Der Zusammenstoß der sozialistischen Idee mit der Realität hat eine ganze Reihe von Kritiken hervorgerufen. Einige davon wollten sicherlich dafür sorgen, daß der Sozialismus nicht zu einer Realität wird, andere dagegen hielten sich an die Hindernisse, die seiner Verwirklichung entgegenstehen. Bei den Angriffen auf den Sozialismus wird ein breites Spektrum von Einwänden vorgebracht, das von der Verneinung oder Einschränkung seines emanzipatorischen Charakters bis zur Zurückweisung seiner Möglichkeit und Realisierbarkeit reicht.
Sein emanzipatorischer Charakter wird unter anderem von all jenen bestritten, die gegenwärtig die Kritik von Bakunin wiederholen und im Marxschen Sozialismus eine Spielart des autoritären oder Staatssozialismus sehen. Sie führen an, daß Marx die Notwendigkeit des Staates in der Phase des Übergangs anerkennt, in der ihrer Ansicht nach das Verschwinden der Staatsmacht das vorrangige und unmittelbare Ziel der Revolution bilden sollte. Lassen wir den absoluten Utopismus solcher Vorstellungen beiseite und betonen auch nicht aufs Neue die Kritik des klassischen Marxismus am Staatssozialismus. Zweifellos gibt es bei Marx eine antistaatliche, libertäre Position, insofern er anerkennt, daß man nicht von völliger Freiheit sprechen kann, solange der Staat existiert. Aus diesem Grunde hat er von Jugend an die Notwendigkeit des Absterbens des politischen Staates als autonomer Sphäre außerhalb und im Gegensatz zur Gesellschaft betont. Und nicht nur das: Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung der Pariser Kommune behauptet er, daß der allmähliche Abbau des Staates mit dem Tag nach der Übernahme der Macht einsetzen müsse. So gibt es einen libertären Marx, der den Staat als »Krebsgeschwür der Gesellschaft« betrachtet, und den es heute gewiß mehr denn je wieder-zuentdecken gilt. Aber das schließt die vorübergehende Notwendigkeit eines wirklichen Staates der Arbeiter nicht aus, der fähig wäre, sich selbst Beschränkungen aufzuerlegen. Bei dem Versuch, dem Sozialismus den emanzipatorischen Charakter abzusprechen, kann man sich also nicht auf die marxsche Haltung zum Staat berufen.
Der emanzipatorische Charakter des Sozialismus wird auch von jenen in Abrede gestellt, die sein historisches Auftauchen als logische, notwendige Folge, sei es einer ihn bestimmenden vorhergehenden Wirklichkeit — des Kapitalismus — oder des Marxschen Denkens selbst betrachten. Manche stützen sich dabei auf die pessimistische Geschichtsphüosophie Max Webers, für den der Kapitalismus unerbittlich zu einem System führt, in dem die schon jetzt bestehende Institutionalisierung, Formalisierung und Bürokratisierung des Lebens einen Höhepunkt erreicht. Der Sozialismus würde eben solch ein System sein. Das Ergebnis des Geschichtsprozesses wird in ein Verhältnis logischer, immanenter und unvermeidlicher Notwendigkeit zur kapitalistischen Wirklichkeit gesetzt, und damit wird die Möglichkeit einer von dieser Realität ausgehenden nicht entfremdeten Gesellschaft ausgeschlossen. Nur wer die Annahmen solch eines bedingungslosen, unerbittlichen Determinismus in der Geschichte akzeptiert, kann ihre Folgerung über den Zusammenhang von Kapitalismus und Sozialismus teilen. Eine Variante dieser Negation des Sozialismus als Möglichkeit der Befreiung setzt den »realen« Sozialismus ebenfalls in eine logische, notwendige, aber in Wahrheit fatale Beziehung zur marxschen Vorstellung des Sozialismus und reduziert sie auf eine Philosophie des »Gulag«. Das ist die Position der französischen »neuen Philosophen«. Wie im ersten Fall präsentieren sie eine geschichtliche Tatsache als unvermeidliches Resultat einer vorangegangenen Wirklichkeit (des Kapitalismus). Wir begegnen hier wiederum einer deterministischen Konzeption, nur diesmal mit absolut idealistischen Vorzeichen: Eine Realität — der »reale« Sozialismus — wird in eine notwendige, unerbittliche Beziehung zu der Idee des Sozialismus gesetzt, von der sich jene logisch ableitet. In beiden Fällen nimmt man an, daß der bestimmende Faktor — die kapitalistische Wirklichkeit oder die marxsche Vorstellung vom Sozialismus — eine einzige Möglichkeit hervorbringt: den bürokratischen Sozialismus bei Weber oder den Sozialismus des »Gulag« bei den »neuen Philosophen«. Diese Annahme ist jedoch unzutreffend. Einerseits nämlich geht eine Realität nur aus einer in einer anderen Realität wurzelnden Möglichkeit hervor, einer Möglichkeit, die weder einmalig ist noch sich zwangsläufig realisiert. Andererseits wissen wir, daß die Ideen allein — einschließlich der sozialistischen — keine Wirklichkeit hervorbringen.
