Als Feministinnen müssen wir uns mit einer ganzen Reihe von Schwierigkeiten auseinandersetzen, wenn wir anfangen, uns Gedanken über moralische oder ethische Wertmaßstäbe zu machen. Als eine der ersten Fragen müssen wir entscheiden, wie sinnvoll es eigentlich ist, »universale« Werte und Gesetze (vor allem männlich definierte) solchen Werten gegenüberzustellen, die als »weibliche« oder »feminine« Werte bezeichnet werden.
Eine ganze Reihe zeitgenössischer feministischer Theoretikerinnen, darunter vor allem Carol Gilligan, hat versucht, spezifisch »weibliche« moralische und intellektuelle Qualitäten zu entdecken, und benutzt diese zur Konstruktion eines ethischen Systems, das den Erfahrungen und Bestrebungen von Frauen entsprechen soll. Seit der Suffragettenbewegung um die Jahrhundertwende haben Feministinnen immer wieder darauf hingewiesen, daß die moralischen Qualitäten, die traditionellerweise Frauen zugeschrieben wurden (etwa Fürsorglichkeit, Einfühlungsvermögen, Selbstlosigkeit), allein durch ihr Vorhandensein die Möglichkeit andeuten, daß nicht unbedingt brutale Gewalt und Konkurrenzdenken die Welt regieren müssen. Viele frühe Feministinnen glaubten, wenn diese »weiblichen« Prinzipien auch in der Öffentlichkeit und nicht nur im Privatbereich etwas gälten, dann wäre diese Welt - mit den Worten der kanadischen Suffragette Nellie McClung - »ein angenehmerer, sauberer, sicherer Ort als sie jetzt ist!«
Feministinnen haben auch darauf hingewiesen, daß die positiven Aspekte der »weiblichen« Moral von den eher negativen Merkmalen der Selbsterniedrigung und des Mangels an Selbstwertgefühl unterschieden werden können. Außerdem bedeutet die Tatsache, daß Frauen sensibler und fürsorglicher sind, keineswegs, daß sie weniger rational sind als Männer. Carol Gilligan vertritt die Auffassung, das »intuitive« Einfühlungsvermögen bei Frauen sei im ethischen Denken der Männer herabgewürdigt und ignoriert worden.[1] Doch es ist gesellschaftlich von Vorteil, so Gilligan, daß Frauen in der Lage sind, beide Seiten eines moralischen Dilemmas zu sehen und in moralischen Fragen die konkreten Umstände miteinzubeziehen. Männer dagegen neigten dazu, abstrakte Urteile zu fällen, die auf universalen und unflexiblen Regeln beruhten. Gilligan ist der Ansicht, daß eine Gesellschaft, die aufmerksam wird für die Art und Weise, wie Frauen im Alltag moralische Entscheidungen treffen - indem sie widersprüchliche Interessen ausgleichen und sich über die Konsequenzen von Entscheidungen für alle Beteiligten Gedanken machen -, besser in der Lage sein werde, eine menschlichere, weniger abstrakte und weniger sexistische Ethik zu begründen.
Doch das Problem bei jedem Versuch, sexistische Vorurteile der traditionellen ethischen und moralischen Theorie zu korrigieren, besteht darin, daß es so etwas wie eine universale »Erfahrung von Frauen« - auf die wir verweisen und die wir als unsere Basis für ein nützlicheres und weniger wertendes moralisches System verwenden könnten - gar nicht gibt. Abgesehen von geschlechtsspezifischen Werten hat jede Kultur und jede soziale Gruppe innerhalb einer Kultur auch bestimmte allgemeine Vorstellungen von Recht und Unrecht, Pflichten und natürlichen oder unnatürlichen Verhaltensweisen, und diese Vorstellungen beeinflussen sowohl Frauen wie Männer. Diese Vorstellungen oder Normen, die gewöhnlich mehrdeutigen Charakter haben, wurden sowohl als absolut allgemein gültige wie als besonders dem männlichen moralischen Subjekt angemessene Grundsätze betrachtet.
Ein Beispiel dafür untersucht Adrienne Rich in ihrem brillanten Essay »Frauen und Ehre: Einige Gedanken über das Lügen«. Sie beschäftigt sich darin mit der traditionell vorgebrachten Forderung, es sei ehrenhaft, immer die Wahrheit zu sagen.[2] Dies scheint für beide Geschlechter gleichermaßen zu gelten; doch Frauen wurden traditionell für unfähig gehalten, die Wahrheit eindeutig vom Schein oder von der Lüge zu unterscheiden. Man betrachtete sie als kleine Lügnerinnen von Natur aus, die sich der Bedeutung einer wahrhaftigen Sprache nicht bewußt seien. Der Ausdruck »Manneswort« bedeutet, daß ein Mann die Wahrheit sagt und seine Äußerung mit seiner Ehre als Mann unterstreicht. Doch es gibt keinen Ausdruck wie etwa »Frauenwort« oder »das Wort einer Frau«, und wenn wir eine vergleichbare Äußerung irgendwo finden, dann mag es sich eher um einen Euphemismus für eine Lüge handeln. Die Ehre von Frauen, so Rich, basierte traditionellerweise auf der privaten und unmittelbaren Beziehung ihres Körpers zu dem ihres Ehemannes und/oder ihrer Familie. Die Ehre einer Frau wird gleichgesetzt mit Keuschheit; eine passive körperliche Qualität. Die Ehre von Männern ist demgegenüber eine hehre Sache, die sich auf seine Rede, die Öffentlichkeit, Wirtschaftsverträge, Kriege und andere Gelegenheiten für ernsthafte Gedanken oder moralische Erbauung bezieht. Trotz der Überzeugung, daß Frauen keinen
Zugang zu diesen Bereichen der Ehre haben, wird eine Frau, die lügt, dafür beschuldigt. Wir sehen also den mehrdeutigen Charakter der traditionellen ethischen Werte: Sie gelten - irgendwie - auch für Frauen, sind jedoch vor allem für Männer gemeint, die sich in der Welt als männlich beweisen wollen.
Diese Mehrdeutigkeit kann man bei den christlichen Vorstellungen von Heiligkeit erkennen. Einige wenige Frauen wurden aufgrund von »männlichen« Taten heiliggesprochen; dazu gehörten theologische Auszeichnungen oder die Beteiligung an Heiligen Kriegen (z.B. die Heilige Teresa von Avila oder Jeanne d’Arc); doch diese weiblichen Heiligen sind im Grunde Kuriositäten, die gewöhnlich zu Lebzeiten von der Kirche verfolgt wurden. Frauen allgemein kommen nur dann in die Nähe der Heiligsprechung, wenn sie sich als ganz besonders weiblich erweisen. Das Paradigma des geheiligten Frauseins besteht in der »Jungfrau und Märtyrerin« der katholischen Tradition, die schweigend, passiv, jung, asexuell und rein zu sein hatte, bis zum bitteren Ende.
Die »allgemein gültigen« Werte ethischer und moralischer Systeme (ich werde später eine Unterscheidung zwischen Ethik und Moral treffen) wurden und werden häufig nur teilweise und in einem veränderten Sinn auf Frauen angewandt. Und doch ist es entscheidend, diese »allgemein gültigen« Werte und Grundannahmen zu verstehen, um zu erkennen, wie sie das Verhalten von Frauen bestimmen. Mit anderen Worten, es ist unmöglich, den rein weiblichen Aspekt unserer moralischen Erfahrung von jenen Aspekten zu trennen, die wir mit Männern in unserer spezifischen Kultur und unserer sozialen Schicht teilen. Um das Konzept der weiblichen Heiligkeit zu verstehen, muß man die christlichen Vorstellungen von Heiligkeit kennenlernen, nicht nur die patriarchalischen Ideen über die Unterwürfigkeit von Frauen.
Bei der Herstellung einer Gegen-Moral müssen wir weiblichen Traditionen und Erfahrungen besondere Aufmerksamkeit schenken, wie es Rich und Gilligan getan haben. Doch eine allgemein gültige weibliche Erfahrung gibt es nicht, selbst wenn viele der spezifisch weiblichen Werte einer Kultur gemeinsame Elemente mit den weiblichen Werten einer anderen Kultur aufweisen. Wir können keine sogenannte allgemein gültige feministische Ethik auf der Grundlage einer ethnozentrischen Vorstellung von »weiblicher Erfahrung« errichten. In diesem Kapitel werde ich später noch darauf hinweisen, daß dies genau das Problem bei Mary Dalys Ideen zu einer feministischen Ethik darstellt.)
So betrachteten die gemäßigten Feministinnen der Jahrhundertwende solche Tugenden wie Zurückhaltung und Leidenschaftslosigkeit als allgemein gültige weibliche Werte und erkannten nicht, daß es sich um weiße, protestantische Mittelschichtswerte handelte, die für Frauen in einem ganz bestimmten kulturellen Kontext galten. Es scheint mir, daß es keine allgemeine weibliche Ethik geben kann, die sich direkt aus gemeinsamen Erfahrungen ableiten ließe, eben weil es keine universellen »weiblichen Erfahrungen« gibt.
Obwohl die sexuelle Ethik stärker geschlechtsspezifisch ausgeprägt ist als andere Bereiche moralischen Denkens, können weibliche Erfahrungen nicht allein aus solch geschlechtsspezifischen Normen wie der sexuellen Doppelmoral heraus verstanden werden. Denn abgesehen von der Doppelmoral gibt es unterschiedliche Vorstellungen über Sexualität im allgemeinen, die sowohl die Institution wie die Alltagserfahrung ethischen Verhaltens von Frauen bestimmen. So wurde Sexualität im viktorianischen Zeitalter zum Beispiel als nicht regenerierbare Energiequelle und als generell gefährlich betrachtet, während es im zwanzigsten Jahrhundert eher die Asexualität zu sein scheint, die man als gefährlich für die Gesundheit von Frauen wie Männern einschätzt. Damit möchte ich zu einem Schnelldurchgang ansetzen: durch die Geschichte der westlichen Sexualethik und ihre Auswirkungen auf uns, besonders auf meine persönliche Erfahrung und meine Vorstellungen von Sexualmoral.
Christentum: Die Läuterung der Seele
Als ich sieben Jahre alt war, erzählte man mir, es wäre jetzt an der Zeit, daß ich mich auf meine Erste Heilige Kommunion vorbereitete. Ich betrachtete die Erlangung dieses Sakramentes als einen für mich wichtigen religiösen Ritus. Also nahm ich gern am Kommunionsunterricht unserer Schule teil. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was man uns über die Natur der Eucharistie erzählte, doch was immer es war, es scheint keinen sonderlichen Eindruck auf mich gemacht zu haben. Ganz deutlich aber erinnere ich mich an den Vortrag einer Lehrerin darüber, wie unsere Seele am Tage der Ersten Heiligen Kommunion auszusehen habe. Sie sagte: »Ihr werdet weiße Kleider tragen, und ihr werdet sie sauber und weiß halten wollen. Noch wichtiger aber ist es, daß eure Seelen weiß sind, rein und vollständig weiß. Jede Sünde, die ihr nicht beichtet,
bleibt wie ein schwarzer Fleck auf eurer Seele, genauso wie ein Fleck auf euren schönen weißen Kleidern - und ihr wollt doch keine häßlichen schwarzen Flecken am Tag eurer Ersten Heiligen Kommunion haben, nicht wahr?«
Abgesehen vom offenen Rassismus dieser Parabel, der mir damals gar nicht auffiel, hat etwas an dieser Äußerung meine Vorstellung über meinen Charakter tief beeinflußt. Ich stellte mir plötzlich meine Seele als weißes, unbeschriebenes Blatt vor, das ich unbedingt rein halten mußte und das niemals beschmutzt werden durfte.
