Marxismus und Sozialismus in Afrika

Afrika ist ein großer Kontinent mit über fünfzig Ländern. Auch wenn man sich auskennt, kann man kaum allgemein genug sprechen, um die Entwicklung des Marxismus auf dem Kontinent als ganzem abzudecken. Auf jeden Fall war diese Entwicklung äußerst uneinheitlich. Wir werden daher Nordafrika und den Sudan aus der Darstellung ausklammern: diese Länder haben kommunistische Parteien mit einer langen Tradition und folgten enger dem Entwicklungsmuster der arabischen und nahöstlichen Länder. Wir berücksichtigen auch Südafrika nicht, wo es auch schon lange eine kommunistische Partei gibt und wo ein komplizierter antikolonia-listischer Kampf anhält. Unsere Verallgemeinerungen gründen sich auf die Erfahrungen vor allem Ost-, West- und Zentralafrikas, die ziemlich parallele, wenn nicht gar ähnliche Erfahrungen mit dem Sozialismus und dem Marxismus gemacht haben.
Die meisten afrikanischen Länder wurden um 1960 unabhängig. Der Unabhängigkeitskampf wurde im großen und ganzen unter verschiedenen Varianten nationalistischer Ideologie organisiert, die von Teilen des Kleinbürgertums getragen wurde (eine Kombination von Händlern, reichen Bauern, Beamten und Angehörigen der Intelligenz). Der Marxismus war in diesem Kampf nicht in organisierter und unabhängiger Form präsent. In vielen Fällen existierte er nicht einmal als eine zusammenhängende Strömung innerhalb der nationalistischen Bewegung. Es gab nur einzelne Marxisten in der Bewegung.
Die ideologischen Entwicklungen in der Periode unmittelbar nach der Erlangung der Unabhängigkeit kann man in zwei große Kategorien einteilen. Einmal gab es eine Gruppe von Regimes, die das sogenannte »liberale« (kapitalistische) Modell übernahmen. Hier bekamen verschiedene Theorien und Ideologien, die mit der Modernisierungsschule zusammenhängen, die Oberhand. Dabei denken wir an Länder wie Kenia und Uganda in Ostafrika, Elfenbeinküste und Senegal in Westafrika. Die zweite Gruppe ergriff Partei für den afrikanischen Sozialismus, der in verschiedenen Ländern verschieden genannt wurde. Tansania in Ostafrika und Ghana, Guinea und Mali in Westafrika fallen in diese Gruppe.
Für beide Gruppen von Ländern war typisch, daß sie zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit sehr schwache eigene Bourgeoisien hatten. Ihre Ökonomien wurden stark von ausländischem Kapital aus den westlichen imperialistischen Ländern kontrolliert, sehr häufig von den früheren Kolonialmächten. Minderheiten von Einwanderern wie die Asiaten in Ostafrika und die Libanesen in Westafrika spielten die Rolle von Kompradoren hauptsächlich in Handel, Weiterverarbeitung und im Dienstleistungsbereich, während eine Minderheit von weißen Siedlern in einigen Ländern das Agrarkapital kontrollierte.
Die Absicht der kleinbürgerlichen Gruppen in der Führung der Befreiungsbewegungen war es, in die Fußstapfen der früheren Kompradoren-klassen zu treten. Teile dieses Kleinbürgertums entwickelten sich nach Erlangung der Unabhängigkeit zu einer Kompradorenbourgeoisie. Der Staat der Unabhängigkeit spielte in diesem Prozeß eine zentrale Rolle. In den sogenannten »liberalen« Ländern wurde der Staat benutzt, um der sich entwickelnden privaten Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum Starthilfe zu geben und sie dabei zu unterstützen, mit der bestehenden Kompradorenbourgeoisie erfolgreich zu konkurrieren. In den »sozialistischen« Ländern intervenierte der Staat durch Verstaatlichungen, Kontrolle und Regulierung der strategischen Wirtschaftsbereiche massiv in die Ökonomie und förderte dadurch die Entwicklung einer Staatsbourgeoisie.
