Februar

1.  FEBRUAR
Die Kältewelle hat auch Deutschland nicht verschont, und mein Briefpartner mit der Sütterlinschrift versäumt es nicht, mir alle Schreckensmeldungen von Obdachlosen, die auf einer Parkbank an Kälte gestorben sind, oder von jungen Mädchen, die am Neujahrsmorgen in einem Flußbett erfroren aufgefunden wurden, zu übermitteln.
Ebensowenig wie an seine viereinhalb Millionen Arbeitslose gewöhnt sich Deutschland an seine 300 000 Obdachlosen.

2. FEBRUAR
Es ist heute nicht gerade warm in Berlin, aber dort, wo sich künftig das neue Regierungsviertel befindet, herrscht gute Stimmung. Man erwartet den Bundeskanzler, der den ersten Spatenstich für den Bau des neuen Bundeskanzleramts ausführen soll.

4. FEBRUAR

Hundertster Geburtstag von Erhard

Seit ein paar Tagen sieht man überall Fotos von Erhard mit der Zigarre im Mund. Man ehrt den Vater der sozialen Marktwirtschaft. Ganz Deutschland gedenkt des Vaters des »Wirtschaftswunders«, der sich übrigens gegen diesen Begriff gewehrt hat, da es sich, wie er meinte, weniger um ein Wunder als »um die Anstrengung eines ganzen Volkes« gehandelt habe.
Seine vertrauenerweckende Art hat nie Bekundungen kultischer Verehrung ausgelöst, doch heute, da Deutschland neuen Zeiten entgegensieht - Ersetzung der dm durch den Euro, quälende Fragen hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, Arbeitslosigkeit - wird die Gestalt Erhards zum
Mythos und seine Amtszeit zum goldenen Zeitalter erklärt.

6. FEBRUAR

Apropos Erhard: Adenauer

Unter den in der Sondernummer des Spiegel abgedruckten Dokumenten ist mir ein handschriftlicher Brief von Adenauer aufgefallen. Er stammt aus dem Jahre 1966 und ist in Sütterlin geschrieben. Was heißt, daß kein Franzose ihn lesen kann - und die meisten Deutschen übrigens ebensowenig, denn 1941 wurde die Sütterlinschrift abgeschafft.
Einer meiner Freunde erinnert sich noch an den Tag, an dem der Lehrer vor der Klasse die Einführung der neuen Schrift verkündete. Das sei notwendig, so erläuterte er, weil Deutschland künftig eine Weltmacht sein würde.

7. FEBRUAR
Schlagzeile in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Dramatischer Einbruch auf dem Arbeitsmarkt - Zahl der Erwerbslosen steigt auf 4,66 Millionen«.
Gestern war auch Weiberfastnacht. Da, wo sie gefeiert wird, also vor allem im Rheinland, übernehmen die Frauen die Macht, vielmehr wird sie ihnen von den Bürgermeistern übergeben, und so begrüßen sie, als Hexen verkleidet und mit Riesenscheren bewaffnet, vom Balkon des Rathauses herab ihr Volk, wie es überall auf den Zeitungsbildern zu sehen ist.
Zur Arbeit erscheinen die Frauen in diesen Tagen allerdings in der Regel nicht vermummt, dafür schneiden sie in der allseits herrschenden Ausgelassenheit den Männern die Schlipse ab, ohne daß sich jemand darüber aufregt. Ich sehe noch die versteinerte und gequälte Miene eines Italieners vor mir, der mit einer Delegation ein großes Unternehmen in Süddeutschland besichtigte, als seinen hocheleganten Schlips das gleiche Los traf. Dabei hatte man ihm geraten, einen ausrangierten umzubinden, was er, die Gefahr unterschätzend, jedoch nicht getan hatte.

8. FEBRUAR
In Süddeutschland gibt es alle möglichen Formen der Fastnacht. Viele zeichnen sich durch einen starken Hang zum Grotesken aus, woran ich als ordentliche Französin wenig Gefallen finde. Ich habe stets mit Erstaunen, ja mit einem gewissen Unbehagen beobachtet, wie sich meine Freundinnen von der Universität, wenn wir zu derartigen Festen gingen, ohne zu zaudern regelrecht verunstaltet haben.
Doch ich kenne eine Fastnacht von ganz besonderem Zauber, das ist die Fastnacht im Schwarzwald, namentlich in Freiburg, wo die Tradition der Vermummung bis ins Mittelalter zurückgeht. Sie besteht aus einer Art Überwurf, der den ganzen Körper einschließlich des Kopfes mit kleinen, zum Teil mit Glöckchen versehenen Holzplättchen bedeckt und den Träger in eine Art Papageno verwandelt. Eine solche Silhouette in einer Gasse der Altstadt nach dem Fest im Frühnebel auftauchen zu sehen hat etwas Magisches.
Dieselbe Empfindung des Wundersamen verspürt man auf der Basler Fastnacht, die sich nachts in völliger Dunkelheit abspielt und wo die einzelnen Zünfte an den verschiedensten Stellen der Stadt aufeinandertreffen. Allein die Kerzen, die die Querpfeifer und Trommler auf dem Kopf tragen, werfen schwankende Schatten, und die schrillen Töne der Instrumente versetzen die ganze Stadt nach und nach in einen Trancezustand, der an die Magie des Rattenfängers von Hameln erinnert, dank Glühwein und Würstchen freilich weniger düster.
Um sich eine Vorstellung von der Organisation zu machen, die derartige Festlichkeiten erfordern, braucht man nur zu wissen, daß mehr als 12 000 Menschen an diesem nächtlichen Umzug, auf den man sich das ganze Jahr über vorbereitet, beteiligt gewesen sind.
Jetzt, da ich mich vorwiegend in Ostdeutschland aufhalte, wo es all diese Fastnachtstraditionen nicht gibt, trauere ich ihnen ein wenig nach.