Vorher hatte ich bereits ein starkes Gefühl für die Bedeutung guter Taten entwickelt - wie etwa Dinge an arme Kinder zu verschenken oder im Haus zu helfen. Doch meine aktiven Anstrengungen, als »guter« Mensch zu handeln, wurden plötzlich überschattet von der passiven Metapher, die mir sagte: »Erhalte deine Seele weiß, rühre dich nicht, mache dich nicht schmutzig.« Da ich als ausgesprochener Wildfang einen Hang dazu hatte, mich schmutzig zu machen, erschien mir die Aufgabe, meine Seele rein zu halten, von kaum zu bewältigender Schwierigkeit. Und was sollte diese ganze Reinheit? Ich wußte schon genug von Literatur, um zu verstehen, was eine Metapher ist, aber ich war nicht sicher, was die metaphorische Reinheit der Seele bedeutete. Ich war nicht nur entmutigt, ich war völlig verwirrt.
Etwa zur selben Zeit begann ich, mich intensiven Tagträumen über christliche Heilige und Märtyrer hinzugeben. Die Priester, die an unserer Schule Religion unterrichteten, waren immer bereit, wenn wir sie ein wenig drängten, uns für die ungeheure Mühe, mit der wir den Katechismus auswendig lernten, zu belohnen, indem sie uns von den glorreichen Taten der Heiligen erzählten, die mit Messern in Streifen geschnitten wurden, weil sie sich standhaft weigerten, dem Christentum abzuschwören. Das Lustempfinden, das wir aus diesen sadomasochistischen Schilderungen bezogen, war immens, wurde jedoch durch den religiösen Kontext verklärt. Kein Wunder, daß meine kindliche Suche nach Lust und Wahrheit in Phantasien mündete, von bösen Männern gefoltert zu werden. Ich stellte mir vor, lebendig auf einem Grill geröstet zu werden wie der Heilige Laurentius, müsse sich ähnlich anfühlen wie ein intensiver Sonnenbrand. Und ich stellte mir vor, die Schmerzen der Heiligen Katharina, als sie von einem messergespickten Rad in Stücke gehackt wurde, müßten denen ähnlich gewesen sein, die ich etwa bei einem Sturz vom Fahrrad fühlte, wenn ich mir etliche Schrammen holte. Mir ging es also nicht um die Schmerzintensität bei diesen Bildern, sondern um meinen eigenen Mut und meine Stärke; ich betrachtete mich nicht als feiges Weib, sondern als harte Stoikerin, die von Folter und Drohungen unbeeindruckt blieb. Doch dies war immer noch eine passive Stärke. In meinen Phantasien mobilisierte ich all meine innere Kräfte, um meine Seele vor Flecken zu bewahren.
Vielleicht ist diese Passivität einer der Gründe, weshalb Nietzsche das Christentum als weibisches Moralsystem betrachtete. Die Griechen verfügten über ein virileres Modell, in dem man ethisch sozusagen Punkte sammeln konnte, indem man die eigenen Fähigkeiten voll und angemessen zum Einsatz brachte. Frauen konnten den Status vollständig ethischer Wesen nicht erreichen, zumindest nicht im aristotelischen System, weil ihre soziale, ökonomische und sexuelle Handlungsfreiheit von Anfang an sehr begrenzt war. Sie hatten gar nicht so viele Gelegenheiten, sich ethisch zu verhalten, indem sie ihre persönliche Freiheit verantwortlich dazu nutzten, individuelle und politische Harmonie und Ordnung herzustellen. Doch das Christentum, das jeder Leidenschaft von vornherein mißtrauisch gegenüberstand, unabhängig davon, wie, wann, wo und mit wem sie zum Ausdruck gebracht wurde, privilegierte die typisch weibliche Erfahrung der passiven Reinhaltung der Seele als den Königsweg zur Heiligkeit. Und Jesus selbst ist ja auch eine eher feminine Gestalt.
Dies zeigt, daß ein moralisches System nicht unbedingt viril sein muß, um sexistisch zu sein. Die Begeisterung für passive Reinheit ermutigt zur Passivität, besonders zur weiblichen Passivität angesichts von Ungerechtigkeit. Indem die weiblichen Tugenden in den Stand universeller ethischer Prinzipien erhoben wurden, ermutigte man Frauen, ihre fleischlichen Bedürfnisse (ja sogar intensive intellektuelle Bedürfnisse) als schwarze Flecken auf der eigenen Seele zu betrachten. Diese Flecken des Bösen mögen in der vergifteten Atmosphäre um uns herum entstehen, doch unabhängig von ihrem Ursprung ist es immer unser eigener Fehler, wenn wir uns schmutzig machen.
Der Mythos von der »weißer als weißen« Seelen-Wäsche hindert uns daran, unsere Bedürfnisse beim Namen zu nennen. Oder, genauer gesagt: Man gibt uns ein ganzes Klassifikationssystem, mit dessen Hilfe wir unsere Leidenschaften und Sünden benennen und einordnen können, und zwar nicht entsprechend unseren eigenen Gefühlen und Gedanken, sondern entsprechend diesem vorgefertigten System.
Bevor ich meine Erste Heilige Kommunion empfangen konnte, mußte ich meine erste Beichte ablegen. Bei der Vorbereitung zur Beichte wurde ich mit dem katholischen System für die Klassifikation der Sünden bekanntgemacht. Man erzählte mir, es gebe schwere Sünden, die mich direkt in die Hölle bringen würden, wenn ich stürbe, ohne sie gebeichtet zu haben. Dann gab es läßliche Sünden, die mich lediglich ins Fegefeuer brächten. Und es gab die sieben »Todsünden«. Was diese anbetraf, so war ich zwar nicht sicher, was Lüsternheit bedeutete, doch ich machte mir Sorgen darüber, ich könnte mich der Todsünde der Völlerei hingeben: Ich aß gern. Als ich das System gelernt und verinnerlicht hatte, bekam ich jedesmal Angst, ich könnte eine Todsünde begehen, wenn ich die Reste vom Teller meiner Schwester aufaß.
Das ganze System war recht kompliziert. Es war klar, daß ich vor meiner Ersten Heiligen Kommunion eine außerordentlich schwierige Übung in Introspektion hinter mich bringen mußte, bei der ich nicht nur meine sündigen Handlungen, sondern auch noch meine sündigen Gedanken zu klassifizieren hatte; meine Phantasien und Vergnügungen mußte ich innerlich drehen und wenden, bis sie in das Klassifikationssystem paßten. Zwar achteten meine Eltern darauf, daß sie mir nicht unbedingt die schlimmsten Aspekte der katholischen Sexualangst nahebrachten, auch vermieden sie es, mir irgendeinen perversen Gedanken in den Kopf zu setzen, der nicht schon längst dort gewesen wäre, doch von Nonnen und Priestern sowie aus Büchern über das Leben der Heiligen erhielt ich die eindeutige Botschaft, daß sexuelle Leidenschaft und Vergnügungen aller Art von vornherein verdächtig zu sein hatten.
Und doch warf ich das ganze Schema, von dem ich dachte, daß es mir fest eingeimpft worden war, vollständig über Bord, sobald ich die Gelegenheit hatte, sexuelle Lust zu erleben. Ich konnte nichts Schlechtes am Sex entdecken, nicht einmal an Sex ohne Liebe, solange ein Mindestmaß an gegenseitigem Respekt dabei vorhanden war. Ich empfand mein sexuelles Verlangen nicht als schwarzen Fleck auf einer weißen Seele, sondern als wundervolle neue Aktivität, die mir helfen würde, mir selbst endlich erwachsen vorzukommen. So war also der größte Teil meiner katholischen Erziehung im Nu dahin, und ich gehörte plötzlich zur Generation der sexuellen Revolution.
Das Klassische Griechenland: Die Schönheit des Seins
Wie ich in Kapitel Eins bereits erwähnt habe, wurde meine Jugendzeit vor allem von einer Art christlichem Kreuzzug gegen meinen Körper und das Nahrungsbedürfnis nachhaltig geprägt. Nun hungerte ich nicht gerade aus demselben Grund wie der Heilige Antonius, doch mein innerer Kampf hatte durchaus etwas Christlich-Mystisches, allein aufgrund der Tatsache, daß er durch ein Mißtrauen gegenüber dem Körper und seinen Gelüsten gekennzeichnet war. Mir war nur das rein verstandesmäßige Leben wichtig, und selbst nachdem ich den schlimmsten Teil der Magersucht bereits hinter mich gebracht hatte, fühlte ich mich lange Zeit nicht sonderlich wohl in meinem Körper.
Doch dann ging ich von zu Hause fort an die Universität und beendete meinen recht infantilen und regressiven Kampf gegen mich selbst und meine Eltern, bei dem es immer nur um das Problem der oralen Erotik ging (wie Psychoanalytiker es ausdrücken würden). Ich zog zu Hause aus, fand einen Freund und entdeckte gleichzeitig die Freuden der intellektuellen Konversation und die Freuden des Körpers. Damals war ich zwischen siebzehn und achtzehn Jahre alt, und als ich die Schriften Platos in die Hände bekam, war das ein entscheidender Schritt nach vorn für mich. Ich öffnete neugierig ein Buch mit seinen Dialogen, wobei ich körperlos-abstrakte philosophische Wahrheiten erwartete, und war wie vom Donner gerührt von dem erstaunlichen Zusammenspiel zwischen erotischer Intensität und intellektueller Durchdringung, die ich dort fand. »Ist das wirklich Philosophie?« fragte ich mich. »Diese Leute in den Dialogen machen praktisch Liebe, während sie über Wahrheit und Schönheit sprechen. Und es scheint ihnen überhaupt nicht peinlich zu sein!« Verglichen mit späteren Philosophen der christlichen Tradition bedeutete Plato eine frische Brise, um nicht zu sagen: eine Sturmbö für mein Gehirn.
Zum ersten Mal sah ich, daß meine intellektuellen und erotischen Leidenschaften vielleicht enger zusammenhingen, als ich gedacht hatte. Erotik war nicht nur eine sprachlose, irrationale Passion, eine dunkle Macht; sie war, so sagte Plato, Teil einer ganzheitlichen Ethik und Ästhetik des menschlichen Lebens. Da ich aufgrund meiner Erziehung keinerlei dahingehende Gedanken vermittelt bekommen hatte, daß sexuelle Liebe und Wahrheitsliebe irgend etwas miteinander zu tun haben könnten, war Plato eine absolute Entdeckung für mich. (Wie die meisten Leserinnen identifizierte ich mich immer mit Platos Hauptfiguren und vergaß dabei völlig, daß die Weisheit, die sich vor meinen Augen entfaltete, für mich als Frau eigentlich gar nicht bestimmt war. Doch als Frauen lernen wir, was wir nur können, besonders wenn es um Lust geht.)
Zwar untersuchten die Poeten und Philosophen des antiken Griechenland durchaus ganz genau, was es mit den subjektiv empfundenen erotischen Beziehungen auf sich hat, doch diese Überlegungen basierten auf ganz anderen Annahmen und Methoden als die späteren moralischen und medizinischen Systeme des christlichen Europa. Die erotische Energie wurde weder als sündig noch als der Vernunft entgegengesetzt betrachtet. Nach Plato beginnt ein Mensch nämlich gerade durch die Liebe zu einem schönen Körper den langwierigen Aufstieg zur philosophischen Erkenntnis der Schönheit an sich. Sexuelles Begehren muß in das Streben nach Schönheit und Wahrheit einbezogen werden und ist nirgends davon ausgeschlossen oder der Buße unterworfen oder gar dem Bereich des vor-sprachlichen Schweigens zugeordnet. Die Frage ist nicht, wie man sich gegen das menschliche Begehren wehren oder es unter Kontrolle halten kann, sondern eher, wie man das Begehren so natürlich wachsen lassen kann, daß es sein eigenes inneres Gleichgewicht entwickelt und sich in Harmonie mit den anderen Freuden der menschlichen Existenz befindet, wozu etwa die Suche nach Wahrheit gehört.
