Am Ausgang des Postamts

Der marxistische Sozialismus ist nicht identisch mit den Werken eines brillanten deutschen Juden des 19. Jahrhunderts im Exil. Der marxistische Sozialismus ist vor allem eine organisierte politische Massenkraft. Das Zusammentreffen der Marxschen Theorie und der Arbeiterbewegung sowie anderer fortschrittlicher Bewegungen führte zu einer epochalen Verbindung, vergleichbar nur mit den großen Weltreligionen. Diese Verbindung — es wäre zu einfach, von »Einheit« zu sprechen — materialisierte sich mit dem Aufstieg und der Marxisierung der modernen Arbeiterbewegung in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Keine andere Kraft hat einen so bedeutenden Beitrag zur Geschichte des 20. Jahrhunderts geliefert. Die russische und chinesische Revolution, die von Marxisten geführt wurden, haben die Parameter der Weltpolitik nachhaltig verändert. Hochorganisierte Arbeiterbewegungen sind zu einem bleibenden Merkmal des entwickelten Kapitalismus geworden; die Geschichte kannte bis dahin keine andauernde, klassenweite Organisation des Widerstands von seiten der Ausgebeuteten. Die Revolutionen und Bewegungen sind nicht der Marxschen Theorie entsprungen, sondern der Erfahrung von Ausbeutung und Erniedrigung, dem Klassenkampf von Millionen von Arbeitern und Bauern. Marxisten jedoch und engagierte Sozialisten anderer theoretischer Überzeugung haben dabei eine entscheidende Rolle gespielt, nicht nur als Anführer und treibende Kräfte, sondern auch als unermüdliche Organisatoren in bescheidenen Positionen, häufig verspottet und verfolgt. Das gilt auch für die angelsächsischen Länder und ihre Massengewerkschaften, wo Arbeiterparteien (noch) nie marxistisch oder sozialistisch gewesen sind oder wo, wie in den USA, gar keine politische Partei der Arbeiterklasse entstanden ist.
Im folgenden wird von Marx' rein intellektuellem Beitrag nicht mehr die Rede sein. Aber eines muß vorab gesagt werden: um einen Theoretiker mit vergleichbarem Einfluß wie Karl Marx zu finden, müßte man zu Aristoteles' Wirkung im Mittelalter zurückgehen. Marx' Bedeutung für die modernen Sozialwissenschaften und für die Geschichte ist nach Reichweite, Tiefe und Dauer beispiellos. Aber auch Philosophen, Ästhetiker, Studenten der Kunst und der Literatur haben vielfach auf ihn zurückgegriffen. Nun bedeutet Einfluß noch nicht Beeinflussung und Anhängerschaft. Einfluß macht sich auch in Kritiken und Denunziationen bemerkbar. Auch mehr als hundert Jahre nach Marx' Tod betrachten tausende von Intellektuellen die Bezeichnung Marxist als eine Ehre.
Politisch gesehen, ruht die enorme Stärke und Überzeugungskraft des marxistischen Sozialismus auf drei Säulen. Marxismus und sozialistische Theorie allgemein hat die Menschen angezogen, erstens als Kritik und Erklärung von Ungerechtigkeit, von Ausbeutung und Ungleichheit, Erniedrigung und Elend der vielen gegenüber dem Luxus und der Macht weniger. Zweitens ist der marxistische Sozialismus Aufruf zum Handeln auf der Basis bestehenden Widerstands gegen kapitalistische Ausbeutung gewesen. Er hat diesem Widerstand eine Orientierung auf die Organisierung eines autonomen Klassenkampfes gegeben — Gewerkschaften und Arbeiterparteien. Der Marxismus hat schließlich, auf der Grundlage objektiver Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung, ein Ziel der Befreiung angegeben.
Zwischen diesen drei Säulen besteht eine gewisse Spannung, die ich durch den Gebrauch des Wortes »Ungerechtigkeit« beleuchten wollte, das nicht aus dem marxistischen Standardwörterbuch stammt (vgl. Moore 1982). Aufs ganze gesehen, war das eine produktive Spannung. Marxistische Sozialisten sind aus Protest gegen Ungerechtigkeit ebenso aktiv geworden wie aus der wissenschaftlichen Analyse von Zusammenhängen, Tendenzen und Möglichkeiten des kapitalistischen Systems. Eine Vorstellung von der Zukunft des Sozialismus muß beide Seiten berücksichtigen und einer gründlichen historisch-materialistischen Analyse unterziehen.

