen den Grund, uns unzuverlässig und unseriös zu finden, insbesondere aber unseren Hang zu Revolutionen zu fürchten. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist es vielleicht interessant festzustellen, daß das, was uns beim anderen Angst macht, oftmals gerade das ist, was uns fehlt.

6. NOVEMBER
Heute vormittag im Fernsehen (ARD) ein Gespräch mit einer jungen Schauspielerin vietnamesischer Herkunft. Erstaunlicherweise stellt man ihr sogar Fragen über ihren Film! Aber selbstverständlich hat sie erst einmal klargestellt, daß nicht alle Vietnamesen furchtsame, arme Geschöpfe sind, die an Häuserwänden entlangstreichen (so wie man sie sich in Deutschland, aber vor allem im Osten, im allgemeinen vorstellt, denn in der DDR - Nordvietnam verpflichtet - waren sie die einzigen Ausländer. Sie lebten gänzlich abgeschnitten von der Außenwelt und kehrten nach ein paar Jahren harter Arbeit mit ebensowenig Kenntnis von Deutschland wie bei ihrer Ankunft wieder nach Hause zurück). Und sie fügt hinzu, »nein, es stimmt nicht, sie können sehr wohl das >r< aussprechen, es gibt diesen Laut auch im Vietnamesischen.« Sie erläutert das alles in perfektem Deutsch.
Es ist nicht alltäglich, in Deutschland jemand mit nichteuropäischem Aussehen zu erleben, der fließend deutsch spricht, ich ertappe mich dabei, daß ich selber erstaunt bin. Fast so wie ein Japaner, der einen »Weißen« ein perfektes Japanisch sprechen hört.
Aber nach all diesen Erklärungen redet sie endlich über Kino, Regisseure und Hollywood... Deutschland verändert sich.

9.  NOVEMBER
Bei uns spielt sich alles im Mai ab. Wahlen, Demonstrationen, Dramen.
In Deutschland ist der November ein solcher schicksalhafter Monat. Vor allem der heutige neunte Tag des Monats.
Es ist ein 9. November, an dem Wilhelm II. abdankt und nach Holland flieht, an dem Max von Baden die Zügel der Regierung an Ebert übergeben läßt und an dem der Sozialdemokrat Scheidemann die »Deutsche Republik« ausruft, gerade rechtzeitig, damit am elften der Waffenstillstand unterzeichnet werden kann.
Es ist selbstverständlich ein 9. November, an dem Hitler in München seinen - gescheiterten - Putschversuch unternimmt.
Es ist ein 9. November, an dem 1938 die »Kristallnacht« stattfindet, deren »kristallener« Klang von den Tausenden von zersplitterten Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte und verwüsteten jüdischen Wohnungen rührte.
Und im Jahre 1989 war es wiederum ein 9. November, an dem in unbeschreiblicher Freude die Mauer fällt und damit das Ende der Nachkriegszeit eingeläutet wird.
Manche Leute meinen, daß sich der 9. November hervorragend als Nationalfeiertag angeboten hätte, anstelle des 3. Oktober, an dem ein bürokratisch festgelegter Tag feierlich begangen wird.
Zumindest wäre der 9. November ein bedeutungsvoller Tag gewesen, der die schmerzvolle deutsche Geschichte in sich trägt.

9. NOVEMBER (ZUM ZWEITEN)
Merkwürdigerweise ist von allen neunten Novembern der der Ausrufung der Republik im Jahre 1918 derjenige, von dem im Grunde am wenigsten die Rede ist.
Wahrscheinlich war die brutale Abschaffung der Monarchie nicht die beste Lösung für Deutschland: Eine allmählichere Wandlung hätte weniger Fehlentwicklungen nach sich gezogen. Aber die Revolution von 1917 hatte gerade stattgefunden, und die Räterepublik Liebknechts stand vor der Tür. Und wie Lenin sagte: »Wer Berlin hat, hat Europa.«
Die Republik der Sozialdemokraten mit Scheidemann hatte zumindest das Verdienst, dem »Bolschewismus« den Weg zu versperren.

