Vor fast einhundertundfünfzig Jahren hat eine mutige Reformerin und Suffragette verkündet: »Wagemutige Hände erheben sich, um dieses falsche Bild von der Frau von seinem Sockel zu fegen und in Stücke zu schlagen.« [1] Einige fünfzig Jahre später forderte eine andere Verfechterin der Frauenrechte den Sieg: »Hier kommt sie, dem Gefängnis entflohen und dem Sockel entstiegen; ohne Ketten, ohne Krone, ohne Heiligenschein, nur eine lebendige Frau.« [2] Nun, da wir auf das einundzwanzigste Jahrhundert zusteuern, bemerken die Frauen, daß sie sich immer noch sicher auf den Sockeln idealisierter Images befinden. Wenn wir es zulassen, von Images festgelegt zu werden, wissen wir, wie wir uns zu verhalten haben. Wir werden verschont von der Herausforderung, der Verantwortung und der Unklarheit, die Bestandteile in der Gestaltung unseres eigenen Lebens sind. Wir werden wissen, wie die Geschichte endet, ohne jemals das Buch gelesen zu haben. Carolyn Heilbrun hat darauf hingewiesen, daß Frauen auf so etwas wie einen Abschluß warten. [3] Sie warten auf ein monumentales Ereignis, das sie in einen Zustand der Harmonie versetzt, in dem ihr Leben beständig wird, zur Ruhe kommt und nicht mehr den Launen des Zufalls und den zwangsläufigen Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit ergeben, unterworfen ist. Eine Frau sagt sich: »Wenn ich erst verheiratet bin, wird alles in Ordnung sein.« »Wenn ich nur diesen Job bekomme, dann wird alles in Ordnung sein.« »Wenn nur meine Kinder den Hochschulabschluß schaffen, dann wird alles in Ordnung sein.« Dieser Wunsch nach einem Abschluß wird im Laufe des Lebens wie ein Mantra wiederholt, und zwar so oft, daß der Eindruck entsteht, der fortlaufende Einsatz im Erwachsenenleben sei mit Angst besetzt. Sie möchte in der Zeit eingefroren sein, möchte, daß Ereignisse einen Zustand von Harmonie und Homöostase erreichen, um dann sicher in dieser statischen und sich nicht ändernden Lebensweise zu verharren. Indem sie auf einem Sockel sitzt und sich mit einem Image identifiziert, unterliegt eine Frau der Illusion, alles sei zum Abschluß gekommen. Folge nur dem idealen Drehbuch, und alles wird in Ordnung sein. Der Wunsch nach einem Abschluß läßt vermuten, daß viele Frauen verängstigt sind, sich auf die wesentlichen Dinge in ihrem Leben aktiv einzulassen. Wenn wir ein Leben führen wollen, in dem wir uns selbständig fühlen, in dem man wahrhaftig erkennt, wer wir sind, müssen wir aus dem Zustand passiver Teilnahme erwachen, unser Vertrauen in statische Images und Rollen aufkündigen und uns statt dessen auf Lebensthemen konzentrieren, die die vielen Handlungen unserer Erfahrungen miteinander verknüpfen. Was wir tun und wie wir es tun, nicht wer wir sind, muß zum Text unserer Geschichte werden. Die Einschränkungen der Rollen und Kategorien können so stark sein, daß wir gewisse Lebensthemen nur im Rollenkontext verstehen mögen. Wenn wir beginnen, ein Verhalten danach zu beurteilen, ob es einer Rolle angemessen ist oder nicht, dann sagen wir damit, daß eine soziale Kategorie stichhaltiger ist als die aktive Erfahrung einer Frau. Ironischerweise mag genau das gleiche Verhalten bei der einen Frau als durchaus angemessen beurteilt werden, während es bei einer anderen als unangemessen erachtet wird. Wenn z. B eine Frau den Wunsch hat, ein Kind zu haben, stimmen wir ihrem Entschluß beifällig zu, wenn sie in einer heterosexuellen Ehe lebt. Wenn andererseits eine Frau die Möglichkeit in Betracht zieht, Mutter zu werden, und in einer lesbischen Beziehung steht oder eine alleinstehende Frau ist, neigen wir dazu, ihren Entschluß, Mutter zu werden, negativ zu beurteilen. Die Frau wird als egoistisch, eigensinnig und naiv bezeichnet. Den Themen Kreativität und Erziehung wird weniger Gewicht beigemessen als dem Rollenstatus der Frau, die sich ein Kind wünscht. Das Gebären wird oft als ein Synonym für weibliche Kreativität verstanden, dabei ist es aber nur eine Art, dem Thema der Kreativität Ausdruck zu verleihen. Eine Frau, die in einer glücklichen, festen lesbischen Beziehung lebte und nicht die Absicht hatte, schwanger zu werden, kam mit der folgenden Geschichte zu mir: »Ich weiß, Sie denken, es wäre lächerlich, aber ich habe das Gefühl, als ob ich ein Kind bekäme. Nun, zu einer anderen Zeit in meinem Leben habe ich das so verstanden, daß meine biologische Uhr am Ticken ist und ich so schnell wie möglich schwanger werden müsse, aber ich möchte kein Kind, und es geht überhaupt nicht um Babys - es geht um Kreativität. In der letzten Zeit fühlte ich mich, als ob ich ein Bild male oder ein Gedicht schreibe oder ein Lied komponiere. Bis jetzt habe ich nichts getan, es ist nur ein Schaffensdrang, nur Energie.