Theorie und Fanfare: zwei Grundlagen sozialistischer Politik

Seit der Oktoberrevolution gründeten sich sozialistische Strategien und Perspektiven, neben der Analyse des Kapitalismus, auch auf das politische Beispiel. Diese Spaltung war nicht einfach und eindeutig. Der Schall der revolutionären Fanfare vom erfolgreichen Aufstand in Petrograd schickte seine Wellen über die ganze Welt und begründete eine neue Art von sozialistischer Politik und Marxismus. Sie fand einen ihrer ersten und sprechendsten Ausdrücke in Antonio Gramscis Artikel »Die Revolution gegen das 'Kapital'« vom November 1917, einem begeisterten Kommentar zur Oktoberrevolution (vgl. Gramsci 1967, 23ff.). Diese sozialistische Politik durch das Beispiel war außerhalb Europas äußerst wichtig, wo sie die Kader der chinesischen, koreanischen, vietnamesischen, der kubanischen und anderer Revolutionen formte.
Auch die Renaissance des marxistischen Sozialismus in Westeuropa und Nordamerika Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre rührte weniger von Marx' Analyse der Widersprüche des Kapitalismus her als von der Empörung über bestehende Ungerechtigkeiten und von den Beispielen der Revolutionen in der Dritten Welt und der chinesischen Kulturrevolution. — Die Zukunft des Sozialismus muß als die Zukunft zweier Sozialismen betrachtet werden: einerseits als Zukunft der sozialistischen sozio-ökonomischen Tendenzen in nachrevolutionären und in kapitalistischen Gesellschaften; andererseits als die ganze Bandbreite von unterdrückten, benachteiligten oder moralisch empörten Kräften, die in der sozialistischen Kritik eine Erklärung oder einen Sinnzusammenhang ihrer eigenen Lage finden und in der sozialistischen Politik ein Beispiel des Befreiungskampfes.[1]
Die marxistische Voraussage und das sozialistische Beispiel
Die allgemeine Perspektive der kapitalistischen Entwicklung enthielt, den klassischen marxistischen Texten zufolge, zwei Elemente. Das eine war die Tendenz zur Vergesellschaftung der Produktivkräfte, wodurch die Produktionsmittel zentralisiert werden und die Arbeiten zunehmend ineinandergreifen. Als Reaktion darauf dehnt sich das Kreditsystem aus, Aktiengesellschaften und Trusts entstehen und schließlich übernimmt der Staat bestimmte Dienstleistungen wie Post, Telefon und Eisenbahnen. Die Kapitalisten sind mehr und mehr geschieden vom wirklichen ökonomischen Leben, sie werden überflüssig (vgl. Engels, 220ff.). Nach der klassischen marxistischen Tradition liegt in dieser Vergesellschaftung der Produktivkräfte, für die die kapitalistische Aneignungsweise zunehmend unbrauchbar wird, die objektive Basis einer sozialistischen Umwälzung. In dieser Linie liegt Lenin, wenn er sagt: »Unser nächstes Ziel ist, die gesamte Volkswirtschaft nach dem Vorbild der Post zu organisieren ...« (Staat und Revolution, LW 25, 440).
Die zweite wesentliche Tendenz bestand im Anwachsen der Arbeiterklasse und der vereinigenden Klassenorganisation der Arbeiter — Parteien, Gewerkschaften und andere Klassenorganisationen. Diese Tendenz würde die Arbeiterklasse schließlich befähigen, die Macht zu ergreifen und den Monopol- und Staatskapitalismus in eine von den Arbeitern selbst verwaltete sozialistische Gesellschaft zu verwandeln.
Die Macht des sozialistischen Beispiels war zweifach. Einmal der exemplarische Erfolg. Der Erfolg der Oktoberrevolution, schlagend gegenüber dem Versagen anderer strategischer Konzeptionen, führte den Parteien der Komintern tausende von Arbeitern außerhalb Rußlands zu. Der Sieg der chinesischen Revolution regte verschiedene Revolutionsversuche in Ostasien an, von Indien bis zu Japan und den Philippinen. Die kubanische Revolution führte zu vielen Versuchen, sie in Lateinamerika zu wiederholen. Alle diese Versuche scheiterten, und viele endeten in einem völligen Desaster. Aber immer wieder stabilisierten und entwickelten neue gesellschaftliche Kräfte ihren eigenen nationalen Rhythmus und ihre Perspektiven, von den eurokommunistischen Parteien bis zu den breiten revolutionären Fronten in Mittelamerika.
Die Radikalisierung eines bedeutenden Teils der Jugend im entwickelten Kapitalismus in den sechziger und siebziger Jahren rührte eher vom Beispiel des sozialistischen Kampfes und von der sozialistischen Erklärung der Ungerechtigkeit her. Für diese Radikalisierung gab es zwei Hauptgründe. Einmal war da der rasche Zusammenbruch tradierter Formen sozialer Kontrolle in den Kernländern des entwickelten Kapitalismus. Ein gewisses Potential der Bevölkerung geriet außer Kontrolle und Bevormundung bestehender Institutionen. Den wohl wichtigsten Aspekt stellte die explosive Ausbreitung der höheren Bildung dar. Die neuen Studentenmassen entkamen nicht nur der elterlichen Aufsicht, sie überschwemmten auch die akademischen Kanäle »anständiger« Erziehung. Die Studenten hatten bei noch expandierenden Arbeitsmärkten viel Zeit und leichten Zugang zu neuen Ideen und internationalen Impulsen. Die Teenager der sechziger Jahre waren auch die erste junge Generation des Nachkriegsbooms. Sie hatten Geld, um die erste, um die Rockmusik herum gebildete, autonome massenhafte Jugendkultur zu konsumieren. Der Aufstieg der Massenmedien brach überall in sich abgeschlossene Kulturen auf. Die Pille nahm die Angst vor Schwangerschaft, zuvor ein Stützpfeiler der Kontrolle über die Sexualität.
Der zweite Hauptgrund der Radikalisierung lag in den gewaltsamen Konflikten, in die der entwickelte Kapitalismus in den sechziger Jahren verwickelt war, und im Charakter des antikapitalistischen Widerstands. Das waren Kämpfe um politische Grundrechte, vom kapitalistischen Liberalismus theoretisch längst anerkannt, aber vom selben Liberalismus mit Füßen getreten. Die entscheidenden Kämpfe waren: die der Schwarzen im Süden der USA um das Wahlrecht — die Beteiligung einiger Studenten an der Bürgerrechtsbewegung im Süden bildete den unmittelbaren Hintergrund für die Studentenbewegung in Berkeley im Herbst 1964; der Kampf um Demokratie im Iran — der Grund für die große Demonstration gegen den Schah in Westberlin im Juni 1967; und vor allem der Kampf der Vietnamesen für nationale Unabhängigkeit (vgl. Therborn 1968). Diese Kämpfe wurden als exemplarische Kämpfe gegen Ungerechtigkeit erlebt. Für viele war auch die chinesische Kulturrevolution ein Kampf gegen Elitarismus, Autoritarismus und Ungleichheit.
Warum führten diese Prozesse zu sozialistischem Engagement und zu einer Übernahme des Marxismus? Die Schwarzen waren weder sozialistisch noch marxistisch, die Perspektive der Solidarität von Seiten der Vietnamesen ging in Richtung einer breiten Volksfront. Die Chinesen versuchten zwar, eine breite internationale maoistische Anhängerschaft zu bilden, sie hätten aber ohne den Vietnamkrieg und die breite Stimmung dagegen kaum Wirkung erzielt.
Marxismus, Leninismus und, allgemeiner, Sozialismus wurden deswegen so bereitwillig aufgenommen, weil nur diese Theorien erklären konnten, daß die führende liberale und demokratische kapitalistische Macht selbst die elementarsten Menschenrechte der Schwarzen, der Vietnamesen und der Dritten Welt insgesamt verletzte. Der fortschrittliche Liberalismus und die Sozialdemokratie hatten hier nichts anzubieten und waren häufig unmittelbar verantwortlich für die Gewalt oder sie waren ihre Komplizen. Der amerikanische Kriegspräsident par exellence war Lyndon Johnson, der aus der Mitte-Links-Tradition des New Deal stammte. — Die Ausstrahlung des marxistischen Sozialismus war enorm. Er wurde zur Sprache eines großen Teils der Frauenbewegung, als Rahmen zur Analyse der Frauenunterdrückung. Daraus entstand eine eigene Bewegung, der sozialistische Feminismus. Während der marxistische Sozialismus auch Einfluß auf die Homosexuellen mit ihren Gay Liberation Fronts und Organisationen von sozialistischen Homosexuellen hatte, entwickelten die Lesbierin-nen meist ihre eigene Theorie und Sprache.

