Zur Methode der Rekonstruktion

Die vorliegende Rekonstruktion der Lebenszusammenhänge von Schriftstellerinnen reiht sich ein in die historische Frauenforschung, die so alt ist wie die Frauenbewegung selbst. Frauen Ende des 18. Jahrhunderts und speziell die Schriftstellerinnen sind für einige Forscherinnen schon früher interessant gewesen. Bei meinen Recherchen konnte ich daher zurückgreifen auf verschiedene historische und literaturwissenschaftliche Arbeiten von Frauen, die Ende des 19. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts erschienen sind:

Bäumer (19212), Bios (1929), Boy-ed (1920), Faßbinder (1930), Freudenthal (1934), Frost (19132), Halparin (1935), Härder (1912), Hassel (1898), Klokow (1881), Neumann (1927), Pataky (1898), Susman (1929), Tanneberger (1928), Toelpe (1927), Touaillon (1919).
Arbeiten aus den siebziger Jahren, neue Ansätze der Frauenforschung, lieferten mir darüber hinaus weitere grundsätzliche Anhaltspunkte.

1. Fragestellung und Voraussetzungen

Erstes Ziel meiner Arbeit war das »Sichtbarmachen von Frauen in der Geschichte«, ein Begriff, den Gisela Bock in einer Analyse des aktuellen Forschungsstandes prägte (Bock 1983). Dabei geht mein Beitrag sowohl über den »additiv-kompensatorischen« als auch über den »kontributi-ven« Ansatz (Bock) hinaus. Denn: nicht nur die »Hälfte« der Geschichte betrifft das weibliche Geschlecht, wie der kompensatorische Ansatz nahelegt; geschriebene Geschichte ist nicht nur diejenige der Männer, zu der ich einfach noch die der Frauen dazulegen muß. Historische Frauenforschung kann andererseits auch nicht als Beitrag der Frauen zu Allgemeingeschichte betrieben werden (kontributiver Ansatz), denn Frauen waren meist in anderen Bereichen tätig als Männer, und wir werden sie in den Bereichen, die die »Allgemeingeschichte« erfaßt, oft vergeblich suchen. Über das erste Ziel hinaus, nämlich dem »Sichtbarmachen von Frauen in der Geschichte«, muß weibliche Existenz überhaupt historisiert werden (Opitz). Dies aber nun nicht im Sinne einer am männlichen Vergleich fixierten Gegenkultur, sondern in einer Erforschung von Entstehung und Wandel weiblicheT Existenz.
Die vorliegende Arbeit soll so Beispiel sein für die Möglichkeit, umfassend die Lebenszusammenhänge von Frauen in einer bestimmten Zeit zu rekonstruieren, um somit tatsächlich einen Teil von Frauengeschichte zu schreiben. Ich betrachte die Arbeit aber auch als Beispiel für die Möglichkeit, überhaupt Lebenszusammenhänge zu rekonstruieren - unabhängig vom Forschungsobjekt Frau oder Mann -, um damit einen Beitrag zur Geschichte des Alltags zu leisten.
Meinen Blick für das Thema »weibliche Lebenszusammenhänge« schärfte Ulrike Prokop: »Weiblicher Lebenszusammenhang - Von der Beschränktheit der Strategien und der Unangemessenheit der Wünsche« (1976). Sie leitete aus einer soziologischen Analyse des weiblichen Alltagslebens in der Bundesrepublik Deutschland weibliche Lebenszusammenhänge mit eigener Dynamik und Wertigkeit ab. Sie zeigte vier Bereiche auf, die bestimmend sind für den weiblichen Lebenszusammenhang: An erster und wichtigster Stelle steht die Familie, an zweiter der Haushalt; ihm folgt als drittwichtigster Bereich der Freundes- und Bekanntenkreis. Erst an vierter Stelle steht die Erwerbstätigkeit, die auf die drei anderen, wichtigeren Bereiche bezogen wird. Die gesamte weibliche Produktivität ist nach Ulrike Prokops Erkenntnissen mehreren Faktoren unterworfen: der Alltäglichkeit der Arbeit in Haushalt und Familie, der Monotonie und auch Routine in der Hausarbeit, dem Bemühen um soziale und zwischenmenschliche Beziehungen, der Wiederholung in der Kindeierziehung sowie den herrschenden Machtstrukturen von Öffentlichkeit und Kommunikation. Diese Erkenntnisse führten mich zu wichtigen Fragen: Ergibt sich im historischen Rückblick an der von ihr - für die heutigen Verhältnisse -aufgeführten Wertigkeit im Frauenalltag und im Frauenbewußtsein eine Veränderung? Stand zu Beginn der industriellen Gesellschaft schon die Familie im Mittelpunkt des Frauenalltags? Welches waren die zentralen Punkte im damaligen Lebenszusammenhang? An welcher Stelle stand die Berufstätigkeit der Frau? Welches Verhältnis ergab sich zwischen Haushalt, Familie und Berufstätigkeit? Und schließlich: Welche Rolle spielte der Freundes- und Bekanntenkreis im weiblichen Lebenszusammenhang?
Ein weiterer wesentlicher Anhaltspunkt war für mich Silvia Bovenschen: »Die imaginierte Weiblichkeit - Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen« (1979). Ihre Ergebnisse verstand ich als Warnung vor dem, was die Literatur des 18. Jahrhunderts als »imaginierte« Weiblichkeit vorgab: Weiblichkeit als kulturell und zeitlich bedingte stereotype und imaginierte Präsentationsform.

