Krise der kapitalistischen Entwicklung und Perspektiven des Sozialismus in Lateinamerika

Einleitung

In der Mitte der achtziger Jahre kennzeichnet eine tiefgreifende ökonomische, soziale und politische Krise die Mehrzahl der lateinamerikanischen Nationen. In manchen Ländern sehen sich die siegreichen Befreiungsbewegungen mit der ständigen Bedrohung durch die imperialistische Aggression konfrontiert; in anderen hat der noch nicht entschiedene Kampf die Form langfristiger militärischer Auseinandersetzungen angenommen. In einigen Fällen hat der Sturz der rückschrittlichsten Militärdiktaturen wieder demokratische Erwartungen geweckt. In anderen steht der aufopferungsvolle Kampf des Volkes dem Fortbestand der reaktionärsten und repressivsten Regimes gegenüber. Kurz, es biete sich das Bild eines erschütterten lateinamerikanischen Subkontinents, in dem sich die Mehrzahl der Nationen in der schwersten ökonomischen Krise zumindest des letzten halben Jahrhunderts befindet.
Überall erkennt man die Anzeichen der Erschöpfung einer langen Entwicklungsphase der lateinamerikanischen Gesellschaften und spürt das nahe Bevorstehen großer Veränderungen. Folglich ist heute die zentrale Frage, unter welchen Vorzeichen diese Veränderungen stehen werden: Inwieweit werden sie ein Weg zur Regeneration und Kontinuität kapitalistischer Entwicklung sein oder in welchem Umfang können sie einen Übergang zu einem neuen, dezidiert sozialistischen Gesellschaftssystem darstellen?
Die Herausforderung, neue Wege für die Zukunft zu entwickeln, ergibt sich unabhängig davon, welche der beiden Möglichkeiten man unterstützt. Die konservativen Kräfte können den Mißerfolg der Strategien, die sie während der letzten Jahre besonders in den Ländern Lateinamerikas vertreten und durchgesetzt haben, nicht verbergen. Diese Strategien waren im allgemeinen dem »Neoliberalismus« angenähert, sie stützten sich auf seinen großen Einfluß und genossen außerdem die Unterstützung des Internationalen Währungsfonds. Aber dafür können sie auch nicht die gleichen »desarrollistischen«[1] Konzeptionen und Praktiken des Reformismus wiederbeleben, deren Unzulänglichkeiten die ökonomische und politische Regression unter den »Stabilisierungs«-Rezepten bestimmten. Die Konzepte der Linken haben ebenfalls — mit Ausnahme Kubas — offensichtliche Niederlagen und Mißerfolge zu verzeichnen. Die bloße Idee des Sozialismus in ihrer allgemeinen und abstrakten Darstellung hat an sozialer Mobilisierungsfähigkeit verloren, besonders, wenn man die propagandistische Ausnutzung der konkreten Probleme des »real existierenden Sozialismus« berücksichtigt. Daher überrascht es auch nicht, daß im allgemeinen auf der subjektiven Ebene Bestürzung und Ungewißheit vorherrschen und daß die Intensität der sozialen Kämpfe keine Entsprechung in Zukunftsstrategien findet, welche die notwendige Kraft zur Überwindung der Enttäuschungen mobilisieren könnten. Die Krise erscheint so auch als eine ideologische Krise der Konzeptionen und sozialen Projekte, der politischen Führung und der Hegemonie, der Fähigkeit zur Vereinigung und Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte, die, von ihren objektiven Interessen ausgehend, potentiell verschmelzen könnten.
