Wollen wir Franzosen und Deutsche zusammen Europäer werden? Sind wir es noch nicht? Was ist ein Europäer?
Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Jean Monnet die ersten Impulse gegeben. Frankreich und Deutschland sollten den Weg nach Europa vorangehen. Die Montanunion entstand. Mit Kohle und Stahl erfolgte der erste Schritt zur Vereinigung auf ökonomischem Gebiet. Später kam der Binnenmarkt. Und nun haben wir die gemeinsame Währung. Sind wir also Wirtschaftseuropäer?
So einseitig war es nie gedacht. Schon die Montanunion gründete primär auf friedenspolitischen Motiven. Im Kalten Krieg stand man gegen äußere Gefahren zusammen. Heute leben wir bei offenen Grenzen unter dem Druck gesellschaftspolitischer Fragen: Können wir die notwendige globale Wettbewerbsfähigkeit sichern, ohne den sozialen Zusammenhalt zu Hause einzubüßen? Sind wir uns dafür als Europäer schon nahe genug?
Die Entwicklung ist in vollem Gang. Ohne Zweifel brauchen wir ein handlungsfähiges, starkes gemeinsames Europa, wenn wir im kommenden Jahrhundert Herren unseres Schicksals bleiben wollen. Aber je mehr die Kompetenzen der europäischen Institutionen wachsen, desto unüberhörbarer meldet sich in den Mitgliedsländern der »campanilismo«, der Wunsch der Menschen nach festen heimatlichen Wurzeln. Und wo bleibt die demokratische Akzeptanz für
Europa? Die nationalen politischen Führungen müssen die Interessen ihrer Länder in Brüssel nachdrücklich vertreten und gleichzeitig zu Hause für den notwendigen Aufbau eines kräftigen Europas mühsam werben. Das ist schwer. Nur langsam dringt die Globalisierung in unser Bewußtsein vor, um uns verständlich zu machen, wie klein wir in der Europäischen Union beim Vergleich mit den großen Völkern und Kontinenten sind. Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft und der Sicherheit leuchtet ein. Aber Euro und Airbus und Schengen reichen nicht aus, um sich mit Kopf und Herz als Europäer zu fühlen. Wir brauchen ein wachsendes gemeinsames Lebensgefühl, wenn eine europäische Zukunft gelingen soll.
In dieser Lage ist es wieder einmal eine Stimme aus unserem französischen Nachbarland, die sich an uns Deutsche wendet. Sie verkündet kein politisches Programm und keine neuen ökonomischen Leitlinien für Europa. Vielmehr befaßt sie sich mit unseren Empfindungen, mit den zivilisatorischen Gewohnheiten unseres Lebens, mit unserer Kultur, Kultur verstanden als die Quelle unserer Überlieferungen und Lebensweisen, Kultur als die Mutter der Zukunft, wenn sie sich frei entfalten kann.
Brigitte Sauzay, die Autorin dieses Buches, stammt aus der Provence in Südfrankreich. Sie hat in Paris und in Freiburg Germanistik studiert. Als Leiterin des Sprachendienstes im französischen Außenministerium hat sie die nachbarliche und die europäische Entwicklung aus erster Hand miterlebt und vor allem den Staats- und Regierungschefs in Frankreich und Deutschland mehr als nur sprachliche Brücken der Verständigung gebaut. Sie weiß, wie gering noch immer die Kenntnisse der Nachbarn voneinander sind, allem politischen Frieden zum Trotz. Mit stupender Klarheit kann sie beschreiben, worin die Unterschiede der Vorlieben und Abneigungen, des Respektes wie auch der Überlegenheitsgefühle jedes der beiden Völker gegenüber dem anderen bestehen. Als einer echten Französin ist ihr die selbstbewußte Vorstellung ihrer Landsleute durchaus nicht fremd, daß die geistigen Werte ihrer Heimat nicht für Frankreich allein bestimmt sind, sondern für das ganze Menschengeschlecht. Aber nun wendet sich diese intime Kennerin Deutschlands an uns mit dem tiefempfundenen Wunsch, wir sollten uns in einem viel existentielleren Sinn füreinander interessieren, untereinander unsere Lebensgefühle erkennen und würdigen lernen, uns dadurch annähern und ein menschliches Fundament für die praktischen Notwendigkeiten in Europa schaffen. Mit ihrem Buch bringt sie etwas schier Unglaubliches zuwege: Sie erfüllt uns mit neuer erwartungsvoller Freude auf das kommende Europa.
