Sozialismus jenseits industrieller Rationalität

Wissenschaftlicher Sozialismus und sozialistische Utopie im Widerspruch

I. Sozialistische Erfolge — kapitalistische Hegemonie

Mit gewisser Berechtigung kann gesagt werden, daß das 20. Jahrhundert das Jahrhundert sozialistischer Bewegungen und Revolutionen ist. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert, zum 3. Jahrtausend gar, bezeichnen sich an die 50 Staaten in der Welt als »sozialistisch«; realer Sozialismus in der Sowjetunion und Osteuropa, daneben afrikanischer Sozialismus. Der chinesische Weg zum Sozialismus und der jugoslawische Sozialismus mit Arbeiterselbstverwaltung. Sozialismus in den Farben Frankreichs, der demokratische Sozialismus westeuropäischer Sozialdemokratien und der sozialistischen Internationalen ... Welcher Sozialismus also, wenn von seinen Perspektiven zu reden ist? Abgrenzung ist notwendig, zumal sich auch Mussolini als Sozialist verstand und die Partei des deutschen Faschismus das Wort »Nationalsozialismus« in ihrem Namen verwandte.
Fangen wir aber nicht mit Definitionen an. Denn die Vielfalt sozialistischer Revolutionen, die Zahl sich sozialistisch bezeichnender Staaten täuschen. Am Ende des »Jahrhunderts sozialistischer Revolutionen« ist eher Irritation angezeigt. Zumindest aus vier Gründen.
Erstens ist trotz der sozialistischen Tendenzen und trotz seiner tiefen Krise die ökonomische, politische und militärische Hegemonie des kapitalistischen Weltsystems ungebrochen. Das ökonomische Prinzip der Kapitalverwertung und das politische der bürgerlichen Herrschaftsformen, changierend zwischen Demokratie und autoritärem Staat, bestimmen weitgehend die Entwicklung.
Zweitens stellt sich die Realität des »Sozialismus« nicht nur, wie zu Beginn angedeutet, diversifiziert dar. Die Verwirklichungsform von Sozialismus heute ist die des Nationalstaates. Nationalstaaten können, ob bürgerlich oder sozialistisch, in Konflikt miteinander geraten. Als der Sozialismus in einem Lande aufgebaut wurde, konnte jeder nationalstaatliche Konflikt noch als Fortsetzung des Kampfes zwischen Kapitalismus und Sozialismus interpretiert werden. Seitdem jedoch am Ussuri-Fluß Schüsse gefallen sind und die Armeen Vietnams und Chinas gegeneinander kämpfen, ist die These von der Vereinbarkeit der sozialistischen Idee des friedlichen Zusammenlebens mit der nationalstaatlichen Form des realen Sozialismus nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Utopie von 1917 muß neu durchdacht werden, »die Kraft der Oktoberrevolution ist erschöpft« — wie die KPI nach dem Polenputsch vom 13.12.81 feststellte.
Drittens folgen daraus Probleme für den Marxismus als Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus. Es soll nicht zum xten Male von der »Krise des Marxismus« die Rede sein, doch ist der Bruch zwischen Marxismus als analytischer Theorie und Marxismus als konkreter Utopie kein geringes Defizit, wenn man den Marxismus, mit Gramsci, als »Philosophie der Praxis« begreift. Auch wenn in verschiedenen Regionen dieser Welt die konkrete Utopie dessen, was Sozialismus sein kann und sein soll, sehr verschieden gedacht werden kann, ist das Problem doch überall als solches vorhanden, auch wenn notorische Verdränger es mit dem Verweis auf die Erfolge »sozialistischen Aufbaus« da und dort nicht wahrhaben wollen.
Viertens kann eine konkrete Utopie heute mehr als je zuvor die möglichen Reichtümer in Rechnung stellen, die beim Stand der Produktivkräfte produzierbar sind, sie muß aber auch deren andere Seite berücksichtigen: daß Produktivkräfte Destruktivkräfte sein können, daß Technik und Technologie nicht neutral sind, sondern aus ihrer Logik heraus Formen des menschlichen Umgangs mit ihnen und der Menschen untereinander erzwingen, die eine konkrete Utopie zu einem Horrorgebilde erstarren lassen können.
Am Anfang dieses Jahrhunderts schien die Oktoberrevolution den Weg zu zeigen, auf dem Fortschritt zum und im Sozialismus stattfindet. Der Aufbau des Sozialismus in einem Land, sicherlich eine historische Notwendigkeit, hatte mit der Ausweitung des Sozialismus viele nationale Sozialismen zur Folge. Nur zum Teil begreifen sich diese als zugehörig zum sozialistischen Weltsystem (vor allem die Staaten des Warschauer Pakts), alle sind aber mehr oder weniger in den kapitalistisch dominierten Weltmarkt (und sei es in Form der externen Verschuldung) integriert. Was Sozialismus heute ist und welche Perspektive er haben kann, muß am Ende dieses Jahrhunderts tatsächlich neu bestimmt werden.