Ein weiterer Aspekt der klassischen griechischen Sexualethik ist der Ansatz, vom gesamten Zusammenhang auszugehen, den nicht nur Plato, sondern sogar der weit abstraktere und »lustlosere« Aristoteles anwandte. Keiner der beiden Philosophen versucht zu entscheiden, welche sexuellen Handlungen von Natur aus falsch oder unnatürlich seien; weder der eine noch der andere hält sexuelle Gelüste auch nur für voneinander isolierbare, spezifische Handlungen, die wissenschaftlich klassifiziert werden könnten. Statt dessen versuchen sie so etwas wie allgemeine Ratschläge über erotische Gesundheit zu geben, in der Art, wie ein guter Arzt Ratschläge zur Gesundheitsvorsorge geben würde. Die Betonung liegt auf Mäßigung und auf Erhaltung der eigenen inneren Harmonie der Begierden. Es gibt keine festgelegten Strafen für ganz bestimmte sexuelle Handlungen; statt dessen werden uns Reflexionen über die möglichen Konsequenzen einer bestimmten Handlungsabfolge angeboten, damit wir behutsam vorgehen können und unsere Aufmerksamkeit darauf verwenden, alles zur rechten Zeit am rechten Ort zu tun und die Beziehung zwischen den Begierden und unserem übrigen Leben zu beachten. Dieser Ansatz erweist sich als durchaus brauchbar, wenn es darum geht, eine weibliche Ethik oder eine feministische Gegen-Moral zu entwickeln. Denn es kann ja nicht unsere Aufgabe sein, absolute Moralgesetze zu verkünden und bestimmte sexuelle Handlungen per se als schlecht zu verurteilen. Statt dessen möchten wir Frauen die intellektuellen Möglichkeiten zur Verfügung stellen, über ihre spezifische Situation nachzudenken und den Verbindungen zwischen den sexuellen und den nicht-sexuellen Aspekten ihres Lebens angemessene Aufmerksamkeit zu schenken. Meiner Meinung nach kann es keine feministische Liste »richtiger« und »falscher« sexueller Handlungen geben. Das bedeutet jedoch nicht, daß wir im moralischen Niemandsland leben müßten. Es gibt nämlich in der Tat richtige und falsche Denkweisen über die sexuelle Ethik bestimmter konkreter Situationen.
Damit will ich jedoch nicht behaupten, das Erbe der Griechen und besonders Platos sei ein ungetrübtes Vergnügen. Wie Michel Foucault in seinem Buch über die Sexualethik der Griechen gezeigt hat, liegt ein schwerwiegendes Problem in diesem griechischen Modell, das bis heute unser Denken über Sexualität überschattet. Das Problem liegt in der Annahme, daß Sexualität, wie der Haushalt oder die Regierung eines Stadtstaates, von der Hierarchie eines aktiven, übergeordneten Partners und eines passiven, unterlegenen Partners abhängt. Wenn der unterlegene Partner eine Frau ist, dann entspricht ihre sexuelle Position ihrer sozialen Position, und für das System als Ganzes ergibt sich daraus kein Widerspruch. Doch wenn der »passive« Partner ein anderer Mann ist, insbesondere ein anderer freier Bürger, dann entsteht ein Widerspruch. Wie kann ein junger Mann, der sowohl umworben wie gevögelt wurde, danach der soziale Partner seines Geliebten werden? Wie kann eine passive Person Teil der herrschenden Gruppen werden? Der Widerspruch entsteht, weil sexuelle Passivität nach der Logik der griechischen Sexualethik angeblich etwas über die gesellschaftliche Macht und die Seele einer Person aussagt. Dieses Modell geht auch davon aus, daß Aktivität und Passivität festliegende und sich gegenseitig ausschließende Kategorien seien. Selbst wenn die beiden fraglichen Personen vor dem Sex sozial gleichgestellt waren, stellt nach dieser Auffassung der Sex einen Unterschied zwischen ihnen her oder enthüllt vielleicht einen grundlegenden Unterschied zwischen dem aktiven/dominanten Partner und dem passiven/sich unterwerfenden Partner.
Die alten Griechen waren es also, die jene verhängnisvolle Zweiteilung von aktiv und passiv vornahmen, deren Auswirkungen uns bis heute plagen. Da sie in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft lebten, sahen sie die Natur allgemein und die menschliche Anatomie im besonderen als notwendigerweise ebenfalls hierarchisch geordnet an, also interpretierten sie den körperlichen Akt der Penetration als einen Akt der Beherrschung.
Es war die soziale Unterwerfung der Frauen, Jungen und Sklaven, die dem Sex zwischen freien männlichen Erwachsenen und »niederen« Menschen seine Bedeutung verlieh. Frauen wurden nicht deshalb dem Mann untergeordnet, weil sie eine Vagina hatten; sondern ihre Vagina wurde interpretiert als der Ort, an dem sie zu Recht beherrscht werden konnten, da Frauen von vornherein als untergeordnete menschliche Wesen kategorisiert worden waren. Männliche Sklaven hatten natürlich keine Vagina, und doch wurde ihre Anatomie als ursprünglich passiv interpretiert. Die soziale Rolle war also die entscheidende Grundlage für die sexuellen Rollen.
Zeitgenössische Populärpsychologie
Ich mach' meins, und du machst deins.
Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben,
Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach meinen zu leben.
Du bist du, und ich bin ich,
Und wenn wir uns zufällig finden, ist es wunderbar.
Wenn nicht, kann man auch nichts machen.
Fritz Perls
Dieses Pseudo-Gedicht ist die Unabhängigkeitserklärung der Populärpsychologie der sechziger und siebziger Jahre. In den nüchternen Achtzigern wird dieser »Tu, was du willst«-Ansatz etwas moderater gehandhabt, zumindest von denjenigen, die nicht zu den oberen zehn Prozent der Einkommenspyramide gehören. Doch bis heute übt diese Theorie einen großen Einfluß auf uns aus. Die Vulgärpsychologen, die Fritz Perls und Abraham Maslow folgten und Millionen damit verdienten, Bücher voller banaler Ratschläge zu schreiben (»Sie haben noch eine ganze Menge unrealisierten Potentials in sich«), gaben sich alle Mühe, sowohl Frauen wie Männer davon zu überzeugen, daß der einzige lebende Gott - da Gott tot ist - der persönliche Erfolg sei. »Erfolg« war nicht mehr wie in den fünfziger Jahren gleichbedeutend mit der Kernfamilie; Erfolg konnte alles mögliche bedeuten, angefangen beim guten Job bis hin zu einer »erfolgreichen« Liebesaffäre. Zwar lag die Betonung nicht offen auf dem materiellen Erfolg, doch das Gefühl, das Leben in der eigenen Hand zu haben - das erklärte Ziel psychologischen »Wachstums« -, war recht schwierig oder überhaupt nicht zu erreichen, wenn frau/man in Armut lebte.
Die scheinbar banale und harmlose Weisheit »Du bist du, und ich bin ich« - wer könnte dem widersprechen? - enthielt also eine eindeutige politische und ethische Botschaft. Es war weniger ein Katalog von Geboten und Verboten, als vielmehr eine unbestimmte und freudige Zustimmung zu den Werten einer städtischen, konsumorientierten, bürgerlichen Gesellschaft. Erfolg wurde als persönlicher Erfolg definiert, das heißt, als individuelles Ereignis. Dies wiederum unterschied sich nun kaum noch von der »Aufbau«-Ethik der fünfziger Jahre, selbst wenn es in blumigem psychologischem Jargon daherkam.
Es ist interessant, daß das berühmte Pseudo-Gedicht, das ich gerade zitiert habe, sich auf einem Poster wiederfand, auf dem ein junges, glückliches Paar in einen karibischen Sonnenuntergang hineinläuft. Die Botschaft lautete also: Wenn du individuell deinen Weg gehst, ohne dich groß um andere Menschen zu kümmern, kommt das Happy-End »zufällig« auf dich zu, ohne daß eine der beiden beteiligten Personen ihre kostbare Einzigartigkeit aufgeben müßte. Und wenn es nicht per Zufall funktionierte, blieb immer noch der Club Méditerranée. Die junge Frau auf dem Poster, die zu dem Pseudo-Gedicht über dem roten Sonnenuntergang aufsah, wußte noch nicht, daß seine Botschaft - Narzißmus sei vereinbar mit »bedeutungsvollen« Beziehungen - hauptsächlich für Männer gedacht war. Die neue Pop-Psychologie gab sich redlich Mühe, nicht sexistisch zu sein; offene Äußerungen über die Unterlegenheit von Frauen waren ebenso passe wie der Glaube an die ewige Verdammnis. Und es war gar nicht so schwierig, rigide Vorschriften für die Geschlechter zu vermeiden, da die gesamte Ethik in den westlichen Industrieländern ohnehin bereits aller wirklich ethischen Inhalte entleert war. Doch die Anweisungen: »Tu was du willst« und »Leben und leben lassen« konnten von der Mehrzahl der Frauen aus Fleisch und Blut jedenfalls nicht in die Tat umgesetzt werden. Im wirklichen Leben von Frauen waren da noch die Kinder, um die sie sich zu kümmern hatten, die Chefs, deren Ego jeden Tag aufs neue aufpoliert werden mußte, und (bei den meisten) die männlichen Sexualpartner, von denen sie sehr schnell fallengelassen worden wären, wenn sie versucht hätten, das umzusetzen, was für ihr eigenes persönliches »Wachstum« notwendig gewesen wäre.
Frauen kennen das sehr gut. Doch obwohl wir uns durchaus bewußt sind, daß wir im wirklichen Leben nicht auf einem Berggipfel sitzen, die ganze Welt überblicken und frei entscheiden können, was wir für die maximale Erfüllung unseres Lebens tun wollen, glauben wir weiterhin an die banalen und naiven Schlagworte der Psychologie vom »persönlichen Wachstum«. Die meisten von uns haben die rigiden Systeme des traditionellen Christentums hinter sich gelassen; statt dessen aber scheinen wir ein verschwommenes, romantisches Ideal vom Leben als persönlichem Kunstwerk übernommen zu haben. Wir greifen daher häufig zurück auf Klischees über die Unverletzlichkeit der persönlichen Entscheidung und unseres individuellen Begehrens.