2. Die Suche nach geeigneten Frauen

So gewarnt, begann ich meine Suche nicht in der Literatur, auch nicht in der von Frauen geschriebenen, sondern suchte nach einem Weg, näher an Frauen heranzukommen, um sie selbst sprechen zu lassen. Ich ging zurück bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Zunächst galt mein Augenmerk zusammenhängenden Darstellungen über die Geschichte der Frau. Hanstein (1899, 1900), Klemm (1859) und Scherr (18652) lieferten mir zwar Informationen, waren aber für meine Zwecke, ich wollte ja originäre Frauenaussagen, wegen ihrer altertümlichen, teilweise reaktionären Sicht der Frau nicht brauchbar. Doch sie lieferten mir erste Namen, Lebensläufe, Zusammenhänge.
An diesen Namen entlang tastete ich mich durch die Literaturgeschichte weiter, bis ich auf zwei hilfreichere Werke stieß: Schindel (1823-25) und Friedrichs (1981). Hier tat sich ein Meer von Namen, Lebensläufen und Werken auf, was mich sehr überraschte. Mit so vielen schreibenden Frauen hatte ich nicht gerechnet, denn es waren nicht nur die Bekannten oder die Frauen berühmter Männer, Töchter berühmter Väter oder Mütter berühmter Söhne, sondern hunderte unbekannte Frauen, die wir heute zu den Schriftstellerinnen des 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts zählen dürfen.
Wie sollte ich damit zurechtkommen? Wie sollte ich jemals von allen Frauen Lebenszusammenhänge ableiten können?
Ich mußte schweren Herzen den Kreis einschränken. Dazu stellte ich fünf Kriterien auf:

  1. Alle Frauen lebten im deutschsprachigen Raum.
  2. Alle Frauen sind zwischen 1760 und 1770 geboren. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem letzten Jahrzehnt des 18. und auf dem ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts.
  3. Alle Frauen gehörten einer sozialen Schicht an, dem sogenannten Bildungsbürgertum. Sie stammten aus wohlhabenden bürgerlichen oder adligen Familien. Aus der Zugehörigkeit zur selben sozialen Schicht ergeben sich vergleichbare Tätigkeiten im haus wirtschaftlichen und im beruflichen Bereich.
  4. Alle Frauen waren Schriftstellerinnen, genauer: sie waren eine Zeit ihres Lebens literarisch tätig gewesen und hatten das Glück, ihre literarischen Produkte verkaufen zu können.
  5. Alle Frauen mußten ausreichende und aussagekräftige Quellen hinterlassen haben.