II. Der Sozialismus nachholender Industrialisierung

Was ist Sozialismus? Welcher Sozialismus? Die traditionelle Antwort lautet: Wenn Geschichte als ein teleologisch organisierter Prozeß verstanden wird, dann ist Sozialismus ein Zuwachs an Rationalität der Gestaltung des menschlichen Lebens in einer gegenüber bürgerlicher Vergesellschaftung reicheren Form. Diese wird wesentlich dadurch charakterisiert, daß die Verfügung über Produktionsmittel nicht mehr bei Privaten liegt, sondern bei gesellschaftlichen Institutionen, vor allem beim Staat. Diese Formveränderung selbst ist ein revolutionärer Akt, der allerdings nicht auf einen kurzen Zeitpunkt zu konzentrieren ist. Er findet in einer mehr oder weniger langen Zeitperiode statt, als emanzipatorischer Akt, dessen handelndes Subjekt die Arbeiterklasse ist. Diese selbst ist in der »distinkten Partei« organisiert, die die Klasse homogenisiert und den Konsens erzeugt, der für kollektives, nicht-individualistisches und nicht-korporatives Handeln notwendig ist.
In diesem Modell sind alle Ingredienzien des realen Sozialismus enthalten: Rationalisierung und Modernisierung im Sinne der Entwicklung der Produktivkräfte zur Erhöhung des gesellschaftlichen Reichtums als Programm, Verstaatlichung der Produktionsmittel als Basis der Macht, die Arbeiterklasse als Subjekt des Projekts »Sozialismus«, geleitet von einer Organisation in der Form der Partei. Die Steuerung der ökonomischen Reproduktion erfolgt durch zentrale Planung auf das genannte Ziel hin, durch maximale und daher in der Regel kampagnenartige Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte.
Natürlich ist dies nur eine Skizze des Modells. Ihr fehlt zwar die Subtili-tät, doch ist sie deswegen nicht falsch. Im Zentrum dieses Modells steht die Vorstellung von Rationalisierung und rationaler Organisation der Gesellschaft nach quasi-naturgesetzlichen Regeln. Sozialismus als rationale Organisation des Akkumulationsprozesses zur Beschleunigung der Entwickung, gerade im Vergleich zu den Stagnationstendenzen und der Marktanarchie des Kapitalismus — das war das Selbstbewußtsein Lenins, Preobraschenskis, Bucharins und ihrer Generation; deren Nachfahren existieren auch heute noch, sie sind aber kleinlauter geworden. Dieses Sozialismus-Projekt ist ganz der »Rationalisierungskultur« der Arbeiterbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts verpflichtet: der Vorstellung, daß mit Verwissenschaftlichung der Arbeit und der Produktion sowie durch Planung des gesellschaftlichen Prozesses der Fortschritt vorangetrieben werden könne.
Die zweite und die dritte Internationale unterschieden sich in dieser Frage im Grunde nur darin, daß die Sozialdemokratie meinte, durch Organisierung bereits innerhalb des Kapitalismus das System rational und krisenfrei gestalten zu können (»organisierter Kapitalismus«), während die Kommunistische Internationale daran festhielt, daß Rationalität gesellschaftlicher Organisation erst nach der Abschaffung bürgerlicher Herrschaft im Zuge der Errichtung des Sozialismus möglich sei. Die Leninsche Definition von Sozialismus war nicht nur eine griffige Kurzformel, sondern konzentrierter Ausdruck des Projekts: »Sozialismus ist Elektrifizierung des ganzen Landes plus Sowjetmacht«. Die Rationalität der Planung im Gosplan ab 1926, gerade angesichts der Weltwirtschaftskrise, in die das kapitalistische System 1929 geriet, schien realisiert. Taylors wissenschaftliche Arbeitsanalysen wurden systematisch aufgegriffen, übrigens nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch von rationalisierungsbegeisterten sozialdemokratischen Gewerkschaftern in Deutschland und anderswo. Das Fließband verhieß eine gewaltige Produktivkraftsteigerung, die den Sozialismus ein gutes Stück vorwärts zum Kommunismus bringen könne. Dann die auf Geschwindigkeiten übertragenen Rationalitätskriterien des schneller Wachsens und des Beschleunigens: dognat' iperegnat' (den Kapitalismus einholen und überholen) wurde zum stereotypen Entwicklungsziel. Die Abstraktheit der Produktivitätsmaße wurde in Diskussionen um diese Formeln nur selten mit dem Verweis auf stoffliche, kulturelle und geistige Lebens werte korrigiert.