Die Entwicklung des fortgeschrittenen Kapitalismus

Hat sich der fortgeschrittene Kapitalismus in eine sozialistische Richtung entwickelt? Ja, aber mit Einschränkungen. Eine Vergesellschaftung der Produktivkräfte hat tatsächlich stattgefunden, aber sie erreichte ihren Höhepunkt in der Zwischenkriegszeit und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Londoner Verkehrsmittel wurden 1933 in Gemeineigentum überführt, die Pariser im Jahr 1938. Die Weimarer Republik verstaatlichte die deutschen Eisenbahnen, die deutschen Besatzer die französischen Eisenbahnen (nach der Befreiung von den Franzosen ratifiziert). Die britischen Eisenbahnen wurden 1947 verstaatlicht (vgl. Bloch 1964). In die Zwischenkriegszeit fällt auch der Höhepunkt der Bildung von Trusts und Kartellen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich, jetzt im internationalen Maßstab, die Konkurrenz wieder geltend gemacht. Multinationale private Kapitalgesellschaften konnten der öffentlichen Kontrolle entwachsen und international integrierte private Produktionseinheiten einrichten. Auf die Vergesellschaftung der Eisenbahnen folgte die enorme Ausbreitung des privaten Autoverkehrs. In der Nachkriegsentwicklung waren die privatkapitalistischen Produktionsverhältnisse wieder günstig für die Entwicklung der Produktivkräfte.
In derselben Zeit haben sich zwei von Marx und Engels nicht vorhergesehene Tendenzen zur Vergesellschaftung durchgesetzt. Einmal die öffentliche makroökonomische Steuerung, wie sie zuerst in den dreißiger Jahren von den schwedischen und norwegischen Sozialdemokraten und, erfolgreicher, von den deutschen Nazis unter Hjalmar Schacht eingeführt wurde. Mit den späten sechziger Jahren war die staatliche Steuerung der entwickelten kapitalistischen Ökonomien überall akzeptiert.
Die zweite Tendenz war die Vergesellschaftung der Reproduktion: ein Teil des Grundeinkommens, Gesundheit und Sozialfürsorge, Erziehung.
Zwischen einem und zwei Dritteln des Bruttosozialprodukts der entwickelten kapitalistischen Länder geht heute durch die öffentlichen Haushalte. In den meisten Ländern, auch in den USA, ist das Einkommen aus öffentlicher Beschäftigung und aus öffentlichen Sozialleistungen höher als aus privaten Vermögen und Unternehmen (vgl. Therborn 1984). Diese Entwicklung fällt vor allem in die siebziger Jahre. In diesem Jahrzehnt sind die öffentlichen Ausgaben in Dänemark, Italien, den Niederlanden und der Schweiz stärker gewachsen als in der ganzen Periode zwischen 1913 und 1960 (vgl. Therborn/Roebroek 1984).
Organisation und Mobilisierung der Arbeiterklasse erreichte um 1980 einen Höhepunkt, gemessen in Organisationsgraden der Gewerkschaften, Wählerstimmen der Arbeiterparteien und, weniger stetig, Parteimitgliedschaft (vgl. Therborn 1984 und Therborn 1980). Die Arbeit hat in den siebziger Jahren ihre Position gegenüber dem Kapital in der Produktion und am Arbeitsplatz stärken können (vgl. Therborn 1984).
Die klassische marxistische Voraussage war also nicht bloß eine Utopie des 19. Jahrhunderts. Sie sollte auch heute von akademischen Marxisten nicht als veralteter Ausdruck von »Ökonomismus« und »Klassenreduk-tionismus« angesehen werden. Ihres eschatologischen Gewands entkleidet, hat sie sich als beeindruckend genaue Vorhersage von Tendenzen des 20. Jahrhunderts erwiesen — wenn auch nicht ohne ironische Wendungen.