10. NOVEMBER

Etwas Semantik

Nach jahrelangen Kontroversen ist in diesem Jahr die Bezeichnung Kristallnacht aus den geschriebenen wie aus den audiovisuellen Medien so gut wie verschwunden und durch Pogromnacht ersetzt worden. Es erscheint übrigens seltsam, daß die Bezeichnung Kristallnacht von der Nazizeit an bis heute nahtlos überlebt hat. Ein anderes Ereignis ist dagegen noch immer unter der Vokabel bekannt, in der sich die Naziideologie widerspiegelt: der Röhmputsch, den wir die »Nacht der langen Messer« nennen.
Manche setzen das Wort in Anführungsstriche: »Röhmputsch«; für die meisten scheint Röhm jedoch noch immer unter der Anklage zu stehen, einen Putschversuch gegen Hitler unternommen zu haben.

11. NOVEMBER
Es ist der 11. November.
Weil heute Feiertag ist, sind eine ganze Reihe von Börsen geschlossen, heißt es in den Börsennachrichten von n-tv.
Da die Informationen am laufenden Band gebracht werden, wiederholt sich diese, für einen Franzosen kurios anmutende rücksichtsvolle Mitteilung jede Stunde.
Wann wird es wohl ein europäisches Gedächtnis geben?

11.11., 11 UHR 11
Sicher ist der 11. November für uns kein beliebiger Tag, aber im Rheinland ist der 11. 11. um 11 Uhr 11 der Zeitpunkt, da die »närrische Zeit« beginnt, die nach einer ganzen Folge von Festlichkeiten am Aschermittwoch ihren Abschluß findet.
In Düsseldorf waren Tausende von Menschen zusammengekommen, um den Hoppeditz zu begrüßen, eine Strohpuppe, die im Februar schließlich verbrannt und in den Rhein geworfen wird.
Mainz gibt sich nach altem Brauch eine »Narrenverfassung«, die die »Republik der Narren« ausruft, Gelegenheit zu Empfängen, auf denen die geladenen Politiker in ihren Reden Geist und Respektlosigkeit unter Beweis stellen müssen... (die Tradition geht bis ins Jahr 1842 zurück).
In Köln schließlich hat wie jedes Jahr eine Menge von 15 000 Narren das traditionelle Dreigestirn von Prinz, Bauer und Jungfrau begrüßt.
Was mich am meisten am rheinländischen Karneval erstaunt, ist die Organisation, die er erfordert und die Kontinuität, mit der er sich abspielt.
Die Love Parade in Berlin ist noch neu, sie ist erst dabei, sich ihre Traditionen zu schaffen, aber... verlangt bereits denselben Organisationsaufwand.

11. NOVEMBER
Bei meinen Freunden im Saarland (und nicht nur dort) ist der 11. November ein Fest. Das Sankt-Martins-Fest.
Bei ihnen gibt es keinen Karneval, sondern bei Anbruch der Nacht zünden die Kinder in diesem sehr gesitteten Dörfchen Laternen an und ziehen singend und Bonbons und Pfennige einfordernd von Haus zu Haus.
Das hat etwas Reizvolles, Ruhiges... und Vormodernes; wie gelingt es ihnen, die Kinder für so etwas noch zu begeistern?

12. NOVEMBER
Daimler-Benz zieht die Konsequenzen aus den endlosen Diskussionen um die neue Mercedes-A-Klasse und stoppt die Auslieferung a priori bis zum Februar.
Mit dem Vorfall um Schumacher ist das jetzt der zweite kleine Kratzer am Markenzeichen der Deutschen, der berühmten Leistung. Was ist los?

13. NOVEMBER
Beim Durchblättern des letzten »Spiegel« eine sympathische kleine Meldung. In der Liste der Bestseller finden sich fünf französische Werke: zweimal Christian Jacq über Ramses, Jean-Dominique Bauby mit Schmetterling und Taucherglocke, Viviane Forrester mit Terror der Ökonomie und Daniel Goeudevert, der Franzose, der in der deutschen Industrie Karriere gemacht hat.
Das vermittelt den angenehmen Eindruck einer geistigen Gemeinschaft - und das kommt nicht allzu häufig vor. Nicht so häufig, als daß es einem nicht auffallen würde.
Und das schöne Erinnerungsbuch des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker scheint seine Dauerstellung auf dem ersten Platz unter den Sachbüchern zu behaupten, was von seiner immer noch großen Popularität zeugt. In der Tat ist er unter dem Politikerpersonal der so prosaischen Bundesrepublik derjenige, der die Aura und das Charisma des »Deutschland« von ehedem am meisten bewahrt hat. Es aus seiner Feder wiederzufinden, ist ein großes Vergnügen.