« Sie bezog sich auf ihre Erfahrung mit dem schöpferischen Potential - einem Thema ohne Objekt. Ihre Gefühle fanden ihren Ausdruck in einer allgemeinen Metapher: Die Kreativität als biologische Geburt. Ihr war jedoch bewußt, daß es sich bei dieser Vorstellung nur um eine Metapher handelte. Sie hatte noch nicht das Medium gefunden, mit dem sie das Thema der Kreativität in ihrem eigenen Leben ausdrücken konnte. Frauen entscheiden sich für die unterschiedlichsten Lebensweisen: Sie haben Kinder, haben keine Kinder, haben feste Beziehungen, leben allein, arbeiten außerhalb des Hauses, bleiben ausschließlich im Umkreis der Familie. Wenn die Geschichte einer Frau in Begriffen von Themen und nicht von Images überdacht wird, muß keine Frau davon ausgeschlossen sein, sich wie eine Frau zu fühlen. Wenn sich das Interesse nur auf Inhalt und Images konzentriert, fühlen sich die Frauen, die den Eindruck haben, daß ihr Leben diesen Ansprüchen nicht gerecht werden kann, dazu gezwungen, Alternativgeschichten zu entwickeln, eigenständige Geschichten, die außerhalb des Allgemeinen angesiedelt sind [4], oder sie machen glauben, daß bestehende Geschichten zutreffen, indem sie eine Trennung zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und Anschauungen und ihrer äußeren Darstellung in der Öffentlichkeit herstellen. Indem sie sich auf Themen statt auf Images und vorgeschriebene Verhaltensmuster konzentriert, kann eine Frau mit dem Leben, das sie führt, zufrieden sein, selbst wenn ihr gewisse Entscheidungsfreiheiten verschlossen bleiben. Es gibt Zeiten, in denen besondere Lebensumstände eine Frau daran hindern, sich so zu verhalten oder so zu leben, wie sie es sich wünschen würde. Wenn sie auf eine bestimmte Rolle fixiert ist und glaubt, nur auf diese Weise leben zu können, dann werden diese persönlichen Einschränkungen ihr das Gefühl vermitteln, daß es ihr nicht möglich ist, ein erfülltes Leben zu führen. Wenn, andererseits, der Schwerpunkt auf Lebensthemen liegt, die auf viele verschiedene Arten realisiert werden können, dann kann eine Frau ihr Leben selbst gestalten, selbst wenn es Einschränkungen unterworfen sein sollte. Eine Frau, die z. B. das Gefühl hat, daß ihr Leben als erwachsene Frau nur als biologische Mutter einen Sinn habe, mag völlig niedergeschlagen sein, wenn sie keine Kinder bekommen kann. Wenn sie andererseits feststellt, daß sich ihre Lebensmitte auf das Thema der Kreativität konzentriert, dann würde die Unmöglichkeit, ein Kind zu bekommen, zwar noch als ein Verlust erfahren werden, aber keineswegs als eine völlige Zerrüttung ihrer Persönlichkeit. Wenn ihr eine Möglichkeit versagt ist, wird sie ihre kreative Seite auf eine andere Art und Weise verwirklichen können. Viele Frauen, mit denen ich mich unterhielt, wiesen darauf hin, daß es ihnen wichtig sei, sich selbst gegenüber treu zu bleiben. Sie wußten, daß es sich bei ihrem Selbst nur um eine kleine flackernde Flamme in ihrem tiefsten Innern handle, um einen Punkt der Authentizität, der oft durch die Notwendigkeit erstickt wurde, sich den vorgeschriebenen Rollen oder Erwartungen anzupassen. Wenn Frauen die Freiheit haben, das zu tun, was sie wollen, und diejenige zu sein, die sie sind, ist es ihnen möglich, ihr wahres Selbst zu achten. Die Notwendigkeit, das Leben einer anderen zu führen, besteht nicht mehr, und sie haben das Gefühl, ein Leben auszufüllen, das tatsächlich nur ihnen gehört.
Beispiele statt Images
In diesem Buch wurden reale Geschichten von Frauen herangezogen, um die Fallen, die den idealisierten Images innewohnen, und die potentielle Freiheit, die durch Beschäftigung mit Lebensthemen, die unsere Erfahrung strukturieren, ermöglicht wird, zu illustrieren. Diese Geschichten sind Beispiele dafür, wie Frauen tatsächlich ihr Leben gestalten. Paula, Robin und Ann - Frauen, deren Geschichten ich ausgewählt habe, um die Lebensthemen von typischen jungen Frauen, Frauen mittleren Alters und älteren Frauen zu illustrieren - sind durchschnittliche Frauen, und ihre Lebenserfahrungen werden in der Hoffnung dargestellt, daß sie für uns von Nutzen sein können. Bei einem Beispiel handelt es sich um eine ganz besondere Geschichte einer Frau. Sie berichtet darüber, wie diese ihre Probleme löste, ihre Entscheidungen fällte oder ihr Leben gestaltet hat. Dieser Geschichte haftet ganz bewußt nichts Mythisches an. Ihr Wert und ihr Nutzen basieren teilweise darauf, daß es sich um eine Geschichte aus dem Alltag handelt. Die Schriftstellerin und Suffragette Inez Haynes Irwin erzählt eine Geschichte von einer ihrer Vorfahrinnen aus der Zeit der Unabhängigkeitskriege. [5] Als der Einberufungsbefehl kam, nahm der Ehemann dieser Frau seine Muskete und machte sich aus dem Staub. Ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten, nahm die Frau ihren Platz hinter dem Pflug ein. Diese Geschichte berichtet nur über eine starke Frau, die tut, was sie tun muß, ohne viele Fragen zu stellen. Gewiß handelt es sich nicht um einen Mythos; es ist keine Darstellung eines idealisierten Images von weiblicher Tugend oder weiblicher Möglichkeit; es ist nur ein Beispiel, wie eine Frau eine Herausforderung annahm, mit der sie konfrontiert wurde. Für unsere Zwecke müssen die Beispiele anekdotenhaft bleiben. Wenn eine Anekdote die Einleitung zu einem Mythos ist, läuft sie Gefahr, vergegenständlicht zu werden, und beschwört somit all die Probleme eines Images herauf. Die Unterscheidung zwischen Beispielen und Images entspricht der Unterscheidung zwischen Prosa und Mythen. Prosa möchte etwas ausfindig machen, im Hier und Jetzt einen Sinn stiften, und aus diesem Grund läßt sie sich auch anwenden. Wir benutzen sie für eine gewisse Zeit, um uns ihrer dann zu entledigen. [6] Mythen sind dagegen etwas Absolutes, sie verursachen Stabilität. Ein Mythos ist, ist immer gewesen und wird immer sein. Der Literaturkritiker Frank Kermode hat davor gewarnt, daß wir ständig Gefahr laufen, nach dem zu leben, was eigentlich nur als Information bestimmt war. [7] Unsere Beispiele helfen uns zu erfahren, wie andere Leute ihr Leben führen. Es sind keine Lebensanweisungen und sollen auch nicht als solche verstanden werden, dieser Versuchung sollten wir widerstehen. Beispiele sind uns zugänglich, weil es sich um reale Geschichten handelt, und teilweise sind sie allein deshalb wertvoll und nützlich. Anstatt heroisch zu sein und jenseits unseres Erfahrungshorizonts zu liegen, bieten sie uns Lösungsmöglichkeiten, die von ganz alltäglichen Frauen praktiziert wurden, Lösungen, die manchmal mutig, manchmal ambivalent und manchmal fehlgeleitet sind, aber es sind Lösungen, die uns trotzdem dabei behilflich sein können, unser eigenes Leben zu verstehen. Carolyn Heilbrun versteht sehr gut das Bedürfnis der Frauen, ihre Lebensgeschichten als Beispiele füreinander zu nutzen, wenn sie sagt: »Frauen müssen ihre Lebensgeschichte, ihre Hoffnungen und ihre unannehmbaren Phantasien miteinander teilen.« [8] Indem sie einander als Beispiel dienen, ist es Frauen nicht nur möglich, ihre Arme auszustrecken, um sich miteinander zu verbinden, sondern sie können auch füreinander die Aufgaben des Lebens erleichtern. Künstler und Frauen, die außerhalb des konventionellen Lebens stehen, haben immer gewußt, daß sie die Beispiele ihres Lebens einander mitteilen müssen, wenn sie in einer Gesellschaft überleben wollen, die ihnen oft fremd erscheint. Eine junge Frau, eine Malerin, mit der ich mich unterhielt, sagte: »Ich glaube, daß Künstler an der Peripherie leben, an einem schöpferischen Rand, und ich denke, sie sprechen ihre eigene Sprache. « Weil sie wissen, daß die idealisierten Images der Gesellschaft keine Sprache konstituieren, die für sie einen Sinn ergibt, haben viele Künstler das Leben anderer Künstler beobachtet, um Beispiele zu finden, wie ein kreatives und authentisches Leben zu führen sei. Dieselbe Frau erzählte mir: »Wenn man sich wie ein Außenseiter fühlt, und ich denke, Künstler fühlen sich im allgemeinen wie Außenseiter, dann schaut man sich die Notizbücher anderer Künstler an. Dort kann man Möglichkeiten finden, wie man leben könnte.« Ich war erstaunt darüber, wie viele junge Künstlerinnen, mit denen ich mich unterhielt, die Tagebücher anderer Künstlerinnen genau dann lasen, als sie mir ihre Geschichten mitteilten. Es schien für diese Frauen selbstverständlich, sich dem Leben anderer Frauen zuzuwenden, um Empfehlungen zu bekommen, wie sie ihr eigenes Leben führen könnten. Während ich eine Anzahl von Frauen interviewte, befragten mich viele über mein eigenes Leben. Insbesondere wollten Frauen, die sich entschlossen hatten, keine Kinder zu bekommen, von mir wissen, wie und warum ich zu demselben Entschluß gekommen bin. Als eine Frau bemerkte, daß ich zu meiner Entscheidung stand und mich dabei recht wohl fühlte, stand sie von ihrem Stuhl auf und umarmte mich. Sie war sich über ihre eigene Entscheidung, ob sie Kinder haben sollte oder nicht, noch nicht im klaren, und sie sagte zu mir: »Es ist so gut, jemand anderen zu hören, die vor der gleichen Entscheidung stand. Dadurch fühle ich mich nicht so allein. « Diese Frau benutzte mich und mein Leben nicht als ein idealisiertes Image der Frauen; vielmehr entnahm sie meiner Geschichte ein Beispiel dafür, wie sie ein ähnliches Problem in ihrem eigenen Leben lösen könnte. Da sie nun wußte, daß es Beispiele von Frauen gab, die vor ähnlichen Entscheidungen standen, fühlte sie sich beruhigt und sicher im Hinblick auf ihre zukünftige Entscheidung. Adrienne Rich, die sich für eine Frauen-Universität einsetzte, sagte einmal, es sei für Studentinnen notwendig, beispielhafte Geschichten von Frauen mit »reiferen Erfahrungen zu hören, die eine intellektuelle Orientierung mit dem Interesse an der Ganzheitlichkeit der Studentinnen bieten«. [9] Mentorinnen dienen jungen Studentinnen als lebendes Vorbild, indem sie ihnen Beispiele liefern, wie eine Frau leben könnte. Wenn eine Frau etwas von einem Mann lernt, sind es