10. FEBRUAR
Letzte Ausläufer der Kontroverse, die im vergangenen Herbst in der Presse entflammt war und zum ersten Mal seit dem Referendum über den Euro in Frankreich einen wirklichen Dialog zwischen den Medien in Frankreich und Deutschland in Gang gesetzt hatte. Helmut Schmidt, Giscard d'Estaing und Hans Tietmeyer hatten sich in der französischen wie in der deutschen Presse erbitterte Wortgefechte über den Euro geliefert, wobei die ersteren dem letzteren eine gewisse Finanzmonomanie, einen übersteigerten und für das europäische Gleichgewicht gefährlichen Monetarismus vorwarfen. Ebenso warnten Pierre Bourdieu und Emmanuel Todd in den Zeitungen vor der ökonomistischen Tendenz Deutschlands, und heute hat der nach Großbritannien emigrierte Soziologe Ralf Dahrendorf einen Artikel in der deutschen Presse veröffentlicht, in dem er den Deutschen vorwirft, »ihre wirtschaftlichen Vorurteile mit Vernunft zu verwechseln«.
Immerhin haben die Gedanken die Grenzen überschritten - mitunter auch mit umgekehrten Vorzeichen. Allerdings handelt es sich um sehr »westliche« Auseinandersetzungen.

11. FEBRUAR
Alle deutschen Zeitungen berichten heute über den Sieg der Front National in Vitrolles.
Für sie liegt die Hauptursache - und zugleich ein mildernder Umstand - dieses Erfolgs der extremen Rechten im »Zusammenstoß der Zivilisationen«, in einer Region, in der »während des Algerienkrieges oder danach viele Franzosen, deren Familien im Maghreb lebten (pieds-noirs), eine neue Heimat gefunden« haben; »dorthin strebt auch die Mehrzahl der legalen und illegalen immigres aus Afrika«.
Selbstverständlich werden auch die Arbeitslosigkeit und die Kriminalität erwähnt, die die Gemeinden nicht unter Kontrolle bekommen. Aber dabei hat man die eigenen Dämonen aus den dreißiger Jahren im Kopf.

