Januar

2. JANUAR
Ich habe Weihnachten, wie in Deutschland, langsam ausklingen lassen. Ich habe mich vom goldenen Strom aus Honig, Kerzenschein, Lebkuchen, Weihrauch, Goldbändern und Glanzpapier einfangen lassen.
Ich habe es sehr bedauert, daß wir nach Weihnachten nicht so wie dort noch einen »zweiten Weihnachtstag« als offiziellen Feiertag haben.
Hier bleibt die Zeit nicht wirklich stehen, es gibt kein Innehalten »zwischen den Jahren«, ganz der Besinnung, den guten Vorsätzen, dem Nachdenken über Vergangenheit und Zukunft, dem Meditieren über »Gott und die Welt« in innerer Sammlung vorbehalten.
Nein, hier in Frankreich gibt es lediglich die »treve des confiseurs«: das Ruhen der politischen und diplomatischen Aktivitäten.

4. JANUAR
Eine Meldung hat Deutschland erschüttert.
Genau am Weihnachtsabend, am »Heiligen Abend«, hat sich in einer kleinen Kirche in Frankfurt eine Frau während der Mitternachtsmesse das Leben genommen.
Unter ihrem Mantel hatte sie zwei Handgranaten verborgen, die beim Zünden zwei Banknachbarinnen mit in den Tod gerissen haben.
Godards Pierrot - nur noch trauriger.

6.  JANUAR
Seltsamerweise ist der Dreikönigskuchen eine der wenigen bei uns noch fest verwurzelten Traditionen, die in Deutschland, dem Land der Traditionen, kaum mehr existiert. Epiphanias jedoch, das Dreikönigsfest, spielt eine gewisse Rolle - jedenfalls in der Politik. Die liberale Partei FDP hält traditionsgemäß am 6. Januar einen großen Kongreß, das Dreikönigstreffen, ab. Kaum vorstellbar, daß eine politische Partei in Frankreich ein religiöses Fest auf solche Weise integrieren würde.
Man stelle sich vor, daß die UDF einen Himmelfahrts-Kongreß abhält!

7. JANUAR
Immer noch die Heiligen Drei Könige.
In nahezu allen deutschen Zeitungen ist heute ein breit lächelnder, mächtiger Kanzler, umringt von kleinen schüchternen Mädchen mit einem Dreikönigskranz auf dem Kopf, zu sehen.
Nach der Weihnachtspause hat der Kanzler die Arbeit wieder aufgenommen. Deutschland erwacht aus seiner Betäubung. Die Zeit nimmt wieder ihren Lauf. Und die erste offizielle Verpflichtung des Regierungschefs im neuen Jahr besteht darin, 180 Sternringer zu empfangen. Es sind die Abgesandten von 500 000 Kindern, die ein paar Wochen lang singend von Haus zu Haus ziehen, um für die Entwicklungsländer Spenden zu sammeln. In diesem Jahr ist das erklärte Ziel, die Kinder des Äquators einzukleiden und eine Schule in Sarajewo zu unterstützen. Die Sternsinger sind in der Deutschen Katholischen Jugend organisiert und werden von 80 000 Freiwilligen unterstützt. Auf dem Empfang im Kanzleramt vernehmen sie, daß sie »Weltmeister in der Hilfe für die Dritte Welt« seien. In der Tat wird mit Spendengeldern in Höhe von 50 Millionen DM gerechnet.
Die deutsche Großzügigkeit auf diesem Gebiet übersteigt bei weitem die anderer Länder. Anscheinend fühlt man sich wirklich verantwortlich für die ganze Welt; man gibt »Brot für die Welt«, man spendet Medikamente mit einem Eifer, den man sich hierzulande nur wünschen kann.
Der Präsident der Französischen Republik schneidet indessen den Dreikönigskuchen an.

9. JANUAR
Heute morgen nehme ich, um zum Institut in Genshagen zu gelangen, den Flug Paris-Berlin. Warum erscheint mir das Schauspiel in der Abflughalle so unwirklich, zumindest aber ungewöhnlich?
Neben mir zwei Schwarze von frappierender Schönheit, die einer amerikanischen Basketballmannschaft zu entstammen scheinen. In einer Ecke der Halle ein Asiate, dem es sichtlich an Schlaf mangelt und der offenbar durch ein Versehen der Air France geschädigt wurde; das Personal redet eifrig in Englisch auf ihn ein. Etwas weiter ein Grüppchen amerikanischer Yuppies mit Church Consul-Schuhen und szenige Deutsche mit Doc Martens, einen Ring im rechten Ohr. Später, auf der Gangway, vor mir eine Frau, die stolz ihren Afro-Look in frisch getöntem Rot präsentiert, vier zum Bersten volle Plastiktüten hinter sich herschleift und verzweifelt nach ihrem Flugticket sucht...
Kein Vergleich mit dem 8-Uhr-Flug Paris-München oder dem 7-Uhr-Flug Paris-Frankfurt, die in der Regel von
Geschäftsleuten im grauen Anzug genommen werden und die mir vertraut sind. Man könnte das Ganze für die erfundene Passagierliste einer amerikanischen Fernsehserie halten. Bei einem solchen Gemisch von Passagieren dürfte es den Drehbuchautoren nicht an Einfällen mangeln. Oder ist es einfach nur der Berlin-Effekt?