Der Marxismus war nirgends dominant oder auch nur politisch bedeutend. In den »liberalen« Ländern gingen die Marxisten der ersten Generation in die Opposition und wurden nach und nach verfolgt, umgebracht oder einfach durch Individualisierung an den Rand gedrängt. In den afrikanisch-sozialistischen Ländern engagierten sich eine Reihe von Marxisten in unterschiedlichem Umfang für die Regime. Sie arbeiteten mit der These, daß man diese Regime von innen nach links drücken könne und daß deswegen ihre Anwesenheit im Staat von entscheidender Bedeutung sei.
Diese politische Praxis des »Eintretens« folgte aus der Theorie — die auf unterschiedliche Weise vom Sowjetrevisionismus unterstützt wurde —, wonach die Gesellschaftsformationen und Staaten in Afrika noch in einer Situation des Übergangs seien. Die Klassen in Afrika waren noch nicht richtig ausgebildet und die Staaten hatten noch gar keinen bestimmten Klassencharakter angenommen. Daher konnten einige patriotische Kräfte den Sozialismus übernehmen und ihre Länder auf den sozialistischen Weg bringen — vorausgesetzt, sie verbündeten sich mit der sozialistischen Welt, d.h. mit den Ländern des Sowjetblocks. In der sowjetischen Literatur nannte man diese Länder — deren Zusammensetzung entsprechend den außenpolitischen Erfordernissen der Sowjetunion wechselte — nicht-kapitalistisch. Später avancierten sie zum Status von Ländern mit sozialistischer Orientierung. In Afrika selbst kennzeichneten die Eintreter-Marxisten ihre »sozialistischen« Regimes als progressiv-kleinbürgerlich. Diese Klasse, so argumentierten sie, brächte es fertig, Selbstmord zu begehen und sich den Massen anzuschließen, wenn sie nur in den Theorien des Marxismus und in wissenschaftlicher Weltanschauung »erzogen« würden.
Während also die Sowjets bereit waren, die grundlegende marxistische Lehre zu opfern, die fordert, den Ä/asse«charakter eines jeden Staates zu bestimmen, sanken die afrikanischen Marxisten in Idealismus ab und setzten auf die Umerziehung ihres Kleinbürgertums. In diesem Fall hat die Realität der afrikanischen Welt heute, einschließlich ihres »sozialistischen« Teils, die Wahrheit grundlegender marxistischer Aussagen bestätigt. Die sogenannten nicht-kapitalistischen Staaten, die raubgierige Kompradorenbourgeoisien und unersättliche bürokratische und militärische »Kasten« hervorgebracht haben, sind fest in die kapitalistische Welt eingebaut. Währenddessen haben sich die sogenannten fortschrittlichen Kleinbourgeoisien — weit davon entfernt, Selbstmord zu begehen — zu gleichermaßen raubgierigen Staatsbourgeoisien entwickelt. Alles das geschah im Bündnis und zur vollen Zufriedenheit des — westlichen wie des revisionistischen — Imperialismus. Und alle sind jetzt in eine schwere Wirtschaftskrise gestürzt.
Bezogen auf den Staat fand eine zweifache, in sich zusammenhängende Entwicklung statt. Innerhalb des Staates konzentrierte sich die Macht in seinem bürokratisch-militärischen Arm (der Exekutive) auf Kosten der repräsentativen Organe (Parlamente, lokale Regierungen etc.). Gleichzeitig wurden die unabhängigen Massenorganisationen in der Gesellschaft (Gewerkschaften, Genossenschaften, politische Parteien etc.) entweder gefügig gemacht und kooptiert oder — häufiger — als autonome Organisationen zerstört. Mit anderen Worten, die herrschende Klasse errichtete ihre organisatorische Hegemonie durch den Staat, während die Initiative und die Fähigkeit der Massen zur Organisation unterdrückt wurde. Die organisierte Hegemonie des Staates wurde durch die Ideologie gerechtfertigt, die man als Ideologie der Entwicklung (developmentalism) bezeichnen könnte. Ob als herrschende Ideologie der liberale Kapitalismus, der afrikanische Sozialismus oder später der Marxismus-Leninismus proklamiert wurde, die Ideologie der Entwicklung ging als gemeinsames Thema durch alle hindurch. Die Hauptelemente dieser Ideologie waren einfach, trügerisch einfach. Sie betonte die Armut und die wirtschaftliche Rückständigkeit Afrikas und plädierte dafür, daß das afrikanische Volk den Luxus von Politik im Interesse einer raschen wirtschafltichen Entwicklung zu opfern und sich starken Staaten zu unterwerfen habe. Die Zweckmäßigkeit ersetzte in dieser ideologischen Formation Prinzipien, und der Ökonomismus nahm den größten ideologischen Raum ein und drängte die Politik in den Hintergrund.
