Das Wort »Sozialismus« bezieht sich auf drei unterschiedliche, aber miteinander zusammenhängende Erscheinungen: 1. Der Sozialismus ist eine soziale Bewegung, die auf Ursprünge bis zurück zur Antike verweisen kann, die aber erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer dauerhaften und strukturierten Realität wurde. 2. Der Sozialismus ist ein Ideal menschlichen Zusammenlebens, und zwar der Vorschlag für eine bestimmte sozio-ökonomische Ordnung, die den historischen Gegenstand jener Bewegung bildet. 3. Der Sozialismus ist eine konkrete historische Erfahrung mit der Organisierung und dem Funktionieren einer sozio-ökono-mischen Ordnung. Seit der russischen Revolution von 1917 ist aus diesem Experiment eine nationale Realität geworden, die schon auf 65 Lebensjahre zurückblicken kann und die nach dem Zweiten Weltkrieg gewachsen ist, sich ausgeweitet und diversifiziert hat, indem neue sozialistische Nationen entstanden. — Im folgenden geht es nur um den dritten Aspekt, die sozialistischen Erfahrungen.
Die Erfahrungen mit dem Sozialismus werden — aufgrund der unterschiedlichen historischen Realitäten, die heute die Grundlage einer möglichen Theorie des Sozialismus bilden — immer komplexer. Dies geschieht in dem Maße, wie die sozialistische Bewegung sich anreichert, indem sie ihre Beschränkung auf das europäische Proletariat überwindet und die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt einbezieht und das sozialistische Ideal um die Prinzipien des Emanzipationskampfes der Völker erweitert. Nach Marx und Engels wäre der Sozialismus eine Gesellschaftsformation des Übergangs mit folgenden Merkmalen: 1. das kollektive Eigentum an den Produktionsmitteln, 2. die Planung von Produktion und Konsum mit dem Ziel der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse, sowie 3. das Fortbestehen des Staates im Dienste einer proletarischen Demokratie, die sich gegen die Widerstände der konterrevolutionären Klassen durchsetzt.
Der Sozialismus beseitigt jedoch das Privateigentum und das Lohnverhältnis nicht vollständig, diese bestehen vielmehr mit den Verhältnissen das Warenaustauschs und dem Geld weiter. Allerdings sind diese Erscheinungen beim sozialistischen Übergang insofern unter Kontrolle, als sich die Formen vergesellschafteten Eigentums, die Planung und die unmittelbare Befriedigung der Bedürfnisse der Werktätigen durch gesellschafthche Dienstleistungen ihrerseits entwickeln.
Gleichzeitig beendigt der Sozialismus keineswegs den Klassenkampf, weder national noch international. Daher muß das Proletariat in der Periode des sozialistischen Übergangs den Staat aufrechterhalten und sogar verstärken. Für Marx ist der Staat grundsätzlich eine Form der Diktatur im Dienste einer Klasse, auch wenn es eine demokratische Ordnung der Staatsverwaltung gibt. Dabei verwechselt Marx den Staat eben nicht mit den politischen Ordnungen, die in ihm praktiziert werden. Die Diktatur der Bourgeoisie nahm die Form einer liberalen Demokratie an. Die Diktatur des Proletariats würde die Form einer demokratischen Republik des Proletariats annehmen.
Marx und Engels erwarteten jedoch, daß die ersten sozialistischen Experimente in entwickelteren kapitalistischen Ländern stattfinden würden. Zwar ging Marx so weit, den direkten Übergang von der russischen Dorfgemeinschaft zum Sozialismus für möglich zu erklären — wie es die russischen Volkstümler behaupteten. Aber er hielt dies nur. bei Unterstützung durch die in Europa dann bereits errichteten sozialistischen Staatsordnungen für möglich. Nun hat aber die historische Wirklichkeit einen anderen Weg der Entstehung des Sozialismus eingeschlagen. Die russische Revolution von 1917 begann im Februar als bürgerlich-demokratische Revolution, die sich im Oktober zu einer sozialistischen Revolution erweiterte. Dies geschah unter der Führung der Bolschewiki, die mit dem Schwanken der Liberalen und der sozialdemokratischen Menschewiki Schluß machten und eine Arbeiter- und Bauernmacht durchsetzten, die in ganz Rußland ihren Ausdruck in den Räten fand.
Wie sollte nun der Sozialismus in einem zurückgebliebenen, überwiegend feudalen Land aufgebaut werden, das nur einige Spitzen industriekapitalistischer Entwicklung hatte? Die Aufgaben waren gigantisch und hatten mit einem sozialistischen Übergang in einem ökonomisch entwickelten Land nicht viel zu tun.