1O.  JANUAR

Geologie Ostdeutschlands

Dabei ist Genshagen wahrhaftig nicht Berlin...
Nur gut zwanzig Kilometer südlich von Berlin, in Brandenburg gelegen, ist es doch schon tiefes Ostdeutschland.
Die Besonderheit Ostdeutschlands besteht darin, daß es von der Dampfwalze des wirtschaftlichen Fortschritts noch nicht eingeebnet worden ist, so daß die einzelnen Schichten der Geschichte noch ganz offen daliegen. Hier umherzulaufen hat etwas Verwirrendes an sich, es ist, als betrachte man einen Querschnitt durch die Ablagerungen, die die Fluten der Geschichte zurückgelassen haben.
Was als erstes ins Auge springt, ist die Gegenwärtigkeit des Zweiten Weltkrieges. Hat man die Erinnerung an ihn in der westlichen Welt ausgelöscht - die Zerstörungen sind dort beseitigt oder übertüncht worden, und der Krieg selbst ist zu einem abstrakten Begriff geworden - so ist er in Ostdeutschland noch physisch präsent. So sehr, daß man manchmal den Eindruck hat, er wäre gerade erst zu Ende gegangen. Beim Anblick der Brachflächen und der stehengelassenen Ruinen, die hier und da überraschend vor einem auftauchen, fühlt man sich um fünfzig Jahre zurückversetzt und begreift besser, daß die kommunistische Führung in ihren hohlen Tiraden ständig darauf zurückkam.
Auch sind die Straßen nicht verbreitert, und das Kopfsteinpflaster ist nicht asphaltiert worden, die Gebäude ragen nicht bis in den Himmel, die Geschäfte sind nicht überdimensional groß und haben noch etwas Anheimelndes, und Werbung gibt es so gut wie gar nicht; mit einem Wort, hier hat sich das Europa der fünfziger Jahre überlebt (heute ohne Lenin, Marx, Engels und die mit weißen Lettern auf großen roten Transparenten geschriebenen kommunistischen Glücksverheißungen).
Aber zu diesen Besonderheiten tritt noch ein weiteres Merkmal, das Ostdeutschland seine geologische Tiefe verleiht: Alle diese Regionen östlich der Elbe, aus denen es sich zum großen Teil zusammensetzt, sind schon seit Urzeiten unberührt geblieben. Seit Jahrhunderten haben sie der Modernisierung widerstanden. Fast möchte man sagen, daß sich die Feudalherrschaft hier verewigt hat. Einer Anekdote zufolge wollte sich Alexis de Tocqueville übrigens hierher begeben, um ein vorrevolutionäres Staatswesen aus eigener Anschauung zu studieren, mußte jedoch, da er plötzlich krank wurde, in Bonn bleiben, wo er dann sein Tratte sur la Constitution prussienne schrieb.
Das zwanzigste Jahrhundert hat in dieser Gegend - bis zum Zweiten Weltkrieg - keine großen Veränderungen mit sich gebracht. Die in Romanen und Memoiren geschilderte Lebensweise läßt an die patriarchalische Atmosphäre der Romane von Madame de Segur denken - dabei schreibt man bereits das Jahr 1930.
Man stößt hier noch auf geschlossene Komplexe mit Schloß, Kirche, Pfarrhaus, Gutsverwalterhaus, Wirtschaftsgebäuden und, etwas entfernt, den Häusern der Bauern; und nur zehn Kilometer weiter trifft man auf eine ebensolche Anlage mit Schloß, Kirche, Dorf usw.
Das Buch von Marion Dönhoff bezeugt diesen Zustand im übrigen auf hervorragende Weise. In Namen, die keiner mehr nennt, ein paar Jahre vor dem Fall der Mauer geschrieben, schildert sie das Leben in Ostpreußen, in der Gegend um Königsberg, in jenen Gebieten am äußersten Rand des einstigen Deutschlands, die damals unerreichbar waren und in den achtziger Jahren schließlich so sehr an Realität verloren hatten, daß man sie nicht einmal mehr erwähnte.
Man folgt dem Ablauf der Tage, erfährt vom Zusammenballen der Wolken über Berlin, dem Donnern des Krieges, den immer schwieriger werdenden Jahren, und als die Autorin endlich vor den anrückenden Russen im klassischen »Treck« flieht (jener Troß von Planwagen, auf die man in aller Eile geladen hatte, was man retten wollte), bringt sie, die Schloßherrin von Friedrichstein, in dem von ihr geleiteten Konvoi »ihre Leute«, »ihre Bauern« von Schloß zu Schloß, von den Dohnas zu den Lehndorffs, quer durch den Osten Deutschlands bis in den sicheren Westen. In all diesen Regionen, vom Memelgebiet bis zur Elbe, in der Oderniederung, in Masuren, Pommern oder Schlesien hatten diese Strukturen auf Grund der ausbleibenden Revolution fortbestehen können.
In der Tat hatte das Patronatsrecht faktisch bis 1918 Bestand, und noch bis in die dreißiger Jahre wurde der Pfarrer abwechselnd vom Konsistorium und von der »Gemeinde« (das heißt unter Mitsprache des Grundherrn, des Gutsherrn oder des Junkers) ernannt. Bis zum Jahre 1848 wurde nach dem Prinzip der Patrimonialgerichtsbarkeit (auch hier wiederum durch den Gutsherrn) Recht gesprochen, zumindest bei Streitfällen in erster Instanz. Spuren davon lassen sich noch erkennen. Und da der nächste Arzt erst in der Stadt zu finden war, fiel die Pflicht, erste Hilfe zu leisten, der Gutsherrin zu, oftmals eine Frau Baronin, denn die große Mehrheit dieser Familien war adliger Abstammung (etliche Ausnahmen von dieser Regel gab es vor allem in Preußen, wo sich eine ganze Reihe von Gütern im Besitz von Nichtadligen befand, was oft zu einer gewissen Spannung zwischen den beiden Gruppen von Grundeigentümern Anlaß gab).
Finanziell war die Situation der Junker eher bescheiden: Die wenigen, die wirklich ein Vermögen besaßen, legten es in Industrieaktien an und wurden zu Agrarkapitalisten. Eher große Hindenburg- als Hitler-Verehrer, kamen sie vor dem Krieg in den Genuß der Osthilfe, um damit ihre Ländereien zu modernisieren, eine Unterstützung, die viele für das neue Regime gewann.
Liest man die unzähligen Bücher über diese Epoche, von denen es in den achtziger Jahren eine ganze Schwemme gab, scheinen diejenigen, die diese Lebensweise noch kennengelernt haben, von einer ebenso unauslöschlichen Sehnsucht erfüllt zu sein wie Talleyrand, nach dessen Dafürhalten jemand, der nicht das Frankreich vor 1789 gekannt hatte, keine Vorstellung von den Annehmlichkeiten des Lebens haben könne.
Die unendlichen Weiten, die Seen, das gemächliche Dahinfließen des Lebens, die strengen Winter, all diese Momente bildeten einen Rahmen, der bis heute nicht verschwunden ist. Aber man findet nur noch einen »kaputten«, zerstückelten Rahmen vor. In den meisten Dörfern der ehemaligen DDR haben die Russen entweder das Schloß oder die Kirche abgerissen; wenn sie die Schlösser jedoch in Besitz nahmen, richteten sie - überzeugt, im Namen einer sozialen Revolution zu handeln - maßlose Verwüstungen an: die Bilder wurden aufgeschlitzt, die Bücher verbrannt, die Möbel kurz und klein geschlagen... Und als diese Schrecken vorüber waren, haben ihre Nachfolger, die deutschen Kommunisten unter Ulbricht, falls sie sich nicht ihrerseits mit einer Ladung Dynamit dieser Zeugen der Vergangenheit entledigten, ein Blumenbeet in Form eines roten Sterns angelegt - offenbar hegten sie eine Vorliebe für Fuchsien - den Park zubetoniert, um gleich neben dem zu einem Pädagogischen Institut umfunktionierten Gutshaus ihre Autos abstellen zu können, haben alles mit Linoleum ausgelegt, eine Zentralheizung - mit Braunkohlefeuerung -eingebaut und den Schornstein genau neben dem Balkon des Salonzimmers angebracht.
In einem solchen Zustand findet man die meisten Herrenhäuser der DDR vor, die von gewaltsamen Einwirkungen des Krieges verschont blieben, das heißt jene, die weder nah genug an Berlin lagen, um von den Amerikanern bombardiert zu werden, noch von den Neuankömmlingen in die Luft gesprengt wurden. Eines der erstaunlichsten Beispiele dieser erhalten gebliebenen Schlösser ist Wiesenburg.
Umgewandelt in eine Russischschule für die Elite der Nation, steht Wiesenburg, ein gewaltiges, in einem Stilgemisch errichtetes Bauwerk, jetzt leer, genauso wie eine ganze Reihe ähnlicher, wenn auch bewohnbarerer und weniger mächtiger Gebäude, deren Unterhalt heute zu aufwendig ist. Schon seit über fünfzig Jahren arg vernachlässigt, verfällt das Anwesen mehr und mehr, doch ist es äußerst reizvoll, dort spazierenzugehen. Vor den Augen des französischen Besuchers breitet sich eine Landschaft aus, die sich von der des Mittelalters wohl kaum unterscheidet. In einem kleinen Raum sind alle Fotografien vereint, die vom alten Glanz Wiesenburgs zeugen: ausgedehnte Obst-und Gemüsegärten, Stallungen für Rinder, Pferde und Schweine, Geflügelhöfe, unzählige Wirtschaftsgebäude, Scheunen, Schuppen und Kornspeicher, Molkerei, Brennerei, Kelterei und Schmiede; das Ganze erinnert an eine Art Cluny im Kleinen... Nach dem Krieg wurde daraus zu DDR-Zeiten eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft - kurz LPG - die den Betrieb aufrechterhielt und das Anwesen somit »gerettet« hat. Das verwickelte System der EU-Agrarsubventionen hingegen wird es wohl in keinem Fall überleben. Die Obstbäume wurden bereits gefällt.
Diese Landstriche, über die die Jahrhunderte hinweggegangen sind - fast meint man noch den Geist der Ostkolo-nisierung des deutschen Ritterordens zu verspüren - werden über kurz oder lang zerstückelt sein: ein Gewerbepark hier, eine Wohnsiedlung dort. Das ist der Weg Europas.
Doch wer für den Reiz der Vergangenheit empfänglich ist, sollte sich beeilen, sie an jenen Orten, die seit Jahrhunderten von Revolutionen und drastischen Modernisierungen verschont blieben, aufzusuchen, dort, wo die Vergangenheit sich selbst überlebt hat, ehe das einundzwanzigste Jahrhundert sie unweigerlich einholen wird.