Daß die Politik ideologisch in den Hintergrund gedrängt wurde, bedeutete natürlich nicht, daß sie verschwand. Eher konstituierte die Entpolitisierung der Massen die Politik der herrschenden Klassen. Insgesamt bildete die Entwicklungsideologie die Rechtfertigung für die Herausbildung eines bürokratisch-militärischen Hegemonialstaats im Verlaufe der Konsolidierung der afrikanischen herrschenden Klassen und ihrer imperialistischen Verbündeten.
Die erste Generation von afrikanischen Marxisten verbrachte ihre Zeit mit der Ideologie der Entwicklung. Sie sagten, das Hauptkettenglied in Afrika sei die Entwicklung der Produktivkräfte, nicht der Klassenkampf. Unter dieser Bedingung war das Hauptproblem die Wahl der richtigen Wirtschaftspolitik, und eben dazu suchten die Marxisten im Staat beizutragen. Ihr theoretischer und ideologischer Standpunkt zusammen mit der Zerstörung der Massenorganisationen sorgten dafür, daß der Marxismus in dieser Periode nirgendwo einen unabhängigen organisatorischen Ausdruck finden konnte. Einzelne Marxisten im Staat hatten wenig ideologischen Einfluß und ihr Reden trug häufig dazu bei, unterdrückerische Regime vor der Wut der Massen abzuschirmen.  Der Marxismus der 70er Jahre hatte in diesen Ländern einen anderen Ursprung. Er lag in den Universitäten und unter den jungen Intellektuellen. Er entwickelte sich besonders ausgehend von den Kämpfen der Studenten in den späten 60er und frühen 70er Jahren. Das war eine Art Marxismus der zweiten Generation, der, wenn überhaupt, wenig mit dem antikolonialen Nationalismus zu tun hatte. Er betonte viel mehr den Neokolonialismus als einen konkreten Ausdruck imperialistischer Vorherrschaft. Die theoretischen Arbeiten konzentrierten sich auf die Untersuchung der  inneren sozialen und ökonomischen Entwicklungen, den Charakter der  nachkolonialen afrikanischen Staaten und Gesellschaftsformationen; Fragen des Klassenkampfes und der Klassenbündnisse traten in den Vordergrund. Seine wichtigsten Schranken lagen jedoch in seinen akademischen Ursprüngen und mitunter in seiner Unfähigkeit, von theoretischen Diskussionen und von Studentenkämpfen zu einer entsprechenden politischen Praxis und zur Einmischung in Massenkämpfe überzugehen. In manchen Bereichen wurden allerdings wichtige Versuche gemacht, diese Beschränkungen zu überwinden. In Äthiopien und in Liberia z.B. spielte die zweite Generation von Marxisten eine sehr wichtige Rolle in den Massenbewegungen vor dem Staatsstreich, unabhängig von ihrer schließlichen Niederlage. Bevor wir zu den 70er Jahren kommen: es gibt eine Ausnahme, die zugleich ein interessantes Beispiel für die Entwicklungsperspektive ist, die in der Verbindung von Marxisten und Massen liegt. Das ist das Beispiel der Peoples Revolutionary Party (PRP) in Zaire. — Im Falle Zaires (früher Kongo) konnte sich der Nationalismus nicht konsolidieren. Ein Teil der Nationalisten von Lumumba gingen in die Opposition und wurden Marxisten. Die PRP ging aus heftigen Kämpfen hervor. Sie war die wichtigste linke Organisation. In den frühen 70er Jahren wurde sie zu einer mächtigen Guerillabewegung, die große befreite Gebiete besetzt hielt. Sie war tief in den Massen verankert und sehr eigenständig, auch wenn sie moralisch und ideologisch von China unterstützt wurde. Beim Versuch, den Marxismus in eine spezifische Umwelt einzufügen, konnte die PRP bedeutende Erfolge vorweisen. In der Mitte der 70er Jahre aber — besonders durch Veränderungen in der chinesischen Außenpolitik, durch die bessere Bewaffnung Mobutus und auch, wie es scheint, durch den Verlust wichtiger Kader — erlitt die PRP einige schwere militärische Niederlagen und sie verlor ihre befreiten Gebiete. Trotzdem kann man aus der Erfahrung der PRP einige wichtige Lehren für die Zukunft ziehen.
