Vorwort

Dieses Buch wird im Rahmen eines internationalen Projekts publiziert und stellt die Frucht der Tätigkeit eines vollen Jahrzehnts dar.
Vor zehn Jahren ging nämlich von den drei jugoslawischen Zeitschriften »Sozialismus«, »Aktuelle Fragen des Sozialismus« und »Marxismus in der Welt« die Initiative aus, in Jugoslawien eine internationale Tribüne zu gründen, auf der Marxisten und andere sozialistische Denker zusammenkommen könnten, um aktuelle Fragen sozialistischer Theorie und Praxis zu erörtern. So wurde bei einer größeren Zusammenkunft jugoslawischer Marxisten im Herbst 1975 der Beschluß gefaßt, die internationale Tribüne »Sozialismus in der Welt« ins Leben zu rufen. Man wählte einen Beirat. Dieser legte bei seiner ersten Zusammenkunft Ziele und Wirkungsbereich der Tribüne fest.
Seither hält die internationale Tribüne »Sozialismus in der Welt« jedes Jahr in Cavtat bei Dubrovnik eine Round-table-Diskussion ab und führt dabei marxistische und andere sozialistische Denker aus verschiedenen Ländern, Bewegungen und Denkschulen zusammen. Der Sinn dieser Debatten liegt darin, gegenseitiges Kennenlernen und Verständnis zu fördern und einen kritischen Dialog zwischen marxistischen und anderen sozialistischen Theoretikern und Vorkämpfern anzubahnen und dadurch die Weiterentwicklung der Theorie von der sozialistischen Umgestaltung der heutigen Welt anzuregen. Da der sozialistische Weltprozeß in unterschiedlichen Formen vor sich geht bzw. auf verschiedenen Wegen voranschreitet, ist es erforderlich, Theoretiker und Praktiker zusammenzuführen, die voneinander abweichende Formen sozialistischer Praxis und verschiedenartige ideologisch-theoretische Richtungen und Traditionen repräsentieren. Dabei treten sie während der Diskussionen in eigener Person auf und nicht als Vertreter ihrer jeweiligen Länder, Organisationen oder Bewegungen.
»Sozialismus in der Welt« hielt in Cavtat bisher neun Gespräche ab, und zwar zu folgenden Themen: »Sozialismus in der modernen Welt« (1976), »Sozialismus und politische Systeme« (1977), »Sozialismus und Entwicklungsländer« (1978), »Die subjektiven Kräfte des Sozialismus« (1979), »Mitbestimmung, Selbstverwaltung, Sozialismus« (1980), »Sozialismus, Wissenschaft, Technologie, Entwicklungsstrategien« (1981), »Marxistisches Denken heute: Stand, Kontroversen, Perspektiven« (1982), »Marx, Marxismus und moderne Welt« (1983) und »Sozialismus und Frieden« (1984).
An diesen neun Rundtischgesprächen nahmen 557 Repräsentanten der sozialistischen Theorie und Praxis aus 81 Ländern teil (viele von ihnen auch mehrmals) und daneben etwa 300 jugoslawische Marxisten. Die über 500 bei diesen Veranstaltungen gehaltenen Referate und Diskussionsbeiträge erschienen in 52 Nummern der Zeitschrift »Sozialismus in der Welt« (in englischer und serbokroatischer Sprache). Die mehr oder minder scharfen Auseinandersetzungen hielten sich stets in toleranten und korrekten Grenzen. Dadurch wurde der Beweis erbracht, daß offene Gespräche zwischen Verfechtern unterschiedlicher, oft sogar antagonistischer ideologischer und politischer Orientierung des modernen Sozialismus möglich sind. Die Internationale Tribüne »Sozialismus in der Welt« und ihre Round-table-Diskussion in Cavtat stellen heute das einzige internationale politische bzw. theoretische Forum dar, das Theoretiker und aktive Politiker aller wesentlichen ideologisch-politischen und theoretischen Ausrichtungen des Sozialismus als eines weltweiten Prozesses zusammenführt. Eben deshalb bieten die Diskussionen in Cavtat wohl das wahrheitsgetreueste Abbild sozialistischer Ideen und Praxen des letzten Jahrzehnts.                                                                                                               
Vom 21. bis 26. Oktober 1985 findet in Cavtat das zehnte Rundtischgespräch statt. In dem Wunsch, für dieses Jubiläum ein Thema zu wählen, das gewissermaßen die zehnjährige Arbeit und die gewonnenen Einsichten umschließen und zugleich ein theoretisches Programm sowie eine Perspektive für künftige Diskussionen beinhalten würde, entschied sich der Beirat für die Themenstellung »Der Sozialismus an der Schwelle zum 21. Jahrhundert«.