14. NOVEMBER
Anruf von einem Freund, mit dem ich vor rund zehn Jahren in der Gegend von Braunschweig die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik besichtigt hatte. Das war sehr beeindruckend - beinahe noch mehr als in Berlin - diese Grenze, die mitten durchs Land verlief. Von westlicher Seite konnte man nahe herangehen, man hatte einen kleinen Turm errichtet, von dem aus man in die Ferne blicken konnte; im Osten war jedoch nichts als sich ins Unendliche hinziehende Korridore aus Stachel-und Maschendraht zu erkennen: eine gefesselte Landschaft.
Zum Jahrestag des Mauerfalls ist er diese Woche wieder dorthin gepilgert und war tief bewegt, dort einer Schafherde zu begegnen. Könnte es ein schöneres Symbol geben? Die Schafe weiden dort, wo einst Stacheldraht das Land zerrissen hatte.
Der Schafhirt konnte seine Rührung indessen nicht ganz teilen; er fand die Zeiten hart. Die Arbeitslosigkeit, die Rückerstattungen an die Leute aus dem Westen und die schwierige Entkollektivisierung der landwirtschaftlichen Nutzflächen (hat die Industrie vierzig Prozent ihrer Arbeitsplätze verloren, dann sind es in der Landwirtschaft fünfundsiebzig Prozent, heißt es) werden noch für eine geraume Weile das soziale Klima in Ostdeutschland prägen.
In den neuen Wohnsiedlungen zu wohnen, die die Regierung den Leuten zur Verfügung gestellt hat, die ihre Häuser an die Besitzer aus dem Westen abtreten mußten, ist, was den Alltag betrifft, nicht unbedingt schlecht; aber wegziehen zu müssen, das vergißt man nicht so schnell.

18. NOVEMBER
Gipfel in Luxemburg. Man bemüht sich, eine Einigung über das soziale Europa zu erzielen.
Der Irak löst Besorgnis aus. Der Sicherheitsrat tritt zusammen; wären die Deutschen gerne dabei?
... Und die Evangelische Kirche fordert erneut die Wiedereinführung des Buß- und Bettages als gesetzlichen Feiertag.
Da die Deutschen gewissenhafte Leute sind, wurde er abgeschafft, um so die Pflegeversicherung finanzieren zu können.
Die von der Evangelischen Kirche in Auftrag gegebene Meinungsumfrage hat ergeben, daß zwei Drittel der Deutschen für eine Wiedereinführung sind.
Zum ersten Mal bei einer Meinungsumfrage erlebe ich, daß man keine Trennung zwischen Ost- und Westdeutschland vornimmt.
Vielleicht wäre sonst zutage getreten, daß im Osten niemand dieser Angelegenheit Aufmerksamkeit schenkt?

20. NOVEMBER
In diesem Jahr hat sich ohne großes Aufsehen, von einem europäischen Gipfel zum anderen, die Idee des Euro durchgesetzt.
Keine Rede mehr von drei Prozent oder von Drei komma null. Und der Spiegel, der noch im Februar eine Titelgeschichte gegen den Euro veröffentlicht hat, ist verstummt.
Man trägt den Tatsachen Rechnung. Die Ostdeutschen richten sich darauf ein, abermals die Währung zu wechseln, nachdem sie sieben Jahre zuvor die DM zu einer Währungsparität bekommen haben, die in Deutschland seltsamerweise heute von niemandem, weder von rechts noch von links, weder im Westen noch im Osten, in Frage gestellt wird. Und doch... ließe sich über die Berechtigung dieser psychologisch verständlichen Maßnahme streiten.
In Frankreich ist man der Ansicht, daß man indirekt auch davon betroffen ist; jedenfalls wird darüber diskutiert und nicht nur hinsichtlich der französischen Interessen. Es wird des öfteren geäußert, daß andere Lösungen für die Ostdeutschen leichter zu verkraften gewesen wären, insbesondere was die Arbeitslosigkeit angeht.
Wie dem auch sei, in den deutschen Banken gehen die großen Manöver zur Einführung des Euro zügig voran. Man spricht ständig von Umstrukturierung, dabei ist es schon eine Weile her, daß Hilmar Kopper nach zwanzigjähriger Amtszeit als Vorstandssprecher die Deutsche Bank verlassen hat!
Die Ostdeutschen werden sich an eine Welt gewöhnen müssen, die sich immer rascher verändert.