Sie überspringt nicht die großen Probleme unserer Tage, die Arbeitslosigkeit, den Einwanderungsdruck, die so schwierige institutionelle Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union und bei alledem auch nicht die demagogischen Schwächen unserer Demokratien und Gipfeltreffen. Aber die Autorin setzt tiefer an. Ihr geht es um den Kern der auf uns wartenden Chancen, um die Perspektiven eines künftigen europäischen Familienlebens zwischen Franzosen und Deutschen, damit am Ende auch die demokratische Akzeptanz der notwendigen europäischen Politik erreichbar wird.
Mit scheinbar leichter Hand schildert sie in der Form eines Tagebuchs alltägliche Erlebnisse. Sie entwirft kleine Essays und prägt wie zufällig schlüssige Aphorismen, um ihren Landsleuten den deutschen Nachbarn nach dem Fall der Berliner Mauer verständlicher zu machen. Bei aller Zuneigung fehlt es ihr nicht an der notwendigen Distanz, die sie für ein nüchternes Urteil braucht. Dank ihrer umfassenden Kenntnisse vom Geist und der Geschichte beider Länder ist ihr ein ebenso fesselndes wie unterhaltsames Werk gelungen, kein reines Sachbuch, sondern Literatur, Poesie des Lebens, mit hochaktuellem Bezug.
Wer kennt sich denn schon selbst? Wo wären wir ohne den Blick in einen unverschleierten Spiegel, ohne die sensible Beobachtungsgabe eines ernsthaft zugewandten kritischen Geistes? Bei Brigitte Sauzay finden wir beides.
Zwischen Frankreich und Deutschland gibt es bedeutende Beispiele wechselseitiger Beschreibung. Unvergeßlich sind die idealisierenden Schilderungen von Madame de Stael über Deutschland. Im Übergang von der Aufklärung zur Romantik schuf sie in Frankreich das Bild des verträumten, unpolitischen Nachbarlandes der Philosophen und Dichter. Ihr vor allem ist die Wirkung deutscher Romantik auf die französische Literatur zu verdanken. Doch wurde ihr Buch über Deutschland unter Napoleon zum Skandal, bis dieser ihr Exil an den heimatlichen Genfer See erzwang.
In unseren Zeiten sind wir über solche Reaktionen hinaus. Nach den historischen Katastrophen unseres Jahrhunderts sucht nun unser französischer Nachbar mit gutem Grund nach einem Deutschland, das sich nicht in einen Schuldmythos verbeißt, seine Abgründe überwindet und eine solide und stabile Identität seiner selbst findet, auf die eine europäische Familie angewiesen ist. Es liegt ihr völlig fern, bei uns Deutschen auf jene Art sogenannter Normalität zu setzen, welche uns von den Gedanken an die Vergangenheit dieses Jahrhunderts und von der Verantwortung für ihre Folgen in der Gegenwart lossprechen würde. Aber sie wünscht sich ein Deutschland, dessen Menschen sich zu ihrem Land bekennen, die mit Freude hier leben, die gern und offen von sich erzählen. Damit können Franzosen etwas anfangen. Damit läßt sich ein nachbarlich enges und ein europäisches Gefühl entwickeln.
In keiner Weise überspringt Brigitte Sauzay die Unterschiede der Geschichte und das so fundamental verschiedene Nationalgefühl von Franzosen und Deutschen. Im Hinblick darauf, daß Deutschland als Staatsnation historisch zu spät gekommen und immer wieder auch einer Diskriminierung ausgesetzt gewesen sei, habe sich die Gefahr von Aggressivität herausgebildet, zuweilen auch ein mangelndes kulturelles Selbstwertgefühl, verglichen mit den Franzosen. Der Nationalismus der Franzosen sei eben, wie sie schreibt, nicht aggressiv. Nein, so möchte man ihr sagen, das ist er nicht, dazu ist er viel zu selbstbewußt, ohne daß er an seinem liebenswürdigen Anspruch auf die Rolle des Klassenprimus irgend etwas anstößig oder für andere befremdlich fände.