zwei Dinge: Sie lernt den Inhalt, den er zu lehren hat, und sie lernt ebenfalls, daß ein Mann kompetent, geschickt und perfekt ist. Wenn eine Frau von einer anderen Frau lernt, lernt sie ebenfalls den Inhalt dessen, was die Frau zu lehren hat, aber sie sieht in dieser anderen Frau zusätzlich ein lebendes Beispiel, ein Vorbild dafür, wie eine Frau ihr Leben führen könnte. Vor einigen Jahren wurde die damalige First Lady, Barbara Bush, gebeten, eine Rede für die Abschlußklasse des Wellesley College zu halten. Ihre Rede wurde mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Einige Frauen im Auditorium waren enttäuscht, weil Frau Bush ihnen keine Beispiele liefern konnte, wie sie ihr Leben im einundzwanzigsten Jahrhundert gestalten sollten. Diese Frauen interessierten sich nicht für idealisierte Images ihnen waren die traditionellen Muster, die ihnen von ihrer Kultur geboten wurden, schon bekannt, statt dessen wünschten sie sich von Frau Bush, ein lebendes Beispiel dafür zu geben, eine mustergültige Rolle zu liefern, um ihnen eine Richtlinie zu geben, wie sie ihr eigenes Leben führen könnten. Frauen benötigen keine Images, um ihre eigene Lebensgeschichte zu konstruieren. Images sagen ihnen, wie sie sich zu verhalten haben. Beispiele geben ihnen Anhaltspunkte, wie sie sein könnten. Wenn es uns jedoch an Beispielen mangelt, verlassen wir uns auf Images, die uns Anleitungen bei der Herstellung unserer Geschichten liefern. Wenn wir uns allzu stark auf Images verlassen, laufen wir Gefahr, das zu werden, was Gloria Steinem als »die besten weiblichen Darsteller« bezeichnet hat, d. h. Frauen, die verzweifelt bemüht sind, den idealisierten Images der Frauenwelt gerecht zu werden.
Themen über die Zeit
Weil die drei Phasen eines Frauenlebens zeitlich geordnet sind und einer linearen Progression folgen, mögen wir uns die Frage stellen: Wie sieht das exakte Verhältnis einer Phase oder eines Stadiums zum nächsten aus? Wenn wir uns der Sprache der Stadien bedienen, sind wir versucht, in Entwicklungskategorien zu denken, d. h., daß ein Lebensabschnitt nicht nur zeitlich, sondern ebenfalls hierarchisch mit dem nächsten in Verbindung steht. In einem derartigen Schema wäre jedes folgende Stadium fortgeschrittener, kultivierter und integrierter als das vorhergehende. Wenn wir über die verschiedenen Phasen eines Frauenlebens nachdenken, laufen wir bei der Verwendung dieser Entwicklungsmetapher Gefahr, einen begrifflichen Fehler zu begehen. Die Themen und Aktivitäten der Lebensmitte sind keineswegs kultivierter als die Themen der jungen Frau, sie sind auch nicht weniger einheitlich als die Lebensthemen der älteren Frau. Sie unterscheiden sich nur und sind der besonderen Lebenszeit angemessen, beziehen sich aber nicht im entwicklungstechnischen oder hierarchischen Sinne auf andere Themen.
Es wäre sinnvoller, die Metaphern der Jahreszeiten anzuwenden, die sich auch zeitlich aufeinander beziehen. Der Frühling folgt dem Winter und geht dem Sommer voraus, jedoch ist keine Jahreszeit besser oder fortgeschrittener als die andere. Sie sind ausschließlich zeitlich miteinander verbunden, indem eine Jahreszeit ganz natürlich in die andere einmündet. Die Themen und Aktivitäten einer Jahreszeit werfen ihre Schatten in die nächste Jahreszeit voraus. Ebenso wie das Pflanzen zur Ernte führt, haben Antizipation und Vorbereitung die Schöpfung zur Folge. Wie die Jahreszeiten eines Jahres sind die Jahreszeiten eines Frauenlebens in einer unveränderlichen Folge geordnet. Man beginnt nicht mit der Reflexion und endet mit der Forschung, vielmehr kommen die Themen der jungen Frau vor den Lebensformen einer Frau der Lebensmitte, die wiederum den Themen der älteren Frau vorausgehen. Es ist wichtig, an dieser Stelle hinzuzufügen, daß es durchaus individuelle Unterschiede gibt, obwohl die allgemeine Ordnung von einer Phase zur nächsten alle Frauen betrifft. Einige Frauen mögen sich, aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihrer Lebenserfahrung, der Kultur, in der sie leben, und der Beschäftigung, der sie nachgehen, mit besonderen Themen auseinandersetzen, die den Phasenzeiten nicht entsprechen. Eine Frau, die z. B. eine wissenschaftliche Forschungstätigkeit ausübt, mag sich den größten Teil ihres Lebens mit der Erforschung beschäftigen; man sollte jedoch annehmen, daß sich ihre Forschung mit anderen Themen auseinandersetzt, wenn sie das Stadium der Lebensmitte erreicht hat, und wiederum mit anderen, wenn sie eine ältere Frau ist. Frauen verfügen jedoch über die Möglichkeit, ihr ganzes Leben hindurch auf alle Lebensthemen eingehen zu können. [10] Die junge Frau besitzt die Fähigkeit, zu reflektieren und schöpferisch tätig zu sein, die Frau der Lebensmitte kann erforschen und in Erinnerungen schwelgen, und die ältere Frau kann pflegen und antizipieren. Aber offensichtlich dominieren bestimmte Themen zu gewissen