Für das Experiment des sowjetischen Sozialismus waren folgende extreme Bedingungen und Faktoren kennzeichnend: 1. Es war 30 Jahre lang das einzige siegreiche sozialistische Experiment. 2. Es sah sich demgemäß einer äußerst mächtigen und aktiven Gegenbewegung seitens der kapitalistischen Staaten ausgesetzt, ohne auf ein anderes Gegengewicht als das seiner eigenen ökonomischen und militärischen Macht zurückgreifen zu können. 3. Es mußte geradezu katastrophale Situationen durchstehen: Auf einen Krieg 1914-18, der die Hälfte seiner Produktionskraft vernichtet hatte, folgte ein Bürgerkrieg, der den größten Teil seiner politischen Avantgarde vernichtete; und gleich anschließend ein bäuerlicher Widerstand, der einen richtiggehenden zweiten Bürgerkrieg mit der Roten Armee von 1927-29 auslöste; darauf folgte die Nazi-Invasion von 1941-45, die 20 Millionen Sowjetbürgern das Leben kostete und ganze Gebiete in Stadt und Land verwüstete; anschließend der Kalte Krieg von 1947-54, der — wie der bis heute andauernde Rüstungswettlauf — enorme Militärausgaben und soziale Kosten mit sich brachte. 4. Es mußte die Produktion einer enormen Masse von Bauern organisieren — damals 80 Prozent der Bevölkerung, um aus deren Überschüssen eine titanische Anstrengung der Industrialisierung und Urbanisierung nähren zu können. 5. Es war nötig, die breiten Massen schleunigst vom Analphabetentum auf das Niveau von Leitern und Verwaltern anzuheben. Die Bauern und Arbeiter waren die einzige Elite, mit der man rechnen konnte.
Unter diesen Bedingungen konnte das Experiment des sowjetischen Sozialismus kein Vorbild an Ausgewogenheit, Rationalität und Liberalismus darstellen. Sein Aufbau ging nur stolpernd voran, indem man aus Irrtümern lernte und dabei auch Perioden eines ausgeprägten politischen und kulturellen Obskurantismus durchmachte wie die der »Säuberungen« der alten Bolschewiki durch Stalin, die Übersteigerung des russischen Nationalismus während des Zweiten Weltkriegs und die Durchsetzung eines grotesken Kultes des Diktators in dessen letzter Lebensphase.
All dies war aber keine Konsequenz des sozialistischen Übergangs als solchem, sondern der oben genannten spezifischen Bedingungen. Es wäre daher zynisch, die Schwierigkeiten, unter denen das sowjetische Volk zu leiden hatte, auf seine historische und heroische Entscheidung für den Sozialismus und nicht auf den gewaltsamen Widerstand der Kapitalisten zurückzuführen. — Trotz allem sind die vom sowjetischen Volk erreichten Fortschritte doch sehr groß. An die Stelle von Analphabeten ist eine Bevölkerung getreten, die heute ausnahmslos über eine vollständige Sekun-darbildung verfügt und zu beträchtlichen Teilen ein Universitätsstudium absolviert hat; das Ernährungsniveau hat sich von einer zugespitzten Hungersituation geradezu sprunghaft auf den höchsten Kalorien- und Proteinverbrauch in der Welt erhöht; auch das sowjetische Gesundheitswesen erreicht im internationalen Vergleich Spitzenwerte; aus einem Land, das Technologie importieren mußte, ist in einem großen Sprung ein Pionier der Technologieentwicklung geworden; ein agrarisch geprägtes Land hat sich, ohne die aus der kapitalistischen Welt bekannten heftigen Ungleichgewichte, zu einem städtischen Ballungsraum entwickelt. Schließlich hat die UdSSR in 65 Jahren den Sprung von einem feudalen Land unter der Selbstherrschaft des Zaren zu einer modernen Nation gemacht, die über einen enormen Erfahrungsschatz an demokratischer Partizipation des Volkes verfügt und zugleich zu einer großen Wirtschafts-, Militär- und wissenschaftlichen Macht geworden ist.