Die außerordentlich schnellen ökonomischen Konzentrationsprozesse reproduzieren in den lateinamerikanischen Gesellschaften »verfrüht« die Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Die spezifischen Formen, welche die kapitalistische »Modernisierung« und die Integration der nationalen Ökonomien in das kapitalistische Weltsystem annehmen, drücken sich im Inneren dieser Gesellschaften in der hegemonialen Stellung aus, die die transnationalen Konzerne einnehmen. Sie verschärfen die Differenzierung der Klassen und Schichten, die für eine ausgeprägte »strukturelle Heterogenität« der sozialen und produktiven Systeme bestimmend ist. Die »Mittelschichten« erreichen einen beträchtlichen Umfang, und in vielen Fällen gelingt es ihnen, zum Nachteil der Ärmsten, sehr hohe Anteile des Volkseinkommens und entscheidendes politisches Gewicht zu gewinnen. Die Arbeiterklasse im eigentlichen Sinne repräsentiert gewöhnlich nur einen relativ kleinen Teil der Gesamtarbeitskraft innerhalb von Beschäftigungsstrukturen, die durch eine pathologische Ausweitung der Beschäftigung im Dienstleistungssektor und der »Arbeiter auf eigene Rechnung«, hohe Raten der Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung und große, weiter wachsende Anteile »marginaler« Bevölkerung gekennzeichnet sind. Heute berührt die Krise auch die relativen Positionen der verschiedenen sozialen Schichten, und sehr wahrscheinlich wird sie ihre Haltungen zu den sozialen Projekten der Zukunft verändern.

Die gegenwärtige Krise der lateinamerikanischen Ökonomien

In Lateinamerika verzeichnete man in den Jahren 1982 und 1983 die schlechtesten Wirtschaftsdaten des letzten halben Jahrhunderts. In fast allen Ländern der Region waren die Produktionsprozesse rückläufig sowohl in Hinblick auf die realen Werte des Bruttoinlandsproduktes als auch der Prokopfproduktion, die in den schlimmsten Fällen bis auf die Werte von vor zehn oder zwanzig Jahren zurückgingen. Die vorher schon prekäre Beschäftigungssituation verschlechterte sich weiter. Die finanziellen Ungleichgewichte und der Inflationsdruck erreichten eine außergewöhnliche Intensität und motivierten »Stabilisierungspolitiken«, welche die rezessiven Tendenzen verstärkten, zu einem beträchtlichen Sinken der Reallöhne führten und das Konsumniveau weiter Bereiche der Bevölkerungen absenkten. Im Bereich der Außenwirtschaftsbeziehungen wurden die traditionellen Handelsbilanzdefizite durch falsche Strategien zur Überwindung der Außenverschuldung vergrößert. Die Importe mußten drastisch reduziert werden, was weitere depressive Konsequenzen nach sich zog.
Zweifellos sind Außenfaktoren für die Krise ausschlaggebend, die ihrerseits mit der kritischen Situation der Weltwirtschaft zusammenhängen. Ihre Folgen werden insbesondere in einem spektakulären Fall der Terms of Trade für Lateinamerika fühlbar, in den hohen Zinssätzen, welche die Probleme der akkumulierten Verschuldung extrem verschärften, und einer schwerwiegenden Schrumpfung des Nettozuflusses ausländischen Privatkapitals. Die Wirtschaftskrise Lateinamerikas hat aber auch interne Ursprünge, deren Konsequenzen zweifellos durch Außenfaktoren vorangetrieben und gesteigert worden sind, die aber nicht grundsätzlich durch diese bestimmt werden.
Die spezifischen Formen der industriellen Entwicklung, die Unfähigkeit der Landwirtschaft, mit dem Wachstum der Bevölkerung und ihrer Grundbedürfnisse Schritt zu halten, die zunehmende Unzulänglichkeit der Produktionssysteme, Beschäftigungsmöglichkeiten in Übereinstimmung mit dem wachsenden Angebot an Arbeitskraft bereitzustellen, die fortschreitende Verschärfung ökonomischer und sozialer Ungleichheiten, der andauernde und noch zunehmende Inflationsdruck; dies alles ergibt ein Gesamtbild, das die Vermutung nahelegt, daß es sich gegenwärtig um die Erschöpfung des während der letzten Jahrzehnte vorherrschenden Entwicklungsmodells handelt. Wahrscheinlich ist dies, mehr als jedes andere, das bestimmende Moment und der gemeinsame Faktor, der die Gleichzeitigkeit der Krise in Ländern erklärt, die sich in ihren ökonomischen Strukturen, ihrer gesellschaftlichen Orientierung und ihren kurzfristigen politischen Zielen bedeutend unterscheiden. Das bewegt diese Länder in Ermangelung einer strategischen Alternative dazu, sich eine ähnliche Wirtschaftspolitik zu eigen zu machen, um schließlich jeden einzelnen Zug desselben Mißerfolgs nachzuvollziehen.