Zeiten stärker als zu anderen. Wahrscheinlich wird jedoch ein traumatisches, unerwartetes Ereignis mehr als alles andere die Lebensweise einer Frau unterbrechen. Themen und Handlungen, die zu einer bestimmten Zeit angemessen waren, scheinen bedeutungslos geworden zu sein. Eine Frau muß sich bemühen, der Tragödie einen Sinn abzugewinnen, wobei sie alles unternimmt, um ihren Schmerz zu lindern. Wenn sich etwas außerhalb jeder Erwartung ereignet, ist man erschüttert, und es kann zu einem persönlichen Trauma kommen. [11] Wenn ein Elternteil stirbt, während ein Kind noch sehr jung ist, oder wenn ein Kind stirbt, bevor es eine Chance hatte, größer zu werden, erfährt das Individuum nicht nur einen persönlichen Verlust, sondern es verliert auch jedes normale Zeitempfinden, als ob das Ereignis sich über die normale Ordnung hinweggesetzt hätte. Es ist bei derartigen Ereignissen für manche Personen nicht ungewöhnlich zu sagen, daß sie darauf nicht vorbereitet waren. Obwohl es bestimmt zutrifft, daß wir in einem gewissen Sinne niemals auf den Verlust einer wichtigen Person vorbereitet sind, denke ich, daß sich eine Person bei der Aussage »ich war darauf nicht vorbereitet« auf die √úberschreitung der gewöhnlichen und erwarteten Ordnung der Ereignisse bezieht. Das Ereignis bricht herein, wenn man nicht darauf vorbereitet ist und wenn man nicht fähig ist, mit diesem besonderen Trauma fertig zu werden. Eine junge Frau hatte z. B. kontinuierlich das Gefühl, als ob sie für Änderungen und Übergänge in ihrem Leben noch nicht bereit wäre. Ihr Gefühl, »noch nicht bereit zu sein«, bezog sich primär auf den Tod ihres Vaters, den sie als fünfjähriges Kind miterlebte. In der Tat war sie noch nicht darauf vorbereitet, ihren Vater zu verlieren, und das hatte zur Folge, daß sie von einem irritierenden Gefühl geplagt wurde, niemals für den nächsten Schritt in ihrem Leben bereit zu sein. Ich erinnere mich, als Kind mit Gott über den Tod meiner Eltern einen magischen Handel getrieben zu haben. Ich stellte die Bitte, sie so lange leben zu lassen, bis ich einen bestimmten wichtigen Meilenstein erreicht hätte: »Laß sie leben, bis ich verheiratet bin, so daß ich psychisch auf das Trauma ihres Todes vorbereitet bin.« Man hat das Gefühl, daß diese Bereitschaft sowohl im psychologischen als auch im zeitlichen Sinne zu verstehen ist; ein Ereignis muß an der richtigen Stelle unseres Lebenslaufs stattfinden, damit wir es integrieren und absorbieren können. Wenn wichtige Ereignisse außerhalb erwarteter Abläufe eintreten, erfährt man nicht nur einen Verlust, ein Trauma und eine Zerrüttung, sondern auch eine zeitliche Verschiebung. Oft sagt man, daß mit einem traumatischen Ereignis das Leben endet; daß beim Tod eines Elternteils oder eines der Geschwister die Ereignisse die Zeit anhielten. [12] Virginla Woolf, die mit dreizehn Jahren ihre Mutter verlor, sagt, daß sie das Gefühl hatte, als ob mit dem Tod ihrer Mutter alles zu Ende gegangen wäre. [13] Oft bezieht sich dieses Gefühl des Endes oder des Todes auf einen Teil des Selbst; es ist, als ob ein Teil der eigenen Entwicklung zur Zeit des Traumas stirbt. Eine andere Frau, deren Vater während ihres vierten Lebensjahres starb, hatte das Gefühl, als ob es für sie keine Zukunft mehr gebe. Es war im wahrsten Sinne des Wortes, als ob beim Tod ihres Vaters die Zeit für sie zum Stillstand gekommen wäre, und es war ihr nicht mehr möglich, Menschen oder Ereignisse mit einer zukünftigen Realität in Verbindung zu bringen. Als sie ihren Vater verlor, war sie von der Zukunft abgeschnitten. Einige Frauen werden durch die Erfahrung eines traumatischen Bruchs »außerhalb der Zeit« in das nächste Stadium oder die nächste Phase ihres Lebens katapultiert. Eine Frau, die eine derartige Zerrüttung erlebt, wenn sie sich in der Lebensphase der jungen Frau mit der Erforschung und Erweiterung ihres Horizonts beschäftigt, mag sehr wohl in das Stadium der Lebensmitte hinein springen und eine Mutter oder eine Frau in der Lebensmitte werden, statt eine junge Frau voller Möglichkeiten zu bleiben. Ähnlich mag eine Frau, die in der Mitte ihres Lebens durch den Verlust des Ehepartners oder eines Kindes einen Bruch erfährt, sofort ins fortgeschrittene Alter übergehen. Es ist, als ob das Trauma das Individuum vorwärts in eine andere Lebensphase katapultiert. Einige Frauen bemühen sich, in die Zeit ihres Lebens, als die Zerrüttung stattfand, zurückzukehren, um die Entwicklung von diesem Zeitpunkt an wieder aufzunehmen. [14] Es erscheint sinnvoll, das Unfertige, das, was vom Trauma eingefroren oder eingeschläfert wurde, wieder aufzunehmen und diesen Teil seiner selbst, diesen Teil seiner Entwicklung auf eine gesunde Weise in die Zukunft zu übernehmen. Für andere Frauen ist die Möglichkeit dieser Rückkehr zu der Person, die sie zur Zeit des