Die Erfahrung der Sowjetunion hat sich so nirgends wiederholt. Jede neue sozialistische Revolution ist ihrem eigenen Weg gefolgt: Jugoslawien, China, Nordkorea, Vietnam, Kuba, Algerien, Angola, Mozambique usw. Die Länder, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Schutz der sowjetischen Besatzung zum Sozialismus übergingen, haben während des Kalten Krieges eine Phase durchgemacht, in der sie versuchten, einem einheitlichen Übergangsmodell nach der stalinistischen Version der sowjetischen Erfahrung zu folgen. Heute hat jedoch das Heranreifen dieser Länder wie auch ihrer Beziehungen untereinander und zur UdSSR zu einer erheblichen Verschiedenartigkeit der ökonomischen, sozialen und politischen Modelle geführt.
Jedes sozialistische Experiment ist eine eigenständige Realität, die von ihrem Ausgangspunkt und den konkreten historischen Bedingungen abhängt. Der Sozialismus muß sich tief aus den nationalen Realitäten heraus entwickeln. Nur so kann er sich erfolgreich als eine authentische und in den Massen verankerte Bewegung artikulieren. Und allein durch eine solche Verankerung wird die Artikulation eines authentischen proletarischen Internationalismus möglich. Mit der weltweiten Entwicklung der sozialistischen Erfahrungen sind die hegemonialen Zentren überholt. Heute ist es allein richtig, ein offenes Forum zu bilden für die noch um die Macht kämpfenden Bewegungen, die regierenden Parteien vor und nach dem Übergang zum Sozialismus. Man muß auch die Erfahrungen derjenigen sozialistischen Regierungen auswerten, die keine Veränderung der sozio-ökonomischen Ordnung vorhatten — oder sie nicht erreicht haben —, die aber der Funktionsweise dieser Ordnung tiefgreifende Veränderungen aufprägten.
Schon in der »Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation« hatte Marx darauf aufmerksam gemacht, daß der Sieg des gewerkschaftlichen Kampfes für den Zehnstundentag einen belebenden Einfluß auf das Funktionieren des Kapitalismus ausübe, indem er das Kapital zwinge, auf weniger gewaltsame Formen der Ausbeutung zurückzugreifen. Andererseits führe diese Errungenschaft — außer ihrer Schutzfunktion — zu sozio-ökonomischen Verhältnissen, die zu den warenförmigen Austauschbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit in Widerspruch träten. Es handelte sich um einen Sieg der proletarischen politischen Ökonomie über die bürgerliche.
Die Verstaatlichungen von Unternehmen, staatliche Eingriffe in die Marktmechanismen, eine immer weitergehende Wirtschaftsplanung, die Einführung des Wohlfahrtsstaats und schließlich des Staatskapitalismus sind Mechanismen der wachsenden Vergesellschaftung der makroökonomischen Verhältnisse, denen der Kapitalismus sich immer besser anpaßt, indem er sie sich anverwandelt. So schlägt der staatsmonopolistische Kapitalismus Wurzeln, indem der Staat zu einem notwendigen Moment des monopolkapitalistischen Akkumulationsprozesses wird.
Der Machtantritt sozialistischer und sozialdemokratischer Regierungen erfolgte vor allem seit dem Ersten Weltkrieg; allerdings nur in Form von Koalitionsregierungen, wie bei den deutschen und österreichischen, später schwedischen Sozialdemokraten, in den dreißiger Jahren in Spanien, Frankreich und in Chile. Jene Koalitionsregierungen haben hinsichtlich der politischen Demokratisierung, der Durchsetzung eines Arbeitsrechtes und einer sozialen Wirtschaftsordnung einiges geleistet. Allerdings hat die Praxis gezeigt, daß die Einführung sozialer Mechanismen in die kapitalistische Wirtschaft schließlich auf starken Widerstand im ökonomischen Apparat stieß, was einen beschleunigten Fall der Durchschnittsprofitrate auslöste. Für das Kapital war also eine Umorientierung der Staatseingriffe zugunsten eines erneuten Ansteigens der Profitrate und der Pri-vatinvestionen erforderlich.
Zwischen 1960 und 1970 war eine beträchtliche Veränderung in der Ausrichtung der sozialistischen und sozialdemokratischen Regierungen zu beobachten. Sie waren, wollten sie den Forderungen der Bevölkerung Genüge tun, immer mehr dazu gezwungen, dem Privatkapital nachhaltige Schläge zu versetzen. Die siebziger und achtziger Jahre sind reich an neuen Experimenten der Vergesellschaftung, zumindest der Nationalisierung/Verstaatlichung oder der Bildung von Genossenschaften. Das dramatische Moment liegt darin, daß diese Experimente immer mehr in Gegensatz treten zur prinzipiellen Funktionsweise des Kapitalismus, indem sie die Durchschnittsprofitrate der Volkswirtschaften schwer beeinträchtigen und das Investitionsverhalten bremsen. Zugleich entstehen, aus Angst vor der Arbeitslosigkeit, starke Widerstände gegen die technologische und ökonomische Modernisierung.