13.  FEBRUAR

Jagdschloß Hubertusstock

Vom gestrigen kurzen Aufenthalt in der Schorfheide bleibt mir nur diese häßliche Ansichtskarte. Unter dem Foto mit einer Art Lustschlößchen steht in gelben Buchstaben: Hubertusstock Jagdschloß.
Es handelt sich in der Tat um den Jagdsitz der Hohenzollern, vielmehr um das, was nach den durch die Kriege und die DDR angerichteten Verheerungen und nach der Umgestaltung gemäß den touristischen Bedürfnissen der modernen Bundesrepublik davon noch übriggeblieben ist.
Ich bin gestern nicht zufällig hierher gekommen. In einem Buch Christian von Krockows hatte ich gelesen, daß man das Schloß zu einem Hotel umgebaut habe. Krockow ist der moderne Barde Ostdeutschlands, der mit ebensoviel Charme wie Wissen die Vergangenheit dieser Regionen für seine Landsleute wieder aufleben läßt (und um dessen Bücher man sich reißt). Die Idee, dort essen zu gehen, war um so verlockender, da ich mich noch sehr gut erinnerte, vor etwa fünfzehn Jahren von diesem Schloß gehört zu haben, als Erich Honecker, Staatsoberhaupt der DDR, beziehungsweise »Staatsratsvorsitzender«, dort Helmut Schmidt empfangen hatte. Ich war damals verblüfft über die Flut von ganzseitigen Artikeln in der westdeutschen Presse, die sich in minutiösen, mit detaillierten Karten belegten Beschreibungen der Schorfheide und des Werbellinsees ergingen. Der Ton der Artikel war beeindruckend für einen Franzosen: Man spürte darin solch eine unterdrückte Sehnsucht - natürlich in erster Linie in konservativen Blättern wie »Die Welt«. Vor allem die Wochenendausgaben hatten sich auf dieses Thema gestürzt.
Nun waren wir also da. Es herrschte jene gepflegte, ein wenig pomphafte Atmosphäre, die man in solchen Gegenden häufig antrifft und die dem, was ursprünglich ländlich war, etwas Vorstädtisches verleiht. Ein Landschloß hat seinen Charme, aber ein Vorstadtschloß?
Voller Neugier hatte ich mich über die Fotos und Kupferstiche hergemacht, die das Foyer schmückten. Mir waren sämtliche Jagdhüter und Forstaufseher, alle Jagdtrophäen und alle Fotos vom »Verblasen« des Wilds am Ende der Jagd vergönnt, aber beim dritten Leibjäger* (*Der Leibarzt ist der persönliche Arzt, der Leibwächter der persönliche Wächter und der Leibjäger der persönliche Jäger eines Herrschers.) Friedrich Wilhelms IV, bei der vierten Jagdtrophäe Wilhelms II konnte ich nicht mehr an mich halten und schritt zur Rezeption. Etwas zögernd räusperte ich mich, und mit meinem aller-reizendsten französischen Akzent fragte ich die ein wenig streng wirkende, hellblonde junge Frau am Empfang: »Verzeihung, ich suche bestimmte Fotos, wenn mich nicht alles täuscht, ist das hier der Ort, wohin Honecker hin und wieder zum Jagen kam und wo er Helmut Schmidt empfangen hat?«
Aber ach, die neutrale Haltung, die mein Akzent bekunden sollte, um dieses, wie ich spürte, heikle Thema anschneiden zu können, reichte nicht aus. Ohne mich anzusehen, beschied mir die Walterin der Örtlichkeiten kurz angebunden: »Auf solche Erinnerungsstücke legen wir keinen Wert«, womit sie sich rasch abwandte. Verzweifelt versuchte ich, den Kontakt zwischen den Völkern wiederherzustellen, indem ich sagte, daß für die Franzosen die Geschichte..., wir hätten viel Schlimmeres hinter uns... die Revolution... Verlorene Liebesmüh. Ich ging und setzte mich zu Tisch.
Aber nach dem Essen beschloß ich, da ich bei der jungen Frau ohnehin verspielt hatte, mich nun endgültig ihrer Mißbilligung auszusetzen. »Sagen Sie«, wandte ich mich wieder an sie, »kam Göring nicht auch hierher zur Jagd? Wie lange braucht man mit dem Auto bis zu seinem Haus, Karinhall? Kann man es besichtigen?«
»Es lohnt sich nicht, dort hinzufahren, da gibt es nichts mehr zu sehen«, lautete die bewundernswert beherrschte Antwort.
Damit hatte sie recht. Im Frühjahr 1945 hat die SS Karinhall gesprengt. Von diesem legendären Ort, der die Vorstellungskraft der Zeitgenossen so stark beschäftigt hat, ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Göring hatte zur Erinnerung an Karin, seine erste Frau, die schwedischer Herkunft war, eine Art gotisches Monument errichten lassen, wo er mit seiner zweiten Frau residierte und eine buntgewürfelte, dank der Wehrmacht aus allen Ecken Europas zusammengetragene Menge wunderbarer Kunstgegenstände  anhäufte.  Krockow gibt Beschreibungen von Augenzeugen wider, die sich an die Fackeln in den Gängen von Karinhall, an die Jagdtrophäen, die Geweihe und ausgestopften Tierköpfe erinnern, an Frau Göring im langen weißen Gewand, wie sie zerstreut einen jungen Löwen krault, und, die Hand schützend über die Augen gelegt, mit herrschaftlichem Blick in die Ferne schaut. Michel Tournier hat diesen Lebensstil in seinen Romanen immer wieder ausgemalt, und Jean Francois-Poncet erzählt gerne, daß er - auf den Knien Görings sitzend - noch den Anblick der gewaltigen Schienen der Modelleisenbahn, die ganze Leidenschaft des Hausherren, vor Augen hat.
Hat die junge Frau recht, wenn sie von alldem nichts mehr wissen will? Macht der Umstand, daß Erich Honecker zehn Jahre in Görings Kerkern zugebracht hat, aus denen er 1945 von der Roten Armee befreit wurde, die Vergangenheit derart kompliziert, daß sie dieses Kapitel lieber für abgeschlossen erklärt, ohne einen Blick zurückzuwerfen?
Nun denn, das einzig Bleibende an dieser Geschichte ist demnach die Jagd. Gleich unter welcher Herrschaft, in der Schorfheide, diesem Jagdrevier, das wegen seines reichen, durch unwandelbare Traditionen sorgsam gehüteten Wildbestands in ganz Europa zu Recht berühmt ist, wird noch immer auf dieselbe Weise gejagt. Wilhelm II, Otto Braun, Göring oder Honecker, sie alle mögen jenes magische Wort vernommen haben, das auf der wie eh und je feudalistischen deutschen Jagd ertönt: >Waidmannsheil<.
Die Geschäftsleute, die hier vom Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg, Manfred Stolpe, eingeladen sind, wissen es jedenfalls zu schätzen.

14. FEBRUAR
Noch so eines dieser unübersetzbaren Wörter, das im Zusammenhang mit den Sudetendeutschen aufgetaucht ist: Heimatrecht.
Nachdem die Erklärung bereits unterzeichnet war, zog Waigel die Schlußfolgerung, es sei ja alles gut und schön, für die Zukunft müsse man aber eine Situation anstreben, in der jeder sein Heimatrecht wiedererlangen könnte, das Recht auf seinen Heimatboden, auf die Erde seiner Vorfahren, auf das Dorf seiner Kindheit, auf das Heim, in dem er das Licht der Welt erblickt hat, auf was weiß ich...
Ein völlig apolitischer Begriff.