Traumas waren, nicht mehr sinnvoll. Es ist zuviel reale Zeit verstrichen. Für diese Frauen wird es wichtig sein, die Aspekte des verlorenen Selbst in die Person zu integrieren, zu der sie sich entwickelt haben. Unabhängig von ihren Aktivitäten scheinen Frauen zu wissen, was sie zu den verschiedenen Zeitpunkten ihres Lebens unternehmen sollten. Wenn sie bis in die Phase, in der sie schöpferisch und verändernd tätig sein sollten, antizipieren, werden sie ein gewisses Unbehagen verspüren, ein Gefühl empfinden, nicht im Rhythmus mit den Themen zu sein, die dieser besonderen Lebenszeit angemessen wären. Dieses Gefühl, aus dem Gleichgewicht geraten zu sein, erinnert an Experimente, die mit Kindern in Restaurants durchgeführt wurden. Als man sie für einen gewissen Zeitraum sich selbst überließ, wählten sie ganz natürlich die Gerichte aus, die sie benötigen, um sich zu ernähren. Ähnlich tendieren Frauen zu den Themen, die einer besonderen Zeit in ihrem Leben entsprechen. Eine Frau wird nur infolge eines Traumas oder einer Zerrüttung aus dem Rhythmus geworfen und sich nicht mit den Lebensthemen beschäftigen, die ihrer realen Situation angemessen waren. Eine Möglichkeit, die Beziehung zwischen den verschiedenen Phasen im Leben einer Frau zu verstehen, besteht darin zu beobachten, wie Frauen unterschiedlichsten Alters die vorausgegangenen und die zukünftigen Stadien betrachten. Obwohl es Frauen oft schwer fällt, sich außerhalb der Perspektive ihrer besonderen Lebenszeit zu stellen und objektiv die vorausgegangene oder die kommende Phase zu vergegenwärtigen, scheint es ihnen ganz natürlich, sich darüber zu äußern, was geschehen ist und was noch kommen wird, und zwar aus der Perspektive ihres gegenwärtigen Stadiums. Wenn sich jüngere Frauen vorstellen, in die Phase der Lebensmitte einzutreten, befürchten sie, eingeschränkt und deprimiert zu werden. Selbst wenn sie sich mit aktiven, lebenssprühenden und kreativen Frauen mittleren Alters unterhalten, können sie sich nicht vorstellen, in einer Zeit zu leben, in der ihre eigenen Möglichkeiten begrenzt sind, und, was ebenso wichtig scheint, sie können sich auch nicht vorstellen, sich mit dieser Zeit konzentrierter Energie und geringerer Entscheidungsfreiheit einverstanden zu erklären. Es überrascht nicht, daß jüngere Frauen, die über ihre Mütter, die sich in der Lebensmitte befanden, befragt wurden, meist berichteten, daß diese, unabhängig von den aktuellen Lebensumständen, deprimiert waren. Aus der Sicht einer jungen Frau glaubten sie, daß auch sie deprimiert wären, wenn sie mit den Verantwortungen, Einschränkungen und Anforderungen der Lebensmitte konfrontiert würden. Aus der Perspektive und der Sicht einer jungen Frau erscheint die Frau der Lebensmitte stark belastet. Weil sie im Hinblick auf Lebenszeit und Erfahrung so weit von der älteren Frau entfernt ist, kann sich die junge Frau nicht einmal vorstellen, was es heißt, eine Frau von siebzig oder achtzig Jahren zu sein. Tatsächlich erscheinen den jüngeren Verwandten die Großmütter und Großtanten nicht wie reale Frauen, sondern wie mythologische Gestalten. Ungeachtet der Tatsache, wie sie ihr wirkliches Leben führten, fühlten sich Frauen durch die vor ihnen liegenden Möglichkeiten gestärkt; und sie waren voller Enthusiasmus, als sie ihre Geschichten erzählten. Ihre Stimmen waren voller Leben, ihre Geschwindigkeit glich einer Rennfahrt; sie waren von ihren Entscheidungsfreiheiten, die vor ihnen lagen, derart begeistert und erfüllt, daß sie nach den Interviews förmlich explodierten. In ihrer Lebensmitte blicken Frauen mit anderen Augen auf das, was hinter ihnen und vor ihnen liegt. Wenn sie ihre Töchter betrachten, sind sie oft voller Sorge und Mitgefühl. Das Ungestüm und die Naivität der jungen Frau lassen befürchten, daß sie in eine gefährliche Situation gerät. Frauen in den mittleren Jahren befürchten, daß ihren Töchtern durch die Impulsivität ihres Forschungsdranges Schaden zugefügt wird oder sie in Schwierigkeiten geraten. Wenn sie sich an ihre eigene Jugend erinnern, sind sie oft erstaunt darüber, was sie selbst einmal unternommen haben; aus der Sicht der Lebensmitte erscheint ihnen die Unbesonnenheit ihres Verhaltens teilweise gefährlich und verwegen. Mütter sind für ihre Töchter ein oft beanspruchter Rettungsanker, ein beständiger Bezugspunkt in der Zeit freier und ungezähmter Forschung. Die Mutter ermutigt den Forschungsdrang ihrer Tochter, aber dies erfolgt aus der Sicht einer Frau der Lebensmitte. Sie kann die Risiken einschätzen und weiß um die Bedeutung der Einschränkungen. Deshalb ist es ihr möglich, ihre Tochter in dieser Zeit der Erforschung zu unterstützen. Obwohl Töchter die Sicherheit und Zuverlässigkeit, die ihnen ihre Mütter bieten, benötigen, ist diese beschützende Funktion der Lebensmitte oft ein Grund für Streit und Unstimmigkeiten zwischen Mutter und Tochter. Trotz dieser Auseinandersetzungen ist Töchtern, die nicht einmal vor einer Rebellion