In diesem Raster blieben elf Schriftstellerinnen hängen. Herausgefallen waren damit ältere (z. B. Sophie LaRoche) und jüngere (z. B. Caroline von Günderode) Schriftstellerinnen, interessante Künstlerinnen (z. B. Dora Stock), Pädagoginnen (z. B. Amalia Holst) und Frauen, die weder schrieben noch künstlerisch tätig waren (z. B. Caroline von Herder). Von einer großen Anzahl von Schriftstellerinnen gab es keine oder nicht genug persönliche Quellen. Deshalb mußte ich auch auf sie verzichten.

3. Frauenbriefe als historische Quellen

Was zählte nun aber zu den persönlichen Quellen? Für den gewählten Zeitabschnitt kamen vorrangig Briefe in Betracht. Sie waren damals zwischen Freunden und Bekannten das Kommunikationsmittel. In gedruckter Form gab es sie erst lange nach dem Tod der Schreiberinnen. Sie wurden also erst im Nachhinein zum literarischen Produkt. Geschrieben wurde der Brief, um Nachrichten und intime Gefühle, Allgemeines und Persönliches Freunden und Bekannten zu übermitteln. Gerade das Beiläufige dieser nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Briefe machte sie für meinen Zweck so wertvoll. Hier suchte und fand ich die direkten und persönlichsten Aussagen der Schreiberinnen. Der Brief machte gerade in jenen Jahren einen Wandel vom »subjektiv-privaten zu einem subjektiv-literarischen Medium« durch (Bovenschen, 211). Dieser Wandel ermöglichte einigen Frauen mit einem neuartigen Produkt, dem Briefroman, den Eintritt in die literarische Zunft. Die zahlreichen Frauenbriefe des 18. Jahrhunderts hatten aber kaum den von Jürgen Habermas Männerbriefen zuerkannten Publikumsbezug (Habermas, 63). Zwar wurden besonders gelungene Frauenbriefe, ähnlich wie Männerbriefe, im Bekanntenkreis herumgezeigt. Aber dies war kein Anlaß, an eine Veröffentlichung auch nur zu denken. Briefe berühmter Männer wurden dagegen trotz (oder gerade wegen?) ihrer Subjektivität schon zu ihren Lebzeiten gedruckt.
Rahel Varnhagen von Ense, die nicht (außer ihrer enormen Briefproduktion) zu den Schriftstellerinnen zählte und aus diesem Grund in meiner Untersuchung nicht auftaucht, merkte am Schluß eines Briefes an, was sich alles ereignete, als sie diesen Brief schrieb:

»Bei mir war während diesem Brief: Herr Passalaqua, denn ein Schneider, dem ich Kinderkleider bezahlte; ein Billett um Bücher von der Generalin von Hünerbein; verschiedentlich meine Jungfer, ich soll ausgehn! will sie.« (an Minna von Zielinski, Berlin, 1828; Kemp, 308).

Charlotte von Kalb zählte in ihren Memoiren spaßeshalber auf, was Frauen einander im allgemeinen brieflich mitteilten:

»Wetter und Weg - Schleife und Schuhe - Blumen wie Kuchen -« (Gedenkblätter, 136).

Empfänger der Briefe waren Freundinnen, Freunde, Verlobte, Ehemänner, gute Bekannte. Der Aussagewert der Briefquellen als Darstellung privatester Gefühle steigt mit der Intensität der Beziehung zum jeweiligen Briefpartner.