21. NOVEMBER
Vor ein paar Tagen habe ich eine Einladung von der deutschen Botschaft erhalten, die mich berührt hat.
Adressiert an die »lieben Landsleute«, lud sie dazu ein, am 16. November auf dem Soldatenfriedhof in Versailles der Toten der beiden Weltkriege zu gedenken. Am 16. war Volkstrauertag.
Leider war ich in Berlin; aber ich hoffe, im nächsten Jahr dieselbe Einladung zu bekommen.
Nicht nur in politischer Beziehung ist der Monat November der Schicksalsmonat in Deutschland. Es ist gleichfalls ein sehr bedeutungsschwerer Monat in religiöser Hinsicht: eine Art Bußemonat.
Am 31. Oktober 1517 hatte Luther seine Thesen an das Portal der Kirche von Wittenberg geschlagen, denn am Tag darauf war das große Fest der Katholiken, Allerheiligen. Auf diese Weise konnte er der öffentlichen Verbreitung seines Akts sicher sein; in Deutschland kennt jeder die ersten Worte des berühmten Lutherschen Glaubensbekenntnisses: »Tuet Buße...«. Und für diese Buße wählte er den dritten Mittwoch im November, den Buß- und Bettag.
Aber als wenn es mit den religiösen Feiertagen nicht genug wäre, gibt es im November auch noch jenen Volkstrauertag, zu dem ich eingeladen war. 1952 eingeführt, ist es der Gedenktag für die in den zwei Weltkriegen gefallenen Soldaten. Sein Ursprung geht ins Jahr 1934 zurück (damals handelte es sich um die Toten von 1914-1918), Hitler hatte ihn zum Heldengedenktag erklärt. Da der von den Nazis gebrauchte und mißbrauchte Begriff des »Helden« völlig entwertet und unbrauchbar geworden war, verschwand diese Bezeichnung nach dem Krieg schnell und wurde durch »Volkstrauertag« ersetzt.
Wer meint, daß die Sache damit nun ausgestanden sei..., der stößt auf den Totensonntag, der traditionell auf den letzten Sonntag vor dem ersten Advent fällt.
Was Wunder, daß im ersten Novembermonat, den man in Deutschland verbringt, die Gedanken unweigerlich auf eine naheliegende Frage gelenkt werden: Warum haben die Deutschen seit Luther (oder sogar schon davor) immer soviel zu büßen? Warum diese Buße? Worin besteht denn ihre Sünde?
Ihre Sünde? Sie ist überall, überall dort, wo wir einen »Fehler« (faute) begehen. An der Stelle, wo wir sagen, »bedaure, das ist mein Fehler«, sagen sie »bedaure, das ist meine Schuld.« Sogar im Gebet sagen wir: »Das ist mein Fehler, mein Fehler, mein sehr großer Fehler«, während sie selbstverständlich sagen: »Das ist meine Schuld«. Im Vaterunser, wo wir um »Vergebung unserer Verstöße« (offenses) bitten, beten sie um die Vergebung ihrer Schuld. Wenn wir einen Autounfall haben, wollen wir wissen, wer dafür »verantwortlich« (responsable) ist, während sie nach dem »Schuldigen« suchen. Und sie sagen auch weniger »Verzeihung« (excusez-moi!) als »Entschuldigung«, sprechen sich also von der Schuld frei. Es wäre interessant herauszufinden, ab wann wir aufgehört haben, uns an die Brust zu schlagen, das mea culpa - durch meine Schuld - auszurufen, um zu bekennen, daß wir einen Irrtum, einen Fehler begangen haben - ein laizistischer, enttheologisierter Begriff. Und welchen Weg haben wir zurückgelegt - Renaissance, Aufklärung, Revolution - um ganz und gar zu begreifen, was Talleyrand meinte, als er nach der Hinrichtung des Herzogs von Enghien zu Napoleon sagte: »Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein Fehler«?
Wer sich geirrt hat, macht den Fehler wieder gut, wer schuldig ist, tut Buße.
Luther, dieser Mönch, den die Vorstellung verfolgte, nicht errettet zu werden, hat die Idee von der grundsätzlichen Schuldhaftigkeit des Menschen noch entschieden verstärkt, er hat sie »retheologisiert« und, indem er die Beichte und demnach auch die Absolution abgeschafft hat, ihre Tilgung erheblich erschwert.