Der Sozialismus verwandelte sich unter der Hand in einen Gesellschaftstyp der effizienten nachholenden Industrialisierung. Kein Wunder, denn sozialistische Vergesellschaftungsformen des einen oder anderen Typs wurden nur in wenig entwickelten, gar unterentwickelten Ländern realisiert, wenn von den Ausnahmen DDR und CSSR abgesehen wird. Tatsächlich ist die Leistung der Mobilisierung gesellschaftlicher Potenzen zur extensiven Industrialisierung gewaltig, sowohl in der Sowjetunion und in China als auch in Ungarn oder in Jugoslawien. Freilich, Grenzen dieses Modells von Modernisierung, Industrialisierung und Mobilisierung zeigen sich immer dann, wenn an die Stelle kampagnenartiger Planung Feinabstimmung treten muß; wenn es nicht um den Vorrang der »Abteilung I« (Produktion von Produktionsmitteln) oder die Realisierung von Großprojekten geht, sondern um die dezentrale Abstimmung eines für Millionen Konsumenten produzierenden Apparates. Gerade unter dem Kriterium »Rationalität« treten hier in der Regel Mängel auf, und da die Realisierung von Rationalität gerade die notwendige Legitimation des Zentrums beschafft, entstehen Legitimationseinbußen. Die Suche nach Verantwortlichen für Fehler und Mängel beginnt. Die abstoßenden Schauspiele von Machtkämpfen und Schuldigensuche, von Selbstkritik und Heuchelei bewirken das ihre, um einen ursprünglich vorhandenen Konsens zu untergraben und die »propagandistische Tendenz« des Sozialismus zu schwächen.
Rationalität kann sich also, an ihren eigenen Kriterien gemessen, in Irrationalität verkehren. Wenn von »Rationalität« die Rede ist, dann wird nicht das Argument der frühen bürgerlichen Sozialismus-Kritiker in der Tradition Max Webers, von Mises oder von Hayek aufgegriffen, die Rationalität und mithin Wohlfahrt nur bei Wirkung des Marktmechanismus gewährleistet sehen. Diesem Argument, das den europäisch-spezifischen Rationalitätsbegriff sowohl temporal in Vergangenheit und Zukunft verlängert als auch geographisch auf alle Welt anwendbar sieht, sind wirkungsvoll, und ganz immanent argumentierend, Oskar Lange und Lippin-cott entgegengetreten, bevor Nowoschilow, Nemtschinow, Strumilin u.a. die Möglichkeit der Planungsrationalität beweisen konnten. Inzwischen werden Leontjews Modelle der volkswirtschaftlichen Gesemtrechnung auch in der kapitalistischen Wirtschaftsplanung angewandt. Doch die »Irrationalität«, von der hier die Rede ist, bezieht sich auf Grenzen, die in der industriellen Form des Sozialismus angelegt sind. Diese ist dadurch charakterisiert, daß zwar kapitalistische Eigentumsformen und damit spezifische Grenzen der aus ihnen resultierenden Aneignungsformen überwunden sind, aber die Rationalität der Praxeologie des Handelns grundsätzlich identisch bleibt. Es scheint so, daß zwar eine Beschleunigung von Industrialisierungsprozessen erreicht werden kann, aber nicht die »Assoziation der freien Produzenten«, von der Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest« sprachen. Die nachholende Industrialisierung ist als Entwicklungsstrategie angesichts der Strukturierung des kapitalistischen Weltsystems für wenig entwickelte Länder offensichtlich nur bei Kontrolle der nationalen ökonomischen Potenzen und durch eine partielle Abschirmung vom Weltmarkt möglich (Dissoziation), durch eine Strategie, der der Name sozialistisch gegeben wird. Daher die Vielzahl der sich sozialistisch nennenden Nationen. Doch es soll die These diskutiert und belegt werden, daß ab einem gewissen Industrialisierungsniveau (und manchmal schon davor) die Industrialisierung selbst zu einem Problem wird, dessen Lösung neue Formen der gesellschaftlichen Regulierung von Produktion und Reproduktion voraussetzt. Unter gesellschaftlicher Regulierung ist hier sowohl die Weise ökonomischer Reproduktion (Produktionsweise) als auch die politische Organisation von Hegemonie (Gesellschaftsformation) gemeint.