Auch für die 70er Jahre können die ideologischen Entwicklungen für zwei Hauptgruppen von Ländern betrachtet werden. In der einen Gruppe fanden Militärputsche statt, die vorangehende Zivil- (oder Militär-)Regierungen beseitigten und den Marxismus-Leninismus oder den Sozialismus als ihre offiziellen Ideologien proklamierten. Dabei denken wir an Länder wie Benin, Kongo-Brazzaville, Somalia, Ghana, Obervolta etc. Die zweite Gruppe wird vor allem aus den früheren portugiesischen Kolonien gebildet, besonders Mozambique und Angola. Hier erhoben die Befreiungsbewegungen nach dem Sieg den Marxismus zur offiziellen Ideologie und verwandelten die früheren Befreiungsfronten in marxistische Parteien.
Der offizielle Marxismus-Leninismus der Befreiungsarmeen hatte nichts Besonderes oder Erfolgversprechendes anzubieten. Seine entscheidenden Merkmale können wir wie folgt zusammenfassen: 1. Militärputsche sind keine sozialen Revolutionen. Diese Putsche wurden im wesentlichen von einigen wenigen, in vielen Fällen von Sowjets ausgebildeten oder beeinflußten Offizieren ohne jegliche Basis in Kämpfen der Massen oder in einer Massenbewegung durchgeführt. 2. Die theoretisch-ideologische Bildung der sogenannten Marxisten-Leninisten war sehr schwach und oberflächlich. Die marxistisch-leninistischen Slogans wurden häufig als Mittel zur Erlangung äußerer Hilfe benutzt. 3. Sie waren stark von den Ländern des Sowjetblocks abhängig und änderten in manchen Fällen — wie in Somalia — ihren Standpunkt, sobald die Hilfe ausblieb. 4. In anderen Fällen schließlich, wie in Liberia, hatten die Putsche die objektive Funktion, der Entwicklung einer Massenbewegung zuvorzukommen und ihr vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Das Ergebnis war, daß die Regime sich in sehr kurzer Zeit unter der Sprache des Marxismus-Leninismus in autoritäre und repressive Staaten verwandelten. Gesellschaftlich brachten sie kleine bürokratische und Staatsbourgeoisien hervor und sie gerieten schließlich in dasselbe Geleis wie die afrikanischen sozialistischen Regime des vorhergehenden Jahrzehnts, nur daß sie noch weniger Ansehen hatten und noch verdorbener waren.
Im Falle der früheren portugiesischen Kolonien ging es in der Tat darum, am Morgen des Sieges der nationalen Befreiung eine sozialistische Revolution auszurufen. Das war nichts anderes als eine Deklaration, denn — im Nachhinein kann man das gut sagen — es fehlten die notwendigen Vorbedingungen sowie die organisatorischen und theoretisch-ideologischen Fähigkeiten, einen solchen Übergang zu bewirken.
Die nationalen Befreiungsbewegungen bildeten Koalitionen von Kräften, in denen die Führung in den Händen des Kleinbürgertums lag. Auch wenn es in diesen Bewegungen marxistische Strömungen gab, nahmen sie doch nie eine — wenn auch verdeckte — unabhängige organisatorische Form an. Zudem scheinen diese Strömungen stark vom Sowjetrevisionismus beeinflußt worden zu sein, der die Hauptunterstützung während und nach dem Befreiungskrieg leistete. Diese Strömungen arbeiteten noch im Paradigma der ersten Generation von afrikanischen Marxisten.