Der Wert der Quellen
Bei der Einschätzung der Briefe als Quellen merkte ich jedoch bald, daß die heute noch auffindbaren Briefe der Frauen nicht alles wiedergaben, was die Schreibende dachte, fühlte und tat. Banales, Selbstverständliches und aus moralischen Gründen nicht schriftlich Fixierbares wurde - leider - oft ausgelassen. Briefe an engste Freunde wurden schließlich auch nur dann geschrieben, wenn die Brief-Partner nicht zusammen lebten. So gingen Briefe nur hin und her, wenn eine Person auf Reisen war und die andere zu Hause blieb. Ebenso, wenn Ehefrau und Ehemann nicht denselben Wohnort hatten, oder wenn die Freundin an einem anderen Ort wohnte. Es war mir also kaum möglich, anhand eines Briefwechsels einer Person lückenlose Auskunft über ihr Alltagsleben zu erhalten. Briefe gaben nur Ausschnitte wieder, die allerdings dann, wenn ich die mehrerer Personen zusammen betrachtete, einander ergänzten. Zudem: Briefe hatten andere Schwerpunkte als das Alltagsleben. Über die verschiedensten Dinge wurde brieflich kommuniziert; nur am Rande, geradezu beiläufig, erschienen Schilderungen des Alltags. Mit der Zeit wurde mir auch klar, daß die Zahl der überlieferten Briefe vom Sammelfieber der Briefempfänger/innen abhing. Bei weitem nicht alle tatsächlich geschriebenen Briefe existieren heute noch. Ob sie weggeworfen oder gesammelt wurden, bestimmte der Grad, in welchem die Schreiberin von der Empfängerin geschätzt wurde. Daneben war dies auch abhängig von der Wertung des Geschriebenen: Galt es als wertvoll oder als unnütz?
Nach dem Tod der Briefschreiberinnen verwalteten Kinder, später Enkel/innen den Nachlaß (vgl. Sydow I, Vorwort). Auch durch diese Übernahmen sind wahrscheinlich Briefe verlorengegangen. Nur ein ausgesprochener Briefsammler wie Karl August Varnhagen von Ense archivierte sämtliche eigene Korrespondenzen und diejenigen seiner Ehefrau.
Je mehr ich las, desto mehr mußte ich erkennen, daß viel Wissenwertes fehlte. Ich fand heraus, daß einige Frauen so manche geschriebene Briefe zurückforderten. Der Inhalt der Briefe war ihnen im Nachhinein, oft nach Jahren erst, aus politischen oder moralischen Gründen unangenehm geworden. Sie vernichteten einzelne Briefbögen, ganze Briefe oder vollständige Briefwechsel.
Caroline Böhmer-Schlegel-Schelling etwa forderte ihre Briefe mit sehr wahrscheinlich politisch brisantem Inhalt, die sie während ihres Aufenthaltes in der Mainzer Republik und während ihres Gefängnisaufenthaltes in Königstein geschrieben hatte, von ihrer Schwester Luise Wiede-mann sowie von Therese Forster-Huber und Ludwig Ferdinand Huber zurück (Schmidt I, Vorwort). Alle diese Briefe wurden von ihr vernichtet. So wissen wir heute recht wenig über die damaligen politischen Vorstellungen und Aktivitäten Carolines. Da viele ihrer erhaltenen Briefe außerdem nur noch fragmentarisch existieren, ist es wahrscheinlich, daß sie auch Briefstellen selbst abschnitt.
Charlotte von Kalb schilderte, wie sie ihren Briefwechsel mit Friedrich Schiller verbrannte (Gedenkblätter, 161). Auch Therese Forster-Huber warf große Teile ihrer Korrespondenz ins Feuer (Geiger, 379). Caroline von Beulwitz-Wolzogen verfügte testamentarisch die Vernichtung eines Teiles ihres Nachlasses, von dessen Vollzug der Herausgeber ihres Nachlasses berichtet (Hase I, Vorwort). Darüber hinaus machte sie im Briefwechsel mit Schiller Zeilen und Worte unkenntlich oder besserte sie aus. Damit sollte das Dreiecksverhältnis zwischen ihr, Schiller und ihrer Schwester verschleiert werden. Der Herausgeber kommentiert:

»Man erkennt noch deutlich die Correcturen der späten, zitternden Hand in Schillers fester schöner Handschrift, wie an die Stelle des Plurals oder vielmehr Duals der Singular gesetzt, und an besonders leidenschaftlichen Stellen die Caroline gestrichen und eine >theure Lotte< zur Abschrift für den Druck eingeschoben ist« (a. a. O.).