Das emanzipatorische Potential sozialistischen Denkens bestreiten auch jene, die es — wie Rudolf Bahro — mit der »extremistischen Selbtmord-tendenz, die den Prozeß der westlichen Zivilisation beherrscht« (Bahro 1984), in Verbindung bringen. Bahro leistet eine treffende Kritik des »real existierenden Sozialismus« (Bahro 1977) und kommt dann zu dem — nicht so treffenden — Schluß, daß dieses Modell als Garantie für die Industrialisierung der Länder der Dritten Welt weiterhin gültig bleibt. Damit verengt er sein emanzipatorisches Potential auf den Westen, was auch eine deterministische und eurozentristische Konzeption voraussetzt. Dann erweitert er seine Kritik auf das sozialistische Denken selbst. Er tut dies von einem ökologistischen Extremismus aus, dem angeblich ein emanzipatorisches Paradigma entspricht, bei dem der Sozialismus Zuflucht suchen soll. Nun, wenn dieses Paradigma neue Beziehungen zwischen Mensch und Natur voraussetzt (die »Einheit von Mensch und Natur«, von der der junge Marx sprach [Marx 1844]), so ist der Sozialismus nicht nur weit entfernt davon, bei ihm Zuflucht zu suchen, sondern er macht diese neuen Beziehungen erst möglich und notwendig. Gewiß, die westliche bürgerliche Zivilisation ist durch die wachsende Herrschaft des Menschen über die Natur mittels der zunehmenden Entwicklung der Produktivkräfte gekennzeichnet. Aber allein der Sozialismus kann die Kontrolle dieser Herrschaft und somit eine Entwicklung der Produktivkräfte garantieren, die sich nicht gegen die Natur und gegen den Menschen selbst wendet. Die historische Tatsache, daß die Herrschaft des Menschen über die Natur als unbegrenzte Entwicklung der Produktivkräfte eine notwendige Bedingung für die Emanzipation des Bürgertums war, bedeutet keinesfalls, daß der Sozialismus — dessen Ziel die Emanzipation des Menschen ist — sich an das bürgerliche Paradigma der Produktion halten müßte. Nur eine radikale Veränderung der sozialen Verhältnisse, wie sie der Sozialismus verwirklichen will, kann die heute von den Ökologen geforderten gerechten und ausgeglichenen Beziehungen zwischen Mensch und Natur herstellen: Diese Forderung, die Bahro so kategorisch erhebt, hebt die Notwendigkeit des Sozialismus als emanzipatorische Alternative durchaus nicht auf, sondern bestätigt sie vielmehr. Dies erfordert allerdings eine Lösung des sozialistischen Denkens von seinen produktivistischen Bestandteilen, die sicherlich zu seiner Schwächung oder sogar zum Verlust seines emanzipatorischen Potentials beitragen.
Häufig finden wir statt der Zurückweisung des emanzipatorischen Inhalts des Sozialismus, wie bei den bisher erwähnten Positionen, die Leugnung seiner realen Möglichkeit. Dies versucht man zum einen damit zu begründen, daß der Sozialismus keine historische Notwendigkeit sei und insbesondere mit den Widersprüchen des Kapitalismus, die einen Teil dieser historischen Notwendigkeit bilden. Dabei wird von der Voraussetzung ausgegangen, daß der Sozialismus das zwangsläufige Resultat der historischen Dialektik sein müsse, und wenn er das nicht sei, könne er lediglich den Rang einer Utopie einnehmen. Aber verlangt nicht das Denken von Marx die Annahme einer zwangsläufigen, unvermeidlichen Entwicklung der Geschichte zum Sozialismus? Was er vor allem zeigen wollte — und gezeigt hat —, war die reale Möglichkeit oder die mögliche Realisierung des Sozialismus. Er betrachete die vom Kapitalismus geschaffenen notwendigen Bedingungen oder die vorrangige Bedingung der neuen Gesellschaft: die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, nicht als hinreichend.
