Die Krise und der Gang der Geschichte

Wir verstehen weder die Struktur des Neokapitalismus noch die gegenwärtige Krise sehr gut. Mit Struktur meine ich die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die ökonomischen und politischen Prozesse charakterisieren. Wir wissen, daß es bedeutende Unterschiede gibt zwischen der Struktur des klassischen Kapitalismus und der des Neokapitalismus. Diese Unterschiede verändern das Verhalten der sozialen Akteure grundlegend, ohne daß der wesentliche Inhalt des Systems verschwindet.
Der Neokapitalismus restrukturiert die Arbeiterklasse. Er teilt sie ein in Schichten, Sektoren, Gremien oder Körperschaften. Er spaltet sie hinsichtlich der Größe und Produktivität der Betriebe, hinsichtlich des Rechts auf einen Dauerarbeitsplatz: Stammbelegschaft gegen Gelegenheitsarbeiter. Auf internationaler Ebene und hinsichtlich der Rassen, spaltet er die Arbeiter in koloniale und neokoloniale, nationale und transnationale, in weiße und farbige, in die Arbeiter der Metropolen und die mexikanischen und puertorikanischen Arbeiter; in diejenigen Mexikaner, die spanisch sprechen und Träger der nationalen Kultur sind, und die Indios oder Eingeborenen, in die Arbeiter der Kleinbetriebe im Dorf und die Volkswagenarbeiter.
Diese und viele weitere Spaltungen verändern die Regeln des Kampfes zwischen Unternehmern und Proletariern. Der sozialstaatliche und der repressive Kapitalismus ändern die Bedingungen, nach denen verhandelt oder Repression ausgeübt wird. Diese Spaltungen kombinieren den Neokapitalismus mit dem Neokolonialismus auf dem Weltmarkt. Hier, auf den internationalen Märkten für Arbeit, Waren, Dienstleistungen und Finanzen, dominiert das transnationale Monopolkapital. Die schwächsten Unternehmen leiden unter der Hegemonie der Internationalisierung der Ökonomie und profitieren zugleich von einigen ihrer Vorteile: von den Handelsverträgen mit den Transnationalen; von dem faktischen Recht, aufzukaufen und zu spekulieren, von den hohen Zinsen und von dem freien Devisenhandel. So können viele von Renten leben und ihr Kapital in Länder mit mehr oder weniger stabiler Währung exportieren.
Die großen Unternehmen der Metropolen verkaufen nicht mehr Industrieprodukte und kaufen Rohstoffe wie im klassischen Imperialismus. Sie haben weltweite Ketten industrieller Produktion etabliert, indem sie der Dritten Welt ganze Betriebe verkauft haben, vor allem solche, die eine hohe Arbeitsintensität qualifizierter und unqualifizierter Arbeiter erfordern, von den Maquiladoras [ reine Montagefabriken, d.Übers.] bis zu den Autofabriken. Sie importieren Lohnarbeiter aus der Dritten Welt, um sie im Dienstleistungsbereich und vor allem in der Agroindustrie zu beschäftigen.
Die organisierten Arbeiter in den entwickeltsten kapitalistischen Gesellschaften hatten sich großen Einfluß auf die Entwicklung dieser Gesellschaften erkämpft. Es gab eine doppelte Bewegung: Auf der einen Seite die organisierten Arbeiter mit ihren Forderungen nach besseren Löhnen, besseren Arbeitsbedingungen, Sicherheit der Arbeitsplätze, Sozialversicherung. Ihre Politik ist als »sozialdemokratisch«, »labouristisch« oder »populistisch« bekannt. Auf der anderen Seite entstand eine Bewegung des Kapitals und der klugen Theoretiker des Kapitals, die, angeführt von Keynes, in der Arbeiterbewegung keinen das Kapital bedrohenden, sondern einen stimulierenden Faktor sahen: Durch eine Politik der Staatsintervention könnte die Gesamtnachfrage gesteigert werden. Dies würde gleichzeitig den wichtigsten Forderungen der labouristischen, sozialdemokratischen und populistischen Arbeiter entsprechen.