zurückschreckten, bewußt, daß ihre Mütter als eine äußere Grenze fungieren, eine Grenze, die ihr Verhalten zügelt. Die Mutter hat die Funktion, die forschende Auseinandersetzung ihrer Tochter mit dieser Welt zu kontrollieren und in Grenzen zu halten. Paradoxerweise gewährleistet dieses Sicherheitsnetz der Tochter tatsächlich eine freiere Forschung, als es ihr ohne die strukturierende Unterstützung ihrer Mutter möglich wäre. Manchmal empfinden Frauen der Lebensmitte einen gewissen Neid gegenüber jüngeren Frauen und ihrem eigenen jüngeren Selbst. Sie blicken zurück und erinnern sich an die Freiheit und den Elan ihrer frühen Entwicklung, als sie noch nicht vom Jonglieren und Balancieren mit ihren Verantwortungen belastet waren. Einer Mutter mag ihre Tochter wie eine jüngere Version ihrer selbst erscheinen, und sie möchte bestimmte Fehler, die sie als junge Frau gemacht hat, korrigieren, als ob ihr das Leben der Tochter die Möglichkeit biete, begangene Fehler wiedergutzumachen. Die beständige Bitte der mittleren Generation heißt: »Begeh nicht die Fehler, die ich gemacht habe, lern von dem, was ich getan hab'.« Wenn aber eine Frau der Lebensmitte so etwas sagt, dann geschieht es eben aus ihrer Perspektive. Sie hat in diesem Moment vergessen, wie man sich als junge und freie, nicht von Verantwortung eingeschränkte Frau fühlt. Ich hörte vor kurzem eine Geschichte von einer Frau, die über die Entscheidung ihrer jugendlichen Tochter, den College-Besuch zu verschieben und mit einer Gruppe anderer junger Frauen eine Weltreise zu machen, sehr besorgt war. Die Frau glaubte, daß ihre Tochter einen furchtbaren Fehler beginge und sich vielleicht bei einem solchen abenteuerlichen Unternehmen großen Gefahren aussetzen würde. Als sie über ihre Sorgen berichtete, vergaß sie vorübergehend, daß auch sie als junge Frau ein Jahr mit einer Kirchengruppe in Afrika verbracht hatte und planlos umher gereist ist. Obwohl sie ihre eigene Forschungszeit nicht bedauerte, sondern sie sehr positiv beurteilte, schien dies alles so weit von ihren momentanen Verantwortungen entfernt zu liegen, daß sie sich nicht vorstellen konnte, wie man sich bei derartigen Entscheidungen fühlt. In einem Brief an ihre Tochter Joy, die seinerzeit achtzehn Jahre alt war, faßt Anne Sexton die Reaktion zusammen, wie die Frau mittleren Alters auf die Überschwenglichkeit und Impulsivität jüngerer Frauen reagiert: »Ich befürchte, diese Gefühle begleiten dich, unabhängig davon, auf welche Umgebung oder welchen Käfig du momentan blickst, du brauchst gewisse Grenzen, Regeln, trotz der Tatsache, daß du achtzehn Jahre alt und in vieler Hinsicht eine erwachsene Frau bist und die Welt erstürmen und frei sein möchtest, frei, als ob du dein eigenes Flugzeug fliegen könntest oder auf dem höchsten Berg skifahren oder auf dem schönsten Pferd in den schönsten Herbsttag reiten würdest, ich weiß, wie frei du sein möchtest, und kann dir nur als alte Philosophin und Dulderin sagen, daß Freiheit, Freiheit von innen kommt, und mit ihr kommen viele Verantwortungen und Einschränkungen, über die du selber befinden mußt.« [15] Sexton weiß den Wunsch ihrer Tochter, mit dem Wind davonzustieben, zu schätzen, aber sie betrachtet diesen Wunsch nun aus der Sicht einer Frau der Lebensmitte, die nur allzu gut weiß, daß Einschränkungen und Verantwortungen auf eine Frau mittleren Alters zukommen. Wenn sie über ihre zukünftige Lebensphase nachdenkt, fühlt sich eine Frau der mittleren Jahre oft beunruhigt darüber, daß die Einschränkungen mit zunehmendem Alter im Verhältnis zu dem, was ihr bisher bekannt ist, ins Unermeßliche wachsen. Sie befürchtet, daß sie ihre Gesundheit verlieren, ihrer gegenwärtigen Rolle im Leben beraubt und daß sie ihre wichtigen Beziehungen einbüßen wird. Ihr Ehemann wird sterben; ihre Kinder werden fortziehen. Die Zeit des hohen Alters scheint mit Einschränkungen, Verlusten und Restriktionen verbunden zu sein. Als ich mich mit Frauen der Lebensmitte über Lebensgeschichten von älteren Frauen unterhielt und ihnen sagte, daß sich ältere Frauen weder eingeschränkt noch begrenzt fühlen, schienen sie erleichtert zu sein, als ob eine Pfadfinderin der Zukunft ihnen berichten würde, daß das, was vor ihnen liege, nicht allzu freudlos wäre. Ironischerweise sind ältere Frauen meist erleichtert, von den Lasten der Lebensmitte befreit zu sein, wenn sie auf das Leben der Frauen mittleren Alters zurückblicken und sich an ihre eigene Lebensmitte erinnern. Die Zeit der älteren Frau bringt eine Freiheit von Verantwortungen mit sich, die Gelegenheit, sich auf die eigene Entwicklung zu konzentrieren, und eine Befreiung von sozialen Zwängen und Erwartungen, die weitaus größer ist, als sie sich vorstellen konnte. Ältere Frauen mögen sich nach der Gesundheit und Vitalität ihrer jüngeren Jahre sehnen, lehnen aber die Verantwortungen und Einschränkungen dieser Zeit ab. Sie