11. JANUAR
Seit dem Herbst kann man keine deutsche Zeitung aufschlagen, ohne darin nicht einen Artikel oder einen Leserbrief zum Thema der »Deutsch-tschechischen Erklärung« zu finden. Mehr als fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und mehr als sieben Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist dieses Kapitel noch immer nicht abgeschlossen.
Die beiden Länder suchen nach einer Basis für eine dauerhafte »Aussöhnung«.
Die historischen Fakten sind bekannt: 1938 überfällt Hitler die Tschechoslowakei und teilt sie auf; 1945 vertreiben die Tschechen die deutsche Bevölkerung aus dem Sudetengebiet: nahezu drei Millionen Deutsche, die mit den Tschechen seit jeher, erst im Habsburgischen Kaiserreich und nach 1918 in der Tschechoslowakei, eng zusammengelebt hatten.
Seitdem liegen sie miteinander im Streit. Zumindest versuchen die Landsmannschaften, Wortführer der Sudetendeutschen, ihre Forderung nach einem Rechtsanspruch für ihren verlorenen Besitz durchzusetzen. Die Tschechen ihrerseits wollen Entschädigungen für das an ihnen verübte Unrecht erwirken.
Und jede Seite will, daß sich die andere entschuldigt.
Heute fällt mein Blick auf zwei lange Leserbriefe, die haarklein und ausführlich erläutern, daß der Einmarsch Hitlers in die Tschechoslowakei im Jahre 1938 nicht eine einzige Ausweisung von Tschechen aus dem Sudetengebiet zur Folge gehabt hätte, daß lediglich 200 000 Tschechen freiwillig die Region verlassen hätten, was in keinem Vergleich zur Vertreibung der 3 Millionen Deutschen stünde, die dort seit 800 Jahren lebten.
Diese Art von geographisch und historisch äußerst detailliertem Vergleichen und Vorrechnen findet man überall; so ist beispielsweise aus der Feder eines Sudetendeutschen zu lesen: Es sei »zu berücksichtigen, daß im Jahre 1938 insgesamt 11 647 deutsche Antifaschisten, 7 325 Juden sowie 1 000 >Sonstige< in das Ausland geflohen sind... Es gab aber auch Fälle, in denen Tschechen tatsächlich von deutschen Behörden aufgefordert wurden, das dem deutschen Reich angegliederte Gebiet zu verlassen. Diese Maßnahmen stellten aber keine Willkürakte dar, sondern waren geregelt in dem ab 26. November 1938 gültigen >Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakischen Republik über Staatsangehörigkeits- und Optionsfragen<... Paragraph 12 garantierte die Mitnahme der beweglichen Habe. Aus eigenem Wissen kann hinzugefügt werden, daß Immobilienbesitz... nicht enteignet, sondern treuhänderisch verwaltet wurde. Eingehende Mieten wurden am Monatsende auf eine tschechische Bank überwiesen...«
Das ist der vorherrschende Ton der Diskussion - die meisten Sudetendeutschen haben sich nach ihrer Vertreibung jenseits der Grenze in Bayern niedergelassen. In der Mehrheit sind sie Wähler der CSU.

13. JANUAR
Seitdem ich hin und wieder meine Gedanken zu Deutschland veröffentliche, bekomme ich auch sogenannte »Rückmeldungen« von den Lesern.
Es ist wunderbar zu erfahren, daß ein Professor in Amsterdam das eigene Buch gelesen hat und vom »zweiten Kapitel« ganz hingerissen ist.
Es bereitet mir ebensoviel Vergnügen, wenn ich - was regelmäßig der Fall ist - von einer älteren, offensichtlich aus dem Osten stammenden Person Auszüge aus der deutschen Presse erhalte, deren Briefe ich nur mit Mühe entziffern kann, da sie teilweise immer noch in der gotischen Sütterlinschrift geschrieben sind, die bis 1941 üblich war.
Sie hat eine Vorliebe für blutrünstige Schlagzeilen: »Wurstkönig tot im Kofferraum aufgefunden, mit Messerstichen durchbohrt. Rache der Wurstmafia?« (Bild-Zeitung); aber sie schickt mir auch Artikel aus der eher rechten Presse, wenn es die Situation in Deutschland zu beklagen gilt: »Armes Deutschland, die Werte sind nicht mehr, was sie einmal waren.« In dieser Hinsicht hat die Aussage von Kanzler Kohl, »Deutschland wird ein Freizeitpark«, sie offenbar hellauf begeistert.
Und schließlich erfahre ich von allen Boshaftigkeiten, deren sich die gesamte Presse, von der liberalen Zeit bis zur Welt aus der rechten und der Frankfurter Rundschau aus der linken Ecke, über Frankreich bedient. Das ist aufschlußreich. Sie sprechen fortwährend von der Grande Nation, ein Begriff, den kein Franzose verwenden würde und der bei uns vage Reminiszenzen an das Grand Siecle wachruft, an die Moralpredigten eines Bossuet, Fenelon und Bourdaloue, oder bei dem vielleicht auch etwas von Michelet anklingt. Natürlich verwenden sie ihn in freundlich-ironischem Sinn, um damit durchblicken zu lassen, daß es bei uns nichts Großes mehr gibt - außer dem Bild, das wir uns von uns selbst machen... Von außen betrachtet kann man bei uns allerdings durchaus eine gewisse Nostalgie nach Größe feststellen, und sei es nur bei unseren Grand Louvre, Grande Arche, Tres Grande Bibliotheque (währenddessen die Deutschen den Begriff Großberlin, was böse Erinnerungen weckt, haben fallenlassen). Entsprechend den unterschiedlichen Medien sind die Vorwürfe, in mehr oder weniger gewählte Ausdrücke, in mehr oder weniger geschickte, durchsichtige oder versteckte Anspielungen verpackt, immer die gleichen: die Grande Nation ist ein zurückgebliebener Kolonial-Rambo, ein Gernegroß, der sich mit Vorliebe säbelrasselnd in exotischen Gefilden (Zaire usw.) herumtreibt. Ihr Streben nach Unabhängigkeit von Amerika zeugt von der völligen Unfähigkeit, die wirklichen Herausforderungen der globalisierten, von der Wirtschaft beherrschten modernen Welt zu begreifen. Und das Ganze selbstverständlich gepaart mit der entsprechenden französischen Arroganz, die sich nicht einmal mehr mit ihrer vielgepriesenen Kultur brüsten kann, ist sie doch zu einer musealen, nur noch das Erbe bewahrenden Kultur, ohne einen Funken Kreativität, geworden.
Ja..., natürlich...
Aber »Ärzte ohne Grenzen« hat in Deutschland durchaus Fuß gefaßt, in der GATT-Angelegenheit haben uns die deutschen Politiker unterstützt, und zu Ostern kommen die Deutschen scharenweise, um sich Paris anzusehen.
Am ärgerlichsten bei all dieser Kritik ist im Grunde, daß sie in dasselbe Horn stößt wie die angelsächsische, als gäbe es nur eine globalisierte Medienwahrheit; ich vermisse darin ein innereuropäisches Zusammengehörigkeitsgefühl.