So besehen, gibt es gute Gründe anzunehmen, daß die erforderliche grundlegende Neudefinition sowohl das System der wirtschaftlichen Außenbeziehungen (die »Weltmarktintegration«) als auch das Modell der internen Entwicklung umfassen wird.

Frustration des »Desarrollismo« und Scheitern des »Neoliberalismus

Während der letzten Jahrzehnte standen die vorherrschenden Entwicklungsstrategien in Lateinamerika im wesentlichen im Rahmen einer reformistischen Politik und den daraus folgenden Wirtschaftskonzepten. Unter dieser Politik verzeichneten die lateinamerikanischen Ökonomien eine beträchtliche Expansion, wichtige Veränderungen der Wirtschaftsstrukturen, eine schnelle Urbanisierung und die Absorption vieler Symbole der »Modernisierung«. Aber gleichzeitig akkumulierten sie Disparitäten, die zunehmend ökonomische und soziale Probleme verursachten, die schließlich als Bremse dieses Wachstumsprozesses wirkten. Im allgemeinen zählt man zu diesen Störungen, die mit der mangelnden Fähigkeit zur Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Wachstumsdynamik zusammenhängen, den hohen Grad an Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, die Verschärfung der extremen sozialen und ökonomischen Ungleichheit, die ständigen ökonomischen Konzentrationsprozesse und das Fortbestehen des Handelsbilanzdefizits.
Die desarrollistischen Strategien sollten in eben diesen Bereichen wirken. Die Beschleunigung des globalen Wachstums bildete ihren wichtigsten Bezugspunkt. Es wurde außerdem als unerläßliche Bedingung zur Überwindung anderer struktureller Hindernisse und zur Ausweitung der Beschäftigungsmöglichkeiten im Verhältnis zur Zunahme der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter betrachtet. Angesichts der Tatsache, daß die als spontane Folge des Wachstums entstandenen Einkommensunterschiede sich nicht abschwächten, favorisierte man eine »kompensatorische« Politik, vor allem über soziale Dienstleistungen und andere wirtschaftspolitische Maßnahmen, die eine ausgeglichenere Einkommensverteilung begünstigten. Durch ein System von Steuervergünstigungen, Anreizen, (In-vestitions-) Subventionen und verschiedenen anderen Formen von Unterstützung, das sich speziell an bestimmte Schichten von Produzenten richtete, wollte man die schon seit den ersten Phasen der Industrialisierung bestehenden Konzentrationstendenzen abschwächen. Mit den verschiedenartigen protektionistischen Praktiken zur Reduzierung der Importe und Förderung der Exporte versuchte man, das interne Wachstum mit einem Gleichgewicht im Außenhandel zu vereinbaren.
Seit Beginn der siebziger Jahre — und in einigen Ländern schon früher — wurden die Grenzen der Leistungsfähigkeit dieses Modells offensichtlich. Bei seiner Einschätzung werden im allgemeinen die als Folge der desarrollistischen Strategien aufgetretenen finanziellen Ungleichgewichte, insbesondere die Defizite des Fiskus und des Außenhandels, sowie der Inflationsdruck hervorgehoben. Dagegen wird nicht immer die gleiche Aufmerksamkeit auf die Unfähigkeit gerichtet, die der Desarrollismo auf seinem ureigensten Terrain zeigte. Tatsächlich verstärkten sich die sozialen Ungleichheiten weiter und die kompensatorischen Strategien verloren schnell ihre Wirksamkeit, die Konzentrationsprozesse wurden stärker und die strukturellen Wurzeln des Handelsbilanzdefizits veränderten sich in ihrer Zusammensetzung, jedoch nicht in ihren Erscheinungsformen.