An dieser Stelle ist zunächst eine Erläuterung nötig. Wir sind es gewohnt, von kapitalistischer und sozialistischer Produktionsweise oder Gesellschaftsformation zu sprechen, so als ob es sie, die kapitalistische und die sozialistische, jeweils in einem Typus gäbe. Unter bestimmten Aspekten betrachtet, ergibt dies auch einen Sinn. Doch sind Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen komplexe Gebilde aus einer Vielzahl von Elementen, die verschiedene Traditionen und Bedeutungsgehalte für die Gesellschaft als ganze haben können. Das staatliche Institutionensystem zum Beispiel kann in der kapitalistischen Gesellschaft für die ökonomische Reproduktion eine aktive Rolle spielen (»Keynesianismus«), oder sich aus den ökonomischen Prozessen zurückziehen (»Neoliberalismus«). Damit verändern sich die Beziehungen zwischen den Klassen, die Formen der Einflußnahme auf gesellschaftlich relevante Entscheidungen, der ideologische Kontext usw. Der Übergang von der einen Form in die andere kann daher sehr wohl als Formwandel innerhalb der Gesellschaft bezeichnet werden, als eine Art Transformation ohne Revolution. Je flexibler eine Gesellschaft notwendige Transformationen verarbeitet, desto größer ihre Kapazität zur Lösung von dringlichen Problemen, die Gesellschaftsformation des — wie man sie nennen könnte — Modernisierungssozialismus hat zweifelsohne das Problem der Zurückgebliebenheit, der Abhängigkeit, der Armut gelöst; dafür sind die Sowjetunion, China, Kuba, Nord-Korea usw. Beispiele. Auch für Länder wie Nicaragua kann, mit der einen oder anderen Abwandlung, diese Form eine Perspektive bieten. Doch kann die Angepaßtheit an diese Aufgabe die Lösung anderer Probleme behindern oder gar verhindern und neue Probleme schaffen. Kein Zufall scheint es zu sein, daß in industriell entwickelten Gesellschaften sozialistische Revolutionen nicht stattgefunden haben, wohl aber sozialdemokratische Transformationen: die Schaffung des Wohlfahrtsstaates und des key-nesianischen Staatsinterventionismus in Verbindung mit dem, was korporative Blockbildung genannt worden ist.
Der Begriff der Transformation hat seit Gramscis Diskussion des »Trasformismo« eine eher negative Bedeutung, umschreibt er doch die subalterne Anpassung der Arbeiterbewegung und ihrer Organisationen an die Tendenzen der Restrukturierung, mit denen die Bourgoisie ihre Hegemonie sichert. Zwei Argumente sprechen jedoch auch für eine positive Deutung dieses Begriffs. Erstens müssen auch sozialistische Gesellschaften zu ihrer Stabilisierung und Hegemoniesicherung Transformationen durchmachen, sonst erstarren sie und brechen auseinander. Zweitens ist der Gegensatz zum Transformismus oder zur passiven Revolution, nämlich die aktive Revolution, in vielen historischen Situationen abstrakt, unangemessen, schlicht undurchführbar. Rosa Luxemburg hat die Notwendigkeit einer Dialektik von Reform und Revolution unterstrichen und damit schon deutlich gemacht, daß Transformismus auch im Sinne einer Reformstrategie umgedeutet werden kann. Transformationen sind also notwendig, wenn die Kapazität eines Regulierungstyps zur Problemlösung nicht mehr ausreicht bzw. durch seinen Funktionsmodus mehr neue Probleme erzeugt als alte gelöst werden. Diese allgemeine Aussage gilt auch für die real-sozialistische Produktionsweise. Der Kommunismus oder Sozialismus, so haben Marx und Engels ausgeführt, ist keine Doktrin, sondern eine wirkliche Bewegung — zur konsensualen Lösung historischer Aufgaben, so können wir hinzufügen.
Am Ende des 20. Jahrhunderts befindet sich, wie Aurelio Peccei — gewiß kein Kronzeuge des Sozialismus, aber dennoch im Recht — bemerkte, »die Welt an einem epochalen Scheideweg«. Die zu lösenden Probleme liegen auf der Hand: die Sicherung des Friedens angesichts immer verrückterer Waffensysteme, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen in globaler Dimension, die Versorgung der Weltbevölkerung mit Arbeit und materiellen und kulturellen Lebensmitteln. Die Probleme sind untereinander verschränkt. Es läßt sich zeigen, daß sie mit der gegenwärtig zutage tretenden Unzulänglichkeit eines spezifischen Regulierungstyps zu tun haben und daß sie dann auch nur bewältigt werden können, wenn dieser Typus transformiert wird. Dies gilt auch für den Regulierungstyp der (nachholenden) Industrialisierung der real-sozialistischen Produktionsweise und nicht nur für den Kapitalismus.

III. Krisen der Arbeit, des Geldes, der Umwelt

Beginnen wir mit dem ökonomischen Problem, weil sich im System der gesellschaftlichen Arbeit tiefgreifende Veränderungen vollziehen. Tatsächlich ist die Arbeit — auch durch neue Technologien — einem Formwandel unterworfen, der an die Veränderungen erinnert, die beim Übergang vom Manufaktursystem zur Großen Industrie und später zum Taylorismus stattgefunden haben. Nicht zu Unrecht sind gerade diese Übergänge als Herausbildung neuer »Regulierungstypen« interpretiert worden, da sich mit der Formveränderung von Arbeit und Arbeitsorganisation auch die Lebensbedingungen der Menschen, das Verhältnis von Ökonomie und Politik wandeln und neue ideologische Anrufungen Bedeutung erlangen. Die »Rationalisierungskultur«, von der die Rede war, ist auf dieser Grundlage entstanden: Rationalität technologischer Beherrschung der Natur durch modernste Maschinerie, Rationalität der Arbeitsorganisation im Betrieb und dann die im Kapitalismus noch fehlende Rationalität zentraler Planung des gesamtwirtschaftlichen ökonomischen Mechanismus. Auch die Form der Partei ist dieser Rationalität nachgebildet: Die Organisationsprinzipien sind quasi der tayloristisch-fordistischen Organisations-form der betrieblichen Arbeit gleich. Hierarchie und Delegation, Repräsentanz und Verantwortlichkeit, Entscheidungszentralisierung (demokratischer Zentralismus) und Disziplin und schließlich auch Bürokratisierung als eine systembedingte Deformation.