Auf der Suche nach den Vorzügen des Sozialismus

Bei allen Kontroversen über die sozialistischen oder sozialistisch orientierten Revolutionen, ist eines ziemlich sicher: die Stabilität und historische Irreversibilität des Kerns der nachrevolutionären Gesellschaften. Die Vergesellschaftung der wichtigsten Produktionsmittel, außerhalb der Landwirtschaft, wurde in den Aufständen in Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968 und Polen 1980 und davor nicht angetastet. Eine nachkapitalistische Produktionsweise ist zu einem stabilen Merkmal des Lebens von etwa einem Drittel der Erdbevölkerung geworden. Wie aber, wenn überhaupt, kann man davon sprechen, daß dieses Drittel die Avantgarde der Menschheitsentwicklung darstellt?
Es ist wirklich schwer, Vorzüge des real existierenden Sozialismus zu finden. Von ihrer politischen Organisation her sind alle bestehenden sozialistischen Staaten offensichtlich autoritärer und für öffentliche Nachprüfung und Kontrolle weniger zugänglich als irgendein entwickelter kapitalistischer Staat, auch wenn das nicht zusammenpaßt mit dem blutigen Staatsterror vieler halbentwickelter kapitalistischer Länder wie Chile, und bis vor kurzem Argentinien und Uruguay, ganz zu schweigen von den Mafiaregimes in El Salvador und Guatemala. Nicaragua ist heute eines der demokratischsten Länder der Dritten Welt, seine Pressezensur hält die demokratischen Standards aber immer noch unter denen des Zentrums der kapitalistischen Welt.
Die sowjetische Planungsmethode übt in der heutigen Krise keine Anziehungskraft auf die Linke aus, im Gegensatz zu den dreißiger Jahren, wo die sowjetischen Fünfjahrpläne das Interesse, häufig die Bewunderung breiter sozialdemokratischer, linksliberaler und sogar faschistischer Kreise erweckte (zur Analyse der sozialistischen Wirtschaften vgl. Nove 1983). Soziale Sicherheit ist in den sozialistischen Ländern eher weniger großzügig und breit angelegt als in den westeuropäischen Ländern, wenngleich besser als in den USA und in Japan (vgl. Social Security 1984). Die offenbar quasi-institutionalisierte Praxis von »Trinkgeldern« für gute ärztliche Behandlung in Ländern wie Ungarn und Tschechoslowakei verweist auf ein Gesundheitssystem, das der kapitalistischen Medizin in den USA ähnlicher ist als den westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten.
In vier Bereichen jedoch kann ein beeindruckender Fortschritt beobachtet werden. Ein Bereich betrifft die Grundlagen des menschlichen Lebens. Bei Kindersterblichkeit und Lebenserwartung sowie Alphabetisierung stehen die sozialistischen Länder, bei vergleichbarem Niveau allgemeinen Reichtums, besser da als die kapitalistischen. Die Kindersterblichkeit lag in der DDR Mitte der siebziger Jahre unter der in der Bundesrepublik (vgl. Weltbank). Der zweite Bereich trifft ein grundlegendes Interesse der Arbeiterklasse: Vollbeschäftigung. In einer Zeit, in der es — Ende 1984 — in den OECD-Ländern über 31 Millionen registrierte Arbeitslose gibt, ist Vollbeschäftigung keine kleine Errungenschaft (OECD, Economic Outlook No. 36, Paris 1984, 51). Es ist aber hinzuzufügen, daß Japan und die vier kleinen kapitalistischen Länder Österreich, Norwegen, Schweden und die Schweiz die Vollbeschäftigung in der Krise mehr oder weniger halten konnten. Dauernde Vollbeschäftigung stärkt natürlich die Position der Arbeiter gegenüber den Unternehmern und die Arbeiter in den sozialistischen Ländern scheinen bedeutend mehr Autonomie am Arbeitsplatz zu haben als die Arbeiter im Kapitalismus — häufig auf Kosten der Produktivität und des Dienstes am Kunden. Eine entwickeltere Form der Arbeitsplatzautonomie stellt das jugoslawische Selbstverwaltungssystem dar. Es kann als drittes Moment des Fortschritts im Sozialismus betrachtet werden. Freilich ist es auf der grundlegenden, ökonomischen Ebene durch das Fehlen von Vollbeschäftigung eingeschränkt; institutionell ist die Selbstverwaltung aber die fortschrittlichste nachrevolutionäre Errungenschaft, die auch in den entwickeltsten kapitalistischen Ländern nicht ihresgleichen kennt.
Schließlich hatten die revolutionär-sozialistischen Kräfte und die sozialistischen Staaten große Erfolge bei der Kriegsführung. Hier liegt der bemerkenswerteste Erfolg leninistischer Organisation, was sich zuerst im Krieg gegen die russischen und ausländischen konterrevolutionären Armeen 1918-21 erwies. Später wurde diese Form der revolutionären Organisation auch auf langwierige Kriegsführung in China und Vietnam erfolgreich angewandt. Nur auf dem Gebiet der Militärtechnologie ist die Sowjetunion den USA prinzipiell ebenbürtig. Das mag in einem bipolaren internationalen Staatensystem eine Notwendigkeit sein, aber, um es milde zu sagen, die Isolation der militärtechnologischen Errungenschaften vom Rest der Wirtschaft weckt Zweifel, ob der reale Sozialismus eine Richtung des menschlichen Fortschritts einschlagen kann.
Die relativ mageren Ergebnisse der Suche nach Vorzügen des Sozialismus schließen die Möglichkeit nicht aus, daß irgendwo eine neue sozialistische Richtung von den Entwicklungen in den nachrevolutionären Gesellschaften inspiriert wird — in der Vergangenheit entstammten diese Inspirationen nie größerem Reichtum oder überlegener Technologie. Diese Reflexionen bedeuten aber wohl, daß sozialökonomische Tendenzen in Richtung einer Überwindung des Kapitalismus, zumindest in naher Zukunft, im entwickelten Kapitalismus selbst zu suchen sind. Auch wenn noch einige Länder der Dritten Welt den »sozialistischen Weg« nehmen sollten, ist es doch unwahrscheinlich, daß dadurch die Vitalität des Kapitalismus in seinen Kernbereichen stärker berührt wird.