Ironischerweise erlauben wir dabei weniger uns selbst die Freiheit der Wahl oder gestatten uns, »unser eigenes Ding« zu tun. Wir sind viel besser darin geschult, verständnisvoll auf die Bedürfnisse anderer einzugehen, die »eine Weile aus allem raus müssen«, statt uns selbst diese Freiheit zuzubilligen. Dies ist besonders beklagenswert, wenn Frauen außerordentlich verständnisvoll auf das Freiheitsbedürfnis ihres männlichen Partners eingehen, sich selbst aber nicht einmal vorstellen können, was sie tun würden, wenn sie über dieselbe Freiheit verfügten. Einmal hörte ich, wie eine Frau sehr rational erklärte, warum der Mann, mit dem sie eine Beziehung hatte, sie zu fordernd fand und sie verlassen hatte. Meiner Ansicht nach war der Mann ein ausgesprochener Egoist, sie aber sagte: »Ich kann ihm nicht die Schuld geben; ich war viel zu abhängig von ihm; ich hatte kein Recht, so viel von ihm zu erwarten, also war er natürlich wütend über meine Ansprüche an ihn, und zum Schluß war er es einfach leid - nein, ich kann ihm nicht die Schuld dafür geben.« Nun ist es sicher richtig, daß es nicht gerade ein erfolgversprechender Weg zur Lösung von Problemen sein mag, dem anderen die Schuld zu geben. Doch meine Freundin machte es kaum besser, indem sie sich die Schuld auf die eigenen Schultern lud. Wir können fragen, wer in dieser Beziehung die Bedingungen vorgab, wer dieser Frau in Worten oder Taten vermittelte, daß sie überhaupt keine Rechte hatte. Rechtlos zu sein, verstärkt das Gefühl der Unsicherheit, und das mag dazu geführt haben, daß sie besitzergreifend wurde. Doch wenn sie gewußt hätte, daß sie durchaus über bestimmte Rechte verfügte, wäre sie vielleicht nicht in Abhängigkeit und Ängstlichkeit verfallen. Da aber jeglicher Rahmen für Verantwortlichkeit fehlte, bekam sie das Gefühl, ihre Abhängigkeit sei ihr individuelles psychisches Problem. Sie betrachtete sich als defizitäres Wesen, das sich noch nicht bis zu dem Punkt »entwickelt« hatte, an dem sie freudig akzeptieren konnte: »Wenn wir uns zufällig finden, ist es wunderbar, und wenn nicht, kann man auch nichts machen.« Als gäbe es irgend jemanden auf der Welt, der wirklich so empfindet.
Die Laissez-faire-Haltung in sexuellen Beziehungen mag angehen bei Menschen, die zahlreiche Gelegenheiten haben, Beziehungen einzugehen, und die jung, ökonomisch abgesichert und ohne größere Verpflichtungen für Kinder oder andere Menschen durchs Leben gehen. Und sie funktioniert bei Männern besser als bei Frauen, denn Frauen sind so erzogen, daß sie stärkere Bindungen zu ihren Geliebten eingehen und Kontinuität und Sicherheit mehr schätzen als Spontaneität und Neuheit. Männer andererseits wachsen in dem Glauben auf, sexuelle Abwechslung könne die Abwesenheit anderer Quellen der Intimität kompensieren, selbst wenn sich ihre emotionalen Grundbedürfnisse gar nicht so sehr von denen der Frauen unterscheiden. Und wenn sexuelle Abwechslung tatsächlich zu verwirklichen ist, lassen sich emotionale Konflikte und Verpflichtungen immer vermeiden, indem man sich anderen Menschen zuwendet. Wie ein schwuler Freund mir einmal nach dem plötzlichen Verschwinden eines potentiellen Geliebten sagte: »Ach ja, es ist doch wie mit der Straßenbahn: Wenn du eine verpaßt hast und frustriert bist, kommt schon bald die nächste.«
Es wäre gar nicht schlecht, wenn mehr Frauen sich die Straßenbahn-Theorie zueigen machen würden, zumindest wenn es um kleine Flirts geht, und sich nicht damit quälten, ob ein ihnen noch völlig unbekannter Mann sie nun wirklich mag oder nicht. Insgesamt neigen wir Frauen dazu, jede Beziehung mit Emotionen zu überfrachten, statt uns entspannt und dem Ereignis angemessen an sexuellen Affären zu freuen. Allerdings ist es wohl kaum möglich, geradewegs vom Ideal der lebenslangen Ehe zur Straßenbahn-Theorie überzugehen. Genau das aber sollen wir grundsätzlich tun, glaubt man solchen Experten der Sexualmoral wie den Autorinnen von Cosmopolitan.
Am häufigsten jedoch verwenden die Sexualexperten heute das Modell der freien Marktwirtschaft. Sie gehen dabei von der Vorstellung aus, daß wir uns alle wie einzelne Atome durch die Welt bewegen und unsere ganz persönlichen Ziele verfolgen: erfolgreich, fit und schön zu sein. Wenn wir dann aufeinandertreffen, halten wir inne und vergleichen, was jede/r von uns zu bieten hat. Sind die Angebote gleichwertig, werden wir handelseinig, und der Austausch kann stattfinden. Ein solches Vorgehen scheint nach der Theorie der psychischen Kompatibilität gerechtfertigt zu sein (»Wir wollen beide dasselbe von einer Beziehung«, heißt es). Doch in Wirklichkeit geht es weitaus mehr um sozioökonomische als um psychische Kompatibilität. Das wird deutlich bei der Lektüre solcher Zeitzeichen wie den Beziehungsanzeigen in der Zeitschrift New York Review. Sie lassen häufig die Art der gewünschten Beziehung offen, äußern sich aber ganz konkret über die Persönlichkeit, die sie sich als Partnerin vorstellen. Hier zwei Beispiele:
Erfolgreicher Geschäftsmann, gutaussehend, witzig, sucht Frau bis 40: schlank, intelligent und finanziell unabhängig, für Abenteuer, Parties und vielleicht mehr.
Akademikerin mit Liebe zu Bach und Natur, hübsch und eine gute Gesprächspartnerin, sucht kultivierten Mann, vorzugsweise Dr. phil., mit ähnlichen Vorlieben, für eine ungewöhnliche Liaison. Bitte keine Raucher.
Es ist bemerkenswert, wie präzise (und unbescheiden) sich diese Inserentinnen selbst beschreiben können. Doch noch bemerkenswerter ist, daß sie im vorhinein schon genau wissen, wen sie wollen, und das ersehnte Sexualobjekt so detailliert beschreiben können. Es handelt sich zweifellos um dieselbe Art Menschen, die in ein Geschäft gehen und wissen, daß sie ein paar dunkelbraune Kordhosen mit zwei Bundfalten und einer Gesäßtasche wollen - und nichts anderes. Die Nicht-Ethik der populärpsychologischen Theorie sexueller Entscheidungen übernimmt die schlimmsten Elemente der beiden vorhin beschriebenen moralischen Theorien. Von den Griechen wird die Vorstellung übernommen, das Leben sei ein Kunstwerk, an dem frau/man arbeitet. Doch diese Vorstellung wird von ihren Wurzeln in der Polis, der Gemeinde abgetrennt. Das »schöne Leben«, das die Yuppie-Generation sucht, ist nicht schön im griechischen Sinne, dann müßte es nämlich wohl ausgewogen sein, harmonisch abgestimmt auf die Bedürfnisse der Gemeinde als ganzer, und zu Wahrheit und Güte führen. Es ist »schön« im banalsten Sinne: impulsiv, eindrucksvoll, verführerisch, narzißtisch. Die Populärpsychologie greift auch den Individualismus auf, den die Griechen schrecklich fanden, der aber in der christlichen Vorstellung von der reinen Seele, die jede/r einzelne für sich poliert, enthalten ist. Doch sie fordert nicht mehr wie im Christentum, daß wir die fleckenlose Reinheit der eigenen Seele erhalten, indem wir Dinge für andere tun.
Wir haben also hier eine Verbindung von Pseudo-Ästhetik ohne sozialen Inhalt und Pseudo-Moralität, die ebenfalls ihres Inhaltes entleert ist. Da jeder wirklich ethische Gehalt fehlt, kann die Theorie von persönlichem Erfolg niemanden irgendwohin führen außer zur nächsten Verabredung, in den Fitnessclub oder das aktuelle Szene-Restaurant. Damit will ich nicht sagen, daß die Menschen, die dieser Yuppie-Philosophie anhängen, keinerlei Sinn für Ethik oder moralische Werte hätten. Doch soweit sie Wertvorstellungen vertreten, die über bloßen Konsumgenuß hinausgehen, müssen sie diese aus anderen Quellen beziehen als ihren aktuellen Lebensumständen. Manche Leute hängen daher weiterhin an altmodischen christlichen Werten; manche wenden sich der Esoterik zu oder einer verwässerten Form östlicher Religion; andere fühlen sich dem Feminismus verpflichtet oder anderen fortschrittlichen sozialen Bewegungen. Doch die vorherrschende Kultur der städtischen, weißen, jungen Professionals und Möchtegern-Yuppies ist bar jeglichen ethischen Inhalts. Sie zwingt alle, die einen ausgeprägten Sinn für Ethik haben, sich willkürlich Werte und moralische Leitsätze von irgendwoher zusammenzusuchen. Kein Wunder also, daß es zum Thema sexuelle Befreiung eine solch verwirrende Vielfalt von Vorstellungen gibt.
Feministische Alternativen
Keine Feministin kann heutzutage eine vollständige feministische Moral entwerfen. Das wäre auch gar nicht unbedingt wünschenswert, da jede feministische Theorie sozialer Beziehungen über eine gewisse Flexibilität, eine pluralistische Grundhaltung und Respekt für individuelle und Gruppenunterschiede verfügen muß. Wenn es in Zukunft einmal eine feministische Ethik geben sollte, wird sie mehr der griechischen Erörterung allgemeiner Prinzipien für ein harmonisches Leben ähneln als einem geschlossenen theologischen System der Trennung in Gut und Böse. Und bei dem mangelnden Konsens selbst unter Feministinnen über die Ethik und Politik der Sexualität werden selbst allgemeine Prinzipien nicht gerade leicht zu entwickeln sein. Alles, was eine Autorin tun kann, ist, über die kollektiven Erfahrungen und Überlegungen von Frauen nachzudenken, die versucht haben, eine neue Ethik zu formen, die über die patriarchalischen Extreme von rigidem Autoritarismus und nichtssagender Libertinage hinausführt. Davon ausgehend kann die Autorin dann versuchen, auf manche möglichen Fallstricke hinzuweisen und geeignetere Wege zur weiteren Reflexion und Praxis aufzuzeigen. Genau das will ich in diesem letzten Abschnitt des Buches versuchen. Dabei geht es mir nicht um die »richtigen« Antworten, sondern eher um die richtigen Fragen.
Die Frauen, die die gegenwärtige hitzige Debatte über Sexualität verfolgen, jedoch keinen festen Standpunkt einnehmen, oder die erst beginnen, sich mit dem Feminismus auseinanderzusetzen, reagieren manchmal entmutigt und verwirrt. Warum gibt es unter euch so viele unterschiedliche Auffassungen, so viel Zerrissenheit, fragen sie. In der Tat: Wenn wir uns als Feministinnen doch einig sind, daß wir gleichen Lohn für gleiche Arbeit, die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen, bessere Kinderbetreuung und die Strafbarkeit sexueller Übergriffe wollen, warum müssen wir dann zum Thema Sexualität derart miteinander herumzanken? Und wird es der Bewegung nicht schaden, wenn wir uns so viel streiten?
Wer sich diese Fragen stellt, sollte sich daran erinnern, daß die Frauenbewegung noch nie einen einheitlichen Standpunkt zum Thema Sexualethik vertreten hat, und daß es ihr gelungen ist, als lebendige historische Kraft zu überleben und konkrete Fortschritte zu machen, obwohl in manchen Bereichen feministischen Denkens immer Uneinigkeit bestand. Bereits 1914 ist die englische Feministin Rebecca West leidenschaftlich gegen den »mütterlichen Feminismus« vieler Suffragetten zu Felde gezogen, die Leidenschaft und Lust als spezifisch männlich betrachteten und die fürsorglichen Fähigkeiten anstelle des erotischen Verlangens von Frauen betonten. Obwohl Rebecca West die Vorstellung der Suffragetten von spezifisch weiblichen Werten ablehnte und sich für die intellektuelle und sexuelle Gleichheit von Frau und Mann aussprach, beteiligte sie sich dennoch an allen Demonstrationen für das Frauenwahlrecht. Sie kämpfte Seite an Seite mit den »mütterlichen« Suffragetten für das Stimmrecht und für bessere Berufsmöglichkeiten für Frauen. Damals wie heute erwies sich die feministische Bewegung als breit genug, um unterschiedliche Lebensstile und philosophische Ansätze zu beherbergen. Wenn ich hier also verschiedene Positionen zur Sexualethik einer kritischen Überprüfung unterziehe, dann nicht, um irgendeine Frau aus der Bewegung auszugrenzen, sondern lediglich, um auf die sehr unterschiedlichen Annahmen hinzuweisen, die diesen Unterschieden zugrundeliegen, und um über die politischen und persönlichen Konsequenzen nachzudenken, die sich aus ihnen ergeben.