GARZWEILER, 12. JANUAR
Nicht allein die deutsch-tschechische Erklärung hält die Öffentlichkeit in Bewegung - da Deutschland ein föderativer Staat ist, spielt sich alles auf mehreren Ebenen ab. Daher der Eindruck der ständigen Wiederholung, selbst bei ganz geringfügigen Debatten. Alle Fragen von öffentlichem Interesse haben etwas von einer vielköpfigen Hydra, werden sie doch auf Bundesebene, dann - auf andere Weise - in den einzelnen Ländern (seit der Wiedervereinigung auf sechzehn angewachsen) und in den Parteien behandelt und, falls es zu keiner Einigung kommt, an das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe verwiesen.
Das ist vor allem bei Wirtschafts- und sozialen Fragen, die bei den Deutschen an erster Stelle stehen, der Fall: Die Titelseiten der Zeitungen sind stets voll von detaillierten, zuweilen nur Eingeweihten zugänglichen Debatten über die Steuerreform, die Rentenreform oder die Reform der Sozialversicherung. In den letzten Tagen ging es jedoch noch um ein anderes Problem: um Garzweiler, genauer gesagt, um Garzweiler II.
Garzweiler ist innerhalb der rot-grünen Koalitionsregierung von Nordrhein-Westfalen ein Zankapfel. Was hier auf dem Spiel steht, ist von höchstem Belang. Im zweiten Abschnitt des Projekts müssen mehrere Dörfer zwischen Düsseldorf und Köln dem Erdboden gleichgemacht werden, um riesigen Baggern Platz zu machen: Unter diesen Dörfern lagern 1,3 Milliarden Tonnen Braunkohle.
Die Tagebauförderung soll im Jahre 2006 beginnen. Die SPD hält strikt an dem Projekt fest, das fünfzig Jahre lang 8 860 Arbeitsplätze sichern würde; die Grünen sind dagegen. Der Konfliktfall wurde ans Verfassungsgericht von Nordrhein-Westfalen in Münster weitergeleitet.
Auch die Kirchen mischen sich ein. Der Bischof von Aachen hat kürzlich verlauten lassen, daß das Projekt eine »schlechte soziale Verträglichkeit« habe.
Die 7 500 betroffenen Einwohner lassen sich selbstverständlich Zeit, ihre Häuser zu verlassen, auch wenn man ihnen nagelneue, gleichwertige Dörfer versprochen hat, Friedhöfe und Grabsteine inklusive.
Das Tochterunternehmen von RWE, Rheinbraun, möchte 1998 mit der Förderung beginnen. Tausend Einwohner sind bereits weggezogen: junge Leute, die mit dem Manna von RWE anderswo ihr Glück versuchen... Sie werden das Anrücken der Riesenmaschinen nicht erleben.
Und das alles wegen... Braunkohle! Auch das ist Deutschland.

16. JANUAR

Tschibo hat Eduscho aufgekauft

Die Hamburger Kaffeeröster haben über die Bremer gesiegt. Alle beide gehören für mich ebenso in die deutsche Landschaft wie - zumindest in Süddeutschland - die Stände, an denen es Milchreis mit Zucker und Zimt gibt.
In den schmucken, kleinen Läden trank man bei einem Schwätzchen seinen Kaffee im Stehen; Plätze in deutschen Städten, die wirklich einladend sind. Ganz besonders bei Kälte.
Es ist nur zu hoffen, daß Tschibo die Anzahl der Geschäfte nicht reduziert. Selbst wenn die Läden, die erhalten blieben, jetzt länger geöffnet haben können, da die Ladenschlußzeiten (nach jahrelangen Debatten) liberalisiert worden sind, wäre das mehr als schade.

18. JANUAR
Man kommt der Lösung der deutsch-tschechischen Frage näher. Dokumente gehen hin und her. Die Diplomaten stehen kurz vor Abschluß ihrer Vermittlungen. Die Sudetendeutschen schicken immer häufiger Leserbriefe an die Zeitungen, was man mit einer gewissen Gleichgültigkeit zur Kenntnis zu nehmen scheint.

20. JANUAR

Bundesrepublik versus Hollywood

Ein Schriftstück hat in diesen Tagen für Aufsehen gesorgt. Es handelt sich um den Brief, mit dem sich die Hollywood-Prominenz an Kanzler Kohl gewandt hat.
Hollywood (Dustin Hoffmann, Goldie Hawn, John Travolta u.a.) ist über den Umgang Deutschlands mit Scientology empört.
Eigentlich besitzt die Sekte nirgendwo in Europa einen guten Ruf: Himmlische und irdische Belange scheinen allzusehr miteinander verquickt, vor allem aber scheint man erstere mit ziemlich rabiaten Mitteln den letzteren zu unterwerfen.
In Deutschland hat sie jedoch merkwürdigerweise Erfolg, denn die Deutschen hatten zu allen Zeiten eine Schwäche für Sekten, Esoterik, übersinnliche Phänomene und Astrologie; sie lesen mit Vorliebe ausführliche Abhandlungen über den Einfluß des Mondes auf den Salatanbau und das Haareschneiden; und sie sind eifrige Anhänger der Anthroposophie, der sie allerdings einige ausgezeichnete Schulen verdanken...
Da die Deutschen aber Menschen sind, bei denen alles geregelt ist, wollen sie den Praktiken der Scientology-Sekte in Deutschland auf juristischem Wege, und damit offen einsehbar, Einhalt gebieten, was ein »willkürliches« Vorgehen ausschließen soll. Das erinnert aber vage an die schlimmsten Zeiten der Angst vor dem Kommunismus und an die Geschichten von den »Berufsverboten«, die man über Beamte verhängte, deren Verfassungstreue in Frage gestellt wurde.
Lautstark präsentiert Hollywood seine offenbar noch ganz frischen Erinnerungen: »Das erinnert an Deutschland 1936..., damals die Juden, heute die Scientologen...«, heißt es in dem Brief anklagend.
Die wirtschaftlichen und politischen Eliten Westdeutschlands sind über dieses Amerika, das nicht »ihr« Amerika ist, ganz eindeutig verärgert, wenn nicht sogar zutiefst gekränkt, wegen des Mißtrauens, das das »Showbusineß« sie spüren läßt, ausgerechnet sie, die von den amerikanischen Politikern nur Lob und Ansporn gewohnt sind. Und die Ostdeutschen, die weder Erfahrungen mit Hollywood noch mit Sekten und »Berufsverboten« hatten, halten die ganze Angelegenheit für überflüssig.