Die Raubritter kommen grinsend wieder

Im Jahr 1984 erreichte das Wirtschaftswachstum in den USA mit 6,75 Prozent die höchste Rate seit dem Koreaboom von 1951. In das denkwürdige Jahr 1984 fällt auch die erste große Umkehrung der Tendenz zur Vergesellschaftung der Produktivkräfte. Die neuen Kommunikationstechnologien machen die Reprivatisierung der Telekommunikation möglich. Für große Kapitalgesellschaften ist es technologisch und ökonomisch möglich geworden, ihre eigenen Telekommunikationsnetze einzurichten. 1984 wurde das öffentlich regulierte private Telephon-Monopol in den USA in konkurrierende Einheiten aufgebrochen (vgl. Financial Times v. 14.1. 1985, Teil III). — Eine weitere wichtige Seite der kapitalistischen Entwicklung ist die Branchenverschiebung der Beschäftigung. Die OECD-Länder haben 1969 ihren Höhepunkt der Beschäftigung in Industrie, Bau und Bergbau — den Kernbereichen der Organisationen der Arbeiterbewegung — überschritten (vgl. OECD, 34). Ein Blick auf die Beschäftigungsstruktur Kaliforniens, der Speerspitze des entwickelten Kapitalismus: Im Jahr 1981 waren etwa 30 Prozent der nicht in der Landwirtschaft Beschäftigten in Industrie, Bau, Transport und öffentlichen Einrichtungen tätig. Fast ebenso viel, 29 Prozent, entfielen auf private Dienstleistungen, Banken, Versicherungen und Immobiliengeschäft, 24 Prozent auf Handel und Reparaturen, 17,5 Prozent auf den Staat (Statistical Abstract, 395).
Die Tendenz zur Vergesellschaftung der Produktivkräfte ist gebrochen, der Konkurrenzkapitalismus hat sich wieder durchgesetzt. Als sich die moderne Arbeiterbewegung in Europa herausbildete, nahm der amerikanische Kapitalismus eine spektakuläre Wende im Nachbürgerkriegsboom von Eisenbahnen, Stahl, Öl. Die rücksichtslosen Industriemagnaten an der Spitze dieser Entwicklung, die Carnegies, Vanderbilts, Harrimans und Rockefellers wurden als die Raubritter bekannt. Eine irgendwie ähnliche Brut von Milliardären und Spekulanten steigt jetzt in den USA auf. Sie setzen auf Immobilien und Geldmarktspekulationen ebenso wie auf Computertechnologie und Hamburger (vgl. Business Week v. 21.1.1985, 58ff.). Sie sind natürlich auch wieder anders als ihre Großeltern. Mitunter gibt es bemerkenswerte Verbindungen zur Jugendkultur der sechziger Jahre, die ja auch ihre wichtigen kommerziellen Seiten hatte: die jungen Unternehmer der Rock- und Modeindustrie und seitdem die enorme Ankurbelung des Geschäfts in Sport und Unterhaltung. In ihrer individualistischen Rücksichtslosigkeit jedoch, ihrem anti-sozialen Einschlag — in Kampagnen für Steuersenkungen von Kalifornien bis Massachusetts —, nachträglich versüßt durch privaten Philantropismus, kann diese junge Generation von Arbeiterfeinden ihren Vorläufern durchaus das Wasser reichen.
Die erneute Entfesselung des amerikanischen Kapitalismus bedeutet, daß die Reichen reicher und die Armen ärmer — und zahlreicher — werden. Das private Gesundheitssystem ist sehr teuer und ineffizient. Im Jahr 1980 lebten 13 Prozent der amerikanischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, 1983 waren es schon 15 Prozent. Etwa die Hälfte aller schwarzen Kinder wachsen im reichsten Land der Welt in Armut auf. Das Realeinkommen (nach Steuern) wuchs zwischen 1980 und 1984 für das oberste Fünftel der Bevölkerung um 9 Prozent, für das ärmste Fünftel fiel es um 8 Prozent (Economist v. 13.10.1984, 42). Die Privatisierung der Telekommunikation zeigt nicht nur die Muskeln der großen Unternehmen, sondern führt auch zu weniger und teureren Leistungen sowie zu höheren Anschlußgebühren (Business Week v. 3.12.1984, 62).
Die erste Kampffront, die die neuen Raubritter eröffnet haben, betrifft die demokratischen Rechte — hier folgen sie genau ihren Vorvätern: das Recht, etwas gegen seinen Boss zu sagen, das Assoziationsrecht. »Praktisch alle« neuen Industriemagnaten sind antigewerkschaftlich, wie Business Week ehrlich zugibt. Wie die Rockefellers und die Carnegies bieten sie Ersatz für demokratische Rechte, diesmal weniger Wohnungen und Sozialversicherung als symbolische Gleichheit (wie Duzen und gemeinsame Kantinen), Prämien und Kapitalanteile.
Der Klassenkampf spielt sich nicht nur zwischen gegebenen Klassen ab. Es ist auch ein Kampf um die Grenzbestimmungen der Klassen. Im Präsidentschaftswahlkampf von 1984 konnte die Unterstützung der Gewerkschaften für Walter Mondale erfolgreich als Beziehung zu Sonderinteressen, statt als Unterstützung durch die Arbeiterklasse, dargestellt werden (vgl. zu dieser Art Kampf Przeworski 1977). Bis heute ist jedoch keiner der wichtigeren Gewerkschaftsführer fähig, die neue Generation von Beschäftigten im Dienstleistungs- und High Tech-Bereich so anzusprechen, wie der vielleicht letzte Repräsentant der traditionellen Gewerkschaftsführer, Arthur Scargjll, bei einem Großteil der traditionellen britischen Arbeiterklasse ankommt. Während der erneuerte Kapitalismus neue Technologien und neue Stile autoritärer Führung entwickelt, die Errungenschaften der Arbeiterbewegung unterhöhlen, glänzt dieselbe an diesen Fronten durch Abwesenheit und setzt sich statt dessen für den Wohlfahrtsstaat ein. Das heißt, sich auf eine Nebenfront konzentrieren. Wohl sind einige, für die Opfer sehr schmerzhafte, Kürzungen vorgenommen worden; aber Reagan wie Thatcher haben in Wirklichkeit den größten Teil des Wohlfahrtsstaats intakt gelassen; ja, sie waren sogar gezwungen, ihn auszudehnen. Grundlegende Verpflichtungen der sozialen Sicherheit können nicht mehr mit demokratischen Mitteln verletzt werden, wenn zwischen einem guten Drittel und mehr als der Hälfte der Wähler in den entwickelten kapitalistischen Ländern als Staatsangestellte oder Leistungsbezieher ihr Grundeinkommen vom Staat beziehen (vgl. Therborn 1984, 34). Die Zunahme von Armut und Ungleichheit in den USA unter Reagan und in Großbritannien unter Thatcher beruht hauptsächlich auf einer Politik der Arbeitslosigkeit und der Steuervergünstigungen für die Reichen, nicht auf Kürzungen der Sozialleistungen (vgl. Ruggles/O'Higgings 1984).
Worum es geht, könnte man eine »Brasilianisierung der entwickelten kapitalistischen Welt nennen« (Therborn 1985). Das bedeutet: Marginalisierung des ärmsten Teils der Bevölkerung, Demoralisierung und Passivierung der Mehrheit — weniger als ein Drittel der Wähler genügten, um Thatcher und Reagan wiederzuwählen! — und Bereicherung einer autoritären Minorität, die mit populistischen Aufrufen und Krümeln vom Tisch der Milliardäre regiert wird. Die Linke kann im Kampf gegen diese Brasilianisierung auf dreierlei Reserven zurückgreifen: Einmal die beste Tradition der Arbeiterbewegung als Beschützerin von Allgemeininteressen über korporative Interessen hinaus. Das ist in denjenigen Ländern weithin in Vergessenheit geraten, wo die Arbeiterbewegung schwach ist und zur Nachhut wurde, die nur noch Teilinteressen verteidigt. Diese Tradition hat ihre feste ökonomische Basis in der Polarisierung von Arbeit und Kapital, wodurch die alten Mittelklassen ausgedünnt sind. Zweitens die Entwicklung und demokratische Unumkehrbarkeit des Wohlfahrtsstaats mit seiner öffentlichen Beschäftigung und seiner Orientierung auf Fürsorge und Bildung und — in der fortschrittlichen Sozialarbeit — auf individuelle Entwicklung. Diese Ressource sozialistischer Politik war vom klassischen Marxismus nicht vorgesehen. Die dritte, ideologische Ressource besteht im moralischen Engagement gegen Armut, Marginalisierung und Ausbeutung. Der aufgeklärte Liberalismus und Konservatismus hatte immer einen solchen Einschlag und in letzter Zeit hat diese Richtung in vielen Kirchen eine institutionelle Basis bekommen, seit diese ihre Rolle als Stützpfeiler der bestehenden Ordnung verloren haben. Diese Kraft kann man nicht nur in den Basisgemeinden in Brasilien beobachten, auch in der anglikanischen Kirche in England und in der katholischen Kirche in den USA. Die zunehmende ideologische Instabilität des entwickelten Kapitalismus schadet nicht nur der klassischen Arbeiterklassenloyalität, sondern auch bürgerlichen Loyalitäten.
Gleichwohl werden die neuen Raubritter in den kommenden sozialen Machtkämpfen in der Offensive sein. Die Frage ist, ob die Kräfte der Demokratie und der Solidarität erkennen, daß der Hauptangriff den Positionen der siebziger Jahre gilt, oder ob sie ihre Truppen im Hinterhof konzentrieren und auf dem Nebenschauplatz des Anti-Wohlfahrtsstaatsgetöses kämpfen, während die grundlegenden Klassengrenzen kräftig nachgezogen werden und die Margmalisierten im Takt der elektronischen Äquivalente des Samba singen.