Das Wissen um dieses doppelte Scheitern des Desarrollismo — auf der strukturellen Ebene ebenso wie bezüglich der Finanzgleichgewichte — ist zentral für das Verständnis der Entstehungszusammenhänge der »Stabili-sierungs«-Strategien. Ihre Befürworter empfahlen sie als Antwort auf die »Ausschweifungen« und »Übel« des Desarrollismo, als »ordnende« Kraft, die unter den gegebenen Umständen dringend erforderlich sei, um eine »gesunde« Basis für das Funktionieren des Wirtschaftssystems wiederherzustellen. Von daher die Gleichförmigkeit ihrer Inhalte, unabhängig von den spezifischen nationalen Bedingungen: Beschneidung der sozialen Errungenschaften und Senkung der Reallöhne als Grundlage für die Rückgewinnung von Akkumulationsfähigkeit; Beschränkung der Staatstätigkeit, Eindämmung der Staatsausgaben und »Privatisierung« der staatlichen Unternehmen; uneingeschränkte Öffnung für ausländische Handelsund Finanzströme, dabei Unterdrückung und Abschwächung jeder Art einschränkender oder protektionistischer Hindernisse. In allen Fällen beschränkten sich die »Verbesserungs« vorhaben auf finanzielle Fehlentwicklungen, während die Lösung der strukturellen Probleme dem »spontanen« Funktionieren des ökonomischen Systems überlassen wurde. Die Stabilisierungsstrategien erwiesen sich jedoch als keineswegs »neutral« im Hinblick auf die strukturellen Probleme. Im Gegenteil, ihre Realisierung verschärfte diese extrem, um so stärker, je rezessiver der globale Rahmen wurde, in dem man die Finanzdefizite zu beseitigen versuchte. Die konkreten Erfahrungen liefern ein beredtes Zeugnis dafür: in dem Rückgang des Niveaus der Produktion, der Verschärfung der sozialen Ungleichheiten, der Senkung der Reallöhne, der Streichung von Subventionen für Massenkonsumgüter und -dienstleistungen, der Einschränkung der öffentlichen Dienste und der Leistungen der Sozialversicherung sowie der starken Zunahme von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung; in dem Verschwinden zahlreicher Produktionsbetriebe und der schnellen Expansion der aus den ökonomischen Konzentrationsprozessen hervorgegangenen herrschenden Gruppen; außerdem in dem durch die Politik der »Öffnung« für die Prozesse der ökonomischen Internationalisierung verstärkten Handelsbilanzdefizit.
Für die Diskussion über zukünftige Perspektiven ist die Untersuchung dieser eigentümlichen Beziehung zwischen desarroUistischer und »neoliberaler« Politik sehr wichtig. Anstatt eine strategische Alternative zu bilden, vertiefen beide die Probleme, die sie angeblich bessern wollten. Der Desarrollismo und die Stabilisierungsstrategien erweisen sich so in der gegenwärtigen Krise nicht als Antagonismus, sondern erfüllen vielmehr eine komplementäre Funktion, wobei sie unterschiedliche Formen und Phasen bezeichnen, sich jedoch in ihren wesentlichen Konsequenzen entsprechen.
Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich am Beispiel der Länder des Cono Sur Lateinamerikas (Chile, Argentinien, Uruguay, d. Übers.). Dort folgte auf lange Perioden des Dessarrollismo die rigideste Anwendung der Stabilisierungsstrategien verbunden mit extern autoritären Regierungen als politisches Erfordernis zur Durchsetzung der »sozialen Kosten«. Dies ist unabhängig davon, ob, wie im Falle von Argentinien und Uruguay, der Übergang vom Desarrollismo zur Stabilisierungspolitik direkt erfolgte, oder, wie in Chile, von einem weiterreichendem Projekt gesellschaftlicher Veränderung (der Volksfrontregierung, d. Übers.) unterbrochen wurde.
Es gibt keine gangbaren ökonomischen Konzepte, die den unter sehr unterschiedlichen Bedingungen formulierten politischen Projekten entsprächen. Jene Programme, die die Überwindung der Krise im politischen Rahmen des Reformismus suchen, unterliegen starken Einschränkungen, wie die gegenwärtige Situation in Mexico, Venezuela, Costa Rica oder Ecuador zeigt. Die Regime, welche Militärdiktaturen ersetzen und die Aufgabe eines »demokratischen Wiederaufbaus« übernommen haben, sehen sich bei der Umsetzung einer Wirtschaftspolitik, die diese Prozesse unterstützen könnte, mit sehr großen Hindernissen konfrontiert, wie die aktuellen Erfahrungen in Argentinien oder Bolivien belegen. Und den fortbestehenden diktatorischen Regimen gelingt es nicht, wie im Falle Chiles, wirtschaftliche Korrekturmaßnahmen zu finden, die mit dem Klassen-' Charakter dieser Diktaturen vereinbar wären und ihnen erlaubten, das eigenhändig herbeigeführte wirtschaftliche Desaster zu meistern.