15. FEBRUAR
»Warum machen die Sudetendeutschen ein solches Theater?« fragt mich ein Freund aus Pommern (er stammt von der anderen Seite der Oder und Neiße, die jetzt definitiv polnisch ist). »Sie waren doch nicht einmal Reichsdeutsche in den Grenzen von 1937, wir dagegen haben in den Grenzen von 1937 gelebt.
Wir akzeptieren doch auch, daß der von Hitler verursachte Krieg die Ursache für den Verlust unserer Heimat ist. Warum sie nicht?«

17. FEBRUAR
Eine deutsche Freundin ist am Telefon. Ihre Stimme scheint zu zittern.
Sie hat die Unvorsichtigkeit begangen, einen Franzosen zu heiraten (der obendrein noch schlecht deutsch spricht). Und zu allem Unglück tätigt er in Deutschland Geschäfte und hatte die glänzende Idee, sie bei einigen Verträgen um ihre Hilfe anzugehen.
Sie ist keine Juristin, sie hat gerade eine sehr schöne Doktorarbeit abgeschlossen. Sie bittet mich am Telefon, ich möge ihrem Mann erklären, daß sie nicht, wie er anzunehmen scheint, etwas zurückgeblieben sei, sondern daß vielmehr die Rechtssprache in Deutschland noch weiter entfernt von der Alltagssprache sei als bei uns.
Ich tue mein Bestes, um ihrem Mann diese deutsche Eigenart zu erklären. Leider Gottes bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn wirklich überzeugt habe. So schwer ist es, sich vorzustellen, daß die Dinge woanders anders sein könnten.

18. FEBRUAR

Goldhagen

Als ich heute in Paris die Zeitung aufschlage, muß ich wieder an das Jagdschloß mit dem unaussprechlichen Namen »Hubertusstock Jagdschloß« denken und an jene Gegenden, die, obgleich sie doch jetzt so nahe an Berlin herangerückt sind, sehr provinziell und verloren wirken, und ich frage mich, wie sie dort wohl auf ein typisch westliches Produkt, das plötzlich in ihr Leben eindringt, reagieren mögen: auf das Buch von Goldhagen, von dem in den Seiten, die ich vor mir habe, gerade die Rede ist.
Der Erfolg des Buches ist ungewöhnlich. Goldhagen veranstaltet eine regelrechte Startournee durch die europäischen Universitäten. Überall drängen sich die Massen, um ihn von »Hitlers willigen Vollstreckern« reden zu hören, vor allem in Deutschland. Sie lauschen seinen Erklärungen, daß der deutsche Antisemitismus besonders »eliminatorisch« sei, daß das ganze deutsche Volk nichts sehnlicher gewünscht habe, als die Juden auszurotten, und daß Hitler und die Nazis lediglich eine Art Katalysator dieses Ausrottungsstrebens gewesen wären.
Es ist ein fesselndes Buch, von der ersten bis zur letzten Seite: Mit einer Unmenge an Details schildert es die Nazi-Maschinerie und deren Perversität. Besser als ein Roman läßt es jede Szene lebendig werden. Wie fasziniert vom Grauen, verfolgt man den Holocaust Seite für Seite; es ist fast unmöglich, sich davon loszureißen.
Liegt es am Erzähltalent des Autors, daß das Publikum in eine solche Begeisterung versetzt wird?
Die Historiker dagegen sind einhellig der Auffassung, daß das Buch nichts Neues zum Thema beiträgt. In erster Linie beschreibt das Buch, aber es erklärt nichts, bemerkt Francois Furet in dem Artikel, den ich gerade lese. Keinerlei Bemühen, die Dinge in einen politischen Kontext zu stellen, der ein Schlüssel sein könnte, bedauert Rudolf von Thadden; kein Nachdenken über die Rolle des Krieges - Auschwitz beispielsweise wäre in den dreißiger Jahren, ohne die Verhärtung, die mit der Brutalität des Krieges eingetreten ist, nicht möglich gewesen; kein Nachdenken über die Grundlagen des deutschen Antisemitismus: die Identitätsängste eines Volkes, zu spät zu einer Nation geworden, durch die Trennung zwischen Katholiken und Protestanten an die religiöse Spaltung gewöhnt und unfähig, fremde Identitäten ohne neurotische Aggressivität zu integrieren usw. Nein wahrhaftig, die in den Nachsechzigern geborenen jungen Leute, die Goldhagen am stärksten zujubeln, scheinen auf das Buch nur unter dem einen Gesichtspunkt zu reagieren: dem der moralischen Entrüstung, der Betroffenheit, der Reduzierung der Geschichte auf das Individuum.
Mein Au-pair-Mädchen dagegen möchte das Buch lieber gar nicht erst lesen, und ich kann sie gut verstehen: Wie soll man dieses Drama auch ertragen, das in all seinen unzähligen Episoden und Facetten (Goldhagen erspart uns nichts) vor uns ausgebreitet wird, wenn man nur auf die eigenen individuellen Kräfte angewiesen ist, ohne sich auf umfassende historische und politische Erklärungsmuster stützen zu können? Man kann irre darüber werden; oder aber man muß das Buch lesen, wie es einige ihrer Freunde tun, als eine Katharsis ähnlich der, wie sie sie bei den von ihrer Generation so geliebten Horrorfilmen erleben.
Ich konstatiere jedenfalls mit Freuden, daß das Buch von Goldhagen in Frankreich den geringsten Erfolg hat. Francois Furet bemerkt, daß Goldhagen, wenn er auch zu Recht die Frage nach dem »Rätsel des Holocaust« stellt, »nach der Ursache dafür, daß Menschen, Bürger eines der höchstzivilisierten Länder der Erde mit soviel Kaltblütigkeit und Grausamkeit Millionen von Juden ermordet haben«, darauf doch in keiner Weise eine Antwort gibt. Und Alfred Grosser verwahrt sich gegen jegliche Kollektiverklärung oder Kollektivschuld.
Ich frage mich indes, was wohl die Einwohner von Ludwigsfelde, dem Städtchen in der Nähe von Genshagen, empfinden mögen; sie, die mit solchen Problemen nie etwas zu tun hatten, da sie ja per definitionem auf der »richtigen Seite der Geschichte« standen, vom »Fortschritt der Geschichte« geschützt.
Grausames Erwachen.