Und dennoch blieben hunderte von langen, kurzen, interessanten oder langweiligen Briefen übrig, die heute in Archiven in der BRD, DDR, Polen und in Privatbesitz verstreut sind. Die öffentlich Zugänglichen beschaffte ich mir.

Die Zensur der Herausgeber/innen
Nachdem ich die handschriftlichen Briefe entziffert und gelesen hatte, kämmte ich die zahlreichen Briefsammlungen nach den vollständigsten durch. Ich hatte ja nun Vergleichsmöglichkeiten. Dabei mußte ich feststellen, daß die Herausgeber/innen dieser Briefsammlungen oft eine subjektive Auswahl aus den umfangreichen Korrespondenzen trafen, je nach Moralvorstellungen, Zeitgeist und Lebensansichten. Löbliche Ausnahmen waren Fielitz und Foerst-Crato. Die meisten Herausgeber/ innen ließen nicht nur ganze Briefe unter den Tisch fallen, sondern kürzten auch so manchen Brief. Oft betrafen die Streichungen gerade die Stellen, die Auskunft über das Alltagsleben geben, da dies für zu langweilig und damit für wertlos oder sogar für moralisch anstößig gehalten wurde.  Nicht benutzen konnte ich daher jene Ausgabe von Caroline Böhmer-Schlegel-Schellings Briefen, bei der der Herausgeber Waitz die in seinen Augen politisch und moralisch verwerflichen Stellen wegließ, Sydow, Leitzmann und Raich erwähnten gar die von ihnen vorgenommenen Kürzungen weder im Vorwort noch kennzeichneten sie sie im
Text. Erst im Vergleich mit den Handschriften fielen mir ihre Ausgrenzungen auf.                             
Fielitz vermerkte die Auslassung einiger Worte »pathologischen Inhalts« mit exakter Angabe ihrer Anzahl. Es handelte sich um zwei Berichte Friedrich Schillers an seine Schwiegermutter über zwei von Lotte glücklich überstandene Entbindungen.
Schmidt wie Leitzmann strichen vor allem Alltägliches und allzu Persönliches. Schmidt gab jeweils in Klammern an, was er ausgelassen hatte: Hausangelegenheiten, Besorgungen. In den handschriftlichen Briefen Carolines fand ich dann die betreffenden Stellen, oft nur einzelne Sätze über Einkaufen, Aufträge, Wohnungswechsel oder das liebe Geld. Vor allem Erwähnungen von Schulden im Schlegelschen Familien- und Bekanntenkreis hatte Schmidt restlos gestrichen.
Die meisten Herausgeber/innen korrigierten vor dem Druck die Sprache und Schreibweise der Briefschreiberinnen. Fehlende Satzzeichen wurden ergänzt, die altertümliche Schreibweise wurde, modernisiert, Schreibfehler wurden korrigiert. Dagegen ließen Fielitz, Foerst-Crato, Körner und Wieneke neben Schreibfehlern auch Dialektfehler stehen. Dadurch gewinnen diese Briefe an Originalität. Denn oft schrieben die Frauen nach dem Gehör, weniger nach orthografischen Richtlinien. Dies verlieh den Briefen sehr individuelle Züge.
Die subtile Zensur der Herausgeber/innen fiel mir gerade im Vergleich mit den Handschriften auf. Alltägliches, was für mich wichtig gewesen wäre, war verloren, wenn ich das Original nicht zur Verfügung hatte.