Das zu erwartende Erbe und die Herausforderungen der Zukunft
Angesichts der Tiefe der Krise und der Unfähigkeit, Strategien zu ihrer Überwindung und zur Eröffnung einer neuen Entwicklungsdynamik zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen, gewinnt die Frage nach der Lebensfähigkeit des Kapitalismus in Lateinamerika in der historischen Perspektive der nächsten Jahrzehnte neue Aktualität. Dies ist eine Frage, die in der Diskussion der lateinamerikanischen Linken ständig präsent und verschiedentlich Anlaß zu Differenzierung und Kontroversen war. So waren in den 60er Jahren ihre Postulate über die Erschöpfung des lateinamerikanischen Kapitalismus, zusätzlich angeregt durch den Beginn der sozialistischen Transformation in Kuba, weit verbreitet. Die Prognose war, daß es zunehmend schwieriger werden würde, die Entwicklung der Produktivkräfte der lateinamerikanischen Gesellschaften aufrechtzuerhalten, was die Stagnationstendenzen belegten, und daß die gesellschaftlichen Widersprüche und politischen Krisen sich zuspitzen würden, was die wirkliche Entwicklung dann bestätigte. Aber weiterhin blieb die Frage offen, ob dies Ausdruck der Erschöpfung des Kapitalismus an sich oder nur eines bestimmten Modells kapitalistischer Akkumulation sei. Die sozialen Probleme haben heute angesichts der Rückschritte in grundlegenden Bereichen der Lebensbedingungen der Bevölkerung (Ernährung, Gesundheit, Bildung, Wohnung) eine enorme Dimension erreicht. In all diesen Bereichen kommen zur »normalen« Nachfrage die in der Vergangenheit angehäuften Rückstände und die Verschlechterungen der letzten Zeit hinzu und führen zu Erwartungen und Ansprüchen, die im Gegensatz zur Möglichkeit ihrer Befriedigung stehen. Die Aufgabe der »Reaktivierung« der Wirtschaft besteht nicht nur in der erneuten Steigerung der abgeschwächten Wachstumsraten, sondern in der Überwindung großer Rückschritte (in Argentinien und Chile z.B. stehen die Werte der Prokopfproduktion oder der industriellen Gesamtproduktion unterhalb des Niveaus, das sie vor mehr als zehn Jahren erreichten). Dasselbe läßt sich über den Arbeitskräftebedarf sagen. Es gilt, nicht nur neue Arbeitsplätze entsprechend dem schnellen Wachstum der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zu schaffen, sondern eine Situation zu meistern, in der große Teile der schon existierenden Arbeitskraft arbeitslos und unterbeschäftigt sind.
Darüber hinaus bestimmen die Auswirkungen der vorangegangenen Prozesse nicht nur die heutigen Erfordernisse, sondern stellen auch eine Belastung für die Zukunft dar. Wichtigster Ausdruck davon sind sicherlich die durch die angehäufte Außenverschuldung hervorgerufenen Zwänge. Die Notwendigkeit von Neuverhandlungen über den Schuldendienst zwingt dazu, die vom Internationalen Währungsfond diktierten Maßnahmen zu akzeptieren und engt so den Spielraum nationaler Autonomie in der Wirtschaftspolitik stark ein. Auch wenn man diesen Umstand außer acht ließe, stellen die Auswirkungen der Zinszahlungen und Tilgungen auf die laufenden Exporteinnahmen in der Mehrzahl der Fälle eine drastische Begrenzung für jede Anstrengung zur Überwindung der Krise und der Rückgewinnung wirtschaftlichen Wachstums dar.