Wie soll man wissen, ob einem vergeben ist?
Für einen französischen Katholiken hat es den Anschein, als pflege Deutschland - gleich ob katholisch oder protestantisch - eher die Kultur der Buße als die des Vergebens: »Für jede Sünde Barmherzigkeit«; »Laß die Toten ihre Toten begraben« oder auch »Gott wird ihm das Leben geben - denen, die nicht sündigen zum Tode«: alles Aussprüche aus der Bibel, die man in Deutschland seltener als in Frankreich hört.
Man könnte sogar den Eindruck gewinnen, daß die Deutschen gegenüber der Kultur des Vergebens eine gewisse Verachtung empfinden. Sie sehen vor allem die Gefahr der »Leichtfertigkeit«, die eine wohlfeile Absolution in sich birgt. Eine klassische »katholische Geschichte« ist die von dem Mörder, der, gepeinigt vom schlechten Gewissen, bei einer kirchlichen Instanz die Vergebung seiner Schuld zu erlangen sucht. Als erstes geht er zu einem Rabbiner: »Unsühnbares Verbrechen«, wird ihm beschieden, »vielleicht, wenn Ihr siebenmal sieben Generationen hindurch Buße tut...«. Der evangelische Pfarrer hört ihn aufmerksam an, fragt ihn nach allem genauestens aus und läßt schließlich verlauten: »Lebenslange Buße wird vielleicht diese Schuld von Euch nehmen.« Der katholische Priester fragt ihn unter Gähnen lediglich: »Wie viele Male (habt ihr getötet), mein Sohn?«
Deshalb wird das Vergeben auch nicht als Ideal höchster Tugend dargestellt, was dem Gesetz der Wiedervergeltung seine Gültigkeit nimmt. Es ist keine Askese, keine Erhöhung der Seele zu einem fast unmenschlichen Ziel, so wie es der Katechismusunterricht den kleinen Katholiken in Frankreich vermittelt, die mit einem gewissen Schaudern lernen, daß sie auch die linke Backe hinhalten und ihren Feind lieben müßten und sich auf keinen Fall zu »rächen« versuchen dürften.
In Deutschland erinnert man sich noch an den von der katholischen Kirche betriebenen »Ablaßhandel« - Ablaß=indulgencia - gegen den Luther sich so vehement erhoben hatte und durch den der Gedanke der Vergebung, der Nachsicht (=indulgence), seines Inhalts beraubt worden war. Bis heute hat das Wort Nachsicht im Deutschen ein eingeschränktes semantisches Feld: keine Nachsicht von seiten des Richters, der Jury, des Professors, der Eltern, dafür aber ihr »Verständnis«, ihre Milde, oder aber, wie man heute auch auf Englisch sagt, ihr compassion, ihr Mitgefühl.
Im modernen Deutschland, das seine religiöse Prägung allmählich verliert, lösen sich die Gründe für eine solche Haltung in einem diffusen Nebel auf; man ist freilich erstaunt über den verbreiteten Moralismus, der sich erhalten hat, den Willen, eine solche Haltung nicht abzulegen, keinen Schlußstrich zu ziehen, die Dinge nicht leicht zu nehmen. Und in einer wenig sympathischen Form, die aber in Deutschland nicht wirklich schockiert, brachte der Focus vor zwei Wochen folgende Schlagzeile: »Wir werden niemals verzeihen« (in bezug auf die Aktivitäten der Baader-Meinhof-Gruppe von vor mehr als zwanzig Jahren).
An dieser Stelle sei ein seltsames Zusammentreffen angemerkt. Diese distanzierte Beziehung zum Vergeben, die religiösen Ursprungs ist, macht den Geist um so empfänglicher für ein Phänomen der Säkularisierung und Globalisierung, das wir in Frankreich auch gut kennen, nämlich den Bedeutungswandel des Begriffs der Rache, insbesondere bei unseren Kindern: Aus den japanischen Comics lernen sie, daß sich rächen praktisch unumgänglich für die Persönlichkeitsbildung ist; ebenso präsentieren amerikanische Fernsehserien und Filme die Rache als eine zwar bedauernswerte, aber doch ganz übliche und im Grunde normale Kategorie menschlichen Verhaltens. Wie soll man ihnen klarmachen, daß ihren Eltern ein solches Europa nicht vorschwebt?