4. Subjektivität und ihre Ergänzung

Mit dem traditionellen Handwerkszeug der historischen Zunft war ich also einer Handvoll Frauen sehr nahe gekommen. Nun stellte sich das Problem: Konnte ich mit dem Raster, das Ulrike Prokop für heutige weibliche Lebenszusammenhänge aufgestellt hatte, an diese Frauen herangehen, die in einer ganz anderen Zeit, unter ganz anderen Bedingungen gelebt hatten?
Hätte ich das Raster, nun einfach auf die von mir gewählte Untersuchungszeit übertragen, wäre dies wieder eine der oft anzutreffenden, aber unzulässigen und ahistorischen Projektionen heutiger Denkmuster auf die Geschichte geworden. Ich machte mich also, ohne zunächst ein  Raster anzulegen, an die Analyse der Briefe. Ich durchforschte sie nach Aussagen, die Auskunft gaben über das, was für die Frauen selbst subjektiv lebensbestimmend gewesen ist. Nur die eigenen Aussagen der Frauen sollten dabei Maßstab sein. Damit hatte ich eine erste Untersuchungsebene: die persönliche Ebene des subjektiven Erlebens dieser Frauen. Verschiedene Bereiche kristallisierten sich bei dieser Briefanalyse heraus:

  • Hauswirtschaft
  • Schriftstellerei
  • Wohnverhältnisse
  • Sexualität
  • Schwangerschaft, Geburt
  • Verhältnis zu Kindern, zum Lebenspartner, zu anderen Menschen überhaupt
  • Ansichten über Politik und Kultur
  • Mode

Ich ordnete sämtliche Aussagen in diese Bereiche und begann, jeden Bereich für sich zu untersuchen. Dabei kam ich zur zweiten Ebene: zur Rekonstruktion der äußeren Umgebung. Hiermit konnte ich die Lebensbereiche der Frauen in materieller Hinsicht erfassen. Diesen Schritt hatte ich mir einfacher vorgestellt, als er war. Nur ein Beispiel: Eine Küche aus dieser Zeit, die exakt für den Familien- und Einkommensstand der Schriftstellerinnen gepaDt hätte, fand ich nicht. Die Küche im Kirschgartenmuseum in Basel war zu prächtig und kostbar, als daß die Schriftstellerinnen sie sich hätten leisten können. Diese Erfahrung mit Wohnungseinrichtungen machte ich häufig: In Museen sind aus der von mir gewählten Zeit entweder nur kostbare Stücke ausgestellt oder bäuerliche. Ganz anders ist dagegen die Epoche später mit ihren bürgerlichen Biedermeierzimmern repräsentiert.

Zur Hauswirtschaft
Zur Rekonstruktion einer Küche und deren Einrichtung habe ich schließlich auf vorhandene Puppenküchen jener Zeit zurückgegriffen. In ihnen fand ich, angeregt von Wilckens (1978), alle wichtigen Gegenstände und konnte den Aufbau einer Küche damit rekonstruieren. Doch die Dinge waren kalt und tot, und vieles sagte mir überhaupt nichts. Ich erfüllte sie mit Leben, indem ich zeitgenössische Lektüre über Hauswirtschaft heranzog (Poser und Groß-Naedlitz). Hier erlebte ich eine angenehme Überraschung, denn es tat sich eine Fülle von für und von Frauen verfaßten Lehrbüchern zur Hauswirtschaft auf. Ich wählte diejenigen aus, die vom Erscheinungsjahr her möglicherweise von den Schriftstellerinnen benutzt wurden. Bei den Kochbüchern habe ich dazu noch einen inhaltlichen Querschnitt vorgenommen: von den üppigen Rezepten der Friederike Luise Loeffler, die »Landschaftsköchin« war (sie bekochte die Abgeordneten des damaligen Herzogtums Württemberg) bis zum sparsamen »Dresdner Kochbuch«.
Briefe, Kochbücher, Lehrbücher zur Hauswirtschaft und Puppenküchen waren also die Quellen für meine Rekonstruktion der hauswirtschaftlichen Tätigkeiten der Schriftstellerinnen.