21.  FEBRUAR
Heute im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelesen: »Handel: Einkauf in Ostdeutschland verdoppeln.«
»Die Spitzenunternehmen des Handels haben in einem Gespräch mit Bundeskanzler Helmut Kohl, Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt (FDP) und Kanzleramtsminister Friedrich Bohl (CDU) in Bonn zugesagt, den Einkauf von Konsumgütern bei ostdeutschen Herstellern bis Ende 1998 gegenüber dem Niveau des Jahres 1995 zu verdoppeln. Das gelte besonders für den Bezug von Nahrungsmitteln, sagte Bohl. Bei anderen Waren hänge es auch von der Lieferfähigkeit der ostdeutschen Produzenten ab, inwieweit von diesen Gütern mehr in westdeutsche Regale gelangen könnten.«
Man hat den Eindruck, daß alles nach dem Prinzip einer Weihnachtspyramide funktioniert: »Der Handel« beschließt, »seine Einkäufe in Ostdeutschland zu verdoppeln«. Das ist eine Variante dessen, was Dahrendorf die »Wachskugel« nennt, die in Deutschland Banken, Industrie, Regierung und Gewerkschaften miteinander verschmelzen läßt.
Eine deutsche Freundin, der ich mein Erstaunen darüber gestehe, lacht jedoch nur: »Das wirkt auf dich genauso wie auf mich, wenn ich höre, daß sich euer Präsident auf allen Fernsehkanälen >an die Franzosen< wendete. Das ist eure Art der Verbrüderung, euer >Zentralismus< ist eure >Wachskugel<.«

