Sex, Krankheit und gesellschaftliche Sanktionen
Aids als eine in afrikanischen Ländern und Haiti auftretende Krankheit war den europäischen und nordamerikanischen Medien zunächst kaum eine Meldung wert. Dann begann sich Aids unter Schwulen in den USA und anderen westlichen Ländern auszubreiten; das allerdings war eine Nachricht, die es der Sensationspresse erlaubte, sämtliche Klischees über den Zusammenhang zwischen moralischem Verfall und körperlicher Krankheit wieder aus der Versenkung zu holen und aufzubereiten. Dann fand man Aids-Kranke unter den Fixern. Obwohl dies ähnlich interpretiert wurde - alles Ungesetzliche sei zugleich unmoralisch und werde von Gott bestraft -, führte die relative Unsichtbarkeit der Drogenabhängigen dazu, daß weiterhin schwule Männer im Blickpunkt der Öffentlichkeit blieben. In mehreren amerikanischen Städten wurden sämtliche Saunen für Schwule geschlossen, da sie anonymen sexuellen Begegnungen Vorschub leisteten; Restaurants, in denen schwule Kellner bedienten, wurden von furchtsamen heterosexuellen Bürgern forthin gemieden. Die Schwulen selbst reagierten ambivalent auf die neue Krise: Während viele ihrer Aktivisten die Auffassung vertraten, das Wichtigste sei jetzt, Männer über »Safer Sex« aufzuklären, statt Verbote zu erlassen, gab es auch mahnende Stimmen, die vor einem »Lebenswandel« warnten, der angeblich die Ausbreitung des Aids-Virus begünstige. Und so war von »kultivierten« Bars für Schwule zu lesen, in denen nicht Sex, sondern die gute alte homosoziale Freundschaft gepflegt und gefördert wurde und die zunehmend die »harten« Sex-Bars in New York ersetzten; und tatsächlich fanden viele schwule Männer - ohnehin emotional frustriert von häufigem Partnerwechsel - neue Argumente dafür, monogam oder enthaltsam zu leben.
Dann (Mitte der achtziger Jahre) entdeckte man das Virus auch bei Frauen, die mit bisexuellen Männern schliefen, bei Babies, deren Mütter oder Väter infiziert waren, und bei anderen Menschen, die auf eine Weise zu »Opfern« stilisiert wurden, wie es mit schwulen Männern nie geschehen war - unabhängig von ihrer Lebensweise. Die Medien stürzten sich auf den »neuen Aspekt« der Aids-Krise, die ansonsten allmählich langweilig und keine Nachricht mehr wert gewesen wäre. Dieser neue Aspekt hieß: »Breitet sich Aids jetzt in der >Normalbevölkerung< aus?« Eine regelrechte Panik brach aus und richtete sich gegen die jeweils als Feinde ausgemachten gesellschaftlich oder sexuell »anderen«. Ein kommunistischer Mexikaner in meinem Bekanntenkreis behauptete zum Beispiel, in Mexiko seien die Swimmingpools nicht mehr sicher, denn die Amerikaner verbreiteten dort das Aids-Virus. Im allgemeinen jedoch wurde Aids nicht mit der Verderbnis der Nation gleichgesetzt, sondern mit der moralischen Verderbnis jener »devianten« Minderheit, derer die Gesellschaft und die Autoritäten angeblich zu viel Freiheit gelassen hatten.
Als ich dieses Buch schrieb, machten sich nur sehr wenige Frauen wegen Aids Sorgen; Lesben waren gar davon überzeugt, auf magische Weise immun dagegen zu sein, schließlich hätten sie ja nicht nur nichts mit schwulen oder bisexuellen Männern zu tun, sondern überhaupt nichts mit Männern. Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute gibt es Informationsschriften über »Safer Sex« für Menschen aller sexuellen Präferenzen, und eine Vielzahl an Arbeitsgruppen wird angeboten. Ich persönlich wurde mit dem Thema unmittelbar konfrontiert, als ich vor wenigen Monaten darüber nachdachte, ein Kind zu bekommen. Der potentielle Vater hätte theoretisch HIV-positiv sein können; glücklicherweise stellte sich im Test heraus, daß er es nicht war; doch zum ersten Mal wurde ich in jenes Geflecht aus Ängsten und schwierigen Entscheidungen einbezogen, in dem sich meine schwulen Freunde schon seit einiger Zeit befanden. Zweifellos haben sich die Menschen durch die Aids-Diskussion verändert. Doch können wir wirklich behaupten, daß Aids die Änderung unserer sexuellen Einstellungen und Praktiken bewirkt hat?