Was aber, wenn die Grundlage dieses Regulierungstyps, dessen Physiognomie im Westen wie im Osten gleich ist, auch wenn die Anatomie Unterschiede aufweist, erodiert; wenn die Arbeit und die Arbeitsorganisation, das Verhältnis von Arbeit und arbeitsfreier Zeit sich wandeln, wenn die industrielle Arbeit durch — benutzen wir diesen modischen Begriff — eine Art »postindustrieller Arbeit« tendenziell abgelöst wird? In den entwickelten kapitalistischen Ländern ist diese Deformalisierung der Arbeit längst im Gange: Die Produktivitätszuwächse der industriellen Arbeit sind so hoch und die Expansionsmöglichkeiten des industriellen Sektors aus einer Vielzahl von Gründen (Überversorgung mit industriellen Produkten, ökologische Grenzen etc.) so beschränkt, daß industrielle Arbeit seit Jahrzehnten freigesetzt wird. Während der Prosperitätsphase wurde die Feststellung dieser Tendenz noch mit dem Optimismus des Übergangs zur »Dienstleistungsgesellschaft« verbunden, da der »tertiäre Sektor« die freigesetzte und neue Arbeitskraft absorbierte. Inzwischen greifen die neuen Technologien auch Arbeitsplätze im kommerziellen und öffentlichen Dienstleistungssektor an, so daß mit der mangelnden Kompensation der industriellen Freisetzung im Service-Bereich »der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht«, wie dies Hannah Arendt 1956 formulierte und wie dies von Dahrendorf und Offe fast 30 Jahre später wiederholt wird. Diese feinsinnige Umschreibung verdeckt allerdings, daß zunächst eine gesellschaftliche Spaltung eintritt: zwischen denjenigen, die Arbeit haben und denen, die arbeitslos sind. Handelt es sich dabei um eine strukturelle und nicht mehr konjunkturell vorübergehende Situation, dann ist sie für ein wie auch definiertes sozialistisches Projekt außerordentlich konsequenzenreich, und zwar in mehrfacher Hinsicht.
Zunächst bedeutet die Spaltung in Arbeitende und Arbeitslose eine Privilegierung der einen und die Marginalisierung der anderen. Damit ist die Gefahr verbunden, die Franco Rodano in seiner Polemik gegen die Kursveränderung der KPI 1981 beschwor: Die Arbeiterklasse als Subjekt des historischen Fortschritts im Sinne der Rationalisierung ist nicht von Natur aus »Klasse für sich«. Sie kann sich auseinanderdividieren, spalten lassen, und anstatt das hegemoniale Projekt der allgemeinen Rationalisierung zu verfolgen, sich in gruppenegoistischem Korporatismus verstricken. Arbeitslose sind schwerer in der traditionellen Form, die sich aus den Prinzipien der Arbeitsorganisation ableitet, zusammenzufassen; und Beschäftigte, die um den Arbeitsplatz fürchten, sind eher geneigt, ihre Jobs zu verteidigen, denn in eine politische Offensive zur gesellschaftlichen Veränderung zu gehen.
Eine weitere Konsequenz ist eine »Deformalisierung« oder Informali-sierung der Arbeit. Der Form nach wird sowohl im Kapitalismus als auch in der real-sozialistischen Produktionsweise Arbeit als Lohnarbeit verausgabt: Lohn gegen Leistung aufgrund einer Vertragsbeziehung. In diesem Kontext ist es nicht wichtig (in anderem sehr wohl), welches Rechtssubjekt gemäß dem Vertrag den Arbeitsplatz anzubieten hat, also »Arbeitgeber« ist: ein privates Unternehmen, eine staatliche Verwaltung oder ein volkseigener Betrieb. Die Form des Lohnverhältnisses impliziert eine förmliche Vertragsbeziehung, in der nicht nur die Entgeltzahlungen geregelt sind, sondern auch die Bedingungen, unter denen Arbeit geleistet wird: Unfallschutzbestimmungen, die Arbeitszeit usw. Weiter gehört dazu die sozialstaatliche Absicherung (Versicherung) und die Organisierbarkeit in der Interessenvertretung, also in der Gewerkschaft. Deformalisierung oder In-formalisierung der Arbeit werden nun alle diejenigen Tendenzen in Arbeitsbeziehungen genannt, in denen mindestens eines dieser für Lohnarbeit förmlichen Elemente nicht-existent ist: die explizite vertragliche Absicherung, der sozialstaatliche Schutz, die gewerkschaftliche Organisation. Die so definierte Informalisierung der Arbeit, d.h. die Transformation industrieller Lohnarbeit in Arbeit im sogenannten informellen Sektor, ist in der gesamten kapitalistischen Welt und auch in sozialistischen Ländern eine mächtige Tendenz, von der bis zu einem Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung betroffen ist. Der informelle Sektor ist nicht in allen seinen Bereichen industrieunabhängig, im Gegenteil: er kann gerade Resultat der Strategie des »decentramento produttivo« der großen Industriekonzerne sein. Dennoch ist die Arbeit keine Industriearbeit mehr. Daher bilden die Arbeiter nicht mehr das Proletariat des Industriesystems oder den »Massenarbeiter« der fordistischen Fließfertigung. Wenn die Form der Arbeit sich ändert, kann die Form der politischen Organisation der Arbeit kaum unverändert bleiben. Sozialistische oder kommunistische Organisationen und Parteien, die das nicht begreifen können, sind historisch zur Niederlage verurteilt.