Auch wenn marxistisch-leninistische Parteien gegründet wurden, so sind doch nach der Befreiung keine Versuche gemacht worden, den alten Staat zu zerschlagen und neue Staaten zu bilden. Die Staatsapparate wurden entweder intakt übernommen oder nach dem Bilde der alten Kolonialstaaten nachgebaut. Das neue »revolutionäre« Regime fand sich bald als Gefangener des Staates wieder. Die Situation in Südafrika insgesamt führte — in Verbindung mit dem inneren Mangel an Klarheit und Schwächen der Befreiungsbewegungen selbst — zu starker ökonomischer und militärischer Abhängigkeit von der Sowjetunion und von den osteuropäischen Ländern. Diese Abhängigkeit erwies sich als ökonomisch zerstörerisch und militärisch dysfunktional. Die Befreiungsbewegungen wurden politisch zu Gefangenen nicht nur des Staates, sondern auch der Stadt. So entfremdeten sie sich von ihrer Massenbasis unter den Bauern und verloren sie schließlich. Das Beispiel Mozambique hat die richtige Frage aufgeworfen, wie ein nationaler Befreiungskampf in eine soziale Revolution verwandelt werden kann, aber seine heutige Praxis hat keine richtige Antwort gegeben — außer vielleicht durch das negative Beispiel.
Wie in den 60er Jahren gab es auch in den 70er Jahren eine Ausnahme, die Hoffnungen machte und ein Versprechen enthielt: Äthiopien. In Äthiopien gab es eine große Massenbewegung, die in einer antifeudalen und antiimperialistischen Revolution zum Sturz des Kaisers führte. An der Bewegung nahmen viele marxistische Strömungen, vor allem aus der zweiten Generation von Marxisten, teil und setzten einen revolutionären Prozeß in Gang. Einige dieser Strömungen begannen, sich selbst zu organisieren und sich mit der Arbeiterbewegung zu verbinden. Aber wieder wurde dieser Prozeß und wurde die Massenbewegung von der Armee kurzgeschlossen und paralysiert, indem sie sich zur Führung der Massenkämpfe aufschwang. Die Armee übernahm die marxistischen Programme der Opposition, während sie diese rücksichtslos beseitigte. Einige marxistische Strömungen, vor allem diejenigen mit »Eintritts«-Orientierung, wurden kooptiert. Zugleich brachte das äthiopische Militär unter Mengistu bei Anwendung verwerflicher Methoden und geschickter Ausnutzung innerer Schwächen und Spaltungen unter den marxistischen Organisationen außerhalb des Staats viele wertvolle Kader um und beraubte die Opposition ihrer Führung. Mit Hilfe der Sowjets und der Kubaner machte sich das Militär auch daran, die nationale Befreiungsbewegung von Eritrea zu vernichten. Wiederum wurde der Marxismus-Leninismus als Feigenblatt benutzt, um einen starken, repressiven Staat gegen das Volk zu schaffen und die originären sozialen und nationalen Kämpfe zu unterdrücken. Objektiv gesehen hat die Einmischung der Armee und ihre anschließende Konsolidierung in Äthiopien eine Volksrevolution liquidiert. Und doch waren die Kämpfe der frühen 70er Jahre ein gutes Beispiel für eine Massenpolitik, in deren Schoß schon eine marxistische Organisation zu sehen war, nur daß sie totgeboren wurde in den Händen des »Marxisten-Leninisten« Mengistu und seiner »sozialistischen« Hintermänner.
Die Entwicklung der letzten beiden Jahrzehnte, wie wir sie flüchtig skizziert haben, scheint heute in der schweren Wirtschaftskrise in Afrika ihren Siedepunkt erreicht zu haben. Die Wirtschaftskrise entwickelt sich jetzt zu einer umfassenden Krise, die an der Schwelle zu einer politischen Krise steht: die Krise des neokolonialen Staats. Sie hat der Entwicklungsideologie mehr oder weniger den Boden entzogen. Da in den letzten beiden Jahrzehnten praktisch keine bedeutende ökonomische Entwicklung stattgefunden hat, dämmert es auch den Massen, daß sie inzwischen ihre politische Freiheit verloren haben. Jetzt werden Fragen wie die nach der Natur des Staates und nach der Politik der Massen aufgeworfen. Mit anderen Worten, wir erleben ein Wiedererwachen der Politik in Afrika. In diese neu entstehende Politik müssen sich die Marxisten einmischen. Das erfordert eine Neubesinnung von Seiten der Marxisten und Sozialisten einschließlich einer Selbstkritik ihrer vergangenen politischen Praxis.