Zu den Wohnverhältnissen
Als Quellen zur Rekonstruktion der Wohnverhältnisse dienten Beschreibungen der Wohnungen bzw. Häuser in den Briefen. Aufgrund dieser brieflichen Schilderungen habe ich Skizzen entworfen, die Grund-und Aufrisse der Wohnungen darstellen. Diese Skizzen sind allerdings nicht maßstabsgetreu.
Einen maßstabsgetreuen Rekonstruktionsversuch der Schillerschen Wohnung in Weimar (Windischengasse 8, 2. Obergeschoß) stellte mir der Direktor der Bau- und Denkmalpflege der Nationalen Forschungsund Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar, Herr Dr. Seifert, zur Verfügung.
Einige der von den Frauen bewohnten Häuser stehen heute noch. Nach Möglichkeit habe ich auch diese zur Rekonstruktion benutzt. Innenräume habe ich mit zeitgenössischen bildlichen Darstellungen sowie mit Museumsstücken zu erfassen versucht.

Zum Verhältnis zum Lebenspartner
Was konnte ich nun aber über immaterielle Dinge, etwa das Verhältnis der Schriftstellerinnen zu ihren Ehemännern oder Partnern, herausfinden? Zunächst schwebte mir auch hier die Rekonstruktion vor: Was spielte sich damals zwischen den Geschlechtern ab? Doch dann fiel mir auf, daß dies nicht die zentrale Frage sein konnte. Zudem: was sich tatsächlich zwischen den Partnern abspielte, ist nie ganz wahrheitsgetreu nachzuvollziehen. Es kam vielmehr darauf an, herauszufinden, welche Gefühle die Frau zum Mann damals entwickelte. Ich beschränkte mich also bei der Analyse auf die subjektiven Erfahrungen, die die Schriftstellerinnen in ihren Briefen äußerten.

Zu Schwangerschaft und Gebären
Einzelheiten über Schwangerschaft und Geburt waren aus den Briefen kaum zu erfahren. Daher habe ich auf zeitgenössische Lehrbücher zur Geburtshilfe zurückgegriffen. Diese illustrieren die Vorstellungen der maßgebenden Ärzte und Geburtshelfer der Zeit über die Vorgänge im weiblichen Körper und geben Auskunft über den damaligen Stand der gynäkologischen Forschung. Die Analyse der medizinischen Literatur stellt eine Möglichkeit dar, wie die Umstände beim Gebären erfaßt werden können. Die gewonnenen Erkenntnisse sind jedoch nur unter der Einschränkung zu würdigen, daß diese Literatur von der Seite der Ärzte her beschreibt, nicht von der Seite der Gebärenden selbst. Johann Christian Stark, der Geburtshelfer Lotte Schillers, gab eine Zeitschrift zur Geburtshilfe heraus, in der ich ebenfalls Einzelheiten nachgeschlagen habe.

Zur Mode
Modejournale habe ich als Quellen für Kleidung und Mode, aber auch als Quellen für die Gestaltung der Inneneinrichtung verwendet. Das von Friedrich Justin Bertuch herausgegebene »Journal des Luxus und der Moden«' erschien 1786 bis 1827 monatlich. Es fand mit seinen Berichten aus den Modezentren London und Paris, seinen Artikeln über Kunstgewerbe und Möbel und seiner regelmäßigen Theaterberichterstattung großen Anklang bei den gebildeten Leser/innen/n. Zu alldem bisher Aufgezählten kamen noch Memoiren der Schriftstellerinnen. Manche Familie konnte auch mit einer eigenen Chronik aufwarten. Grundlage meiner Untersuchung waren also die Briefe der Frauen. Die anderen Quellen habe ich als Ergänzung benutzt, um Vorgänge zu erhellen und zu illustrieren. Nur am Rand habe ich mit Briefen von Männern gearbeitet. An den Stellen, an denen ich sie angeführt habe, dienen sie lediglich zur bereichernden Darstellung alltäglicher Vorgänge.
Die Lebensläufe der Frauen waren die Ausgangspunkte meiner Forschungen. An ihnen entlang gehend, habe ich die Lebenszusammenhänge aufgerollt. Ich wollte ja keine Aneinanderreihung von elf Biogra-fien, nicht den individuellen Alltag jeder einzelnen Frau darstellen. Dies können nur Einzelbiografien leisten, die allerdings erst noch geschrieben werden müßten. Zwar gibt es zahlreiche Biografien dieser Schriftstellerinnen. Sie sind jedoch meist veraltet, mit wenig Sorgfalt recherchiert oder gar tendenziös geschrieben und daher heute als Biografie kaum brauchbar.
Bei der Erfassung eines lückenlosen Lebenslaufs, was natürlich auch zum Lebenszusammenhang gehörte, mußte ich teilweise Umwege gehen. Die »Neue Deutsche Biografie« führt zwar die Schriftstellerinnen auf, ist aber noch nicht vollständig erschienen. In der »Allgemeinen Deutschen Biografie« mußte ich über Ehemänner, Väter oder Brüder nach Lebensdaten der Schriftstellerinnen suchen. Schindel jedoch gab oft auch über Kinder, Schwestern und Brüder Auskunft.