Das Scheppern gebrochener Fanfaren

Das Ende des Vietnamkriegs bedeutete für viele Freunde eine Desillusionierung, als sie bemerkten, daß die Vietnamesen im Kriegmachen viel besser waren als im Friedenmachen. Die Maoisten fielen in Verwirrung, als die »Viererbande« fiel. Die von Solschenizyn propagierte religiöse Reaktion hatte an den, ansonsten säkularisierten, Ufern der Seine enormen Einfluß — ebenso wie der grausame Widerstand der anti-femininen, islamisch-fundamentalistischen Stammeshäuptlinge in Afghanistan. Die Fanfaren des Sozialismus sind nicht nur gestopft, sondern zum Teil auch zerbrochen. Der Aufstieg des ökologischen Paradigmas hat die marxistische antikapitalistische Ideologie herausgefordert. Statt der Vergesellschaftung der Produktivkräfte wurde nun die ethische Notwendigkeit der Produktion in kleinen Einheiten vertreten. An die Stelle der Arbeiterklasse, der Arbeiterbewegung und des Klassenkampfes traten die »neuen sozialen Bewegungen«. In Gorz' Abschied vom Proletariat und in der gefeierten »Nicht-Klasse der Nicht-Arbeiter« nahm diese neue Ideologie ihre gröbste Form an.
Bei einer historisch-politischen Lektüre der Abhandlungen von Gorz und anderen dieser Richtung bekommt man einen ähnlichen Eindruck wie bei der chinesischen Polemik gegen die Sowjetunion und die italienische, jugoslawische und andere kommunistische Parteien in den sechziger Jahren. Eine Reihe von Schwächen der klassischen Arbeiterbewegung wird verspottet, eine attraktive Utopie wird angeboten, aber inzwischen werden die bestehenden antikapitalistischen Kräfte angegriffen und diskreditiert. Nach einiger Zeit stellt sich die Utopie als unrealistisch heraus, was aber bleibt, ist der Angriff auf die bestehenden nicht-kapitalistischen Kräfte. Die Wege ins Paradies werden nicht von den neuen Raubrittern des amerikanischen Kapitalismus eröffnet werden, aber die Angriffe auf Vollbeschäftigungspolitik und auf die Arbeiterbewegung könnten dieselbe Wirkung haben wie damals die Angriffe auf den revisionistischen Charakter der UdSSR und der KPen, dann auf ihren sozialfaschistischen und sozialimperialistischen Charakter: Diskreditierung jeglicher Art von Sozialismus, Verherrlichung des Konkurrenzkapitalismus und der internationalen Reaktion. Die Angriffe vieler Ökologen auf den klassischen Sozialismus und auf sozialistische Bestrebungen wie Gewerkschaften, Vollbeschäftigung und Wohlfahrtsstaat könnten ähnliche ungewollte und unerwartete Wirkungen hervorbringen wie der Revolutionarismus der Bewunderer der Kulturrevolution. Der Klang zerbrochener Fanfaren wird auch das begierigste Ohr beleidigen.