Mary Daly:
Die moralische Überlegenheit der natürlichen Weiblichkeit
Einige radikalfeministische Autorinnen haben, besonders in den Vereinigten Staaten, versucht, eine alternative ethische Vision zu entwickeln, die auf den spezifischen Erfahrungen von Frauen basiert. Die patriarchalische Gesellschaft ist ihrer Ansicht nach auf Frauenfeindlichkeit, Gewalt gegen Frauen und dem gedankenlosen Streben nach Lust aufgebaut, und diese Ziele werden durch Verweise auf Religion, Patriotismus oder andere ideologische Systeme gerechtfertigt. Infolgedessen müsse die feministische Herausforderung an das Patriarchat die weiblichen Werte und Erfahrungen retten und dürfe nicht in den Fehler verfallen, Frauen zu empfehlen, sich an Männern zu orientieren. Diese Radikalfeministinnen sind die Enkelinnen der mütterlichen Feministinnen der Jahrhundertwende, obwohl sie der Ehe und der traditionellen Familienideologie kritischer gegenüberstehen als die Suffragetten. Susan Griffin, Robin Morgan, Andrea Dworkin und Mary Daly sind einige der Hauptvertreterinnen dieser Auffassung. Im folgenden werde ich mich vor allem auf Mary Daly konzentrieren, deren Arbeit ausdrücklicher im philosophischen und ethischen Sinne gemeint ist als die der anderen Autorinnen. Mary Daly erklärt ihr Projekt, eine feministische Philosophie zu entwickeln, die Grundzüge einer Erkenntnistheorie und Metaphysik umfassen solle, wie folgt:
Die Arbeit solch komplexen Benennens (d.h. der Theoriebildung) ist eine Beschwörung der Anderen Wirklichkeit. Es ist eine Einladung ins Land des Fremden. Denn die Fremde ist das Heimatland der Frauen, die sich als Frauen identifizieren, und Wilde Frauen sind Fremd. Diese Arbeit, soweit sie Ausdruck/Ausbreitung Purer Lust darstellt, ist ein Herbeizaubern der Elementaren Geister von Frauen und aller Wilden Naturen. Solche Zauberei vereinigt uns Frauen mit unserem Selbst und mit unseren Schwestern sowie mit Erde, Luft, Feuer und Wasser. Sie verbindet uns mit den Rhythmen der fernsten Sterne und unserer eigenen Sonne und Mondin.[3]
Und ein wenig später fügt sie hinzu:
Eine Grundthese dieses Buches, die auch schon im Titel enthalten ist, lautet, daß Frauen ... wie Tiere und Bäume, in der Substanz der Erde wurzeln... Die Rasse der Frauen ist wild und wechselt mit den Gezeiten, grollt mit elementaren Rhythmen, geschaffen in kosmischen Begegnungen.[4]
Die Sprache, in der Daly die Verwurzelung der Frauen in der Natur beschreibt, ist absichtlich vage. An anderer Stelle argumentiert sie, sie sei nicht am männlichen, zielgerichteten, systematischen Denken interessiert und benutze lieber Metaphern als Fakten und logische Argumente. Selbst wenn wir ihr das Recht zugestehen, sich ihre Sprache und Logik selbst zu wählen, so bleibt doch unklar, wie bestimmte Aussagen zu verstehen sind. Was meint sie zum Beispiel, wenn sie sagt, daß die Rhythmen der »Rasse der Frauen« »in kosmischen Begegnungen« geschaffen werden? Begegnungen zwischen wem oder was? Eine poetische Sprache ist schön, wenn man kraftvolle Bilder entstehen lassen will, doch wenn man versucht, ein philosophisches System zu errichten und behauptet, diese Bilder seien getreue Abbilder dessen, wie die Dinge sind oder sein sollten, dann wird diese Vagheit zum ernsthaften Problem. Wie wir noch sehen werden, entwickelt sie aus den scheinbar beschreibenden Bildern über elementare Rhythmen später Vorschriften dafür, wie wir uns als Feministinnen verhalten sollten. Sie unterscheidet zwischen dem echten wahren Feminismus und dem, was sie den »männlich kontrollierten Pseudofeminismus« nennt. Sie vermeidet es, Beispiele für diesen »Pseudofeminismus« zu geben, so daß die Leserin sich besorgt fragt, ob ihre feministische Seele wohl auch schon vom Pseudofeminismus befleckt ist.
Was aber sind die Hauptzüge dessen, was Daly im Untertitel eines ihrer Bücher als eine »elemental-feministische Philosophie« bezeichnet? Aus den oben zitierten Passagen wird bereits deutlich, daß sie Frauen für eine »Rasse« hält. Mit anderen Worten: Frauen haben ihrer Ansicht nach eine gemeinsame biologische und soziale Identität und ein gemeinsames Schicksal. Diese Identität ist für Daly immer ein stärkeres Band als Nationalität, Klasse oder »Rasse« im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Von Klasse und Nationalität spricht sie gar nicht. Das sind für sie einfach nur bedauerliche, aber unbedeutende Hindernisse auf dem Weg zu einer transnationalen Schwesternschaft. Und Rassismus, behauptet sie, sei nur ein Symptom des Patriarchats: wenn wir also gegen das Patriarchat kämpften, bekämpften wir auch automatisch den Rassismus. Doch das behauptet sie einfach, ohne es zu belegen oder auch nur weiter auszuführen. Der häufig geäußerte Hinweis schwarzer Feministinnen, daß Rassismus nicht nur eine Ausgeburt des Patriarchats ist und schwarze Frauen sich nicht nur mit anderen Frauen besonders verbunden fühlen, sondern auch mit anderen Schwarzen - weiblichen wie männlichen Geschlechts -findet in Dalys Überlegungen keine Berücksichtigung. Schon der Begriff »Rasse der Frauen« beleidigt farbige Frauen, sowohl weil er ihre Zugehörigkeit zu ihrer eigenen Ethnie leugnet, als auch deshalb, weil er versucht, eine gemeinsame Identität aller Frauen vorzuschreiben. Die schwarze Feministin Bell Hooks hat darauf hingewiesen, daß »Sisterhood« keine Tatsache, sondern ein komplizierter Prozeß ist, auf den Feministinnen hinarbeiten können, wenn sie erst einmal die grundlegenden Unterschiede zwischen den Frauen begriffen haben.[5]
Dies ist von entscheidender Bedeutung für eine feministische Sexualethik, denn kulturelle, ethnische und religiöse Unterschiede zwischen Frauen werden weiterhin unsere Auffassungen über Sexualität und unsere Beziehungen beeinflussen. So etwas wie »die Erfahrung von Frauen allgemein« gibt es nicht. Eine alleinerziehende Mutter in Jamaica, eine lesbische Feministin in New York, eine verheiratete weiße Frau in Südafrika und eine Jugendliche in China haben unterschiedliche Erfahrungen und Einstellungen, die nicht einfach außer acht gelassen werden können, nur weil all diese Frauen in männerbeherrschten Gesellschaften leben. Die männliche Herrschaft nimmt an verschiedenen Orten und in verschiedenen sozialen Schichten sehr unterschiedliche Formen an. Es ist naiv, davon auszugehen, daß Frauen automatisch gleich denken und handeln würden, wenn nur die Vorherrschaft der Männer nicht existierte.
Da es die allgemeine »Frauenerfahrung« nicht gibt, müssen diejenigen, die trotzdem daran glauben, willkürlich entscheiden, was sie als weibliche Erfahrung gelten lassen wollen und was nicht. Mary Daly entscheidet sich für jene Elemente patriarchalischen Denkens, die Frauen mit der Natur, den Elementen, den Rhythmen des Mondes und der Planeten, mit Tieren und Pflanzen und allem assoziieren, was nicht rational oder künstlich ist. So stellt sie also diese ideologisch konstruierten Frauenbilder in den Dienst des Feminismus.
Dafür weist sie andere traditionelle Bilder von Weiblichkeit zurück, vor allem solche, die Passivität und Hingabe an Mann und Kinder beinhalten. Diese Ablehnung ist unter Feministinnen weit verbreitet, denn ein uns allen gemeinsames Interesse besteht in dem Versuch, die Autonomie und aktive Macht von Frauen zu bestätigen und so gut es geht zu fördern. Doch wenn wir diese Bilder von Passivität und Hingabe zurückweisen, warum sollten wir dann eigentlich weiterhin die ebenso traditionellen Bilder akzeptieren, die behaupten, Frauen befänden sich im gemeinsamen Rhythmus mit Mond und Planeten? Warum sollten wir annehmen, daß Mond und Sterne und Gezeiten etwas Weibliches sind? Warum nicht Computer, Raketen und abstrakte Kunst? Daß die Herrschaft über Frauen in den westlichen Gesellschaften eng mit der Herrschaft über die Natur zusammenhängt, ist kein Grund anzunehmen, daß Frauen tatsächlich der Natur näherstehen. Als Feministinnen bemühen wir uns um ein nicht-instrumentelles, gesünderes Verhältnis zur Natur als das bisherige, das durch Ausplünderung und ökologische Katastrophen gekennzeichnet ist. Doch diese rationale Einstellung ist nicht in unserer urzeitlichen Verbindung zu den Mond-Rhythmen begründet. Wir empfinden nicht intuitiv, daß Ölkatastrophen schlecht für den Planeten sind; wir wissen es und können es mit Tatsachen belegen. Wenn Frauen nur intuitive Wesen wären, wie sollten dann Männer jemals die Möglichkeit haben, ihre eigene Beziehung zur Natur zu verändern? Die Auffassung, Frauen seien »natürlicher« als Männer, entläßt Männer netterweise aus der Verantwortung. Denn wenn Männer den Planeten ruinieren, weil sie Männer sind, dann können sie eigentlich nichts dafür, und nur Frauen können den Planeten retten.