Krankheiten bewirken gesellschaftliche Veränderungen nicht unmittelbar. Zu behaupten, Aids habe eine Rückkehr zu traditionellen Werten wie Monogamie oder Minoritätenfeindlichkeit verursacht, ist ebenso irreführend wie die Behauptung, das Auftreten von Geschlechtskrankheiten habe zur Stigmatisierung von Prostituierten im neunzehnten Jahrhundert geführt. Natürlich sind Krankheiten für die Menschen, die an ihnen leiden, Wirklichkeit; doch für das, was wir gemeinhin euphemistisch »die Öffentlichkeit« nennen, sind Krankheiten soziale Konstrukte von häufig symbolischer und mythischer Bedeutung. Aids verbreitete sich größtenteils in Reagans Amerika - einer Kultur, die im Begriff war, die Sexualerziehung abzuschaffen und dafür das Schulgebet wieder einzuführen. Für die Millionen Amerikanerinnen, die weder selbst Aids haben noch jemanden kennen, die/der mit dem Virus infiziert ist, stellt Aids eine symbolische Plage der Menschheit dar und nicht etwa eine konkrete Krankheit, gegen die medizinische Heilverfahren entwickelt werden müssen. In Kanada verweigert die Regierung Aids-Infizierten die Genehmigung, an »experimentellen Behandlungsformen« teilzunehmen, die zwar wirksam zu sein scheinen, aber bislang noch nicht ausreichend getestet worden sind. Wir sollten Aids also auch als ideologisches Schlachtfeld betrachten (wie Tuberkulose oder Hysterie im neunzehnten Jahrhundert), auf dem kulturelle Kämpfe ausgetragen werden - ein Kollisionspunkt unterschiedlicher sozialer Strömungen.
Es kann gar keinen Zweifel daran geben, daß die westliche Welt derzeit eine tiefe Krise durchlebt, was die gesellschaftliche Regulierung von Sexualität und Reproduktion betrifft. Die heftigen Kontroversen um Themen wie Abtreibung oder Gen- und Reproduktionstechnologie (die geführt werden, als seien diese Technologien selbst der Grund für die Entstehung sozialer Probleme) sind Beispiele dafür, daß es nicht das Aids-Thema ist, nicht nur Homosexualität und »Promiskuität«, die für Staat und Gesellschaft Probleme darstellen. Aids ist für all diejenigen ein ganz konkretes Problem, die mit dem Virus infiziert sind, sowie für ihre Geliebten und Freundinnen und für all jene, die befürchten, HIV-positiv zu sein. Doch Expertinnen, Medien und Zeitungsleserinnen lassen diesen Erfahrungsstandpunkt gewöhnlich außer acht. Um die Erfahrung von Aids hat sich nämlich eine Aids-Institution gebildet, in der Forscher und Ärzte als Helden fungieren, die Infizierten dagegen entweder als verachtenswerte Sünder oder arme Opfer oder beides. Es wird zweifellos versucht werden, mit Hilfe der Aids-Institution die unterschiedlichsten gesellschaftlichen und moralischen Krisen zu bewältigen. Die Aids-Institution hat bereits neue Formen von sexueller Kontrolle hervorgebracht (so sind in manchen Gegenden Aids-Tests zwingend vorgeschrieben, um eine Heiratsgenehmigung zu bekommen -ähnlich wie in den zwanziger Jahren die Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten). Doch wieder einmal wird gesellschaftliche Kontrolle über sexuelles Verhalten indirekt ausgeübt, ohne daß offen über die sexuellen Überzeugungen, Praktiken und Hoffnungen der Menschen diskutiert würde. Das »Gesundheitswesen« absorbiert die Erfahrung von Aids; allen verzweifelten Versuchen von Aids-Selbsthilfegruppen zum Trotz, die Krankheit als Anlaß zu Diskussionen zu nutzen, als Gelegenheit, Menschen zu helfen, die Kontrolle über ihr emotionales, körperliches und sexuelles Er-Leben wiederzuerlangen.
Zwar schreibe ich in diesem Buch nicht über das Thema Aids (genausowenig wie über Abtreibung, Reproduktionstechnologie, Prostitution und andere sexuelle Fragen, die zu Themen des »öffentlichen Interesses« geworden sind). Dennoch hoffe ich sehr, daß mein Versuch, ein Nachdenken über unsere Sexualität aus dem Blickwinkel unserer Erfahrungen und unserer Bedürfnisse heraus in Gang zu bringen, nicht nur hilfreich sein kann, wenn wir über unsere Beziehungen diskutieren oder unsere eigene sexuelle Identität suchen, sondern auch bei Gesprächen über Krankheit, Schwangerschaft und Reproduktion, ja sogar wenn es um das Sterben geht. Dieses Buch will nicht über bestimmte »Themen« informieren oder Ratschläge erteilen, sondern zu einem unvoreingenommenen Nachdenken über unsere Sexualität anregen - ein Nachdenken das immer nötig ist, besonders aber in zunehmend konservativen Zeiten.
Toronto/Kanada Januar 1989