22. NOVEMBER
Beim Durchblättern der Literaturbeilage der FAZ fällt mein Blick auf eine Zeichnung von Hodler, deren Reproduktion zwei Drittel der Seite einnimmt. Eine Kohlezeichnung: der Kopf seiner Frau in der Agonie. Es wird soviel von der Todessehnsucht in der germanischen Kultur gesprochen... Die »Hymnen an die Nacht« von Novalis, die Märchen von Nixen, die einen sanft in die Tiefe ziehen. Dieses Antlitz einer sterbenden Frau, dieser auf das Kopfkissen zurückgefallene Nacken, ist gleichsam eine Enthüllung.
Das Gesicht ist so fern, so abwesend, so nach innen gekehrt; es hat eine solche Tiefe erreicht, daß man seinerseits hinwegzugleiten meint. Mit angehaltenem Atem betrachtet man diese Frau, an jenem magischen Ort, an dem sie sich befindet... Nie hatte ich so gut begriffen.
Der Titel des Artikels: »Der Tod erfüllt meine ganze Seele.«

23. NOVEMBER

Eine hübsche Promenade

Eine der großen Freuden der Wiedervereinigung für einen Franzosen besteht darin, Berlin-Mitte wiederzuentdecken. Denn dort kann man wie in einer »richtigen Stadt« promenieren. Es ist das Berlin der Hugenotten, teilweise von ihnen erbaut, nachdem sie sich - nach der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahre 1685 und nachdem der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm sie akzeptiert hatte - in Preußen niedergelassen hatten.
Nichts Angenehmeres als über den Gendarmenmarkt zu flanieren, dessen Name von dem Regiment Friedrichs II, den »Gensdarmes«, abgeleitet ist, in dem so viele Nachfahren von Hugenotten rekrutiert waren. Loyal, hatten sie ihre neue Nation adoptiert, ohne jemanden zu schikanieren oder zu finassieren - niemals haben sie sie desavouiert oder düpiert: Die Strategie und die Manöver der Bataillen Friedrichs II. waren von ihnen animiert, sie haben - wie La Motte-Fouque und Centuins - die Dragoner, Kanoniere und Grenadiere kommandiert, sie haben reüssiert.
Links auf dem Platz der Deutsche Dom, rechts seine genaue Entsprechung, der Französische Dom mit dem Restaurant (!) in der Kuppel, wo man dinieren kann, und dem Hugenottenmuseum.
Man könnte so weitergehen, immer entlang der Französischen Straße, bis zur Charité, dem großen Berliner Krankenhaus, oder zurück bis zum Pariser Platz, wo das Hotel Adlon und das Brandenburger Tor stehen, sich den Spaß machen und ein Taxi nehmen, um direkt durch das Tor fahren zu dürfen und zum Reichstag zu gelangen, wo man ganz erstaunt ist, daß beides, nachdem die Mauer einmal gefallen ist, so nah beieinander liegt. Überall in Berlin begegnet einem kontinuierlich die französische Tradition.
Während man in Potsdam erwartet, ein bestimmtes französisches Flair vorzufinden - dort kann man tatsächlich Gemälde von Pesne und Gärten von Lenné sehen - so bewahrt Berlin doch auch Spuren jener Symbiose zwischen Preußen und Frankreich, die sich am Anfang des 18. Jahrhunderts vollzog, als von vier Berlinern angeblich einer französischer Herkunft war. Neben der Architektur, vor allem der Stadtgestaltung (Mitte ähnelt beziehungsweise ähnelte vor den Zerstörungen einer französischen Stadt), finden sich heute in  der Sprache noch Reste  der französischen  Präsenz.
Friedrich II faßte seine Briefe fast vollständig in Französisch ab, auch wenn der Satzaufbau der deutschen Syntax entspricht; seither hat sich vieles verloren, aber es gibt immer noch ganze semantische Felder, die von der französischen Vergangenheit geprägt sind.
Allem voran das Militärwesen - Leutnant und Kommandant, Bataillone und Kompanie - und die ganze Strategie - operieren, konstruieren, manövrieren - sind französischen Ursprungs; danach folgt selbstverständlich die Mode: Jacke, Manschetten, Weste, Taille, elegant, Dekollete usw. und die Küche: Sauciere, Filet, Frikassee, Omelett, Kotelett und servieren. In der Politik: Regime, Gouvernement, Dementi, Revolution, Konspiration, Arrangement, Restauration, Revolte, Zensur, Revanchismus, Revirement; in der Verwaltung: Diplomatie, Attache, Kompromiß, Institution, Finanzen; und schließlich die Journalisten und Juristen mit ihren Paragraphen und Artikeln.