Der Sozialismus als befreite Gesellschaft bleibt auch in das Reich der Utopie verwiesen, wenn man von der pessimistischen Auffassung Webers ausgeht, die in gewisser Weise auf die Frankfurter Schule übergegangen ist. Diese Auffassung besagt, daß die moderne Geschichte sich nur zum Schlechteren wenden würde (für die Frankfurter Schule als negative Dialektik der instrumenteilen Vernunft). Diese negative Dialektik der Ver-dinglichung der menschlichen Existenz kann logischerweise nicht zu einer nicht-entfremdeten, freien Gesellschaft führen, sondern nur zum Triumph der Bürokratie oder des »realen« Sozialismus. Somit kann der Sozialismus auch nicht in einen Zusammenhang mit den realen Möglichkeiten gebracht werden, die in den Widersprüchen des Kapitalismus wurzeln. Wenn folglich keine rationale, logische Verbindung zwischen Kapitalismus und Sozialismus besteht und man andererseits auf diese befreiende, emanzipatorische Perspektive nicht verzichten will, kann die Lösung nur in einer Utopie gesucht werden. Von daher sind auch die neuen Utopien von Adorno und Habermas zu verstehen.
In der ästhetischen Utopie Adornos verwandelt sich die Kunst in »das fortgeschrittenste Bewußtsein der Widersprüche vor dem Horizont ihrer möglichen Versöhnung« (»Ästhetische Theorie«). Das Kunstwerk erscheint mit seiner Anordnung der Elemente zu einem Ganzen als ein Modell oder Paradigma eines befreiten sozialen Ganzen, in das sich die Elemente (die Individuen) einfügen. Dies ist das Modell der Organisation und Rationalität eines repressionsfreien sozialen Ganzen. Die Kunst beinhaltet und verspricht die Freiheit: »In der Befreiung der Form, wie sie jede wirklich neue Kunst erstrebt, verbirgt sich chiffriert die Befreiung der Gesellschaft.« (Ebd.) Wie kommt man aber von dieser realen Gesellschaft zu dem im Kunstwerk aufgehobenen oder verschlüsselten Horizont? Wie gelangt man vom ästhetischen Modell auf die Ebene der Realität? Fragen ohne Antworten — wie bei jedem Utopismus — in der ästhetischen Utopie Adornos.
Habermas entwickelt eine kommunikative Utopie. Er entwirft das Bild einer zukünftigen emanzipierten Gesellschaft, die auf der Grundlage einer authentischen, unverzerrten Kommunikation zwischen ihren Mitgliedern zu einer neuen Institutionalisierung der Freiheit gelangt. In dieser Gesellschaft würde sich die kommunikative Rationalität und Handlung klar von der instrumenteilen Rationalität und Handlung unterscheiden (übrigens ordnet Habermas unbegründeterweise das marxsche Arbeitskonzept der letzteren zu).
Habermas beansprucht, damit eine Verbindung zwischen dieser neuen Gesellschaft und der negativen Dialektik der modernen Welt, in der die in-strumentelle Rationalisierung regiert, hergestellt zu haben. Die Wurzel des Möglichen — der nicht entfremdeten Gesellschaft — läge in der Struktur der menschlichen Sprache selbst. Dort gebe es die Möglichkeit — durch die Möglichkeit (Option) des vernünftigen Argumentes (bei Habermas heißt es »vernünftige Rede«; d.Übers.) — einer universalen Koordinierung der Handlungen der Individuen, die für eine nicht entfremdete Gesellschaft charakteristisch sei. Diese ideale Gemeinschaft der Zukunft zeichne sich vor allem durch das Vorherrschen der idealen Kommunikation aus, einer Kommunikation ohne verzerrte Diskurse. Wir wollen jetzt nicht auf den idealistischen Charakter der habermasschen Konstruktion eingehen, die das Problem der verzerrten Kommunikation außerhalb der Ausbeutungs- und Herrschaftsbeziehungen, die sie gesellschaftlich unterstützen, ansiedelt. Hinsichtlich der idealen Gesellschaft der Zukunft gibt Habermas auch nicht an, über welche Vermittlung (Wege, Mittel oder Institutionen) die Möglichkeit einer unverzerrten Kommunikation realisiert werden könnte. Ebensowenig führt er aus, wie dies ohne eine radikale Veränderung der ökonomischen und sozialen Struktur vor sich gehen sollte und schließlich auch nicht, auf welche Weise man solch eine ideale Kommunikation in der nicht entfremdeten Gesellschaft der Zukunft aufrechterhalten könnte. Habermas könnte antworten — und es wäre eine gute Antwort —, daß es einem Utopisten ausreicht, das Bild einer Zukunft zu entwerfen, ohne sich um das zu ihrer Realisierung Notwendige in der Gegenwart kümmern zu müssen.