Die Probleme sind heute in Lateinamerika gravierender, als es in früheren Abschnitten der ökonomischen Entwicklung jemals der Fall war, schwerwiegender auch als zum Beispiel bei der Veränderung der grundlegenden Richtung der Wirtschaftsentwicklung vom Muster des »Wachstums nach außen« zur »Importsubstituierenden Industrialisierung«. Dies hängt unter anderem damit zusammen, daß dieses Mal keine Fraktion der herrschenden Klassen die Führungsposition innerhalb der neuen gesellschaftlichen Projekte übernehmen kann. Die Überwindung der Krise und die Wiederbelebung einer neuen Entwicklungsdynamik setzen heute ökonomische Strategien voraus, die nur von einer Konstellation politischer Kräfte mit der Fähigkeit zur Initiierung weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen zu realisieren sind.
Der Umfang der gegenwärtigen Krise und die Anforderungen, die sich daraus ergeben, bilden die objektive Grundlage für den Auftrieb der sozialistischen Perspektive Lateinamerikas. Es handelt sich dabei sicherlich nicht um eine plötzlich eingetretene Situation, sondern um einen langwierigen Prozeß. Die vergangenen Entwicklungen lassen sich als Abfolge von zunehmend kürzer werdenden Zyklen charakterisieren. Mehr als drei Jahrhunderte Kolonialherrschaft führten langsam zum Heranreifen der ökonomischen Widersprüche, die in den Kämpfen um die politische Unabhängigkeit endeten. Innerhalb eines Jahrhunderts vollzogen sich Aufstieg und Verfall der nationalen Ökonomien unter neokolonialen Außenbeziehungen, das heißt die vollständige Integration in das System der internationalen Arbeitsteilung und der Spezialisierung auf den Primärgüter-export. Ungefähr ein halbes Jahrhundert verging vom Beginn bis zur völligen Erschöpfung der Diversifizierung der Produktion im Rahmen der importsubstituierenden Industrialisierung und der neuen Formen der Abhängigkeit. In dieser Periode stand auch die Möglichkeit einer vollständigen kapitalistischen Entwicklung Lateinamerikas und der Erhaltung und Perfektionierung der bürgerlichen Demokratie als politisches System unter den Bedingungen der Abhängigkeit zur Diskussion. Dies trifft insbesondere auf die sechziger Jahre zu, als die »Allianz für den Fortschritt«[2] eine kontinentale Konzeption der lateinamerikanischen Probleme anbot, die auch solche Positionen beinhaltete, denen die herrschenden Schichten bislang Widerstand entgegengesetzt hatten. Sie besiegelte so einen mühsam erreichten Kompromiß zwischen dem nordamerikanischen Imperialismus und den nationalen Bourgeoisien, der bis an die Grenzen der Vereinbarkeit der jeweiligen Interessen ging. Von daher sind die großen Erwartungen, die der »Allianz« anfänglich entgegengebracht wurden und die Bedeutung ihres letztendlichen Scheiterns zu verstehen.
In derselben Phase wurden die Anforderungen an einen »Kooptations-Staat« immer dringlicher, in dem sich die relativ breiten Klassenallianzen kristallisierten. Eben deswegen favorisierte man im Lager der Volkskräfte die Entwicklung einer Anspruchsideologie gegenüber dem Staat und einer »partizipativen« Strategie, welche die ökonomischen und sozialen Strukturen allmählich umzuwandeln sucht. Dieses Projekt begünstigte zusätzlich das im Verhältnis zur Industrialisierung und zum Wachstum des Verwaltungsapparates eines zunehmend protektionistischen, interventionistischen und Subventionen kanalisierenden Staates wachsende politische Gewicht der lohnabhängigen Mittelschichten. Diese wurden zur treibenden Kraft einer großen kollektiven Verhandlung auf nationaler Ebene, die auf die neuerliche Infragestellung der Verteilungsverhältnisse des Nationaleinkommens abzielte. Die heutige Krise ist auch Ausdruck des Zusammenbruchs dieses Projektes, macht Schluß mit seinen »integrationistischen« Illusionen.