Kräfte und Themen sozialistischen Widerstands

Jede vernünftige Sozialistin, jeder Sozialist muß Einsatz für Demokratie, Gleichheit und Solidarität mit einer Dosis Skepsis und Vorbereitung auf Niederlagen verbinden. Die Post gibt nicht mehr den Maßstab für die Gesellschaftsgeschichte ab, wie es zu Zeiten Marx' und Lenins gewesen zu sein scheint. Die Universalität der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung, was Interessenperspektive, Umfang und Homogenität anlangt, wird herausgefordert und unterhöhlt durch die Macht von High Tech, Spekulation und Schnelldienst-Kapitalismus, begleitet vom relativen Niedergang der sozio-ökonomischen Zentralität der klassischen Branchen des Industriekapitalismus, in denen — von Bergbau und Stahl über die Eisenbahn bis zur Automobilindustrie — die klassische Arbeiterbewegung fest verankert war. Diese wird aber mit ihren Perspektiven auch von neueren und bisher modischeren antikapitalistischen Kräften herausgefordert und zersetzt, für die alle Probleme der Arbeit, von Arbeitsbeziehungen und Beschäftigung obsolet werden (vgl. Offe 1983).
Trotz der Herausforderungen hat die Arbeiterbewegung, langfristig betrachtet, ein hohes Niveau von gesellschaftlichem Einfluß und elastischer Stärke, das sich in den Verhältnissen am Arbeitsplatz, in Positionen der Gewerkschaften und in Wählerstimmen zeigt. In dieser Hinsicht ist die Arbeiterbewegung heute stärker als vor dreißig, fünfzig, siebzig oder hundert Jahren. Was sie an innerem Glauben, an ghettoisierter Tiefe und Vertrautheit verloren hat, ist durch Einheit, Einfluß und Kompetenz reichlich ausgeglichen worden. Voraussagen eines unausweichlichen Niedergangs der Arbeiterbewegung kann man nicht ernst nehmen. Starke, klassenorientierte Gewerkschaften wie die schwedischen haben auch den Dienstleistungsbereich erfolgreich gewerkschaftlich organisiert. Die Arbeiterbewegung wird weiterhin eine zentrale Rolle in den sozialen und politischen Konflikten des Kapitalismus spielen.
Die Politik wird im postindustriellen entwickelten Kapitalismus sehr viel unberechenbarer. Neue soziale Bewegungen kommen und gehen. Einige sind offen reaktionär wie die Anti-Abtreibungs-Bewegung in den USA, die katholische Bewegung für »freie« Schulen in Frankreich, Bewegungen für Steuerkürzungen und ausländerfeindliche Bewegungen. Man kann nicht ausschließen, daß eine kommerzielle, rechte Jugendkulturbewegung Furore macht, die Rock (oder andere Musik) gegen Kommunismus, Sozialismus und Gewerkschaften propagiert. Andere Bewegungen sind überwiegend fortschrittlich, aber mehrdeutig, wie Frauen- und Ökologiebewegung. Mit einem selbstbewußten kapitalistischen Feminismus, der die Managerin und Unternehmerin zur Heldin macht, muß man rechnen, zumindest als Konkurrenz zum bestehenden sozialistischen Feminismus. Eine entschieden kapitalistische Ökologiebewegung kann man sich schwerer vorstellen, aber gewisse Bündnisse zwischen Ökologen und High Tech-Kapitalisten sowie kulturkonservativen Bürgern sollten uns nicht überraschen. Wegen der Feminisierung der Arbeit und der Gegnerschaft der Ökologen zur Naturbedrohung und zu den unverschämten Lebensstilen der neuen Kapitalisten werden wohl Frauen- wie Ökologiebewegung überwiegend antikapitalistisch bleiben. Ihre Bedeutung wird wahrscheinlich zunehmen. Ihre Einheit oder Parallelität mit der klassischen Arbeiterbewegung ist, um es vorsichtig zu sagen, problematisch. Andererseits erweitert die Veränderung der Geschlechterzusammensetzung der Arbeiterklasse die Möglichkeit für ein Zusammengehen eines Großteils der Frauenbewegung und der Arbeiterbewegung.
Einige neue Bewegungen sind eindeutig progressiv. Die Friedensbewegung der achtziger Jahre ist zwar nicht so hochgeputscht wie der durch Olympiazirkus und Inseleroberungen in der Karibik und im Südatlantik angeheizte Chauvinismus, drückt aber wohl ein dauerhafteres Bedürfnis aus. Der real existierende Sozialismus ist kein Hafen des Pazifismus. Gleichwohl ist die Friedensbewegung nicht nur fortschrittlich, sondern auch antikapitalistisch. Gegen sie sind alle Kräfte der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Rechten, für sie alle Kräfte der Linken und die meisten der linken Mitte — die französischen Sozialdemokraten, Helmut Schmidt und die äußerste Rechte der Labour Party ausgenommen. Schließlich taucht eine alte Kraft auf der gesellschaftlichen und politischen Bühne auf: die Religion. Die Implikationen sind mehrdeutig, Das Wiedererwachen des protestantischen Fundamentalismus in den USA ist überwiegend reaktionär; die, jetzt wieder zurückgehende, Mode von orientalischen Religionen bei den Freaks hat die Linke eines Teils ihrer Basis in der Jugendkultur beraubt. Andererseits war die Haupttendenz der alten Kirchen in der letzten Zeit überwiegend fortschrittlich. Die Säkularisierung hat nicht nur den Zugriff des Klerus auf die Bevölkerung gelöst. Sie hat auch die Verbindung der Kirchen zur weltlichen Macht und zum Ruhm von Staat und Kapital gelockert.
Diejenigen täuschen sich, die für ein kapitalistisches Rollback kämpfen. Der Wohlfahrtsstaat kann nicht zerstört werden ohne eine Lösung Friedman + Pinochet — und die Pinochets tun sich in den entwickelten kapitalistischen Ländern schwer mit der Unterstützung. Die Arbeiterbewegung mag geschwächt werden, verschwinden wird sie nicht. Das breite linke Bündnis von 1968 — objektiv von den Studenten und Arbeitern in Paris bis zum Weltkirchenrat in Uppsala — ist bereits zerbrochen. Andererseits werden die Reserven, die jüngst in die Schlacht gegen die Herrschaft von Kapital und Reichtum ausgerückt sind — Feminismus, Ökologiebewegung und die alten Kirchen — gegenüber den Sirenen aus Südkalifornien taub bleiben, sie werden jedoch die leisen Untertöne der Chicanos von den Farmen, der schwarzen Hausmädchen, der Ärmsten mitten im Reichtum und der Arbeitslosen aufmerksam verfolgen.
Für ein Zusammengehen von Arbeiterbewegung und neuen Bewegungen im entwickelten Kapitalismus gibt es vier Grundbedingungen. Auf der Seite der neuen Bewegungen muß die Vollbeschäftigung als Recht zur vollen Beteiligung am wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft akzeptiert werden. Von der Glorifizierung der Aussteiger sollte man Abschied nehmen — unabhängig von der Befürwortung und Tolerierung alternativer Lebensweisen. Massenarbeitslosigkeit ist kein Schicksal des entwickelten Kapitalismus, sondern eine Option einiger Kapitalvertreter, denen es eigentlich um etwas anderes geht. Hier kann man von den fünf Ländern mit niedriger Arbeitslosigkeit — Österreich, Japan, Norwegen, Schweden und die Schweiz — etwas lernen. Zweitens müssen sich die männlichen Funktionäre der Arbeiterbewegung an die Feminisierung der Arbeiterklasse gewöhnen. Wenn die Arbeiterbewegung mehr sein will als ein paar Buden im Hinterhof, dann wird sie wohl oder übel feministisch werden müssen. Der Brötchenverdiener steigt aus.
Der Wohlfahrtsstaat als öffentliche Verantwortung für soziale Sicherheit, Verhinderung von Armut, Sozial- und Gesundheitsvorsorge, muß von allen fortschrittlichen Bewegungen verteidigt werden. Die Angestellten des Wohlfahrtsstaats sollten eine neue Konzeption von öffentlicher Fürsorge und öffentlichen Dienstleistungen entwickeln: solidarisch, engagiert und partizipatorisch — im Gegensatz zu den Behelfslösungen der Jahre phänomenalen Wachstums. Solche Initiativen entwickeln sich bereits, das beste Beispiel ist wohl das Programm von »Kommunal«, der schwedischen Gewerkschaft der kommunalen Beschäftigten. An den Problemen eines verkümmerten Wohlfahrtsstaats, an verslumenden englischen und amerikanischen Städten und der rasant zunehmenden Armut in diesen Ländern kann niemand vorbeisehen. Wer in Europa die Fülle von spezialisierten Sozialversicherungsschemata, Gesundheits- und Sozialfürsorgeinstitutionen sowie ihre häufig korporatistische Verwaltung als »bürokratischen Etatismus« angreift, dem sollte man mit all dem Respekt begegnen, den ideologisch engagierte Ignoranz verdient. Viertens darf die Umwelt nicht weiter von denen ignoriert werden, die ihren Risiken am meisten ausgesetzt sind. Das sind nämlich die Produzenten und Bewohner der Schornsteinindustriezentren des Kapitalismus. Die Arbeiter brauchen die puritanische Option der Ökologen nicht zu übernehmen, wo sie doch ohnehin schon weniger Konsumenten sind als die meisten. Aber sie müssen das Umweltproblem ernst nehmen. In der Perspektive der Arbeiter kann dieses Problem als Verlängerung und Erweiterung einer zentralen Forderung der klassischen Arbeiterbewegung gesehen werden: Arbeitssicherheit oder, wie es besser auf Deutsch oder Schwedisch heißt, Arbeitsschutz.