Diese Ansicht, Frauen stünden der Natur näher, ist äußerst problematisch. Mary Daly behandelt das Thema Sexualität nicht direkt (trotz des Titels: Reine Lust wird Sex nie erwähnt), doch sie legt in ihrer Philosophie die Grundlage für eine bestimmte Sexualethik. Auf der ersten Seite ihres Buches stellt sie fest: »Phallische Lust wird als Verschmelzung von Besessenheit und Aggression betrachtet«, wozu »genitale Fixierung und Fetischismus« gehören. Im Gegensatz dazu hat »elementare weibliche Lust« offenbar nichts mit den Genitalien zu tun:
Elementare weibliche Lust ist intensives Sehnen nach der kosmischen Vollendung, der Schöpfung. Sie ist beladen, gespannt, lebt in Spannung mit den Spannungen der fabrizierten »Vater Zeit«. Entflammt, brennt sie sich durch den flachen Eindruck geistloser Sinne und spürt die Quellen, Astralen Kräfte, Engel und Grazien, die aus der Tiefe rufen.[6]
Das Begehren von Frauen ist nach Dalys Ansicht nicht etwa ein sexuelles Begehren, sondern das Begehren nach der »Schöpfung«, nach Natur, die vom Geist erschaffen wird. Die Wahl des Wortes »Schöpfung« ist bezeichnend, besonders bei einer Autorin, die ihre Worte sehr sorgfältig wählt. Die Schöpfung ist die Natur aus der Sicht Gottes. Nun glaubt Daly natürlich nicht mehr an einen patriarchalischen Gott, doch sie glaubt ganz dezidiert an etwas Spirituelles: »die Quellen, Astralen Kräfte, Engel und Grazien«. Sie glaubt auch, daß der Bereich des Spirituellen wichtiger, grundlegender und letztlich sogar wirklicher ist als die Welt der »geistlosen Sinne«. Daly widmet ihr Buch »Dem Geist/der in allem Elementaren Sein/lebt und atmet« und sagt dann, dieser Geist werde in mythischen weiblichen Bildern nur unangemessen dargestellt. An anderer Stelle behauptet sie, Worte seien nicht das geeignete Ausdrucksmittel für feministische Philosophie.
Nun, das klingt mir alles verdächtig nach katholischer Theologie im feministischen Gewand. Und wenn Daly innerhalb der katholischen Glaubenslehre bleiben und nur einen weiblichen Geist an die Stelle eines patriarchalischen Gottes setzen will, ist das natürlich ihr gutes Recht. Wogegen ich mich jedoch ganz entschieden wende, ist ihr Anspruch, ihre Glaubensüberzeugungen seien die Wahrheit, seien »elemental-feministische Philosophie«. Das ist keine Philosophie; das ist Religion. Wie allen christlich-religiösen Denkerinnen ist Daly das Körperliche allgemein und Sex im besonderen suspekt. Wenn sie sich gegen »phallische Lust« wendet, dann können wir ihr insoweit zustimmen, als die gewalttätigen und fetischistischen Aspekte der männlichen Sexualität, wie sie gegenwärtig existiert, nichts sind, was wir erhalten wollen. Doch sie differenziert nicht zwischen der Sexualität von Männern und der gesellschaftlichen Konstruktion von Männlichkeit. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, als sei die Sexualität der Männer von Natur aus gewalttätig und fetischistisch. Der Beschreibung »phallischer Lust« folgt keine Darstellung, wie Männer dazu gedrängt werden, eine solche Sexualität zu entwickeln, und auch keine Erklärung, wie Männer ihre Lust in einer anderen Gesellschaft anders zum Ausdruck bringen könnten. Dem ließe sich entgegenhalten, daß Feministinnen doch recht haben, wenn sie ihre Zeit nicht damit verschwenden wollen, die männliche Sexualität zu reformieren. Doch wenn wir nicht verstehen, wie die sozial »männliche« im Gegensatz zur biologisch männlichen Sexualität organisiert ist, haben wir kein Kriterium, um die verschiedenen sexuellen Praktiken von Männern zu bewerten, oder noch konkreter: konstruktive Kritik an unseren heterosexuellen Beziehungen zu üben. Das Motto »Nimm es hin oder laß es« hindert Frauen daran, die Schwachpunkte in ihren Beziehungen herauszufinden, die Punkte, an denen Heterosexualität verändert werden könnte.
Dalys Ansatz, Männern eine »phallische« und Frauen eine »reine« Lust zuzuschreiben, macht Heterosexualität zu einer antifeministischen und für Frauen unbedingt negativen Angelegenheit. Darin ist Daly Andrea Dworkin sehr ähnlich. Sie geht davon aus, daß in allen Verbindungen zwischen den Geschlechtern Frauen ihrer elementaren Energien und Macht durch Männer beraubt werden. Sowohl in ihrem früheren Buch Gyn/Ökologie wie in Reine Lust benutzt Daly dauernd Metaphern wie Dracula und Vampir. Diese Bilder legen nahe, Frauen seien immer die Opfer und Männern fehle jegliche vitale Energie, so daß sie nur leben können, wenn sie Frauen das Blut aussaugen. Heterosexualität ist häufig oder sogar fast immer ein ungleicher Austausch, bei dem Frauen sehr viel mehr geben als sie bekommen. Diese Auffassung mit dem statischen und mythischen Bild des Vampirismus zu belegen, schließt jede Möglichkeit zu einer veränderten Heterosexualität von vornherein aus. Im Vampirfilm bleibt das weibliche Opfer immer ein Opfer, und der Vampir bleibt ein Vampir. Heterosexualität ist jedoch ein sozialer Prozeß, der historischen Veränderungen unterliegt.
Die eindeutige Ablehnung der Heterosexualität bringt bei Daly aber nicht unbedingt eine Befürwortung des Lesbischseins mit sich. Sie spricht lieber über spirituelle Bindungen zwischen Frauen, statt über Sex zwischen Frauen. Wie vorhin gesehen, beschreibt sie »elementare weibliche Lust« als eine mystische Wahrnehmung der Einheit der Natur in einem im Grunde christlichen Kontext. Das ist nicht viel anders als die alte Vorstellung, Frauen wollten gar keinen Sex, sondern nur Liebe. Es ähnelt auch Platos Vorstellung, wahre Liebe sei nicht die Liebe zu einem individuellen Körper, sondern die Liebe zur Schönheit als solcher. Daly betrachtet körperliche Intimität als eine »Besessenheit« von »phallischer Lust«; richtige Feministinnen seien statt dessen an »körperlicher Endgültigkeit« (ultimacy) interessiert. Der Begriff »ultimacy« wird nie definiert, doch sie gibt uns zu verstehen, daß er jedenfalls nichts mit »flüchtigen oder pseudo-intensiven >Beziehungen< zu tun habe.« Heterosexualität ist also für echte Feministinnen tabu, doch auch das Lesbischsein ist so entsexualisiert, daß man Dalys Beschreibung feministischer Gemeinschaften mit einer Schilderung mittelalterlichen Klosterlebens verwechseln könnte. Und nicht nur das: Frauen, die körperliche Intimität mögen, werden als patriarchalisch infiziert betrachtet. Sie sollen ihre Beziehungen ruhig genießen, doch für Daly sind diese Beziehungen unbesehen eine zu vernachlässigende Größe, da »flüchtig oder pseudo-intensiv«. (Warum müssen sie unbedingt pseudo-intensiv sein? Weil Sex dabei im Spiel ist und nicht nur der reine Geist?) Dalys Versuch, eine feministische Ethik zu entwerfen, lockt uns also auf gefährliches Terrain. Denn zum einen sollen wir rigide Vorstellungen davon übernehmen, was weiblich oder feministisch ist und was nicht. Nationale Unterschiede, Rassen- und Klassenkonflikte zwischen Frauen werden unter den Teppich gekehrt, und Daly verschwendet keinen Gedanken daran, daß sich vielleicht nicht alle Frauen unbedingt im Ewigweiblichen der westlichen Philosophie und Theologie heimisch fühlen mögen. Zum anderen wird der Sexualität von Frauen eine ausschließlich spirituelle Richtung gegeben. Obwohl sie nicht viele Worte darauf verschwendet, entsteht der Eindruck, als sei Heterosexualität vollständig tabu, Lesbischsein nur in einer festgeschriebenen Form der elementaren Lust an der Schöpfung gestattet und die Asexualität das höchste Gut. Und generell versucht sie in ihrer Philosophie, jede prinzipielle Uneinigkeit und jeden tatsächlich bestehenden Unterschied zwischen Feministinnen von vornherein aus der Diskussion zu verbannen.
Ein erschreckendes Beispiel für diese autoritäre Tendenz aus Reine Lust: Daly lehnt darin die Feministinnen aus der Dritten Welt, die 1980 auf der Internationalen Frauenkonferenz der UNO in Kopenhagen sprachen, als »männeridentifiziert« ab, wobei sie völlig außer acht läßt, was Frauenbefreiung für Frauen in »unterentwickelten« Teilen der Welt bedeutet. Sie versucht, ihre Vorstellung von »Sisterhood-um-jeden-Preis« allen Frauen der Welt aufzuzwingen, indem sie sagt: »Frauen werden von Männern aller Nationen, Klassen, Rassen, zu allen Zeiten und an allen Orten vergewaltigt, geschlagen, verstümmelt, getötet und zerstückelt... «[7] Sie verwendet also ihre ahistorische Vorstellung vom Patriarchat, um die Anerkennung anderer Formen von Unterdrückung zu verhindern und den Interessenkonflikt zwischen der Frau, die in Brasilien für eine Mark am Tag Kaffeebohnen pflückt, und der weißen amerikanischen Feministin, die ihren Kaffee schlürft, während sie über Frauen im allgemeinen schreibt, zu leugnen. Durch diese ahistorische und fast mystifizierende Vorstellung vom Patriarchat können Frauen, die ihre Meinung in der Art kundtun: »Was aber ist, wenn wir gern mit Männern schlafen?« wegen Mangel an Respekt und jenem für Daly-Fans erforderlichen »Glauben« aus der »Glaubensgemeinschaft« ausgeschlossen werden.[8]
Die Reaktion auf den Naturalismus:
Reden über Sex
Einige moderne Feministinnen haben Mary Daly und den Anti-Porno-Autorinnen wie Andrea Dworkin vorgeworfen, in ihren Schriften spiegele sich eine altmodische Ablehnung oder sogar Angst vor Sex, besonders vor unkonventionellem Sex. Sie kritisieren die Tatsache, daß die sexuelle Befreiung heute ganz unten auf der feministischen Tagesordnung steht - oder, wie bei Daly und Dworkin, völlig gestrichen wurde -, während fast nur noch darüber geredet wird, wie Frauen zu Opfern von Männern, männlicher Gewalt und männlicher Pornografie werden. Diese Feministinnen wollen die sexuelle Befreiung von Frauen wieder zum Diskussionsthema machen.