22.  FEBRUAR

Kerzendorf

Es ist nicht weit von Genshagen entfernt, auch nicht vom neuen Gewerbegebiet Brandenburg Park mit seinem McDonald's-Zeichen, das hier, gut zehn Kilometer südlich von Berlin, stolz in den hellen, fahlen Himmel der Mark Brandenburg ragt. Man kann sich in der Tat gut vorstellen, wie die Genshagener Schloßherren in Vorkriegszeiten den Kerzendorfern einen Besuch abstatteten. Zu Pferde ist das eine Sache von zehn Minuten, und das Türmchen am Dach von Schloß Genshagen ist in dieser gänzlich flachen Landschaft, die von endlosen Baumalleen beherrscht wird, schon von weither zu erkennen.
Umgekehrt ist es jedoch nicht so. Für den Weg nach Kerzendorf gibt es keinerlei Anhaltspunkt, denn vom Schloß ist nichts mehr übriggeblieben.
Ich kannte die Geschichte von Kerzendorf durch ein Buch von Lally Horstmann, >Kein Grund für Tränen<. Die Autorin, eine junge Berlinerin, war mit einem Diplomaten und Kunstliebhaber verheiratet, der 1933 den diplomatischen Dienst quittierte - unter anderem weil seine Frau Lally jüdische Vorfahren hatte - und der sich konstant weigerte, sich scheiden zu lassen oder zu emigrieren. In ihren Erinnerungen beschreibt sie nicht nur die letzten Kriegsjahre - das haben gleich ihr viele getan, so ist Missie Wassiltschikow mit ihren Berliner Tagebüchern in dieser Hinsicht vielleicht interessanter -, sondern auch die ersten Jahre nach dem Krieg, was besonders aufschlußreich ist, da es darüber weitaus weniger Zeugnisse gibt.
Der Alltag unter der russischen Besatzung, die Tatsachen, die geschaffen werden - die westlichen Allierten besetzen nur einige Teile von Berlin -, die Entscheidung, trotzdem dort, wo sie auf Gedeih und Verderb der Willkür der Russen ausgeliefert wären, zu bleiben, weil sie eine bestimmte Lebensweise, eine Landschaft und ebenso die vor dem Krieg sorgsam versteckten Kunstsammlungen nicht aufgeben wollen, die man immer noch wiederzufinden hofft, auch wenn die Bombenangriffe der Alliierten das Schloß bereits in eine Ruine verwandelt und die russischen Panzer die Landschaft derart verändert haben, daß die Verstecke unter dem aufgewühlten Boden verschwunden sind...
Ihr Verhältnis zu den russischen Kommandanten, die sich in dem Dorf bei Ludwigsfelde einquartiert haben, ist wechselhaft, ihre Abstempelung zum »Klassenfeind« immer schwerer zu ertragen; regelmäßig, vornehmlich nachts, werden sie von Soldatenbanden überfallen, deren Vorgehen von den Vorgesetzten, die von nichts wissen wollen, gedeckt wird; die Nahrungsbeschaffung wird zur ständigen Hauptsorge..., doch sie bleiben. Bis zu dem Tag, da Lallys Mann verschwindet, nachdem man ihn »wegen eines Verhörs«, von dem er nicht zurückkehrt, verhaftet hatte. Es dauert mehrere Jahre, bis Lally Horstmann, die daraufhin sofort die künftige DDR verläßt, erfährt, daß ihr Mann, dessen Gesundheit ohnehin schon angegriffen war, vermutlich infolge von Hunger und Erschöpfung in einem von den Russen umfunktionierten faschistischen Konzentrationslager - wie es mit vielen dieser Lager geschah - gestorben ist.
In Ravensbrück war er nur ein paar Kilometer von ihr entfernt, doch selbst die guten Beziehungen, die das Paar zu einigen amerikanischen Offizieren hatte, reichten nicht aus, auf die Russen den entsprechenden Druck auszuüben und seine Freilassung zu erwirken.
Er war bei den Russen nicht gut angesehen; da er Hitler die Gefolgschaft verweigert hatte, war er für sie keine vertrauenswürdige Person. Während des Dritten Reichs Widerstand geleistet zu haben war nicht immer ein ausreichender Grund, um der Verhaftung oder Enteignung zu entgehen. In den Augen der Politkommissare zählte die Klassenzugehörigkeit mehr als der Widerstand.
Um eben dieser Geschichte willen zog es mich nach Kerzendorf; und daß ich die Enkelin von Lally von ihrer Studienzeit in Freiburg im Breisgau her gut kannte, erhöhte noch den Reiz dieser Pilgerfahrt. Sie hatte viel von der Anmut ihrer Großmutter geerbt, jener Anmut, die Rainer Maria Rilke ganz offensichtlich bezaubert hatte, wenn man ihrem Briefwechsel im Sanatorium von Val Mont aus dem Jahre 1926 Glauben schenken soll, und ich bewahre eine wunderbare Erinnerung an die Festlichkeiten anläßlich ihrer Hochzeit auf einem Landsitz bei Trier, wo Wein angebaut wurde, im Deutschland Anfang der siebziger Jahre.
Genshagen und unsere Arbeit am Institut hatten mich auf die Spuren jener Vergangenheit geführt.
Nachdem wir rechts in eine kleine Landstraße abgebogen waren, erreichten wir Kerzendorf, ein Dorf, wo noch die Kirche und ein paar Häuser stehen und wo sich ein ziemlich weites Gelände mit, wie die Ostdeutschen sagen, »Datschen«, also Schrebergärten mit einer Laube darin, erstreckt. Vor zwei hochragenden Pfeilern aus behauenem Stein, in die ein hin und her schlagendes, verrostetes Tor eingelassen war, stellten wir das Auto ab und versuchten, in dieser Wüstenei die Vergangenheit zu rekonstruieren. Wir stiegen auf eine kleine Erhebung, von der aus wir uns einen besseren Überblick verschaffen konnten..., bis es uns schließlich zur Gewißheit wurde: Wir befanden uns über dem oder im Schloß, vielmehr in dem, was davon geblieben war. Seit mehr als vierzig Jahren hatten sich auf diesem kleinen Ruinenhügel Bäume ausgebreitet, ringsum war alles von Gras überwuchert. Aber rechter Hand, in einer Art Graben, waren ganz deutlich Küchenfliesen zu erkennen..., und bei diesem kleinen Spielplatz mit den zwei Fußballtoren mußte der Park anfangen; und da links die Häuser mußten die ehemaligen Wirtschaftsgebäude sein. Wir blieben schweigend ein paar Minuten stehen, angesichts einer solchen Machtdemonstration der Natur. Wenn man die »Datschen« auf der rechten Seite etwas genauer betrachtete, entdeckte man zwischen den Lauben mal hier, mal dort eine reizende neoklassizistische Säule oder eine Venusstatue, die, eingerahmt von Mohrrübenbeeten, einen weit herzzerreißenderen Anblick boten als alle Ruinen von Hubert Robert, alle Faune von Verlaine, Musset, Rimbaud oder Lamartine zusammen.
Ich wollte dichter herangehen, aber die DDR hielt hier in Gestalt eines verrosteten alten Schildes noch Wache, in dem unnachahmlichen Stil dieses Ex-Landes verkündete es: Unbefugten ist das Betreten, Befahren und die bildliche Darstellung verboten. Zuwiderhandlungen werden bestraft. Der Eigentümer der Venus-Datscha hatte zudem eine Absperrung errichtet. Die Venus habe ich nur von hinten gesehen.
Bevor wir losfuhren, wollten wir vom Eingangstor aus einen letzten Blick auf das Ganze werfen, aber als wir näher kamen, stießen wir auf eine andere Art von Hindernis. Zwei funkelnagelneue, riesige Lastzüge, vom Typ jener Kolosse, die jetzt von West nach Ost quer durch Europa ziehen, achtundvierzig Stunden an der Grenze in Frankfurt an der Oder warten, bevor sie sich wieder in östliche Gefilde auf den Weg machen, hatten diese Stelle als Parkplatz auserkoren. Auf den einen waren fein säuberlich zwei prachtvolle deutsche Flaggen in leuchtendem Schwarz-Rot-Gold gemalt, und zwischen diesen patriotischen Bekenntnissen stand geschrieben: »King of the road«.
Lally Horstmann hat ein schönes Buch geschrieben, aber sie hat nicht ganz recht: Es gibt trotz alledem einen Grund für Tränen.