21. JANUAR
Nun haben der Bundeskanzler und Vaclav Klaus sowie die Außenminister die berühmte deutsch-tschechische Erklärung endlich offiziell unterzeichnet.
Nachdem jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wurde, bedauern die Deutschen »das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan worden ist«. Sie seien sich gleichzeitig bewußt, daß die Politik gegenüber dem tschechischen Volk »dazu beigetragen hat, den Boden für Flucht, Vertreibung und zwangsweise Aussiedlung nach Kriegsende zu bereiten«.
Parallel dazu bedauert die tschechische Seite »insbesondere die Exzesse, die im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und auch den damals geltenden rechtlichen Normen gestanden haben, und bedauert darüber hinaus, daß es aufgrund des Gesetzes Nummer 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde, diese Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen, und daß infolgedessen diese Taten nicht bestraft wurden«.
Hinsichtlich der Eigentumsfrage wurde der folgende Kompromiß erzielt: »Beide Seiten erklären, daß sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden.«
Und schließlich ist vorgesehen, einen deutsch-tschechischen Zukunftsfonds zu schaffen.
Es ist hochinteressant, die Erklärung Satz für Satz auseinanderzunehmen. Wer sich ein bißchen in der Materie auskennt, spürt überall eine unterschwellige Spannung: den Unmut der Tschechen und das Widerstreben der Sudetendeutschen Landsmannschaft.
Wenn man in Deutschland sein Erstaunen über diese Haltung bekundet (in Frankreich muß man davon ausgehen, daß niemand wirklich weiß, daß es eine deutsch-tschechische Erklärung gegeben hat, oder daß diejenigen, die es wissen, sie kaum gelesen haben), stößt man auf die unterschiedlichsten Reaktionen.
Die einen sind der Ansicht, man solle die Marotten der »bayrischen« Bauern (ein Großteil der Sudetendeutschen hat sich, wie gesagt, in Bayern niedergelassen), nicht so ernst nehmen, sie seien doch für ihre Starrköpfigkeit bekannt. Andere erwidern einem schulterzuckend: »Längst begrabene Streitigkeiten! Was soll das jetzt noch! Morgen haben wir Europa! Man muß auf alle Fälle die Grenzen überwinden, was hat das in einem Europa der Regionen noch für einen Sinn? Allein das ist für die Tschechen von Interesse, und nur deswegen unterzeichnen sie diesen sudetendeutschen Stuß.«
Und eine Handvoll Leute sind der Meinung, daß es nur recht und billig sei, zwischen dem einen und dem anderen Unrecht, dem der Deutschen gegenüber den Tschechen im Jahre 1938 und dem der Tschechen gegenüber den Deutschen im Jahre 1945, eine Parallele zu ziehen, da die Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland eine »ethnische Säuberung« gewesen sei, und wer könnte heute, nach Jugoslawien, noch auf der moralischen Berechtigung eines solchen Vorgehens beharren? Seine Stimme nicht gegen diese ethnische Säuberung von 1945 zu erheben wäre sogar ein tadelnswertes Beispiel für die Jugend, »die nicht mehr wüßte, was Recht ist«.
Gott bewahre!
Eine letzte kleine Gruppe aber runzelt bedenklich die Stirn und äußert ihr Erstaunen über die angebliche oder tatsächliche Gleichgültigkeit gegenüber den Forderungen der Sudetendeutschen, als handele es sich dabei um eine harmlose Laune, und empfindet es als höchst unangenehm, daß man die Art und Weise duldet, mit der sich die Sudetendeutsche Landsmannschaft weigert, »einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen«, und daß sie es unterläßt, eindeutig zu erklären, keinerlei Anspruch auf ihr in der Tschechoslowakei zurückgelassenes Eigentum zu erheben, mit einem Wort, daß sie gewillt sei, ihren Wirkungsbereich an ihrer Grenze »wie ein Ölfleck auszubreiten«.
Wie dem auch sei, die Europäische Union hat jedenfalls ihre »Zufriedenheit« über die Unterzeichnung der Übereinkunft geäußert, die wenigstens ein Gutes hat, nämlich daß es sie überhaupt gibt.

22. JANUAR
Etwas verwirrt mich in Deutschland immer wieder aufs neue: die Tatsache, daß die Deutschen als eifrige Leser -den Statistiken zufolge lesen und kaufen sie pro Jahr mehr Bücher als die Franzosen - kaum ihre eigene Literatur lesen.
Die Bestsellerlisten bezeugen es regelmäßig. Die in der Welt vom 10. Januar 1997 hat mich besonders verblüfft: von fünfzehn Titeln nur zwei von deutschen Autoren. Und die Liste in der gestern erschienenen Sondernummer des Spiegel, eine Zusammenfassung der letzten fünfzig Jahre, unterstreicht und bestätigt diese Tendenz. Von fünfzehn aufgeführten Titeln sind lediglich fünf Werke von deutschen Autoren. Nach dem Erstplazierten, der Unendlichen Geschichte von Michael Ende, stößt man erst an neunter Stelle wieder auf ein deutsches Werk: die berühmte Deutschstunde von Siegfried Lenz. (Die Einstufung erfolgt nach der Anzahl der Wochen, während der sich ein Titel an der Spitze der Bestsellerliste hält.) Dann stößt man auf die Chansonsängerin Hildegard Knef mit ihrem Erinnerungsbuch Der geschenkte Gaul - Berichte aus meinem Leben, und schließlich zu guter Letzt noch einmal Lenz und Günter Grass mit Der Butt. Weder Böll noch irgend jemand anderes aus der berühmten Gruppe 47, von der der Spiegel auf der vorhergehenden Seite ein anrührendes Foto abgedruckt hat: Enzensberger, Walser, Hildesheimer, Andersch, Jens usw.
Angeführt wird die Hitparade von Gabriel Garcia Marquez, Umberto Eco, Isabel Allende, Jostein Gaarder mit Sofies Welt und, an fünfter Stelle, von Benoite Groult (sie hat sich neunundfünfzig Wochen lang gehalten) mit Salz auf unserer Haut.
Für einen Franzosen, der zu achtzig bis neunzig Prozent französische Titel liest, wie es die Bestsellerlisten täglich ausweisen, ist diese »Globalisierung« der Lektüre in Deutschland etwas recht Verwunderliches.
Allerdings scheint das nach Ansicht von Leuten, die sich im internationalen Verlagsgeschäft gut auskennen, auch eine französische Besonderheit zu sein. Die französische Hitliste geht im allgemeinen ihre eigenen Wege und fällt damit, gemessen an der anderer europäischer Länder, die sich mehr oder weniger gleichen, aus dem Rahmen.
Dieser Umstand erklärt auch, warum Deutschland bei den GATT-Verhandlungen nicht sofort der »kulturellen Ausnahmeregelung« beigepflichtet hat.
Es bedurfte großer Anstrengungen von seiten der französischen Diplomatie, bis Deutschland endlich seine Zustimmung gab.
»Was haben die Franzosen bloß gegen amerikanische Filme? Weshalb soll man in der Kultur bürokratische Vorschriften und Quoten einführen?... Die Franzosen mit ihrem Protektionismus, ihrem unverbesserlichen Merkantilismus!... Wenn die Leute nun mal die amerikanischen Filme den europäischen vorziehen, dann kann man nichts dagegen machen... Und überhaupt, das ist eben der Lauf der Geschichte und der zunehmenden internationalen Arbeitsteilung; wenn die Filmindustrie nach Hollywood geht, ist das eine Standortverlagerung wie jede andere auch, wer begabt ist, braucht nur nach Hollywood zu gehen.« Solcherlei Reden bekommt man zu hören.
Und daß die Amerikaner uns (aus Gründen der Wettbewerbsverzerrung) vorschreiben wollen, auf welche Weise wir unsere Filmindustrie subventionieren, stört kaum jemand.
Die Amerikaner sind auf alle Fälle ohne jeden Fehl, sie sind die Streiter für den Freihandel, die Ritter ohne Furcht und Tadel, die sich für eine Welt ohne irgendwelche Handelsbeschränkung schlagen.
Und ist denn, so meinen die Deutschen, der Handel nicht das A und O unseres Wohlstands und folglich die Basis, auf der der Frieden (der heute immer häufiger Sicherheit genannt wird) und also auch unsere Freiheit beruht?
Daß es einem Volk, einer Kultur freilich schaden könnte, wenn es keine Vorstellung von sich selbst hat, scheint nicht so einleuchtend zu sein, lag den Deutschen doch lange Zeit nichts weniger am Herzen, als sich selbst im Spiegel zu sehen... Das ist allerdings eine andere Geschichte.
Man muß der französischen Diplomatie Bewunderung zollen... aber immerhin hat sie nach anfänglichen Unstimmigkeiten doch Gehör gefunden.