Am vergnüglichsten aber ist es, wenn man sich die Bedeutungsverschiebung bei einer bestimmten Anzahl von französischen Wörtern ansieht, die in die deutsche Sprache eingegangen sind. So haben Begriffe, die die Deutschen bei den Franzosen ganz besonders in Erstaunen versetzte, häufig einen pejorativen Beigeschmack erhalten, als wenn sie etwas ausdrückten, was dem deutschen Geist am meisten widersprach und folglich eine Abwehrreaktion auslöste. Raffiniert heißt nicht mehr wirklich raffine - erlesen - sondern eher durchtrieben, frisiert bedeutet frise im Sinne von manipuliert, präpariert heißt soviel wie getrickst. Intrigant, ambitioniert, pikiert, kokett, Filou, frivol, brillant, Char-meur, leger oder eklatant haben ihre Bedeutung behalten, ebenso wie trist, detestabel, konsterniert, geniert, blamiert, ca-moufliert. Salopp - im Französischen »schlampig« - bedeutet lässig, partout - im Französischen »überall« - wird eher im Sinne von absolut gebraucht, aber peu apeu bedeutet immer noch peu a peu.
Es gibt nicht mehr viel Leute, die den Begriff etepetete verwenden, abgeleitet vom französischen etpeut-etre - vielleicht - um jemanden als geziert zu bezeichnen. Dieses peut-etre, in Gedanken begleitet von einem leichten Schulterzucken, hat die Berliner offensichtlich ganz besonders stark beeindruckt. Ebensowenig gibt heute niemand mehr, wie jene alte Dame in einer befreundeten Familie, wo ich meine Ferien verbrachte, einen Satz wie »Kusine Lili ist embelliert« von sich, aber das war bereits in den Sechzigern und die Dame schon uralt, die mir im übrigen voller Wehmut von den Bällen am Hof Wilhelms II und dem prächtigen Bart von Tirpitz erzählte.
In einigen Texten und Romanen (beispielsweise in den Neuen Leiden der jungen W. von Plenzdorff, einem »Klassiker« der DDR), bei einigen Leuten von der schreibenden Zunft, findet man indessen noch diese Hinneigung zu einer zwar anderen, aber ihnen nahestehenden Kultur, von der Preußen übernahm, was ihm fehlte, und die so zu seiner Vollendung beitrug.
Heute solche Fremdwörter zu hören, hat etwas von einem altmodischen Charme, es verschafft ein wohltuendes Gefühl, wie eine Art Ruhepunkt, eine Art friedlichen Hafen in einer Bundesrepublik im Aufbruch.

24. NOVEMBER
Tic Tac Toe, eine deutsche Mädchenband, alle drei von sehr »ausländischem« Aussehen, also Nicht-Weiße, verbuchen seit ein paar Monaten einigen Erfolg in Deutschland. Heute werden sie von Bundespräsident Roman Herzog empfangen.

25. NOVEMBER
Heute vormittag habe ich das aktuelle Geschehen in Deutschland auf dem (Privat-) Sender SAT 1 verfolgt. Zu Weihnachten wird den Kunden der deutschen Buchhandlungen der Roman Das französische Testament von Andrei Makine empfohlen. Dem schloß sich eine Kochsendung rund um den Honig an: Der Koch von SAT 1 ist Bayer und hatte eine Biologin mit Doktortitel, gleichfalls aus Bayern, eingeladen, die in Volkstracht erschienen war und sich in stärksten Dialekt über den Honig in allen seinen Varianten verbreitete. Man fühlte sich ins bayerische Fernsehen versetzt, wo es so viele Folkloresendungen gibt, daß man begreift, warum Herr Stoiber vorgestern auf dem Parteitag der CSU es für angebracht gehalten hatte zu erklären: »Man legt eine bayerische Identität nicht an der Garderobe von Europa ab.«
Waigel wurde mit 85 Prozent der Stimmen zum Vorsitzenden der CSU wiedergewählt - was offenbar für CSU-Wahlen, die gewöhnlich eine weit größere Einstimmigkeit aufweisen, ein ziemlich mäßiges Ergebnis ist.