Die Antwort des Kapitals schuf einen echten »historischen Kompromiß« , der durch zweierlei möglich wurde: die technologische Entwicklung und den Neokolonialismus. Die technologische Entwicklung verbesserte die Lebensqualität und sparte Lohnstückkosten. Die technologische Expansion hatte aber vom Standpunkt der Finanzen, der Politik und des Militärs vor allem strategische Bedeutung für die Entwicklung des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter. Der Neokolonialismus versuchte seinerseits, das koloniale System durch eine neue Kombination von Verhandlung und Repression gegenüber den Befreiungsbewegungen aus Asien, Afrika und Lateinamerika zu konsolidieren. Der Aufbau des Neokolonialismus war nicht auf das Bürgertum und die lokalen Mittelschichten beschränkt: er schloß auch wichtige Sektoren der Arbeiterklasse ein.
Um abhängige regionale Systeme aufzubauen, wurde das, was wir die Makroökonomie der politischen Kontrolle nennen können, durch eine Makropolitik ergänzt. Ein solches abhängiges System ist zum Beispiel das »interamerikanische«, mit Präsidenten, Erziehern, Journalisten in Rundfunk oder Zeitung und Militärs, die für die mittelbare Beherrschung der Länder der Region trainiert wurden. Versuchte die transnationale Ökonomie, die lokalen nationalen Ökonomien unter ihre Hegemonie zu bringen, so versuchte der transnationale Staat, angeführt durch das Imperium, die nationalen Staaten (liberale, sozialdemokratische und populistische) zu beherrschen.
Trotz der internen (nationalen und regionalen) Konflikte, scheinen die sozialistischen Länder, mit der Sowjetunion an der Spitze, die machtvollste Opposition gegen die Entwicklung des transnationalen Kapitalismus zu sein. Aber diese Tatsache wird weder von den Labourparteien und den Sozialdemokraten noch von den nationalen Befreiungsbewegungen erkannt. Die Arbeiterbewegungen, sozialdemokratische und populistische, die den »realen Sozialismus« mehr oder weniger kritisieren oder mit ihm sympathisieren, haben noch keine Politik entwickelt, die zu erkennen gibt, wie sie sich in einem historischen Übergang zum Sozialismus verhalten werden. Wenn auch sehr viele von ihnen sozialistisch oder kommunistisch genannt werden wollen, gibt es noch für kein neokapitalistisches Land historische Erfahrungen mit einem gewaltsamen oder parlamentarischen Weg zum Sozialismus (wenn man unter Sozialismus die Enteignung eines Großteils der Produktionsmittel versteht, ein System, in dem das Profitmotiv nicht mehr der wesentliche Motor der Ökonomie ist).
Bis heute hat man eine Ausdehnung des Sozialismus vor allem in denjenigen Ländern der Dritten Welt erlebt, in denen der Neokolonialismus wie der Neokapitalismus nur eine schwache Herrschaft entfaltet hat. Aber nicht einmal in den Ländern, die auf die Bahn des Neokolonialismus geraten sind, wie Argentinien, Brasilien oder Mexiko, gibt es Erfahrungen oder Klarheit über den Gang gesellschaftlicher Veränderungen. Wenn die Arbeiterorganisationen dieser Länder, die demokratischen und die sozialistischen, auch sehr viel radikaler erscheinen als die europäischen, sind doch die meisten ihrer Aktionen auf die Reproduktion des Systems beschränkt.
Es gibt mindestens drei Theorien über die gegenwärtige Krise, über ihre Gründe und über mögliche Alternativen: die monetaristische, die struktu-ralistische und eine dritte, die aus der ökonomischen Auseinandersetzung resultiert; sie sieht die Möglichkeit einer epochalen Veränderung des Systems und der Zivilisation. Die erste wird vom Weltwährungsfond unterstützt und vom neokonservativen und neoliberalen Denken, das in den hochindustrialisierten Ländern der kapitalistischen Welt herrscht. Diese Erklärung ist eher eine Ideologie als eine Theorie. Sie wird von der Weltbank und vom transnationalen Kapital gefördert und dient dazu, den verschuldeten Ländern Auflagen zu machen, die für die transnationalen Interessen sehr funktional sind, wobei gleichzeitig behauptet werden kann, diese Maßnahmen seien auch im Interesse dieser Länder selbst.