Ein wichtiges Buch, das zahlreiche Schriften dieser amerikanischen Feministinnen enthält, trägt den bezeichnenden Titel Pleasure and Danger: Exploring Women's Sexuality[9] (Lust und Gefahr: Die Erforschung der Sexualität von Frauen); und es war kein Zufall, daß Gewalt gegen Frauen und die gefährlichen Aspekte des Sex zwar angesprochen werden, aber im Titel das Wort pleasure, also Lust oder Vergnügen, an erster Stelle steht. Manchen Autorinnen dieses Sammelbandes ist es gelungen, einerseits die Probleme einer männlich definierten sexuellen Freiheit zu diskutieren, sich andererseits aber dennoch für eine sexuelle Befreiung auszusprechen. Andere Autorinnen haben jedoch leider (wenn auch sicher naheliegend) einen polemischen Standpunkt eingenommen und den strikten Moralismus Mary Dalys zwar abgelehnt, aber nur, um sich wieder einer sexuellen Libertinage zuzuwenden, die für die meisten Frauen schon längst kein Diskussionsthema mehr ist. Einige dieser Autorinnen waren vorher schon von Antiporno-Feministinnen hart angegriffen und als männlich-identifiziert denunziert worden, und so war es absehbar, daß sie lautstark auf ihrem Recht, »schlimme Mädchen« zu sein, bestehen würden. Sicherlich ist frau nach einer Dosis Mary Daly versucht, die Rolle des »schlimmen Mädchens« anzunehmen, schon allein, um der heiligen mütterlichen Autoritätsfigur zu trotzen. Für manche dieser »Pro-Sex«-Feministinnen ist die sexuelle Befreiung ein Prozeß, der sich an feministischen Werten orientiert und sorgfältig von der Playboy-Ideologie unterschieden wird; für andere jedoch ist das gegenseitige Einverständnis bei sexuellen Handlungen aller Art der einzige entscheidende ethische Wert, auf den es in der sexuellen Befreiung ankäme. Gayle Rubin, deren Aufsatz »Thinking Sex« (»Sex Denken«) der umfangreichste Beitrag in der Anthologie Pleasure and Danger darstellt, vertritt die Position, daß es bei der Bewertung von sexuellen Praktiken einzig und allein darauf ankomme, ob beide Beteiligten ihnen zustimmen oder nicht. Und wenn die Beteiligten mit dieser Art des Sex einverstanden wären, brauchten keine weiteren Fragen gestellt zu werden. Außerdem präsentiert sie den Leserinnen eine etwas verdrehte Geschichte der Sexualität in westlichen Gesellschaften. »Sex-Negativität« wird als Hauptmerkmal des westlichen Denkens über Sex dargestellt, als ob die Unterdrückung der Frauen nur ein zufälliger Faktor und Sex ein undifferenziertes Ganzes sei, »für« oder »gegen« das man sein könnte. Als Feministinnen wissen wir, daß »Einverständnis« eine relative Sache ist, da die Beteiligten oft nicht über die gleichen Informationen und die gleiche Macht in der Beziehung verfügen und ihnen nicht unbedingt mehrere Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Rubins ausschließliche Konzentration auf das gegenseitige Einverständnis erinnert mich an einen Mann, den ich neulich dabei beobachtete, wie er sich durch eine Streikpostenkette den Weg in einen Buchladen bahnte. »Warum besorgt ihr euch keinen besseren Job?« fragte er, als man ihn unterrichtete, daß der Streik deswegen stattfand, weil die Angestellten nur neun Mark die Stunde bekamen. Diese Angestellten waren ja »einverstanden« damit gewesen, sich ausbeuten zu lassen, allerdings nur, weil sie keine Alternative hatten, dennoch aber handelt es sich zweifellos um Ausbeutung. Und die Frau, die so erzogen wurde, daß sie ihre sexuellen Empfindungen ignoriert und es Männern überläßt, »sie sexuell zum Leben zu erwecken«, mag sich mit allen möglichen sexuellen Praktiken »einverstanden« erklären, nach denen sie nie zuvor ein Bedürfnis hatte - weil sie es eben nicht gelernt hat, sich eigene Vorstellungen zu machen und zu versuchen, sie auch zu verwirklichen.
Die Theorie des gegenseitigen Einverständnisses ist natürlich wesentlicher Bestandteil jeder feministischen Sexualethik. Doch wir sind keine autonomen Individuen mit gleich verteilter Macht. Daher kann die Idee des Einverständnisses allein nicht ausreichen, eine Sexualethik zu entwickeln, denn Information und Macht sind wesentliche Voraussetzungen für ein wirkliches Einverständnis.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt feministischer sexueller Libertinage, der zu Problemen führen kann, besonders im Zusammenhang mit dem Versuch, eine Sexualethik zu entwickeln. Er wird sowohl in Gayle Rubins oben genanntem Aufsatz deutlich, als auch in anderen Beiträgen derselben Anthologie wie Paula Websters »The Forbidden: Eroticism and Taboo« (»Das Verbotene: Erotik und Tabu«). Webster plädiert in ihrem Aufsatz dafür, daß Frauen über ihre Bedürfnisse sprechen, ihre Hemmungen überwinden und so viele Tabus wie möglich brechen sollten, ohne dabei Angst vor moralischer Verurteilung zu haben. Das Reden selbst wird als befreiend betrachtet, unabhängig vom Inhalt unserer Bedürfnisse/Phantasien. Webster geht es um die Verletzung der Tabus, die unsere Sexualität behindern. Durch das Mißachten von Tabus - sowohl solcher Tabus, die uns von der Familie und Tradition vermittelt wurden, als auch solcher, die von dogmatischen feministischen Vorstellungen über »politisch korrekten« Sex aufgestellt wurden - sei es möglich, so Webster, »sexuelle Autonomie« zu erreichen. Natürlich ist es für eine befreite Sexualität von entscheidender Bedeutung, daß wir lernen, über unsere Bedürfnisse zu sprechen und in unserem Sexualleben unsere Phantasie zu gebrauchen. Wir müssen die Bürde aus traditioneller Erziehung, Hemmungen und Schuldgefühlen immer wieder aufs neue abschütteln; denn selbst diejenigen unter uns, die eine relativ »befreite« Sexualität leben, leiden gelegentlich unter irrationalen Schuldgefühlen oder der Angst davor, was geschehen könnte, wenn sie ihre Bedürfnisse laut aussprechen würden. Es ist wirklich wichtig, daß wir lernen, unsere Scham zu überwinden und zu akzeptieren, daß es beim Sex kein »richtig« oder »falsch« gibt.
Doch wir sollten die Bedeutung von Gesprächen über Sex nicht überschätzen. Statt dessen sollten wir uns bewußt machen, welche Probleme das Reden über Sex mit sich bringen kann - Probleme, auf die ich in der Einleitung bereits hingewiesen habe. Websters Beitrag scheint mir der Versuchung des bloßen Redens zu erliegen, dem Kitzel, »das Verbotene« auszusprechen und ein Tabu nach dem anderen zu brechen, ohne sich vor Augen zu halten, daß damit der Rahmen unserer Verhaltensmöglichkeiten noch lange nicht gesprengt wird. Der permanente verbale Tabu-Bruch selbst hat noch nicht sehr viel Kreatives, denn er bedeutet nicht automatisch, daß wir uns auch genau ansehen, warum manche Themen zu Tabus geworden sind und andere nicht. Wir sind auf diese Weise noch nicht freier von den alten Moralvorstellungen als diejenigen, die diese Tabus respektieren.
Das tabubrechende Reden über Sex allein ermöglicht es uns weder, verschiedene Bedürfnisse zu unterscheiden, noch gibt es uns Kriterien dafür an die Hand, wie wir die Bedürfnisse bewerten können. Wenn eine Frau »wirklich« scharf darauf ist, Stöckelschuhe und ein Korsett zu tragen und sich von einem Machomann in Cowboy-Stiefeln ans Bett fesseln zu lassen, haben wir zunächst einmal keine Möglichkeit, ihr »ehrliches« Bedürfnis als ein gesellschaftlich hergestelltes zu begreifen. Ich habe kein Interesse daran, dieser Frau zu sagen, sie solle sich »schämen« oder sich ihr Bedürfnis abgewöhnen. Doch ich würde ihre bevorzugte Praktik nicht gerade als der Frauenbefreiung dienlich betrachten. Der Inhalt ihres Begehrens wurde durch den gesellschaftlichen Sexismus hergestellt. Indem sie es auslebt, mag sie sich zum »schlimmen Mädchen« machen, das den Puritanismus herausfordert, doch die traditionellen Geschlechterbeziehungen bleiben dabei intakt. Was wir brauchen, ist eine Theorie, die uns ermöglicht zu verstehen, warum Frauen ganz bestimmte sexuelle Bedürfnisse haben und welche politischen und sozialen Bedeutungen hinter diesen verschiedenen Bedürfnissen stecken. Das hat nichts damit zu tun, moralische Urteile über das Sexualleben einzelner Frauen zu fällen. Die gesellschaftlichen Wurzeln des sexuellen Begehrens zu verstehen, erfordert nicht unbedingt eine dogmatische Festlegung dessen, was politisch korrekt ist und was nicht; es ist nicht nötig, eine feministische Liste von Ge- und Verboten aufzustellen. Der Theorie, »über Sex zu reden« sei an sich befreiend, liegt die Annahme zugrunde, die sexuelle Identität sei eine autonome, individuelle Kraft, die durch soziale Zwänge in Schach gehalten und eingedämmt werde. Diese Betrachtungsweise reduziert die sexuelle Befreiung von Frauen auf ihre individuelle Autonomie. Doch wenn Sexualität, wie in diesem Buch durchgängig behauptet, sowohl ein sozialer und kollektiver Prozeß wie eine individuelle Identität ist, dann genügt es nicht, die individuelle Freiheit der Phantasie und der Handlungsmöglichkeiten zu fordern. Die Vorstellung individueller Autonomie verwandelt jede von uns in eine Einzelkämpferin. Sie behindert die Entwicklung eines gemeinsamen Diskurses über eine weibliche Sexualethik und über die Beziehung zwischen unserer Sexualität und anderen Aspekten unseres Lebens. Wenn wir die traditionelle Moral nur kritisieren, um zur bloßen Vorstellung von der Unverletzlichkeit individueller Bedürfnisse zurückzukehren, verfügen wir über keinerlei Mittel, herauszufinden, warum ein weißer Mann gern eine farbige Frau zur sexuellen Sklavin macht oder aus welchen Gründen eine farbige Frau sich damit »einverstanden« erklären könnte.
Sexuelles Begehren ist nicht vergleichbar mit einem Wasserreservoir, das durch einen Wall sozialer Zwänge eingedämmt wird. Sexualität wird durch gesellschaftliche Kräfte hergestellt, von individuellen Erfahrungen und Überzeugungen geformt und ist immer in Veränderung begriffen. Unser Begehren zu befreien, ist nicht einfach mit einem Dammbruch gleichzusetzen; es erfordert, daß wir uns der Dichotomie Repression/ Freiheit insgesamt entledigen, um unsere eigene Sexualität überhaupt erst einmal neu zu schaffen. Dieser Schaffensprozeß ist keine rein individuelle Angelegenheit; die Kultur, die uns umgibt, unsere Sexualpartnerinnen, unsere Freundinnen und unsere politischen Auffassungen spielen dabei eine wesentliche Rolle. Wir alle integrieren diese Einflüsse und Vorstellungen so gut wir können, wobei wir von unserem Empfinden dafür geleitet werden, was lustvoll und was ethisch vertretbar ist.
Wenn wir unseren kollektiven Diskurs darauf begrenzen, über Phantasien und Bedürfnisse zu sprechen, gehen wir das Risiko ein, lediglich in uralte Klischees zu verfallen: »Ich möchte von einem Mann mit einem riesigen Penis vergewaltigt werden«; »Ich möchte am liebsten schwarze Lederstiefel anziehen und eine Frau auspeitschen«. Über Sex zu sprechen, muß nicht nur ungehemmt, sondern auch kreativ sein. Bei diesen gemeinsamen Gesprächen bzw. bei diesem Schaffensprozeß ist häufig das, was uns als erstes in den Sinn kommt und uns sofort anmacht, ein Softporno-Klischee. Wir brauchen deshalb nicht zurückzuschrecken oder uns dafür zu schämen; vielleicht probieren wir es sogar praktisch aus, um zu sehen, wie es ist. Wir könnten aber auch versuchen, diese Szenarios zu unterwandern, selbst wenn wir sie ausagieren, indem wir die konventionellen Symbole umkehren, das Szenario nach unserer eigenen Regie gestalten - oder einfach, indem wir uns weigern, solche Phantasien allzu ernst zu nehmen. Ein respektloses Lachen fordert die Macht patriarchalisch geprägter Phantasien oft mehr heraus als tausend Diskussionen.