23. FEBRUAR

George Forestier

Nach dem Foto zu urteilen, sieht er ganz normal aus: Man würde ihn für den Familienvater aus einer amerikanischen Serie der fünfziger Jahre halten. Doch der Dichter George Forestier, 1921 im Elsaß nahe Colmar geboren, Sohn eines Franzosen und einer Deutschen, hat ein bewegtes Leben hinter sich.
Mit zwanzig Jahren Freiwilliger in der Wehrmacht, wird er sofort an die russische Front geschickt, der Krieg endet für ihn jedoch in amerikanischer Gefangenschaft; es gelingt ihm, nach Frankreich zu fliehen, wo er sich umgehend zur Fremdenlegion meldet, mit der er nach Indochina geht.
Im Jahre 1951 verlieren sich seine Spuren. Seine letzten Gedichte findet man später in einem alten Heft wieder (das er wortlos einem Kameraden übergeben hatte, bevor er zu einer besonders gefährlichen Mission aufbrach...)
Seine Verse haben im Deutschland der fünfziger Jahre einen außerordentlichen Erfolg:
»Ich schreibe meinen Schmerz in den Staub der Straße,
vom Ural bis zur Sierra Nevada, von Yokohama bis zum Kilimandscharo...,«

heißt es ungefähr bei ihm. Das ist gar nicht so übel und enthält alles, was im Deutschland jener Jahre Anlaß zum Träumen gab: die ferne, weite Welt, die verlorenen Söldner der ehemaligen Wehrmacht, den sentimentalen Schmerz, dazu eine gewisse französische Atmosphäre des wagemutigen, riskanten Spiels, insbesondere die prickelnde Lust am Abenteuer der Fremdenlegion. (Letzteres ist bis heute gültig. Die Fremdenlegion, in der man übrigens eine große Anzahl Deutscher findet, übt noch immer eine starke Anziehungskraft aus.)
Der einzige Makel an dieser schönen Geschichte - man wird es schon erraten haben - ist, daß George Forestier ein Betrüger war.
Unter dem Namen Karl Krämer geboren, ist er tatsächlich an der russischen Front gewesen, hat aber nach einer Verwundung den Krieg als Oberbannführer bei der Hitlerjugend beendet - und arbeitete danach in einem Verlag; keine schlechte Idee, um Gedichte zu veröffentlichen. Nachdem der Schwindel aufgedeckt worden war, schrieb er vorwiegend Essays, die jedoch kaum noch zur Kenntnis genommen wurden.
Krämer starb 1987 und hat genügend Erinnerungen hinterlassen, daß man sich anläßlich seines zehnten Todestages an ihn erinnert.

24.  FEBRUAR
Heute brachte das Morgenmagazin im Fernsehen eine sehr lebendige kleine Reportage über die neuen Wintersportgebiete in Böhmen, genauer gesagt im Erzgebirge, dem nördlichen Teil des Sudetenlandes. Weniger teuer und weniger überlaufen, wirkten diese bescheidenen, aber freundlichen Orte sehr einladend. Und man gewann den Eindruck, daß sich die Deutschen dort ganz wie zu Hause fühlen.
Es gibt eine geographische Logik, der man nicht entrinnen kann.