In Wahrheit haben wir jene Arbeitsteilung der ersten Nachkriegsjahrzehnte überwunden, die wir noch aus der Zeit des Kalten Krieges kennen: Die alte Bundesrepublik, die an die ökonomische Spitze in Europa strebte, in ihrer beginnenden ökologischen Orientierung den französischen Nachbarn irritierte und sich zugleich politisch zurücknahm, während Frankreich die politische Führung übernahm und fortfuhr, an seiner eigenen Geschichte als der Erfüllung einer universellen Mission zu arbeiten.
Die europäischen Aufgaben bringen auch unsere nationalen Empfindungen einander näher. Überdeutlich hat sich der große französische Historiker Francois Furet in seiner letzten Schrift dazu geäußert: Deutschland kann seine Gegenwart und Zukunft nicht gegen die Geschichte gewinnen, sondern nur mit seinen tieferen historischen Wurzeln, nach denen auch Brigitte Sauzay Ausschau hält. Frankreich aber sollte sich nach Furets Empfehlung nicht der Autosuggestion verschreiben, als habe es lediglich im ungebrochenen Schritt der Geschichte weiterzugehen, anstatt seine »narzißtische Ignoranz der Wirtschaft« zu überwinden. Das sind sehr harte Worte. Auf dem Weg nach Europa brauchen wir aber alle die Kraft zu verändernden Einsichten.
Unzählig und köstlich sind die Beobachtungen der Unterschiede zwischen unseren Völkern im Buch der Autorin. Es wundert sie bei den Deutschen, daß auf unseren Bestseller-Listen unter fünfzehn Titeln oft weniger als eine Handvoll deutscher Autoren zu finden sind, gegenüber zumeist 90% französischer Literatur auf den Listen ihres Landes. Gewiß, in seinem bis heute aktuellen großen »Essay sur la France« hat Ernst Robert Curtius das Herzstück des französischen Geistes geschildert, die Literatur. Trotz Descartes ist Frankreich nicht das Land der Philosophen, trotz Debussy nicht die Heimat der Musik. Die zündenden Gedanken Frankreichs wurzeln in der Literatur. Und wer einen politischen Einfluß sucht, tut gut daran, sich durch literarische Leistungen zu empfehlen.
Dennoch frage ich mich, ob diese von Brigitte Sauzay monierte »Globalisierung« der deutschen literarischen Leserschaft denn so einfältig sei. Könnte es nicht sein, daß z.B. der lateinamerikanischen Literatur tatsächlich die führende Position in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts zugefallen wäre?
Zum Schönsten ihres Buches gehört, wie Brigitte Sauzay eine Aufführung der >Schöpfung< von Haydn in der Berliner Philharmonie schildert. Hier schreibt eine dichterische Seele. Man liest, und zugleich hört man die Musik. Es ist herzerwärmend, lebendig, offenbar nicht nur für die so oft beschriebene deutsche Innerlichkeit, sondern für einen fühlenden französischen Geist. Nun ja, wir Deutschen haben nicht nur unseren Kant und unseren Goethe, unseren (oder doch Euren?) Heine und unseren Brecht - auch »le Lied« gehört ins Bild. Frankreich hat eine Gesellschaft des Auges, hat Brigitte Sauzay einmal gesagt, bei ihnen sei die Malerei und die Architektur wichtiger gewesen als die Musik. Deutschland sei eine Gesellschaft des Ohrs, eben der Verinnerlichung. Das sind verschiedene Arten, glücklich zu sein. Aber man kann sie doch mit großer Neugierde und Freude wechselseitig aufspüren und teilen.