Auf der ökonomischen Ebene haben in letzter Zeit die »neoliberal« orientierten Versuche zur Erhaltung des Systems genau zu diesem Ergebnis beigetragen und so schnell ihre Unfruchtbarkeit gezeigt. Die uneingeschränkte Öffnung der nationalen Wirtschaften für den Prozeß der ökonomischen Internationalisierung des Weltkapitalismus hat nicht nur das Handelsbilanzdefizit nicht ausgleichen können, sondern zusätzlich schwerwiegende Rückschritte hinsichtlich der Diversifizierung und des Niveaus der internen Wirtschaftstätigkeit verursacht. Die Maßnahmen zur Korrektur der angeblichen »Ausschweifungen« bei der Berücksichtigung grundlegender sozialer Forderungen haben zusätzlich zu ihren Kosten im politischen Bereich sowie bei den fundamentalen sozialen und Menschenrechten die rezessiven Tendenzen verstärkt und zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten geführt. Die objektive Lage verschiedener Schichten und Klassenfraktionen ist in tiefgreifender Weise berührt. Von verschiedenen Seiten her bilden sich objektive Bedingungen heraus, die weitreichende soziale und ökonomische Transformationen notwendig machen, welche die Grenzen des Systems überschreiten. Aber trotz der sozialistischen Wirklichkeit Kubas und der Perspektiven Nicaraguas besteht im größten Teil Lateinamerikas auf der subjektiven Ebene nicht das Gefühl, daß der Sozialismus auf der Tagesordnung der Volkskämpfe steht. Die große Aufgabe, die sich den Volksorganisationen Lateinamerikas heute stellt, besteht also darin, die subjektiven und die objektiven Bestimmungen, die die lateinamerikanische Wirklichkeit gegenwärtig aufweist, einander anzunähern.

Die Hindernisse der Gegenwart

In vielen Ländern der Region zeichnen sich die Parteien der Linken durch eine ausgeprägte Atomisierung und Zersplitterung aus. Zum Teil scheinen sie kaum mit den Massen verbunden zu sein und nur über ein sehr geringes Gewicht in den politischen Prozessen zu verfügen. Ihnen fehlt eine angemessene und zusammenhängende Konzeption, die die Hoffnungen des Volkes aufnimmt und die gesamte gesellschaftliche Kraft mobilisiert, die sie potentiell repräsentieren könnten. Diese Probleme haben ihrerseits eine Vielzahl von Ursachen: die Folgen der systematischen Repression, der die linken Parteien ausgesetzt sind; die dauernden ideologischen Auseinandersetzungen, in denen sie sich bewegen, das Fortbestehen populistischer und reformistischer Neigungen und die Verbreitung sozialdemokratischer Konzeptionen.
Die Gesellschaftsstruktur, die sich im Laufe der Entwicklung in Kapitalismus und Abhängigkeit herausgebildet hat, bringt selbst große Probleme mit sich: die grundlegenden Züge der Produktionsstruktur, die Charkteri-stika der Beschäftigung und die hohe Einkommenskonzentration, die starke Kapitalkonzentration, die Abhängigkeitsbeziehungen nach außen, das Produktivitätsgefälle und die Absorption des technischen Fortschritts. Von diesen gesellschaftlichen Strukturen leiten sich sehr verschiedenartige politische Forderungen und wirtschaftliche Erwartungen her, die ein komplexes Spiel von Widersprüchen und Übereinstimmungen heterogener Interessen ergeben. Und eben deswegen bestehen große Schwierigkeiten bei der Bildung relativ homogener politischer Vertretungen. Gleiches gilt für die Formulierung sozialer und politischer Projekte, die in der Lage wären, verschiedene soziale Schichten zu sammeln und das Problem der Hegemonie zu lösen.