Der Monetarismus profitiert, obwohl er sich als kontrafaktisch erwiesen hat, von der Kampagne gegen die Staatsintervention in die Ökonomie, initiiert vom »organized business« [im Original; d.Übers.] und getragen vom Konservatismus und angelsächsischen Liberalismus. Diese Kampagne hat auch die Zentren des demokratischen und sozialdemokratischen Denkens in Nordamerika, Europa und Japan beeinflußt. Zusätzlich zur großen Attacke des Eurokommunismus und Eurosozialismus gegen jede Form der Staatsintervention und zur antikommunistischen Kampagne gegen die sozialistischen Länder, gab es noch die Widersprüche zwischen Sozialdemokraten, Populisten und Kommunisten. Dies alles hat die ultraliberalistische Ökonomie und Politik der Weltbank, des Weltwährungsfonds und des GATT verstärkt.
Alle Maßnahmen, die der Monetarismus vorschlägt, sind für das transnationale Kapital wegen dreier Ziele nützlich: Die funktionale Neustruk-turierung und Neuverteilung der Ausbeutungsraten, die Eliminierung oder Kontrolle des Wettbewerbs in der Produktion und auf den Märkten und die direkte oder indirekte Konzentration des transnationalen Kapitals und der ihm angeschlossenen Unternehmen, die von seinen Macht- und Entscheidungszentren abhängig sind.
Die Schuldnerländer akzeptieren die Bedingungen des Weltwährungsfond, um, wie sie meinen, ihre Regierungen und Völker vor einer noch größeren Katastrophe zu bewahren. So bleiben sie in einem Kreislauf eingeschlossen, der die Völker in einen Gegensatz zu ihren Regierungen bringt, und dessen größter Nutznießer das transnationale Kapital ist. Die Regierungen sind indoktriniert von den Ideen der »nationalen Sicherheit«, wonach eine »Konterrevolution« als langdauernder »innerer Kampf« zwischen Gut und Böse herrscht. Die transnationalen Militärs repräsentieren dabei das Gute und verhaften die »kleinen Leute«, während die Vertreter der Völker nur »Illusionisten« sind, »Demagogen« oder »Agenten« einer antiwestlichen, antichristlichen totalitären Gefahr, angeführt von den Kommunisten, den populistischen oder sozialdemokratischen Politikern oder von irgendwelchen anderen Kräften, die den transnationalen Staat in Frage stellen.
Die ökonomische und finanzielle Gegenattacke hält die Technokratie für eine Wahrheit ohne Alternative, sie mißt der Demokratie, als einem Ideal, das von den Transnationalen verteidigt und durch sie erst möglich wird, große Bedeutung bei. Ebenso verknüpft sie die Transnationalen mit den Menschenrechten, mit der Freiheit, mit der Effizienz und bezeichnet alle, die gegen die Transnationalisierung der Ökonomie auftreten, als Feinde dieser Werte. Man sieht also, daß der Monetarismus nur ein Teil eines sehr viel reichhaltigeren ideologischen Korpus ist. Er besteht aus den Theorien des klassischen Liberalismus, den Theorien der Toleranz von Locke, den Theorien von Machiavelli und Hobbes. Er entfacht Aktivitäten, wie man sie aus der Piraterie kennt, gemischt mit einer Politik der Ausrottung der »Rothäute«. Er benutzt das reiche Erbe Roosevelts, die »Diplomatie der Garotte« und des »Dollars« und der »guten Nachbarschaft« und die jüngsten Methoden von Kennedy bis Reagan. Er versucht, eine Politik des Überlebens zu entwickeln, indem er den restrukturierten Neokapitalismus mit dem ebenfalls restrukturierten Neokolonialismus verbindet. Wenn diese Politik siegt, würde sie uns in eine Welt nach dem Muster Südafrikas führen, mit seinen Bantu-Republiken oder nach dem Bild Guatemalas mit seiner bewaffneten Hauptstadt und den Modelldörfern, makabres Echo einer Politik der Reservate, die der nordamerikanische Staat selbst so erfolgreich gegen die Ur-Bevölkerung praktizierte. Würde dieser transnationale, liberal-neokonservative, monetaristische Komplex triumphieren, wären die verschiedenen Wege in die Zukunft Wege in die Barbarei. Nicht, weil seine Führer und Ideologen böse sind in dem Sinne, daß sie das Ende oder den Selbstmord wollen, oder weil sie kriminelle Taten begehen wie die Nazis, sondern weil die Krise ein historisches Phänomen von großer Tragweite ergriffen hat: den Markt.