sind glücklich, die Jahre der Pflege und Mutterschaft hinter sich zu haben. Interessanterweise fühlen ältere Frauen oft eine geistige Verwandtschaft zu der Offenheit der jungen, ungezähmten Frau. Die junge Frau, die noch ihre Möglichkeiten zu erforschen hat, fühlt sich ähnlich erfüllt wie die ältere Frau, die ihre Möglichkeiten gelebt hat. Sowohl die junge als auch die ältere Frau haben nun die Gelegenheit, ihre eigenen Interessen zu entwickeln; sie sind frei von gewissen verbindlichen Restriktionen und Verantwortungen; beide erfahren eine Veränderung in den Beziehungen innerhalb ihrer Kernfamilien, wodurch ihnen eine größere Freiheit eingeräumt wird, sie selbst zu sein, als sie es in der Lebensmitte je sein werden oder je waren. [16] Während jüngere Frauen diese Verbindung zu ihren Großmüttern nicht wahrnehmen, ist älteren Frauen die besondere Bindung, die sie zu Personen haben, die zwei Generationen jünger sind, wohl bewußt. Als ältere Frauen ihre Geschichten erzählten, fragten sie sich oft, ob es diese Geschichten überhaupt wert seien, erzählt zu werden. Selbst wenn sie ein erfülltes und befriedigendes Leben geführt hatten, waren sie der Ansicht, daß allein ihr persönliches Leben keine allzu bedeutende Geschichte sei. Es mag sein, daß diese Anschauung das Gefühl widerspiegelte, ein Frauenleben sei im allgemeinen nicht sehr wichtig, ein Gefühl, das man von Generationen übernommen hat, bei denen tatsächlich das Leben und die Erfüllung einer Frau kaum zählten. Es wäre jedoch auch möglich, daß die von älteren Frauen empfundene Bedeutungslosigkeit dadurch bedingt ist, daß sie Vorfahrinnen sind. Selbst wenn ihr Leben erfüllt und persönlich bedeutungsvoll war, meinten sie, ein Leben geführt zu haben, das an sich nur eine begrenzte Bedeutung für die Welt im allgemeinen hat. Ungeachtet des Stadiums, in dem sie lebten, hofften alle, daß das Leben der Frauen in den folgenden Generationen besser würde, als es zu ihrer Zeit der Fall war. Es überraschte nicht, einen derartigen Wunsch von älteren Frauen zu hören, die in Jahrzehnten gelebt haben, in denen die weiblichen Aktivitäten stark eingeschränkt waren. Etwas überraschender war es, diese Wünsche in den Geschichten der Frauen der Lebensmitte zu hören, die oft die Vorteile einer Karriere und Familie genießen konnten, Vorteile, die ihren Müttern versagt waren. Am überraschendsten war es aber, diesen Wunsch in den Geschichten junger Frauen zu hören, Frauen, die noch nicht auf ein erfülltes Leben zurückblicken konnten. Auch sie empfanden die Restriktionen traditioneller Erwartungen und Rollen und hofften, daß ihre noch ungeborenen Töchter in einer Welt aufwachsen würden, in der Frauen ihre Möglichkeiten freier und in größerem Ausmaß aktualisieren könnten. Ohne spezifische inhaltliche Images werden wir bei der Gestaltung unseres Selbst allein durch unsere eigene Vorstellungskraft eingeschränkt. Wir werden nicht durch die äußeren Erwartungen, wie wir zu leben hätten und was es bedeutet, eine Frau zu sein, eingeschränkt. Nur unsere eigenen Wünsche und Neigungen, die Art und Weise, wie wir unser Leben gestalten, schränken uns ein. Das Bedürfnis nach neuen Geschichten muß tatsächlich eins nach neuen Schwerpunkten sein, eine neue Art, Geschichten zu erzählen. So wie Penelope, die Treue Ehefrau von Odysseus, ihr Tuch jede Nacht wieder auftrennte, um ihre Ehre zu retten, müssen wir die Images zerstören, die uns einem Leben auf dem Sockel überantworten. In den ritualisierten Vorschriften vieler idealisierter Images sind Lebensthemen verborgen, die es wert sind, erhalten zu bleiben. Das Ewige Mädchen antizipiert und erhält neue Informationen, die Selbstlose Mutter erzieht und pflegt, und die Weise Frau integriert und gibt den Dingen einen Sinn. Indem sie besondere Images ablehnen, kommen Frauen in Versuchung, die damit verbundenen Themen abzuschaffen. Eine Frau, die sich von dem Image der Mutter losgesagt hat, kann damit gleichzeitig auf die Erziehung und den schöpferischen Prozeß verzichten - auf diese Weise hätte sie im übertragenen und wörtlichen Sinne das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Die meisten von uns sind mit den alltäglichen Aktivitäten des Lebens so beschäftigt, daß wir uns selten die Zeit nehmen, zurückzutreten und über unsere Lebensweise nachzudenken und uns der Themen bewußt zu werden, die unserem Leben einen Zusammenhang geben. Gewöhnlicherweise schenken wir diesen Themen keine Beachtung; meist sind sie uns nicht einmal bewußt. Dennoch sind die Lebensthemen immer als grundlegende Struktur eines jeden Lebens vorhanden. Sie sind uns behilflich, unserem Leben einen Sinn zu geben und uns auf sinnvolle Aktivitäten hinzuweisen. Wenn wir uns der Themen, die unsere Erfahrungen verbinden, bewußt werden, bereichern wir unser Leben und vergrößern unsere Möglichkeit, authentische und kreative Lebensentscheidungen zu treffen.