Für die universelle Chance, nach Glück zu streben

Man muß die puritanische Tendenz in der Ökologiebewegung und in der linken Tradition allgemein bekämpfen und letztlich aufgeben. Auch wenn sie oft etwas moralisch Beeindruckendes hat — sie hat auch häufig einen häßlichen, autoritären Geruch. Die Erfahrungen der nachrevolutionären Gesellschaften haben gezeigt, daß Einschränkungen der Konsumtion für breite Kreise der Bevölkerung und Ignoranz bzw. Drosselung der Konsumtechnologie nur mit repressiven Methoden aufrechterhalten werden können. Diese wiederum werden ständig durch Schwarzmärkte, Kriminalität und Fluchtversuche in reichere Konsumländer umgangen. Zweitens hat der Puritanismus eine starke Neigung, sich zum Alltagsleben — mitunter zum Leben überhaupt — instrumentalistisch zu verhalten, als müsse es für ein höheres Ziel eingespannt und diszipliniert werden. Ursprünglich war es das Reich Gottes, später wurde es die Republik der Revolution und jetzt die Gesellschaft des Nullwachstums-Gleichgewichts.
Im Vergleich zu der dunklen Strenge der puritanischen Tradition, wie sie so meisterhaft und schrecklich von den harten, bürgerlichen Komitee-Männern im schwarzen Mantel eingefangen wird, die von vielen Malern des niederländischen Goldenen Zeitalters porträtiert wurden, hat Thomas Jeffersons Text der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung immer noch eine Schönheit von Helle und Menschlichkeit: »Folgende Wahrheiten erachten wird als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; daß dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören ...« Diese Rechte sind in der Praxis des Liberalismus, nicht zuletzt in den USA, der Mehrheit der Bevölkerung mehr als einmal vorenthalten worden. Das macht aber die Ziele nicht falsch. Es bedeutet nur, daß der Liberalismus sie nicht verwirklichen kann. Kein politisches Projekt kann den Menschen Glück versprechen. Es gibt im menschlichen Leben eine existenzielle Dimension, die nicht in gesellschaftlichen Arrangements aufgeht. Worum es dem Sozialismus und dem Marxschen Kommunismus geht, kann man so zusammenfassen: das solidarische Interesse und der Kampf für eine Emanzipation des Menschen, die allen Männern und Frauen gleichermaßen Leben, Freiheit und Chancen, nach Glück zu streben, garantiert.
Die Vision des Sozialismus enthält eine kollektive und solidarische Organisation der Weltwirtschaft, die Hunger, Elend und frühen Tod in großen Teilen einer reichen Welt unmöglich macht. Sie bedeutet das Recht zur Teilnahme am wirtschaftlichen Leben für jeden, der das will, anstelle von Marginalisierung und Arbeitslosigkeit. Sie bedeutet Fürsorge bei Krankheit, Gebrechen und Not. Sie bedeutet, Sorge für eine Umwelt zu tragen, in der erst jeder sein Glück suchen kann. Sie sollte bedeuten: Öffentliches Eigentum an den wichtigsten Ressourcen und Produktionsmitteln der Menschheit mit breiten Möglichkeiten für Eigeninitiative einzelner und kleiner Gruppen. Das darf nicht durch Unterdrückung, Ausbeutung und Marginalisierung derjenigen erkauft werden, deren Kreativität nicht wirtschaftlich ist oder die vielleicht überhaupt nicht sehr kreativ sind.[2]

Den Wind im Gesicht

Sozialisten werden den Wind der Geschichte in den nächsten Jahrzehnten kaum im Rücken haben. Aber für viele von uns hat es auch etwas Gutes, den Wind im Gesicht zu haben: eine Frische, die den Kopf aufräumt und die Energien erneuert für die kommenden Kämpfe.

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