25. JANUAR
In den Städten sieht man so etwas selbstverständlich nicht mehr, auch nicht im Berliner Umland, das - eine Nachwirkung der Mauer - abrupt gleich hinter den letzten Stadthäusern beginnt, wohl aber auf dem Lande, zumal in katholischen Gegenden wie dem Saarland, wo ich vor ein paar Tagen war. Dort werden die Häuser wieder mit kabbalistischen Zeichen versehen, die mit Kreide auf den oberen Türrahmen gezeichnet werden und da, allmählich verblassend, bis zum nächsten Jahr stehen bleiben: 19 K + M + B + 97. So hat sich das Haus auch dieses Jahr wieder unter den Schutz der Heiligen Drei Könige, Kaspar, Melchior und Balthasar, begeben.

Die Deutschen und die Nation

Dort habe ich mit den W.s gespeist. Er gehört jener deutschen Linken an, die in Oskar Lafontaine einen ihrer bekanntesten Wortführer hat und davon überzeugt scheint, daß die Idee der Nation im Kern überholt ist. Den Intellektuellen dieser Richtung geht es in der Tat darum, die Nation zu »überwinden«, ein »Europa der Regionen« zu schaffen, in dem die Hoheit der Länder gestärkt wird und sich solche großen Zusammenschlüsse wie Saarluxlor (Saarland, Luxemburg, Lothringen) oder das Dreiländereck (Elsaß, Basler Region, Schwarzwald) bilden. Selbstverständlich beruht ihr Wunsch, die Nation über Bord zu werfen, zu einem großen Teil auf der Vorstellung, daß der Nationalstaat die Ursache all unserer Übel seit dem 19. Jahrhundert und der Nationalismus die Ursache all unserer Sünden gewesen sei. Daß Deutschland eine »verspätete Nation« war, erst nach den anderen dem Konzert der Nationen beitrat und daher mit seiner noch unverbrauchten Vitalität für Unruhe sorgend, erscheint ihnen als gravierender Umstand und zugleich als guter Grund, jetzt eine »frühzeitige Nicht-Nation« zu werden und den Weg in eine Welt frei von den alten Auseinandersetzungen zu bahnen.
Um das zu erreichen, sei es am zweckmäßigsten, ein System anzustreben, in dem die ökonomischen Entscheidungen die Politik bestimmen und in dem, was gut für die Wirtschaft, auch gut für die Politik ist. Vor diesem Hintergrund - der nicht der der gesamten deutschen Linken ist, so hatte sich Willy Brandt entschieden dagegen ausgesprochen - wird verständlich, daß die Begeisterung über die Wiedervereinigung nicht besonders groß war. Eine deutsche Nation wiederherzustellen war nicht von vorrangiger Bedeutung, und welche Nation sollte das außerdem sein? Die in den Grenzen von 1937? Ein Deutschland, lediglich erweitert um die frühere Sowjetische Besatzungszone, die ehemalige DDR? Und schließlich, war das eine Deutschland tatsächlich eindeutiger, stärker legitimiert als das andere?
Warum ein Volk, wie es die Demonstranten in Leipzig, Dresden und anderswo riefen? Hatte dieser Begriff nicht genug Schaden angerichtet? Hatte, was im Namen des deutschen Volkes geschah, nicht alles andere als gute Erinnerungen hinterlassen? Warum sollte man zu Auffassungen zurückkehren, die man schließlich mehr oder weniger hinter sich gelassen hatte?
Das vermischte sich mit der nicht ganz klaren Vorstellung, daß die beiden Länder in vierzig Jahren einander fremd geworden seien und die DDR Besonderheiten hervorgebracht habe, die es zu bewahren gelte... Also...
Für einen Franzosen war das zweifellos nur schwer zu begreifen, zumal der Begriff der Nation, den die Rechte ihrerseits entwickelt hat und der - wie man sehen konnte - schneller, als von irgend jemand erwartet, zur Wiedervereinigung geführt hat, keineswegs besser mit dem französischen übereinstimmt.
Vielleicht aber war es so, daß auf keiner Seite, weder rechts noch links, weder im Osten noch im Westen, der Begriff der Nation, der Wunsch, eine nationale Gemeinschaft zu schaffen, eine entscheidende Rolle spielte und es sich lediglich um ein ganz natürliches Hinstreben auf den Schwerpunkt zu, das Geld, die Stabilität, den schnellen Konsum, das freie Unternehmertum, handelte. Ein Streben nach all dem, was - ob gut oder schlecht - der Bundesrepublik, ohnehin schon größer und dichter besiedelt und dazu noch in einem westlichen Bündnissystem integriert, in fünfzig Jahren ein solches Gewicht verliehen hatte... Vielleicht also sind die Befürchtungen, daß Deutschland sich nach Osten ausrichten könnte, immer unbegründet gewesen, und vielleicht bedurfte es nur einer Schwächung des Sowjetgendarmen, damit der Schwächere zum Stärkeren, der Arme zum Reichen ging.
Wie dem auch sei, für einen typischen Franzosen - ob nun mit  Braudel groß  geworden oder nicht - war es
schwierig, die Haltung der Deutschen zu verstehen. Die Einführung zu Braudels Werk Frankreich abermals zu lesen, gleicht einem Glaubensbekenntnis, einer Zusammenfassung all dessen, was die Nation für einen Franzosen bedeutet, für einen Deutschen dagegen ganz und gar nicht.
Braudel beginnt sein Werk mit einem für einen Deutschen unerhörten Satz. Gleich zu Anfang erklärt er: »Ich liebe Frankreich.« Etwas, was einem deutschen Intellektuellen niemals über die Lippen kommen würde, denn ebensowenig wie sein Land »lieben« kann er es sich »glücklich« vorstellen - ein glückliches, geliebtes Deutschland ist für ihn ein Unwort. Braudel stellt dann eine Behauptung auf, die von der deutschen Bevölkerung gemeinhin nur selten geteilt wird; er behauptet, daß man die Gegenwart einer Nation nur durch den Rückgriff auf die Vergangenheit begreifen kann: »Zwar ist die Vergangenheit von der Gegenwart durch Hindernisse, Hügel, Gebirge, Schluchten und Höhenunterschiede getrennt, aber um sie zu erreichen, gibt es besondere Straßen, Wege und verborgene Pfade. Das Vergangene schwebt um uns herum, man kann es nicht sehen, aber es schmeichelt sich ein, und noch bevor wir es merken, sind wir bereits hineingezogen. Die Vergangenheit... >führt ihre Fluten bis an uns heran und kein Phänomen kann ihr entgehen<. Genau diese Flutbewegungen, diese tiefen Fluktuationen der französischen Geschichte möchte ich herausfinden und verfolgen, um festzustellen, auf welche Weise sie in die Gegenwart münden - wie ein Strom ins Meer.«