Wenn tatsächlich ein Formwandel der Arbeit zu beobachten ist, und zwar durchaus nicht eindeutig im Sinne des Gramscischen Trasformismo, dann ist auch Beschäftigung oder Vollbeschäftigung neu zu definieren. Joan Robinson hat Recht, wenn sie von der zweiten Krise der Ökonomie spricht, da diese zwar Antworten auf das Problem der Quantität, nicht aber auf das der Qualität der Arbeit habe. Vor allem kann es nicht um Arbeitsbeschaffung durch beschleunigte Industrialisierung gehen, zumindest in den hochentwickelten Regionen der Welt nicht; denn mit dem in der Logik des Industriesystems angelegten tendenziellen Ersatz der lebendigen durch die tote Arbeit müßten die Wachstumsraten schon exponential steigen, um die Beschäftigung auch nur konstant zu halten, geschweige denn neue Arbeitsplätze für das Millionenheer der Arbeitssuchenden zu schaffen. Ob nachholende Industrialisierung für die weniger entwickelten Regionen eine Lösung darstellt, muß ebenfalls angezweifelt werden. Daraus ergibt sich aber gerade die absolute Grenze des Industrialisierungs- und Mobilisierungssozialismus, eine Grenze, die nur überwunden werden kann, wenn ein neues, gegenüber dem traditionellen verändertes sozialistisches Projekt entwickelt wird.
Natürlich, die Informalisierung der Arbeit ist nicht nur progressives Moment. Sie hat sogar überwiegend regressive Züge, ist ein Produkt der Not und des Elends. Ohne den Schutz, den das formelle Lohnarbeits-Verhältnis bietet, ist Arbeit im informellen Sektor überdurchschnittlich ausgebeutet, da das Reproduktionsniveau der Arbeit gesenkt werden kann. Dies ist allerdings nur möglich, wenn der informellen Arbeit noch ein Subsistenzsektor vorgelagert ist. Darin werden, häufig in familiärer Produktionsweise, die Lebensmittel, die für die Reproduktion der informellen Arbeit notwendig sind, nicht marktökonomisch produziert. Gerade in Ländern der Dritten Welt ist diese Hierarchie des Elends zu finden: ein formeller, industrieller Sektor, häufig beherrscht durch transnationale Konzerne; darunter der informelle Sektor, der noch für den Markt produziert, aber dies nur vermag, weil die Arbeit besonders billig, weil »dereguliert« ist. Darunter die Subsistenzökonomie, die absolut notwendig für die Existenz des informellen Sektors ist. Ohne diese funktioniert gar nichts, ohne sie bricht auch die Versorgung zusammen, die sowieso schlecht genug ist. Die Lösung dieses Problems ist aber ebenfalls nicht mit einer Industrialisierungsanstrengung zu erzielen, sondern nur durch eine weltweite Umverteilung von Ressourcen und Einkommen. Bevor darauf zurückzukommen sein wird, muß ein weiteres ökonomisches Problem angesprochen werden: dasjenige der Verschuldung, der Krise des Geldes.