Bei seiner Entscheidung hatte der Beirat die Notwendigkeit einer Diskussion über den Sozialismus im Auge, die nicht im Banne seiner Vergangenheit stünde, sondern seiner Zukunft zugewandt wäre. So war es unsere Absicht, eine Debatte anzuregen, die durch wissenschaftliche Vertiefung und empirische Argumentation die Idee des Sozialismus bekräftigt, und zwar eines Sozialismus als progressiver, humanistischer Antwort auf die fundamentalen Probleme der Menschheit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Dabei stand jedoch außer Zweifel, daß eine solche Bekräftigung der sozialistischen Idee bodenlos und unwirksam wäre, wenn sie auf bloßem Optimismus beruhen würde, der jede Möglichkeit negativer Lösungen für die schwerwiegenden Probleme der heutigen Menschheit einfach beiseite schöbe oder die unvermeidlichen Widersprüche und Schwierigkeiten in der Praxis des Sozialismus herunterspielte. Obwohl sich der Beirat der Gefahr eines derartigen Optimismus bewußt war, betonte er in seiner Einladung zu dieser Runde, es sei heute außerordentlich wichtig — im Gegensatz zum um sich greifenden Pessimismus und dem Zurückweichen des theoretischen und politischen Denkens vor den großen Problemen der sozialistischen Praxis und den dramatischen Herausforderungen der modernen Welt —, erneut Kühnheit und visionären Weitblick des Denkens, Stärke und Unüberwindbarkeit der emanzipatorischen und humanistischen Bestrebungen sowie reale historische Möglichkeiten für vorwärtsweisende Regelungen der sich häufenden und stets aufs Neue entstehenden Widersprüche unserer Epoche herauszustreichen und anzuregen.
In Vorbereitung des Rundtischgesprächs »Der Sozialismus an der Schwelle zum 21. Jahrhundert« wandte sich der Beirat 1984 an etwa 30 namhafte Theoretiker des Sozialismus aus 18 Ländern mit der Bitte, ihre Referate für die bevorstehende Diskussion schriftlich vorzulegen. Bis April 1985 sandten folgende Referenten ihre Beiträge ein: Detlev Albers, Elmar Altvater, Samir Amin, Colette Audry, Pablo Gonzales Casanova, Luciana Castellina, Andre Gunder Frank, Iwan T. Frolow, Aleksandar Grlickov, Michael Harrington, Wolfgang Fritz Haug, Istvän Huszär, Pie-tro Ingrao, Harry Magdoff, Ernest Mandel, Oscar Negt, Theotönio Dos Santos, Su Shaozhi, Issa G. Shivji, Paul Sweezy, Göran Therborn, Giuseppe Vacca, Adolfo Sänchez Vazquez, Predrag Vranicki, Pedro Vuskovic, Raymond Williams.
Das Angebot, diese Beiträge noch vor dem Rundtischgespräch 1985 in einer Sonderausgabe in mehreren Sprachen abzudrucken, nahmen inzwischen folgende Verlage an: Verso Books London, Institut socialiste d'etudes et de recherches Paris, die Stiftung Pablo Iglesias Madrid, der Argument- Verlag West-Berlin und der Verlag Komunist Belgrad. Der Beirat der Tribüne möchte auch auf diesem Wege den genannten Institutionen dafür danken, daß sie sich dieser beispiellosen internationalen Aktion angeschlossen haben. Es kommt in der Tat selten vor, daß ein Buch zum gleichen Zeitpunkt von fünf Verlagen in fünf Ländern herausgegeben wird.
Da die Seitenzahl der 26 vorliegenden Beiträge den von den Verlagen vorgesehenen Umfang übersteigt, schlug der Beirat vor, jeder Verlag solle selbst eine Anzahl von Beiträgen auswählen. Deshalb stelen die in der vorliegenden Ausgabe abgedruckten Beiträge die Auswahl ihres Verlags dar.
Daneben werden sämtliche Referate der Gesprächs-Runde 1985 sowie die gesamte Diskussion im Laufe des Jahres 1986 in englischer und serbokroatischer Fassung in der Zeitschrift »Sozialismus in der Welt«* veröffentlicht werden.
(*»Socialism in the World« kann über den Argument Verlag bezogen werden).
1. Juni 1985   
Milos Nikolic, Sekretär der Internationalen Tribüne
»Sozialismus in der Welt«
Belgrad

Zur deutschen Ausgabe

Wir mußten das gesamte, zur Vorbereitung dieses Verbundprojekts produzierte Material praktisch halbieren, um es in zwei Argument-Sonderbänden unterbringen zu können. So standen wir vor der Wahl zwischen Vollständigkeit und Pluralismus als Gebot eines bilanzierenden Ausblicks des Sozialismus. Wir haben uns für die Vielfalt und damit für Kürzung der Beiträge entschieden. Ganz entfallen sind nur die Aufsätze von Oscar Negt und Wolfgang Fritz Haug, weil sie in deutscher Sprache leicht zugänglich sind (in den Büchern »Lebendige Arbeit, enteignete Zeit« bzw. »Pluraler Marxismus 1«). Die übrigen Beiträge erscheinen hier in, mitunter stark gekürzter und redigierter Fassung. Wir haben uns bemüht, bei der Übertragung ins Deutsche die Unterschiede, auch Brüche zwischen den regionalen sozialistischen Diskursen nicht zu verdecken und doch die Lesbarkeit zu gewährleisten.
Wolfgang Fritz Haug
Wieland Elfferding

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Vorwort