Auf die Schwäche der sozialdemokratischen und labouristischen Antworten auf die Krise haben wir schon hingewiesen. Was die Länder mittlerer Industrialisierung angeht (Argentinien, Brasilien, Mexiko usw.), so haben die partiellen Siege von Sozialdemokraten oder Populisten einen bremsenden Effekt auf die revolutionären Bewegungen gehabt. Weder reformistische noch revolutionäre Politik kann offenbar in diesen Ländern als Alternative fungieren. Die Arbeiterorganisationen sind vor allem darauf aus, den historischen Kompromiß mit der Bourgeoisie aus den dreißiger Jahren zu erhalten oder, wo er durch rechte Diktaturen zerstört wurde, wiederherzustellen.
Gleichzeitig erleben die sozialistischen Länder alle möglichen Formen von Krisen, jedoch ihr Gewicht in der gegenwärtigen Welt wiegt viel schwerer als in der Vergangenheit. Ihre ökonomische Krise ist schwächer    als die der kapitalistischen Länder, selbst bei den Ländern, die mehr Verbindungen zum kapitalistischen Markt haben. Sie sind zudem das einzige    ^
historische Zentrum, das imstande wäre, autonome Unabhängigkeitsbe-    wegungen, Demokratie und soziale Gerechtigkeit, die andere Völker in Gang setzen, zu unterstützen. Es gibt heute drei Krisen der sozialistischen    Länder: Den Bruch zwischen der UdSSR und China, den Bruch des traditionellen proletarischen Internationalismus, angeführt von den kommunistischen Parteien und die Unfähigkeit der sozialistischen Länder, ihre eigenen Widersprüche und ihre eigene Dialektik zu analysieren. Die Krise des Neokolonialismus repräsentiert eine dritte Etappe des Kampfes gegen den Kolonialismus und entspricht einer neuen historischen Phase der Akkumulation. Die erste Etappe entsteht mit den revolutionären Bewegungen, die im 19. Jahrhundert für politische Unabhängigkeit kämpften (gegen Spanien und Portugal). Die zweite Etappe beginnt mit den Bewegungen, die die politische durch ökonomische Unabhängigkeit vervollständigen wollen und die eine soziale Revolution anstreben. Sie werden geführt von Bündnissen zwischen Mittelklassen, Kleinbürgertum und mittlerer Bourgeoisie. Diese zweite Etappe geht in Lateinamerika von der mexikanischen (1910-1917) bis zur guatemaltekischen Revolution (1945-1955). Zu dieser Etappe gehören auch die populistischen Bewegungen in Südamerika, die Welle der Unabhängigkeitsbewegungen in Afrika, im Vorderen Orient, in Asien und in Indonesien, von Indien bis Ägypten und Ghana, um nur einige Beispiele zu nennen. Die dritte Etappe ähnelt tendenziell den revolutionären Befreiungsbewegungen, die von den Kommunisten angeführt wurden, wie in China und in Vietnam. Sie unterscheidet sich jedoch von ihnen, weil ihre Ideologie nicht strikt kommunistisch oder marxistisch-leninistisch ist und weil die Kommunisten oder Marxisten in allen Fällen nur einen Teil der sehr viel breiteren Führung bilden. Sie bilden eine Koalition mit Vertretern verschiedener Ideologien. Aber alle Mitglieder dieser Koalition vertreten die Auffassung, daß man sich mit dem arbeitenden Volk verbünden und auf der Suche nach politischer Hegemonie ein Bündnis eingehen muß, das im Innern die Kleinbesitzer und ihr Eigentum respektiert und sich international auf die demokratischen, nationalen, populistischen und sozialistischen Länder stützt. Sie streben die Vergesellschaftung der Produktionsmittel an.