Daß die Überschuldung von Ländern der »Dritten Welt« und mancher Länder des »realen Sozialismus« etwas mit dem Industrialisierungsmodell zu tun hat, ist inzwischen unbestritten. Daß die Verschuldungskrise der achtziger Jahre Folge des Scheiterns des Modells der nachholenden Industrialisierung ist, läßt sich wohl begründen. Sie ist sozusagen das Menetekel der Beschränktheit des industriellen Akkumulationsmodells in einer Weltgesellschaft, in der bereits hoch entwickelte industrialisierte Regionen existieren. Die hier »beheimateten« transnationalen Unternehmen beherrschen die Märkte, die Produktionsstrukturen, das System der internationalen Arbeitsteilung; sie geben das technologische Niveau vor und sie dominieren auch die Finanzbeziehungen. Die letzteren basieren auf Kredit, also auf »Vertrauen« des Kreditgebers in die Fähigkeit des Schuldners, die ausgeliehene Geldsumme zurückzahlen und den Preis dafür in Form des Zinses entrichten zu können. Die insbesondere in der letzten Phase der Nachkriegsprosperität, also im Verlauf der siebziger Jahre, enorm ausgedehnten internationalen Kreditbeträge können auch damit erklärt werden, daß nach Eintritt der Krise in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern erstens Leihkapital massenhaft zur Verfügung stand und nicht produktiv investiert wurde (ein ganz gewöhnlicher Ausdruck der zyklischen Krise), zweitens aber gerade den »Schwellenländern« in der Dritten Welt und den Ländern des realen Sozialismus genügend Vertrauen entgegengebracht wurde, um von Jahr zu Jahr steigende Kreditbeträge auszugeben. Das Vertrauen basierte auf der Erwartung einer erfolgreichen Industrialisierung nach dem Modell der entwickelten Regionen durch Rückgriff auf »externe Ersparnis«. Es beruhte auf der Annahme von der Funktionsfähigkeit des Modells der exportorientierten und importsubstituierenden nachholenden Industrialisierung, des Aufbaus diversifizierter, konkurrenzfähiger Produktionsstrukturen. Das Vertrauen mußte enttäuscht werden, nicht nur weil Kredite häufig genug für konsumtive Zwecke verwendet oder in unrentable Prestigeprojekte gesteckt wurden. Vielmehr war die Hoffnung in eine nachholende Industrialisierung von Anfang an eine Illusion, zumal die Verpflichtung zum Schuldendienst in fremder Währung eine unbedingte Abhängigkeit von der Entwicklung des Weltmarkts für Waren herstellte.
Die Krise des Kredits und der Verschuldung ist mehr als nur eine extreme Belastung der verschuldeten Lander. Sie ist auch nicht nur eine Gefährdung der kreditgebenden Institutionen, der international operierenden Banken. Das Geld ist »Kuppler« aller Beziehungen in Gesellschaften mit Warenzirkulation, und wenn das Geld in eine Krise gerät, dann das Medium gesellschaftlicher Synthesis. Da es sich wesentlich um internationalen Kredit handelt, kann mit der Krise des Weltgeldes wie schon einmal in der Geschichte des kapitalistischen Weltmarkts das »goldene Band« reißen (Polanyi), das das kapitalistische Weltsystem zusammengehalten hat. Die Abkopplung nationaler Ökonomien vom Weltmarkt in Richtung einer von den Reproduktionsbedingungen nicht getragenen Autarkie, die dann erzwungen wird, könnte pathologische Züge tragen; wie in Kampu-chea unter Pol Pot zur Entvölkerung der Städte führen, zu einem kulturellen Sprung zurück, zu autoritären Eingriffen und Terror. Die DeIndustrialisierung, die in einigen der heute hoch verschuldeten Länder Tatsache ist, würde sich fortsetzen, aus Mangel an Ersatzteilen, Energie und infolge geschrumpfter Märkte, die die Realisierung der economies of scale verunmöglichen.
Es scheint, als ob auch aus diesem Grunde das Industrialisierungsmodell, beruhend auf kreditfinanzierter beschleunigter Akkumulation, an eine Grenze geraten ist, die nicht nur keine weitere Expansion auf dem eingeschlagenen Pfad mehr zuläßt, sondern schlimmer noch, Entwicklungserfolge zunichte macht. Das Rad des vermeintlichen Fortschritts, das unter so großen Opfern und Kosten vorwärtsgedreht worden ist, rollt wieder zurück — und verursacht dabei neue und größere Opfer.
Nun zeigen die — sehr kurzen — Bemerkungen über die internationale Finanzkrise, daß es heute nicht mehr nur um ein zur traditionellen Industrialisierung alternatives Projekt geht, sondern darüber hinaus auch um eine Neuordnung der internationalen Geld-, Finanz- und Währungsbeziehungen. Hier betreten wir ein Feld, dem bislang weder in der Theorie noch in der politischen Praxis von sozialistischen Bewegungen und Organisationen (zumindest im Westen) hinreichend Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Doch ohne eine Reform des Geldes ist keine irgendwie alternative Entwicklung möglich. Gegenwärtig drängt sich die Notwendigkeit einer solchen Reform allein wegen des immensen Abschreibungsbedarfs von nicht einzubringenden dubiosen Forderungen auf. Die internationale politische Auseinandersetzung innerhalb des Blocks hochentwickelter kapitalistischer Länder ebenso wie mit der Dritten Welt und den hoch verschuldeten Ländern des realen Sozialismus wird derzeit vor allem um die Verteilung der schon eingetretenen und noch zu erwartenden Verluste geführt. Freilich dürfte eine konsensuale Lösung für das Debakel der mißlungenen nachzuholenden Industrialisierung angesichts der »Konkurrenz der feindlichen Brüder« im Rahmen der kapitalistischen Ordnung kaum realistisch sein.