Die Hauptprobleme des sexuell libertären feministischen Ansatzes liegen allesamt in der Überbetonung der individuellen Autonomie begründet. Wenn wir davon ausgehen, daß alle Menschen autonom und gleich sind, dann müssen wir auch glauben, die Marktwirtschaft sei fair und jede/r bekäme, was sie/er will. Das gegenseitige Einverständnis ist dann in dieser Laissez-faire-Auffassung von sexuellen Beziehungen das einzige ethische Kriterium. Im Gegensatz dazu könnte uns eine Kritik an der Verteilung gesellschaftlicher Macht zu einer vorsichtigeren und integrativeren Einschätzung sexueller Macht führen, bei der wir uns genau ansehen, was tatsächlich alles eine Rolle spielt, wenn eine Frau sich mit einer Sexualpraktik einverstanden erklärt, auf die sie von sich aus nicht gekommen wäre. Außerdem würden wir so nicht annehmen, es gäbe keine offenen Fragen mehr, sobald das Einverständnis der Partnerinnen gegeben ist. Nach den individuellen Moralvorstellungen der meisten Frauen ist es sicherlich falsch, sexuellen Zwang auszuüben; doch was »richtig« ist, kann nur eine gemeinschaftliche Ethik entscheiden. Eine weniger individualistische Betrachtungsweise der Sexualität würde also die sexuelle Autonomie (was immer das sein mag!) nicht in den Status eines absoluten Wertes erheben. Statt dessen würden wir untersuchen, wie unsere Sexualität durch gesellschaftliche Faktoren geformt wird, die uns alle betreffen und beeinflussen - also etwa unsere Geschlechts- und Rassenzugehörigkeit sowie die Herrschaftsbeziehung unter den Klassen -, und wir würden auch versuchen herauszufinden, wie wir diese Herrschaftsbeziehungen in unserem persönlichen Sexualleben unterwandern können. Sexualität ist mit anderen Worten ein sozialer Prozeß, der einen Aspekt unseres Frauenlebens darstellt. Sie ist keine Kraft, die bereits entwickelt und geformt in den urzeitlichen Tiefen unseres weiblichen Wesens lauert. Statt dessen entwickeln wir unsere Sexualität ständig weiter - nicht aus dem Nichts heraus, nicht in selbstherrlicher individueller Autonomie, sondern auf dieselbe Weise, wir wir unser politisches Verständnis und unsere literarische Phantasie weiterentwickeln, das heißt, als Mitglieder bestimmter Gruppen, die sowohl auf bestimmten Traditionen aufbauen wie ihnen widerstehen. Wir sind dabei, eine sexuelle Widerstandskultur aufzubauen, und das ist ein wesentlicher Bestandteil des feministischen Projekts.
Feministische Ethik, Feministische Lust
Es wäre ein Widerspruch in sich, eine »feministische Moral« entwickeln zu wollen, einen Kodex aus Geboten und Verboten, der auf einer willkürlichen Vorstellung von individuellen feministischen Tugenden beruhte. Doch während der Begriff »Moral« sowohl Rigidität wie Individualität assoziiert, ist der Begriff »Ethik« eher geeignet, das zum Ausdruck zu bringen, was Feministinnen brauchen. Der Begriff Ethik beinhaltet das Nachdenken über Werte und Handlungen; er bedeutet Diskussion und Gemeinschaftlichkeit. Ethik als Begriff legt auch die Entwicklung von Richtlinien nahe, nicht so sehr das Erstellen eines rigiden Kodex, der den Prozeß der Analyse und Diskussion ersetzen könnte. Eine feministische Sexualethik würde auf der Anerkennung sexueller Verschiedenheit basieren. Sie würde nicht davon ausgehen, daß monogame Langzeitbeziehungen die einzigen ethisch vertretbaren Beziehungen seien, und sie würde es ausdrücklich ablehnen, bestimmte Formen sexueller Handlungen anderen moralisch vorzuziehen. Sie würde versuchen, Kriterien zu entwickeln für die Diskussion über ethisches Verhalten innerhalb der Gruppen, die eine bestimmte Form der Sexualität praktizieren. So würde sie zum Beispiel nicht davon ausgehen, daß die Regeln, die in selbst-definierten monogamen Beziehungen bestehen, auf eine Gruppe von Menschen übertragen werden können, für die »Treue« kein Kriterium ist, die aber dennoch eine gewisse Verpflichtung und Verantwortung füreinander empfinden. Wie Lorna Weir und Leo Casey gesagt haben, besteht die vor uns liegende Aufgabe darin, »eine Vielfalt ethischer Sexualitäten« zu ermöglichen und zu fördern, und »eine Position, die sexuelle Vielfalt respektiert und der es gelingt, die soziale Konstruktion verschiedener sexueller Diskurse und Praktiken ohne vorgegebene Normen und Hierarchien zu untersuchen, führt nicht unbedingt zu moralischem Nihilismus.«[10]
Manche Feministinnen mögen dagegenhalten - unabhängig davon, wie flexibel unsere neue feministische Ethik sein mag -, es gebe nach wie vor einen grundlegenden Widerspruch zwischen den Erfordernissen, sich ethisch zu verhalten, und allem, was in diesem Buch über das Bedürfnis von Frauen geäußert wurde, ihre sexuelle Lust zu erkunden und weiterzuentwickeln. Das bedeutete, einfach ausgedrückt: Ethik betrifft die Verantwortung anderen gegenüber, während es bei Lust darum geht, das zu tun, was »ich« will.
Wenn wir Lust als individualistisch und apolitisch betrachten, als einen Ausbruch dunkler innerer Mächte, dann wird es natürlich schwierig sein, Lust und Ethik miteinander in Einklang zu bringen. Doch so müssen wir Lust und sexuelles Begehren nicht unbedingt verstehen. Wie im Kapitel über das Begehren ausgeführt, ist es eine mystifizierende Sichtweise, das Begehren als eine irrationale, destruktive Kraft zu betrachten, die von irgendwo innerhalb des Egos ausgeht und keine Grenzen kennt außer denen, die ihr von außen durch bestimmte Moral Vorstellungen, das Gesetz oder das Über-Ich aufgezwungen werden. Das sexuelle Begehren muß nichts Destruktives sein, und Macht in der Sexualität muß nicht automatisch Demütigung bedeuten. Macht kann auch so verstanden werden, daß sie nicht etwa im selbstsüchtigen »dunklen« Teil der eigenen Seele haust, sondern ein Prozeß ist, der aus der Interaktion zwischen Menschen entsteht, die etwas gemeinsam tun. Das Bedürfnis nach Lust kann den Wünsch nach Gemeinsamkeit genauso beinhalten wie den Wunsch, Lust zu geben und zu empfangen oder die Sehnsucht nach einer ethischeren Welt.
Wenn umgekehrt die Ethik kein statisches System ist, das uns von außen aufgezwungen wird, sondern wenn sie das Ergebnis unserer eigenen Diskussionen und Reflexionen ist, dann können wir sie als unsere erleben. Sie kann dann als eine Gesamtheit von Werten oder Richtlinien empfunden werden, die wir für uns entwickelt haben und denen wir uns verpflichtet fühlen. Ethische und politische Werte können zu Objekten unserer Begierde werden.
Es wird allerdings immer ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen Lust und Ethik bestehen bleiben. Es gibt Zeiten, da verlieben wir uns in die/den Geliebte/n unserer besten Freundin und müssen uns in Selbstbeherrschung üben, um uns von dem Objekt unseres Begehrens wieder abwenden zu können. Es gibt Zeiten, da fühlen wir uns vollständig verantwortungslos und wollen Sex mit der ersten Person, die uns über den Weg läuft, auch wenn wir genau wissen, daß wir damit nur einer Auseinandersetzung mit unserer/m Geliebten aus dem Weg gehen wollen, mit der/dem wir uns in einem Konflikt befinden.
Doch das Spannungsverhältnis zwischen Lust und Ethik mündet nicht zwangsläufig in einen absoluten Widerspruch. Es gibt Zeiten, in denen die beiden Aspekte unseres Lebens auf eindrucksvolle Weise zusammenkommen, und in solchen Zeiten können wir ahnen, wie es wohl sein mag, in einer post-patriarchalischen, post-individualistischen Gesellschaft zu leben. Für mich sind solche Momente wichtig, um mich daran zu erinnern, was es heißt, ein soziales Wesen zu sein. Sie zeigen, daß wir nicht immer die Lust um der Tugend willen opfern müssen oder umgekehrt. Mir fällt dazu ein Beispiel ein, das mit einer schwierigen sexuellen Situation zu tun hat, in der ich mich einige Zeit lang befunden habe. Ich war die Geliebte einer Frau, die noch eine andere regelmäßige Geliebte hatte. Die andere Geliebte und ich empfanden zeitweise Eifersucht und Ablehnung füreinander. Doch es gab Zeiten, in denen diese Gefühle schwanden und wir eine uneigennützige Zuneigung füreinander empfanden, die in dem Gefühl wurzelte, ein gemeinsames Ziel zu haben. Es bereitete uns durchaus lustvolle Gefühle, unsere politischen Ideale in die Praxis umzusetzen. In solchen Momenten empfand ich eine besonders friedvolle, ruhige Art der Lust, die ganz anders war als die zielgerichtete, mehr persönliche Lust, das zu bekommen, was ich wollte, unabhängig von den Bedürfnissen und Wünschen anderer. In solchen Momenten befanden sich mein Begehren und meine ethischen wie politischen Ideale in Harmonie miteinander. Mein Begehren nach meiner Geliebten war, zumindest eine Zeitlang, nicht exklusiv oder selbstsüchtig, und es wurde bestärkt, nicht vermindert, durch meine bewußte Wahrnehmung des ebenfalls vorhandenen Begehrens zwischen ihr und ihrer anderen Geliebten.
Damit soll die Bedeutung von Konflikten nicht heruntergespielt, sollen die Probleme in sexuellen Beziehungen der heutigen Welt nicht geschmälert werden. Es heißt lediglich, daß Konflikte nicht unbedingt zu Stagnation und Unglück führen müssen. Die Konflikte zwischen verschiedenen Bedürfnissen sowie zwischen sexuellem Verlangen und Ethik können kreativ genutzt werden und uns einer fürsorglichen Gemeinschaft näher bringen, die uns sowohl anleiten wie auch einen Kontext für unser Begehren bieten kann.
Unser sexuelles Begehren wird immer ein gesetzloses Element enthalten. Doch in einer kohärenteren und aufgeklärteren Gemeinschaft, in der Wertvorstellungen ohne moralisch erhobenen Zeigefinger diskutiert werden können, würde ein solches Begehren anders erlebt. Wir müßten uns nicht wie lebende Pulverfässer aus ungezügelter Lust fühlen. Und wir würden uns nicht dauernd in Opposition zu unseren Bedürfnissen und denen unserer Freundinnen und Liebhaberinnen empfinden. Die zwischenmenschlichen Konflikte und die Spannung zwischen Verantwortlichkeit und Lust würden in einem Kontext ausgetragen, der eine Lösung oder zumindest eine Klärung der Konflikte ermöglichte. Es kann jedoch gar keinen Zweifel daran geben, daß unsere sexuellen Beziehungen sich nicht vollständig verändern lassen, solange wir in einer konsum- und wettbewerbsorientierten Welt leben, in der ein bestimmtes Geschlecht und eine bestimmte Klasse die Macht besitzt und sie gegen uns einsetzt. Wir werden also nur mühsam vorankommen, gelegentliche Momente der Klarheit und des Friedens erleben, die uns ein Gefühl dafür vermitteln, was möglich wäre, und ansonsten versuchen, unser Bestes zu tun, um unser Bedürfnis nach sinnlicher Lust mit unserer Leidenschaft für ethische und politische Lust in Einklang zu bringen. Eine vollständige Veränderung unserer Sexualität kann nur in einer Gesellschaft gelingen, die insgesamt das patriarchalische Erbe der Vergangenheit in Frage stellt und in der wirkliche Gemeinschaften das sexuelle Begehren der einzelnen ausgleichen und anleiten.