Den Befreiungsbewegungen der dritten Etappe entspricht in Lateinamerika die Befreiung Kubas und Nicaraguas, in Afrika die Angolas, Mozam-biques und Äthiopiens. Es scheint sich hier um Bewegungen zu handeln, die das Kräfteverhältnis zwischen dem transnationalen und imperialistischen Kapitalismus und den sozialistischen und antikolonialistischen Befreiungskräften verändern. Diese Bewegungen gibt es vor allem in dem Teil der neokolonialistischen Welt, in der Neokolonialismus nicht mit Neokapitalismus verknüpft ist. Unter den Bedingungen der Abhängigkeit und einer verspäteten kapitalistischen Entwicklung haben sich dort sozialdemokratische und labouristische sowie populistische Bewegungen gebildet, denen es nicht gelungen ist, einen Sozialstaat zu errichten. Die Repression ist hier nicht auf bestimmte Gebiete oder auf bestimmte Zeiten begrenzt, sie ist umfassender als in den Ländern der Metropolen.
Man kann sagen, daß der Neokolonialismus in einer Krise ist. Der Neokapitalismus ist aber nicht in eine solche Krise geraten, nicht einmal in den Ländern, in denen er am schwächsten ist.
In den hochindustrialisierten Ländern sind die sozialdemokratischen von konservativen Regierungen abgelöst worden, in den halbindustrialisierten Ländern durch Militärregierungen. Was aber noch wichtiger ist: eine eventuelle Rückkehr der sozialdemokratischen oder Labour-Parteien an die Regierung läßt weder ökonomische Maßnahmen erwarten, die die Vergesellschaftung der Produktionsmittel vorantreiben, noch eine Politik zur Unterstützung der Befreiungsbewegungen, noch eine alternative Politik zu den Konservativen und Liberalen mit einer größeren Annäherung an die sozialistischen Länder. Ebensowenig ist eine Politik im Bereich der Kultur und der Erziehung in Sicht, die neue Perspektiven eröffnet. Es gibt keine Aussicht auf eine größere Machtbeteiligung der organisierten Arbeiter noch auf einen höheren Organisationsgrad auf der Basis von Gleichberechtigung, und es gibt schließlich keine Massenbewegungen, die versuchen, das Kräfteverhältnis und die Hegemonie zu verändern.
Die Mehrheit der sozialdemokratischen und Arbeiterparteien war nicht imstande, irgendein politisches Projekt vorzuschlagen, das nicht von der transnationalen Bourgeoisie neutralisiert, eingeholt oder integriert worden wäre. Unter diesen Bedingungen kann man nur schwer wissen, wie ein Radikalisierungsprozeß in diesen Ländern aussehen könnte. Die Erforschung dieses Problems ist darüber hinaus blockiert durch ein Höchstmaß an intellektueller Demoralisierung und Verantwortungslosigkeit, das vor allem die europäische Linke ergriffen hat. Es gibt nur einige wenige Ausnahmen, zum Beispiel die englische und die schwedische Linke. So hat man bisher lediglich zwei erfolglose Wege versucht: den »reformistischen«, der nicht mehr reformiert, und den revolutionären, der sich auf Terrorismus reduziert.