Wie sollten die Deutschen auch akzeptieren, daß sie in die Vergangenheit »hineingezogen«, daß sie ein Produkt der Vergangenheit sind? Hat man ihnen nach dem Krieg doch in allen Tonarten klargemacht, daß das Drama des Nationalsozialismus sich nur durch jene lange geistige Entwicklung erklären lasse, die von Luther zu Bismarck geführt hat, um bei Hitler zu enden - ihnen, denen die »Stunde Null«, die unmittelbare Nachkriegszeit und die amerikanische »Umerziehung« zur Demokratie eine Art Neubeginn einzuläuten schien, eine Wiedergeburt ex nihilo. So sind sehr viele Deutsche davon überzeugt, daß die Bonner Republik nichts mit der Weimarer gemein hat, und die Nachkriegsdeutschen nichts mit den Deutschen der dreißiger Jahre. Für sie gibt es für jedes soziologische Phänomen in erster Linie eine ökonomische, logische, politische Erklärung, selten eine historische und niemals eine psychologische. So stark verabscheuen sie eine bestimmte Art der Introspektion. Die Nabelschau dagegen verabscheuen sie nicht und halten es auch nicht für unter ihrer Würde, sich zu bemitleiden, wobei sie sich freilich selbst der Larmoyanx bezichtigen. Aber es graut ihnen davor, sich länger im Spiegel zu betrachten, müßten sie doch auf Überraschungen gefaßt sein, so konstruiert und voluntaristisch ist das Bild, das sie von sich selbst haben. Für Franzosen aber kann nun einmal eine Nation, wie Braudel schreibt, »nur existieren, wenn sie sich unablässig selber sucht, sich im Sinne ihrer eigenen logischen Entwicklung transformiert, sich gegenüber anderen unnachgiebig zur Wehr setzt, sich mit dem Besten und Wesentlichsten, über das sie verfügt, identifiziert, sich also in Markenzeichen und Losungsworten wiedererkennt, die allen Eingeweihten bekannt sind... Sie muß sich in tarnenden von Tests, von Glaubensvorstellungen, Diskursen und Alibis wiedererkennen, in einem Unbewußten ohne feste Ufer, in dunklen Zusammenflüssen, in Ideologien, Mythen und Fantasmen...«
Eben dieses »Unbewußte ohne feste Ufer«, diese »dunklen Zusammenflüsse« haben die Deutschen verloren, hat Hitler ihnen geraubt. Wie soll man heute das Adjektiv »deutsch« mit Ideologien, Mythen und Phantasmen zusammenfügen? Mehr noch als eine verwaiste, sind sie eine Nation ohne Schatten, den sie unglücklicherweise an den Teufel verkauft haben, so wie Peter Schlemihl den seinen, und eben diese Abwesenheit mögen sie nicht im Spiegel erblicken.
Auch die Franzosen haben Ängste, doch sie haben noch ein Bild von sich selbst und ihre gemeinsamen Erkennungszeichen.
Den Deutschen dagegen fehlt es an solchen »Losungsworten«. Gewiß haben sie »geflügelte Worte«, Gedichtzeilen, Auszüge aus klassischen Dramen, Versatzstücke von Brecht und Dauerbrenner aus der Werbung (Neckermann macht's möglich) oder auch Sprichwörter (»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«). Aber die durch die Länderhoheit bedingten unterschiedlichen Bildungssysteme, die Tatsache, daß die Lehrpläne im Fach Geschichte lange Zeit vernachlässigt wurden und es an den Schulen keinen systematischen Literaturunterricht gibt, bringt die Deutschen um jenen vertrauten Fundus, den die Franzosen zwar allmählich auch verlieren, der ihnen bislang jedoch dieses wunderbare Gefühl nationaler Vertrautheit verlieh, die sich darauf gründete, daß jeder Abiturient an die fünfzig Sätze parat hatte, die einer beginnen und ein anderer mühelos fortsetzen konnte: zum Beispiel die beiden Aussprüche von Pascal »verite au-dela...< - »Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrtum jenseits« - und »le cceur a ses raisons< - »Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt«. Die Herkunft dieser Sätze erstreckte sich von den Fabliaux, den kurzen Verserzählungen aus dem Mittelalter (in der sechsten Klasse), bis zu Sartre (in der Abiturklasse), und so schritten die Schüler von Ysengrmus, einer Vorform des »Fuchsromans«, zu Rabelais' Gargantua und Pantagruel, vom Flüßchen Lyre bei Joachim Du Bellay bis hin zum »Quand vous serez, bien vteille...< - »So seh ich künftig dich: die Kerze brennt, und alt sitzest...« - bei Ronsard, nahmen im Vorübergehen Montaignes Betrachtungen über die Freundschaft mit, ebenso wie Descartes' »cogito ergo sum< oder Pascals Ausspruch vom »Vinfiniment grandet rinfinimentpetit...< - vom »unendlich Großen und unendlich Kleinen...«. Dann kam »Mais qu' allait-il faire dans cettegalere...« - Molieres verzweifelter Ausruf: »Was zum Teufel hatte der Scapin auf jener Galeere zu suchen?« -und führte zu Corneilles Cid und der berühmten Frage »Rodrigue, as-tu du cceur?«, ob Rodrigo Mut hätte, oder zur Betrachtung des Sonnenauf- und -Untergangs, »sans que jamais Titus puisse voir Berenice...«, ohne daß Titus je Berenice sehen konnte. Dann entdeckte man Rousseaus Gesellschaftsvertrag und »zermalmte« - mit Voltaire - »die Kirche«, bei Montesquieus  Persischen Briefen angelangt, fragte man sich, wie man Perser sein könne, bei Beaumarchais verheiratete man Figaro, und während der Revolution begrub man einen König; dann mußte man mit Victor Hugo abwarten, daß - in Anspielung auf sein Geburtsjahr 1802 -»dieses Jahrhundert zwei Jahre alt« war, um darauf Balzacs Eugenie Grandet, Flauberts Madame Bovary und Zolas Gervaise zu bedauern und schließlich in Stendhals Roman Rot und Schwarz vor Julien Sorels engem Wams aus rotem Tuch in Rührung zu verfallen. Unterdessen hatte Lamartine »den unbelebten Gegenständen eine Seele eingehaucht«, mit Rimbaud konnte man »unter den  Linden nicht ernst bleiben«, und sein Trunkenes Schiff ließ einen endlich keuchend und außer Atem die Ufer des zwanzigsten Jahrhunderts erreichen. Wir waren »das lebendige Resultat all dessen« geworden, »was die unendliche Vergangenheit in übereinanderliegenden Schichten geduldig deponiert hat... Überreste, Amalgamierungen, Additionen, Vermengungen.« Vor allem aber - wir waren uns dessen bewußt. Wir hatten Frankreich in uns aufgesogen, hatten mehr oder weniger seine Träume und seine Alpträume in uns aufgesogen. Und wir hatten zu Frankreich eine Beziehung privater Natur.
Unter anderem sind es wahrscheinlich die Homogenität und Kohärenz dieses kulturellen Gepäcks sowie der vertraute Umgang damit, die den Franzosen in den sechziger und siebziger Jahren einen solchen Gleichmut verliehen.