In Genshagen bei Berlin hat Brigitte Sauzay gemeinsam mit dem deutschen Historiker Rudolf von Thadden ein deutsch-französisches Zentrum aufgebaut. Seit dem Fall der Mauer hat sie hier mit unermüdlicher Hingabe daran gearbeitet, den ostdeutschen Bundesbürgern etwas von Europa zu vermitteln und die Franzosen für das Leben der Menschen jenseits der ehemaligen Trennungslinie zu interessieren. Hier wird ein Anschauungsunterricht von immensem praktischen Wert vermittelt. Zugleich werden wohl fundierte historische Reminiszenzen lebendig, die an den prägenden Anteil französischer Einwanderer beim Heranwachsen von Brandenburg und Preußen erinnern, an eine fruchtbare historische Symbiose. In und um Berlin findet sich der Franzose selbst wieder - das ist eine Wohltat und Hilfe für die Zukunft.
Auf unserem Weg zu unserer gemeinsamen europäischen Kultur stoßen wir Deutschen bei den Franzosen immer wieder einmal auf Differenzen im Verhältnis zu den Amerikanern. Es ist wahr, daß bei uns Deutschen nicht nur die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA, sondern auch die Zuneigung zu ihnen dank der Berliner Luftbrücke, der Marshall-Hilfe und der uneingeschränkten Unterstützung aus Washington für die deutsche Wiedervereinigung stark verwurzelt sind. Wahr ist aber auch etwas anderes: Daß wir in Europa gemeinsam darauf achten sollten, nicht immer stärker von amerikanischer leichtkultureller seichter Massenproduktion abhängig zu werden. Die Gefahr einer verflachenden Wirkung durch ständigen billigen Software-Konsum trennt uns nicht zwischen Frankreich und Deutschland, sondern vereinigt uns weit eher. Mittlerweile ist es ja soweit, daß sich ein oberflächlicher weltweiter Hunger nach der amerikanischen Unterhaltungsindustrie herausgebildet hat, die ihren Anteil am amerikanischen Export alle anderen US-Ausfuhrartikel übertreffen lassen. Auch scheint diese Nachfrage auf dem globalen Markt mittlerweile längst qualitativ schlechtere, aber exportgängige Sparten der amerikanischen Produktion zu fördern.
Das alles sollte nun nicht zum Aufbau einer antiamerikanischen kulturellen Front in Europa führen. In den Grundlagen unserer Werte beruhen wir gemeinsam auf den Einsichten der Aufklärung. Vernunft und Freiheit, Menschenrechte und Demokratie, stammen aus Europa, und als sie hier in Gefahr gerieten, sind die Amerikaner während unseres Jahrhunderts zweimal zu ihrer Verteidigung auf europäischem Boden in den Krieg gezogen. Was uns verbindet, ist weit stärker als was uns trennt. Aber unseren eigenen Werten immer von Neuem lebendige Gegenwart zu verleihen, den Gefahren eines vollkommenen Abbruchs von Überlieferungen zwischen den Generationen entgegenzutreten, die Aufgaben der Erziehung durch gute Beispiele ernster zu nehmen, das sind wahrhaftig gemeinsame Aufgaben, die uns als Europäer gerade auch zwischen Frankreich und Deutschland verbinden sollten. Dies ist uns in Europa noch zu wenig bewußt. Brigitte Sauzay betont es mit großem Recht.
Unser künftiges europäisches Familienleben kann nur gedeihen, wenn es auf unseren gemeinsamen historischen Ursprüngen aufbaut. Wir wollen bei uns selbst zu Hause sein, uns keinem transatlantischen Materialismus unterwerfen, unsere in Europa entwickelte Lebensart mit seinen fundamentalen menschlichen Beziehungen praktizieren, auf unseren eigenen Geist vertrauen. Wenn Brigitte Sauzay von europäischer Zivilisation spricht, dann versteht ein Deutscher, was es frei zu legen und vereint zu schützen gilt. Mit ihrem klugen, tief empfundenen Buch verschafft sie uns Deutschen ein ebenso aufschlußreiches wie aufregendes Bild von uns selbst. Sie hat uns Deutschen damit einen guten Dienst erwiesen, aber, wie ich zuversichtlich glaube, vor allem auch unserem französischen Nachbarn, unserem hochgeachteten europäischen Familienpartner.
Richard von Weizsäcker Berlin, 21. Dezember 1998