Damit wird der Sozialismus zu einer eigenartigen Mischung von fortschrittlichen Projekten zur Organisation der Produktion bzw. zum sozialen und politischen Zusammenleben mit dem konkreten Kampf gegen die wildwüchsige und rücksichtslose Zerstörung der vorkapitalistischen bzw. der rückständigen kapitalistischen Formen. Die kleinen und mittleren Eigentümer und die sogenannte informelle Ökonomie bilden dabei regelrechte soziale Abfederungen, die die extremen und demoralisierenden Auswirkungen der wirtschaftlichen Depression, der Arbeitslosigkeit und der sozialen Not verhindern. Daher geraten die sozialistischen Regierungen schließlich — wie in den zwanziger und dreißiger Jahren, allerdings mit Ausnahme des schwedischen Beispiels — in Gegensatz zu den härtesten ideologischen Kräften der herrschenden Klasse. Diese greift, auf der Suche nach einer Sicherung der Ausbeutungsbedingungen, auf den Faschismus und auf verschiedene Arten von Ausnahmeregimen zurück. Daraus ergibt sich die Zerbrechlichkeit dieser Regierungen, wenn sie sich nicht dazu aufraffen, entschlossen und radikal zu einer Vergesellschaftung voranzuschreiten, die über den Rest der Volkswirtschaft die Hegemonie ausübt. Bis heute gibt es noch kein erfolgreiches Beispiel einer solchen revolutionären Wandlung, sie ist aber möglich.
Die folgenden Tendenzen dürften in der Konfiguration des Sozialismus an der Schwelle zum 21. Jahrhundert andauern: die Vervielfältigung der sozialistischen Experimente und ihre Verknüpfung mit der globalen Wirklichkeit; der Fortschritt der wissenschaftlich-technischen Revolution und der Versuch ihrer Steuerung in den am weitesten entwickelten sozialistischen Ländern; die Veränderungen in der Zusammensetzung der werktätigen Klasse und der anderen sozialen Klassen in den entwickelten kapitalistischen Ländern; die Anforderung einer Anpassung an die unterschiedlichen kulturellen, sozio-ökonomischen und politischen Bedingungen der Dritten Welt — all diese Tendenzen werden dem sozialistischen Denken eine neue, höhere Synthese abverlangen.
Diese Synthese wird sich auf die Fortschritte der modernen Wissenschaften stützen müssen. Sie wird sich allerdings auch als fähig erweisen müssen, sich durch die kulturellen Beiträge äußerst machtvoller Zivilisationen bereichern zu lassen — Kulturen aus Asien, Afrika und Amerika, die in der einen oder anderen Form dem naiven Rationalismus der kapitalistischen Modernisierung widerstanden haben.
Die sozialistische Modernisierung wird die nationale und kulturelle Integration von Regionen vollenden müssen, die sich erst noch vollständig in den modernen Staat eingliedern müssen. Die Universalität des Sozialismus erweist sich in der Fähigkeit, tief in die kulturelle und soziale Welt der verarmten Massen der Dritten Welt einzutauchen und sie, von diesem Ausgangspunkt ausgehend, kulturell auf das Niveau der modernen Gesellschaft anzuheben. Diese Aufgabe der Rettung und Bewahrung wurde seit den zwanziger Jahren in den Überlegungen eines Mao Zedong, eines Ho Chi Minh, eines Gramsci, eines Mariätegui oder eines Togliatti umrissen; sie wurde in den fünfziger und sechziger Jahren weiterentwickelt im Denken eines Fanon, eines Fidel Castro, eines Che Guevara oder eines Amil-car Cabral.
Auch das akademische marxistische Denken erlebte in den sechziger und siebziger Jahren eine enorme Entwicklung. Zum erneuten Studium von Marx und Engels, Lenin, Trotzki und Bucharin trat die Neulektüre von Kautsky, Plechanow, Hilferding, Rosa Luxemburg und von vielen anderen, während des Stalinismus vergessenen Marxisten. Die Entwicklung des Marxismus in den Vereinigten Staaten, in Japan, in Lateinamerika in Asien und in Afrika fügte einem bislang auf Europa beschränktem Denken neue Dimensionen hinzu.
Aus dem Portugiesischen von Frieder Otto Wolf