5. Die Geschichte weiblicher Produktivität

Im Verlauf der Arbeit entwickelte sich also meine Methode zur Erfassung weiblicher Lebenszusammenhänge:
Der erste Schritt ist die Festlegung auf einen Zeitabschnitt und auf einen Personenkreis. Dann beginnt die Suche nach direkten und persönlichen Aussagen der Frauen. Diese Aussagen werden nach für die Frauen subjektiv zentralen Lebensbereichen gegliedert. Dann wird jeder einzelne Bereich in sich analysiert und mit anderen Quellen ergänzt. Der Phantasie und dem Spürsinn sind dabei keine Grenzen gesetzt: Kleider, Schuhe, Möbel, Bilder, Häuser, Gärten, Spielsachen, Geschriebenes, Gedrucktes, Gemaltes und vieles andere mehr. Am Schluß stehen zentrale Lebensbereiche nebeneinander. Querverbindungen und Wechselwirkungen untereinander ergeben sich von selbst. Mit dieser Methode kann die Frage nach der weiblichen Produktivität nicht spekulativ, sondern konkret für eine Gruppe von Frauen und für einen Zeitabschnitt beantwortet werden. Bei allem kommt es darauf an, weiblichen Aktivitäten Aufmerksamkeit zu schenken, und sich nicht daran zu orientieren, was die Geschichte über Schwerpunkte der Zeit sagt. Als ökonomische Basis weiblicher Lebenszusammenhänge ergibt sich so der Bereich weiblicher Tätigkeiten im allgemeinen. Dazu gehört die »frauenzentrierte Familienökonomie« (Kuhn 1983) und sämtliche weibliche Tätigkeiten, die Geld einbringen.
Für die Rekonstruktion jeglichen Frauenalltags ist der weibliche Körper, seine biologischen Funktionen wie Schwangerschaft und Geburt ebenfalls von zentraler Bedeutung. Hinzu kommt das Verhältnis der Frau zu ihrem Körper, ihre Sexualität sowie die äußere Aufmachung der Frau: die Requisiten der Weiblichkeit. Das Denken der Frau bestimmt als dritter wesentlicher Punkt den Lebenszusammenhang. Ihr Verhältnis zu den herrschenden Machtstrukturen fällt ebenso darunter wie deren Auswirkungen auf ihr Leben, auf ihr Handeln im allgemeinen und im persönlichen Bereich. Der zwischenmenschliche Bereich ist zentral im weiblichen Lebenszusammenhang. Sämtliche Gefühle der Frau, Gefühle den Lebenspartnern und den Kindern gegenüber gehören dazu. Aus den Gefühlen heraus ergeben sich Querverbindungen zu Tätigkeiten, vor allem im zwischenmenschlich-häuslichen Bereich; oder Zusammenhänge zu biologischen Funktionen.