Aus verschiedenen Gründen sind die meisten von den Nazis eroberten Gebiete der hochindustrialisierten Länder nach dem Krieg wieder unter die Hegemonie der Großbourgeoisie geraten. Dasselbe ist in den europäischen Ländern geschehen, in denen die Diktaturen zusammengebrochen sind, von Griechenland bis Portugal. Und was noch schwerer wiegt: in Argentinien oder Uruguay, die jahrelang unter Militärdiktaturen litten, hat der Demokratisierungsprozeß, den die Massen erzwungen haben, keine strukturellen Veränderungen mit sich gebracht: es wurden keine demokratischen zivilen Milizen gegründet, die putschenden Militärs wurden nicht entwaffnet. Einige von ihnen spazieren nicht nur mit dem krankhaften Geist von Folterern und Spezialisten für Verschwundene und Massaker durch die Straßen von Buenos Aires oder Montevideo, sie sehen aufgrund ihrer politischen Philosophie der »Moral« und der »nationalen Sicherheit« in der »Wiederherstellung der Demokratie« lediglich einen taktischen Rückzug im ewigen Kampf gegen die Kräfte des Bösen: das Volk und die Demokraten.
Die dramatische Situation hat sicher einige neue Elemente, die sich anscheinend in ganz Lateinamerika und in der Dritten Welt ausbreiten, wo die Befreiungsbewegungen überwiegend einen zivilen Charakter haben. Das Neue besteht darin, daß für politische, ökonomische und Machträume gekämpft wird in Schlachten um Löhne, Arbeit, Lebensniveau und Menschenrechte. In der Perspektive einer entstehenden Demokratie verbinden sich, im Unterschied zu den alten demokratischen Bewegungen, die politischen Kämpfe mit den Kämpfen um die Macht; die Kämpfe um bestimmte Forderungen mit dem Kampf gegen den Warencharakter von Produkten und Dienstleistungen und mit den Kämpfen um eine Erweiterung des öffentlichen im Verhältnis zum privaten und transnationalen Eigentum.
Die Wege der Völker in eine Welt, die beherrscht ist von der technokratischen Barbarei, oder zum Sozialismus und zur Demokratie, die einen lebendigen und schöpferischen Humanismus vertreten, sind vorgezeichnet: von der Entwicklung der sozialistischen Länder, von den Volkskräften der neokapitalistischen Länder, insbesondere von denen der Dritten Welt und vor allem von den neuen Befreiungsbewegungen, die den politischen Kampf und den Kampf um die Macht, die Demokratie, die Souveränität und den Sozialismus schöpferisch artikulieren.
Es ist am wahrscheinlichsten, daß der Prozeß der Transnationalisierung in einigen Regionen der Welt während dieser langen Krise weitergeht und in anderen Teilen der Dritten Welt, vor allem dort, wo die neokolonialistische Krise mit einer Schwäche des Neokapitalismus zusammenfällt, die Befreiungsbewegungen sich weiterentwickeln, die auf den Sozialismus orientieren. Was aber den Weg der Welt zum Sozialismus oder zur Barbarei entscheiden wird, ist die Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegungen in den hochindustralisierten Ländern. Sie haben zwei Alternativen: vor der transnationalen Bourgeoisie immer weiter zurückzuweichen, die — koste es, was es wolle — den historischen Kompromiß aufkündigen will; oder dieser Politik, die ihnen immer mehr Positionen nehmen will, eine Schranke zu setzen: bis hierher und nicht weiter.
Angesichts des Versuchs, den historischen Kompromiß zu brechen und angesichts der Notwendigkeit, ein alternatives Projekt für Südafrika zu formulieren, hängt der Weg zum Sozialismus heute von der Unterstützung ab, die man den neuen nationalen Befreiungsbewegungen gibt. Morgen wird er davon abhängen, ob die Sozialdemokraten und die Populisten sich radikalisieren, ob das nationale Bewußtsein der abhängigen Länder sich entwickelt oder ob sie sich angesichts der Massaker und des Völkermords anpassen und integrieren. Die Geschichte, die zum Sozialismus oder zur Barbarei führt, wird die Geschichte der Krise der Kompromisse sein und die Geschichte der konformistischen oder ungeduldigen Antwort, welche die Arbeiter und die Völker als ganze darauf geben.

Aus dem Spanischen von Nora Räthzel