Dieser stützte sich jedoch noch auf eine weitere Besonderheit der Gesellschaft, die in Deutschland gleichfalls weniger ausgeprägt ist: die Bedeutung des Kinos als Ausdrucksmittel. Dialoge wie »atmosphere, atmosphere! in den Kindern des Olymp, »bizarre, bizarre...«in Ein sonderbarer Fall oder »fas de beauxyeux, tu sais...«'m Hafen im Nebel - alles Filme von Marcel Carne - dienten als verborgene Zeichen; man begegnete ihnen in abgewandelter Form in Zeitungsüberschriften, Werbespots und in Erklärungen von Politikern wieder. Obwohl sich das Kino »globalisiert« hat, lebt diese Art des private joke auf nationaler Ebene fort. (Allerdings muß man sagen, daß Deutschland mit seinem föderativen System anstelle von nationalen durchaus seine private jokes auf Länderebene hat.) Dasselbe läßt sich aber auch bei den Liedern beobachten: »L'Assemblee n'est pas un cactus<, daß »die Nationalversammlung kein >Kaktus<« sei - eine Anspielung von Raymond Barre auf ein bekanntes Chanson von Jacques Dutronc - dafür gibt es im Bundestag kaum etwas Entsprechendes, es sei denn ein Bibelzitat.
Kurz und gut, die Beziehung des Durchschnittsfranzosen zu seiner nationalen Gemeinschaft ist ungleich verinnerlichter und gleichsam körperlicher als die der deutschen Linken, für die die Nation gemeinhin ausgedient hat und, blutleer und ohne Substanz, nur noch vor sich hin dümpelt.
Das Paradoxe aber ist, daß die deutsche Rechte demgegenüber einen Begriff von der Nation hat, der nach französischem Geschmack allzu körperhaft ist. Für diese Politiker setzt sich die Nation ganz schlicht und einfach aus ihren unterschiedlichen ethnischen Bestandteilen zusammen. Ohne Zögern sprechen sie von »Stämmen«, aus denen Deutschland gebildet ist. Die Nation in ihren Stämmen heißt es bei ihnen (so wie in der Kirche von Christus »in seiner Herrlichkeit« die Rede ist). Der Begriff scheint ihnen nicht im entferntesten überholt, und die Ablehnung, auf die er in Frankreich stößt, wo der Begriff archaischen gesellschaftlichen Strukturen vorbehalten ist, mag für sie unverständlich sein. So spricht man in Bayern üblicherweise von den »drei Stämmen«, aus denen es sich zusammensetzt - den Bayern, den Schwaben und den Franken - zu denen noch der Stamm der Sudetendeutschen hinzukommt, seitdem sich nach dem Potsdamer Abkommen von 1945 zwei Millionen von ihnen in Bayern niedergelassen haben. Von daher die rituelle Erwähnung der »vier Stämme«, wenn vom Land Bayern die Rede ist.
Genau besehen ist diese Verschmelzung des Begriffs der Nation mit dem Volk und seinen Stämmen durchaus verständlich, in einem Land, in dem die Bindung an ein Territorium seit jeher recht lose war.
Für den französischen Schüler hat sich Frankreich im Laufe der Jahrhunderte durch die Ansammlung von Regionen herausgebildet. Die großen Momente dieses Puzzlespiels sind ihm im Gedächtnis geblieben: Aquitanien, heiß und verlockend, weil Ludwig VII. Eleonore von Aquitanien geheiratet hat (und warum war er so töricht, seine Frau zu verstoßen?); die Bretagne, meerumspült, salzig, windig und keltisch, weil Ludwig XII. Anne de Bretagne heiratet; und die Provence, trocken, lichtdurchflutet, duftend, die sich brüstet, sich 1481, nach dem Tod des Königs Rene, Frankreich in die Arme geworfen zu haben. Ganz zu schweigen von Savoyen oder Elsaß-Lothringen.
Nichts dergleichen in Deutschland, wo die gewählten Kaiser gezwungen waren, sich ihre Krone aus Rom zu holen. »Ist Ihnen schon einmal aufgefallen«, fragte mich ein befreundeter Historiker vor einiger Zeit, »wie häufig die Regierungszeit der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, verglichen mit den Kapetingern, nur von kurzer Dauer war? Ich bin sicher, daß die Reise nach Rom ihre Kräfte erschöpft hat. In jener Zeit die Alpen zu überqueren, das müssen Sie sich mal vorstellen...!« Jedenfalls hielt sie das davon ab, sich um die nationale Einheit zu kümmern; um sie zu vollziehen, bedurfte es erst der Preußen. Ansonsten war das einzige Band, das alle diese »deutschen« Gebiete einte, in der Tat jenes Volk, das deutsch sprach und an das sich Luther in seinem Brief »an die deutsche Nation« wandte, oder auch dasjenige, das in der deutschen Bezeichnung des Heiligen Römischen Reiches auftaucht: »das Heilige Römische Reich deutscher Nation«. Was in Frankreich die Könige vollbrachten, hat in Deutschland auf seine Weise das Volk tun müssen. Aus der Tatsache, daß Deutschland also kein staatliches Territorium war, ergibt sich ganz natürlich, daß die deutsche Nationalität nicht vom Bodenrecht, ius soli, sondern vom Blutrecht, ius sanguinis, ausgeht. Und eben dieser Unterschied belastet seit Hunderten von Jahren die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland (man braucht nur an Mommsen und Fustel de Coulanges zu denken), wenn es heute gilt, beide Länder dazu zu bewegen, Seite an Seite in der Europäischen Union zusammenzuleben.
Auf der Grundlage einer solchen, für die deutsche Rechte völlig plausiblen ethnischen Konzeption schart sie folglich all jene um sich, die danach streben, der Nation wieder einen Sinn zu verleihen, ihr ihren Schatten zurückzukaufen und sie in ihren Mythen und Phantasmen wieder auferstehen zu lassen. Und die Linke läuft Gefahr, tatenlos mit anzusehen, wie dieses Thema vereinnahmt wird, wobei die ganze Angelegenheit seit der Wiedervereinigung einfacher geworden ist, befindet man sich doch auf dem Weg der Normalisierung. Die Horden deutscher Touristen, die in Thüringen den Kyffhäuser stürmen, der jetzt wieder für jedermann zugänglich ist, schicken ihren Freunden alle die Ansichtskarte mit dem Abbild Friedrich Barbarossas, der hier in einen Zauberschlaf verfallen sein soll. In dem darunter abgedruckten Gedicht heißt es sinngemäß, daß er nicht gestorben sei und sich in seinem Schloß verborgen halte, daß der Glanz seines Reiches wiedererstrahlen werde, wenn die Zeit gekommen sei und die Raben nicht mehr über dem Berg kreisen würden. Aber, so wird man sich fragen, wo steht denn nun Deutschland zwischen diesen so unterschiedlichen Auffassungen von der Nation, zwischen der Rechten und der Linken? Auf diese Frage bekommt man eine ganze Palette unterschiedlichster Antworten zu hören. Vorzugsweise aber zieht man sich auf ein neutrales Terrain zurück; bei der Rechten wie bei der Linken, mithin in allen Schichten der Bevölkerung, wird zumindest eine Sache für sicher, verläßlich und vertrauenerweckend, für ideologisch neutral und also ungefährlich angesehen: die Deutsche Mark, genauer gesagt die soziale Marktwirtschaft - sie ist eigentlicher Sammelpunkt deutscher Identität und Symbol der Nation, sie ist ihre Galionsfigur, ihr Markenzeichen schlechthin.