Einführung

Wie begegnet man einem Deutschland am Ausgang des zwanzigsten Jahrhunderts? Wie und warum soll man sich auf die Suche nach einer verlorenen Zeit begeben, verschüttet unter einer noch nahen Vergangenheit und mit dem Blut von zwei Ideologien befleckt, die dieses schreckliche zwanzigste Jahrhundert hervorgebracht hat?
Inwiefern verändert die Eingliederung Ostdeutschlands das deutsch-französische Verhältnis? Entgegen einer mitunter gehegten Vorstellung vollzieht sich die Einheit nicht von selbst.
Das nunmehr vereinte Deutschland muß versuchen, seine Kontinuität wiederzuerlangen, indem es seine Wurzeln tief in die Geschichte senkt. Es ist aufgerufen, dem Teil seines Volkes, das ein halbes Jahrhundert lang ein anderes Schicksal erfuhr, eine umfassende Identität zu vermitteln, um so, mit einer starken und gefestigten Identität, Europa künftig entgegentreten zu können.
Aber warum soll man diese Kontinuität im Alltag aufspüren? Warum sie in einem Tagebuch zu erfassen suchen? Warum darin fraglos einen Sinn sehen? Vielleicht persönlicher, subjektiver Erinnerungen wegen, die diesem Buch zugrunde liegen.
Ich sehe mich noch in jenem Sommer, als ich, zwanzig Jahre alt und gerade von Deutschland nach Hause gekommen, auf einer Schaukel saß und las - natürlich ein Buch von Madame de Stael. Sie beschrieb darin einen Apfelbaum in Leipzig, dessen Äste über eine Mauer ragten, dessen Früchte von den Passanten jedoch nicht angerührt wurden.
Sofort sah ich wieder die Regenschirme in der Universität von Freiburg vor mir, wo ich studierte. Wenn es schneite, stellten die Studenten sie beim Hereinkommen in der großen Eingangshalle der Universität aufgespannt zum Trocknen ab, wo sie jeder nach den Vorlesungen wieder vorfand.
Diese Parallele machte mich sprachlos. Gab es in den Völkern also Grundzüge, die sich nicht veränderten? Besitzt jede Nation eine ihr eigene geistige Biographie, die sie prägt und die ihren Alltag durchzieht? Ich vertiefte mich wieder in meine Lektüre, in der Hoffnung, auf Gründe, Hinweise, den Widerhall von Erlebtem oder Gedachtem zu stoßen, die mir vielleicht helfen würden, meine deutschen Freunde zu verstehen.
Ich bin im Zweifel, ob die aufgespannten Regenschirme in den Eingangshallen deutscher Universitäten heute noch ebenso sicher wären; die Welt hat sich in den letzten dreißig Jahren vielleicht mehr verändert als in der Zeit, die zwischen Madame de Stael und der Zwanzigjährigen liegt, als sie Ende der Sechziger unter den Platanen der Provence in ihrem Buch las. Doch ich meine, daß es den Versuch allemal wert ist: vom Alltag berichten, um herauszufinden, was ihn formt.
Der Gegenstand ist nicht mehr der gleiche. Er ist nicht mehr intellektueller Natur. Es geht nicht darum, den Franzosen ein Nachbarvolk vorzustellen, damit sie über ihre eigenen Fehler und Mängel nachdenken. Der Gegenstand ist näher gerückt und konkreter geworden: Deutschland und Frankreich werden künftig miteinander »kohabitieren«, sie werden miteinander auskommen müssen. Ihr Verhältnis zueinander hat die Welt bereits verändert, indem es Europa aufgebaut und so zum Zusammenbruch des kommunistischen Blocks maßgeblich beigetragen hat. Heute, mit dem Euro und nach Beendigung des Kalten Krieges, geht es darum, miteinander zu leben. Wie soll das geschehen, wenn die beiden Völker einander weiterhin so wenig kennen? Wie sollen sie sich vor - meist bösen - Überraschungen bewahren, wenn sie nicht wissen, wie der Alltag im anderen Land beschaffen ist?
Diese freilich unvollständigen, bescheidenen Betrachtungen, diese Plaudereien und Reflexionen über dies und das, diese ganz subjektive Sicht auf das Leben in Deutschland trachten danach, Vertrautheit herzustellen; sie sind - gleich gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten - der Versuch, einem europäischen Familienleben erste Gestalt zu verleihen.

Texttyp

Einleitung