26. NOVEMBER
Das Ladenschlußgesetz, mit dem sich die Öffnungszeiten der Geschäfte verlängert haben, ist jetzt ein Jahr alt. Es gab nur eine einzige Frage, alle Welt - Radio, Fernsehen, Zeitungen - stellte sich lediglich diese eine Frage: »War das Ergebnis für den Handelsumsatz positiv?«
Die Antwort fällt eher negativ aus. Das Einkaufen hat sich etwas verteilt, das ist alles.
Vielleicht hört man hier und da noch eine Bemerkung darüber, was es für den Kunden bedeutet, nach 18 Uhr einkaufen zu können, und daß vor allem jüngere Leute davon Gebrauch machen. Aber kein Wort über die Annehmlichkeiten des Lebens, über den Charme der Innenstädte, über den eisernen Vorhang am Wochenende, der sonnabends nun erst um 16 Uhr (statt um 13 Uhr) fällt. Das zählt nicht, weil es sich nicht rechnet.
Und schließlich ändert man das Leben nicht per Dekret. Der Italiener hat nur länger als 18 Uhr geöffnet, wenn es die anderen auch machen... Er hat Angst, daß es nicht gut aufgenommen werden könnte... Ja, ein paar Kaufhäuser und Supermärkte sind selbstverständlich länger geöffnet...
Die frischen Brötchen hingegen scheinen sich einen Weg in die sonntägliche Ödnis gebahnt zu haben.

27. NOVEMBER

Streik der Fernfahrer

Dieselbe Strafmaßnahme, dasselbe Motiv wie im November 1996.
Im letzten Jahr haben die deutschen Medien zum ersten Mal auf diese Weise über einen französischen Streik gesprochen - ohne moralisierenden Ton; sie hatten im übrigen selber zu viele Streiks (»Warnstreiks«) in den verschiedensten Bereichen, um sich das leisten zu können; insbesondere hatte die Frage des vollen Lohnausgleichs im Krankheitsfall die soziale Landschaft durcheinandergebracht.
Auch in diesem Jahr berichten die Medien sachlich und genau: Der Streik der französischen LKW-Fahrer berührt auch die deutschen Transportunternehmen - es ist also ein europäischer Streik. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich habe den Eindruck, daß wir zum ersten Mal einen Streik miteinander »teilen«; in Berlin hat mich ein Taxifahrer in anteilnehmendem Ton gefragt, »wie es denn aussehen würde«.

28. NOVEMBER
Heute morgen im Fernsehen, ich dachte, ich höre nicht richtig: schon wieder die Steuerreform. Diesmal ist ein Vermittlungsausschuß beauftragt worden, sich einzuschalten - genau dasselbe wie bei der Rentenreform, wo man sich an Helmut Schmidt gewandt hatte, dessen Weitsicht allgemein geschätzt wird.
Zum Glück gibt es ein neues Thema: die Studentenproteste. Ansonsten müßte man an den Mythos der ewigen Wiederkehr glauben.

30. NOVEMBER
Erster Advent. Man muß die erste Kerze am Adventskranz anzünden und mit den Kindern Macht hoch die Tür... oder auch Leise rieselt der Schnee singen. Wer macht das heutzutage noch? Wie viele Kinder sitzen vor einem Computerspiel und hören die Weihnachtslieder auf der Kassette nur mit halbem Ohr?
Man beklagt, daß niemand mehr den Text kennt...
Ich würde mir so sehr wünschen, daß die deutschen Kinder und ihre Mütter diese Tradition pflegen, daß sie die Schönheit dieser Weihnachtslieder aus dem 18. und sogar aus dem 16. Jahrhundert, die sich unverändert erhalten haben, bewahren - mit ihren abrupten Rhythmusbrüchen, ihren Aufschwüngen, ihrer Tiefe, kurzum, mit ihrem Geheimnis. Bei uns hat sich das bereits alles verloren. Ich bin unendlich froh, daß es das dort noch gibt.