Das Prestige der sozialistischen Ideologie und die Sympathie dafür von seiten der afrikanischen Massen in den 60er Jahren ist zu einem großen Teil ausgehöhlt. Der Sozialismus und verschiedene Varianten des Marxismus-Leninismus sind in den Augen der Massen diskreditiert. Aber nur der Marxismus bietet eine tiefe Einsicht in die Vergangenheit, nur er hat das Potential, um den Weg nach vorn zu weisen. Dieses Potential muß in politisches Handeln übersetzt werden. Das geht nur, wenn die afrikanischen Marxisten die Lehren der letzten beiden Jahrzehnte ziehen und annehmen und wenn sie eine ernsthafte Kritik ihrer eigenen grundlegenden Fehler leisten.
Es hat sich wieder gezeigt, daß die neokolonialen Staaten in Afrika genauso Organisationen der herrschenden Klassen sind wie alle anderen Staaten. Die These des »Eintretens« ist diskreditiert.
Der Marxismus kann nicht von oben aufgezwungen werden. Er kann sich nur im Verlaufe von Massenkämpfen und inmitten von Massenbewegungen entwickeln. Nur durch die Kraft des Beispiels und innerhalb dieser Bewegungen kann die Arbeiterklasse und ihre Ideologie die Führung und ideologische Hegemonie gewinnen.
Es gibt keinen Ersatz für die Bildung von unabhängigen Massenorganisationen des Volkes, unabhängig vom Staat. Der Marxismus muß organisatorisch vom Staat und von den bürgerlichen Parteien getrennt und autonom sein sowie ideologisch unabhängig von der »sozialistischen Welt«.
Aus diesen Lehren folgen einige weitreichende Aufgaben für die afrikanischen Marxisten an der Schwelle zum 21. Jahrhundert — theoretischideologische und politisch-organisatorische Aufgaben. Die Frage nach dem Charakter des neokolonialen Staates und nach seinem Verhältnis zum Imperialismus erfordert ein tieferes und konkreteres Verständnis. Zweitens muß der Charakter der Revolution als antiimperialistische und demokratische Revolution konkret gefaßt werden. Verschiedene Zwischen schritte in dieser Revolution und entsprechende Kampfformen müssen bestimmt werden. Hierunter fällt auch das Thema der Bildung und Aufrechterhaltung einer Massenbewegung auf der Grundlage eines Bündnisses von Arbeitern und Bauern. Drittens, als eine der wichtigsten Fragen für afrikanische Marxisten, die nationale Frage in ihrem Verhältnis zur sozialen Frage. Wie kann man praktisch — politisch und organisatorisch — die nationale Frage aufwerfen, ohne in der sozialen Frage Kompromisse zu machen und ohne die ideologische Hegemonie der Arbeiterklasse zu opfern? Viertens müssen die afrikanischen Marxisten dem Verständnis sozialer Prozesse und der Klassenbildung in ihren Gesellschaften viel mehr Aufmerksamkeit widmen. Und schließlich ist, angesichts der entscheidenden Bedeutung von richtigen Bündnissen nach außen, das Verständnis der Geschichte der internationalen kommunistischen Bewegung und die heutige Rolle der »sozialistischen« Länder sehr wichtig.
Die zentrale politische Frage ist die der Organisation. Organisation jedoch kann man nicht einfach wünschen oder schaffen. Sie muß sich im Schoß von Massenkämpfen entwickeln. Daher müssen sich die afrikanischen Marxisten an den Massenkämpfen beteiligen und sie müssen solche Kämpfe initiieren. Die erste Phase der antiimperialistischen, demokratischen Revolution wird, wie es scheint, aus einer Phase des Massenkampfes bestehen: Massenopposition, Massenkämpfe und Massenorganisation. Die Leute müssen ihre Organisationsfähigkeit wiedergewinnen, die durch den neokolonialen Staat in den letzten beiden Jahrzehnten verstümmelt worden ist. Das sind die kurzfristigen Aufgaben der afrikanischen Marxisten. Langfristig jedoch muß die Arbeiterklasse innerhalb dieser Massenbewegung ihren spezifischen organisatorischen Ausdruck finden und schließlich die Klassenführung der Bewegung organisatorisch und ideologisch gewinnen.

Aus dem Englischen Von Wieland Elfferding

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