Es bestehen weiterhin enorme Unterschiede in den materiellen Lebensbedingungen und kulturellen Äußerungen zwischen den ländlichen und städtischen Regionen der lateinamerikanischen Gesellschaften. Im erstgenannten Bereich zeichnet sich in vielen Ländern noch immer ein scharfer Gegensatz zwischen den Großgrundbesitzern und der Masse der Kleinbauern ab, die Böden bearbeiten, welche durch die fortgesetzten Unterteilungen ihres Kleinbesitzes verbraucht und ausgelaugt sind. Hinzu kommen die Landlosen, in unsicheren Arbeitsverhältnissen, schlecht bezahlt und kaum durch arbeitsrechtliche Bestimmungen geschützt. Innerhalb der ur-banen Unternehmerschichten kommt es zu einer zunehmenden Differenzierung zwischen einigen monopolistischen Gruppen, die eng mit den transnationalen Konzernen verbunden sind und anderen, die kleinere, kaum konkurrenzfähige Produktionseinheiten betreiben, deren Position zunehmend geschwächt wird. Einige Schichten von Kleinproduzenten und -händlern sichern ihr ökonomisches Überleben durch die maximale Ausbeutung der von ihnen beschäftigten Arbeiter und die Senkung ihres eigenen Lebensniveaus und Einkommens. Teilen der lohnabhängigen Mittelschichten war es gelungen, in gut bezahlte Funktionen aufzusteigen und damit an der Verteilung des Einkommens zu partizipieren, während andere Fraktionen ihre Aufstiegsmöglichkeiten begrenzt sahen in Gesellschaften, die sich immer mehr polarisierten. Die einen wie die anderen müssen im Rahmen der gegenwärtigen Krise schwere Rückschläge hinnehmen. Die Arbeiterklasse ihrerseits repräsentiert nur einen bescheidenen Teil der Gesamtarbeitskraft und weist in ihrem Inneren ebenfalls erhebliche Differenzierungen auf. Einige Sektoren sind in den modernsten Bereichen der städtischen Wirtschaft beschäftigt, in stabilen Beschäftigungsverhältnissen und mit relativ guten Löhnen. Ein anderer Teil der Arbeiterklasse muß sich in kleineren Unternehmen verdingen und sieht sich dort einer scharfen Konkurrenz um den Verkauf der Arbeitskraft im Rahmen der allgemeinen Unzulänglichkeit des Beschäftigungssystems ausgesetzt. Diese Unzulänglichkeit trägt auch zur Herausbildung einer großen und weiter wachsenden Masse von Arbeitslosen und Unterbeschäftigten, von Sub-proletariern und marginalisierten Schichten bei, die zusätzlich durch die schnelle Migration vom Land in die Städte gespeist wird und durch unsichere, vom Zufall abhängige Einkommen und eine extreme Verelendung gekennzeichnet sind.
Für die Mehrheit dieser sozialen Schichten bestätigt die gegenwärtige Krise, daß ihre Interessen und Hoffnungen in der Zukunft nur im Rahmen von sehr tiefgreifenden sozialen und ökonomischen Veränderungen Schutz und eine Realisierungschance finden werden. Aber dennoch hängt die Möglichkeit, daß sie sich in einem gemeinsamen Projekt zusammenfinden, das auf eine breite soziale Basis gestützt in der Lage wäre, die Oberhand über das noch immer vorherrschende ideologische Erbe des Reformismus zu gewinnen, in großem Maße von den spezifischen Termini ab, in denen man dieses Projekt darlegt, das heißt, von den wesentlichen Inhalten, die die sozialistische Perspektive in Lateinamerika bestimmen.
Dazu gehört eine Konzeption der sozialistischen Transformation, welche die wachsende Demokratisierung der Gesellschaft beinhaltet, so daß innerhalb des Sozialismus demokratische Werte wieder zur Geltung kommen, die heute zunehmend in Widerspruch zum unterentwickelten und abhängigen Kapitalismus stehen. Eine Überlegung, die man nicht nur in ihren direkt politischen, sondern auch hinsichtlich ihrer ökonomischen Aspekte betrachten muß, also z.B. hinsichtlich der angestrebten Besitzformen und der direkten Beteiligung der sozialen Basis an der Leitung der Wirtschaft. Weiterhin muß die Vision einer sozialistischen Zukunft eng mit der historischen Perspektive der lateinamerikanischen Einheit verbunden sein, die ein Weg zur schnelleren Entwicklung der Produktivkräfte und zur Erlangung eines größeren Gewichts im Weltgefüge ist. Zum jetzigen Zeitpunkt besteht die lateinamerikanische Region und die Karibik aus dreißig nationalen Einheiten, die mehrheitlich relativ klein sind. Nur als Einheit können sie einen bedeutenden Anteil der Weltbevölkerung und -Produktion erreichen. Ein Projekt wirklicher Wirtschaftsintegration der Region, die im Rahmen der sozialistischen Transformation zugleich notwendig und erreichbar erscheint, hätte strategische Bedeutung.

Aus dem Spanischen von Wolfgang Gabbert

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