25. FEBRUAR
Ein junges Mädchen aus Tübingen hatte mich aufgesucht.
Sie schrieb eine Seminararbeit über ein Buch, das ich vor längerer Zeit veröffentlicht hatte. Sie war reizend.
Heute ist ihre Arbeit eingetroffen. Von der ersten bis zur letzten Zeile verreißt sie mein armes Büchlein. Nichts findet Gnade vor ihren Augen. Und sie kommt zu dem Schluß:
»Ebenso wie Madame de Stael hat Madame Sauzay nichts von Deutschland begriffen.«
Sie ist, schätze ich, einundzwanzig Jahre alt.
Hin und her gerissen zwischen der Lust, in Lachen auszubrechen oder die Schultern zu zucken, von dem Vergleich trotz allem geschmeichelt, versuche ich mir einen französischen Studenten vorzustellen, der in seiner Abschlußarbeit mit Entschiedenheit behauptet: »Ebenso wie Friedrich Sieburg mit Gott in Frankreich hat Herr X. nichts von Frankreich begriffen.« Unmöglich.
Nur das deutsche Erziehungswesen verleiht eine solche Freiheit, eine solche Sicherheit und Gewißheit, die Wahrheit erlangt zu haben.
Um etwas herauszufinden, genügt es im Grunde fast, die Dinge zu erforschen. Wer sich nur rechtschaffen und vor allem »objektiv« auf die Suche macht, kann gewiß sein, zu einem Resultat zu gelangen, das für sich beanspruchen darf, wahr zu sein.
Glaubwürdiges Suchen ist die Garantie für ein richtiges Ergebnis: die Echtheit des Suchens ist die Garantie für die Wahrheit des Ergebnisses.
Gewiß, diese Fähigkeit, alles mit ganz neuen Augen zu betrachten, den Dingen ohne apriori auf den Grund zu gehen, ist bewundernswert. Sie ist wahrscheinlich eine der großen Stärken des deutschen Denkens, sie kann aber - wie hier - auch sehr komisch wirken.
Es ist jedoch ebenso gewiß, daß im Vergleich dazu das französische Erziehungswesen mit seiner Furcht vor der Lächerlichkeit und seiner Ehrfurcht vor überlieferten, insbesondere intellektuellen Werten etwas verstaubt erscheint.

26. FEBRUAR
Ein neues Thema beschäftigt Bonn. Dabei hat es bereits 1995 und 1996 »Castor«-Transporte gegeben, aber in diesem Jahr hat sich das Klima verändert. Die Dinge haben sich verschlimmert. Vielleicht liegt es am Namen Gorleben? Mit diesem legendären Namen, Synonym für den Widerstand gegen die Atomkraft, verband sich die »Protestbewegung« der achtziger Jahre.
Man hatte gedacht, daß sich die Dinge beruhigt hätten, man hatte die obligaten Demonstrationen und entsprechenden Stellungnahmen von den Grünen erwartet, und nun entzündet sich auf einmal die öffentliche Meinung, weil sechs Transportbehälter mit Atommüll, der im französischen La Hague und in Bayern wiederaufbereitet wurde, nach Niedersachsen, in das Gebiet um Hannover, transportiert und in Gorleben zwischengelagert werden sollen.
(Gorleben ist ein Dutzend Kilometer von der früheren Grenze zur DDR entfernt. Was dachten und was denken wohl die Ostdeutschen darüber? Seltsamerweise gibt es darüber kaum genauere Aussagen.)

27. FEBRUAR
Erste Meldung in den Nachrichten aller deutschen Sender: die Demonstrationen gegen das Debré-Gesetz in Frankreich.
Alles, was das Thema »Ausländer« betrifft, unterscheidet sich so stark voneinander und wird von einem Land zum anderen meistens nur unzureichend vermittelt, daß die Informationen ziemlich verschwommen bleiben.
Wie mögen die Berliner Türken auf diese Nachrichten reagieren? Man hört nie eine Äußerung von ihnen. Interessieren sie sich überhaupt dafür? Gibt es eine Solidarität unter den Immigranten in Europa?

28. FEBRUAR
Das Land ist ganz entschieden auf Kampf eingestellt. »Die Welt« veröffentlicht eine große - fast generalstabsmäßige - Karte mit den Strecken und Daten der Transporte. In Frankreich fand der Castor-Transport von La Hague zur deutschen Grenze im Mai 1996 statt (wovon niemand etwas mitbekommen hat), heute, am 28. Februar, soll nun der Zug in Bayern zusammengestellt werden.
Man rechnet mit Protesten auf dem gesamten Streckenverlauf: mit demontierten Schienen, blockierten Gleisen - die schönen Tage der Achtziger sind zurückgekehrt. Weder die Vermummungen (Totentänze, Atomtechniker) noch die Bemalungen (Totengerippe) und die Pfarrer fehlen.
Der Bundestag hat eine Debatte zum Thema geführt.
Die Koalitionsparteien CDU-CSU halten an den Transporten fest; die SPD betont, daß der Atomausstieg die Energieversorgung in keiner Weise gefährde, da es Überkapazitäten gebe. Die FDP ist der Ansicht, daß Deutschland diese Spitzentechnologie nicht aufgeben dürfe, und für die Grünen betont Joschka Fischer noch einmal, daß es nicht gut sein könne, die Atomkraftwerke weiterhin zu betreiben, solange man das Problem der Entsorgung nicht gelöst hat. Entsorgung, unübersetzbar im Französischen, ist ein allgemeiner Begriff für die Beseitigung von Abfall jeglicher Art.
Die rechten Parteien beschuldigen übrigens die Grünen, sich nicht genügend von der Gewalt zu distanzieren: Verantwortliche aus den Reihen der Grünen hätten dazu aufgerufen, Schienen zu demontieren, und sollen von »Polizeistaat« und »Atomstaat« gesprochen haben.
Die Abfahrt des Zuges ist für den zweiten März vorgesehen, am dritten soll er in Dannenberg eintreffen, am vierten sollen die Container entladen und am fünften in Gorleben in Sicherheit gebracht werden. Man rechnet mit etwa zehntausend Demonstranten.