Es scheint paradox, daß sich Sozialisten um das Geld in der kapitalistischen Weltwirtschaft als abstrakteste Form des Wertes sorgen sollen. Der Marxismus als analytische Theorie tut sich mit der Kategorie des Geldes bereits schwer (möglicherweise gerade, weil die Marxsche Geldtheorie um ein Vielfaches reicher ist als jede Variante bürgerlicher Geldtheorie); nicht zufällig ist die Diskussion um die Marxsche Geldtheorie am leichtesten zu überschauen, die Titel zu diesem Thema sind einfach zu zählen. Doch was soll das Geld als Kategorie im Marxismus als konkrete Utopie! Im Geld konzentriert sich die Tauschabstraktion, die Loslösung der gesellschaftlichen Beziehungen von der stofflichen, der Gebrauchswertseite. Dabei sind die Gebrauchswerte für die Befriedigung materieller, geistiger Bedürfnisse der Menschen von Bedeutung, nicht aber die Form, die die Waren im Geld annehmen. Marx hat bereits in seinen Ausführungen über das Geld in seiner Funktion als Zirkulation- und Zahlungsmittel gezeigt, daß in der Geldform die Möglichkeit der Verselbständigung gegenüber der Ware angelegt ist, also gewissermaßen eine Abkoppelung des monetären vom realen Bereich. Ohne alle notwendigen analytischen Zwischenschritte zu machen, läßt sich die gegenwärtige Verschuldungskrise als eine globale Abkoppelung der monetären Zirkulation von der realen Akkumulation interpretieren, mithin als Krise, die prinzipiell nur gelöst werden kann, wenn und insofern reale und monetäre Zirkulation zusammengebracht werden. Natürlich läßt sich analytisch aufzeigen, daß in der kapitalistischen Produktionsweise Muster der Lösung dieser Krise existieren: Die Abschreibung fiktiver Forderungen, Zusammenbrüche von Banken, Auspowerung von Schuldnern, Übergreifen der Kreditkrise auf Produktion und Warenzirkulation, Zerstörung der politischen Institutionen des Weltmarktes. Dies ist kein finsteres Zusammenbruchsszenario, sondern zu Beginn der dreißiger Jahre schon einmal geschehen. Gerade weil analytisch gezeigt werden kann, daß die Gefährdung heute ähnlich gelagert, wenn nicht größer ist, kann niemand, der Marxismus auch als konkrete Utopie begreift, bei diesem Resultat der Analyse verharren.[1] Es sei denn, er erwartet von der Zuspitzung der Krise auch eine produktive, progressive Verschärfung der politischen Auseinandersetzung. Doch wenn mit guten Argumenten anzunehmen ist, daß gesellschaftliche Krisen eher die Massen regressiv bewegen, nach rechts treiben, anfällig für autoritäre Lösungen machen, dann ergibt sich die Notwendigkeit, auch Lösungen zu suchen für Probleme, die mit der abstraktesten Form des Wertes, mit Geld und Kredit zu tun haben.
Hier erreichen wir einen Brennpunkt, an dem mehrere Krisenerscheinungen gebündelt zusammenkommen: Es bewahrheitet sich historisch, daß industrielle Arbeit nicht für alle zur Verfügung steht, erstens. Das Geld hat sich so sehr gegenüber der realen Grundlage verselbständigt, daß dieses selbst in die Krise geraten ist, zweitens. Doch schon vorher ist drittens etwas anderes geschehen. Die in der Wertabstraktion begründete Gleichgültigkeit gegenüber dem Gebrauchswert, gegenüber der natürlichen und stofflichen Grundlage der Produktion und Reproduktion, ja des Lebens schlechthin, hat zu einer Schädigung und bereits teilweisen Zerstörung der natürlichen Umwelt geführt. Daß dies auch in Ländern des realen Sozialismus in grandiosem Ausmaß geschehen ist, belegt nur die These, daß die abstrakt-wertorientierte Vergesellschaftungsform eben nurpar-tiell überwunden ist. In der kapitalistischen Produktionsweise ist es die Zweck-Mittel-Rationalität in der Form optimaler Kapitalverwertung, die zur Rücksichtslosigkeit gegenüber der natürlichen Umwelt veranlaßt. Denn die Kapitalrentabilität als Optimierungsziel läßt sich durch die bewußte oder bewußtlose Externalisierung von Kosten und Folgen der Produktion steigern. Kosten können also dadurch individuell gesenkt werden, daß sie auf die Gesellschaft umgewälzt werden. Das ist ein bekanntes und von vielen Autoren analysiertes Phänomen. Solange das System natürlicher Ressourcen einschließlich der menschlichen Natur die Externalisierung von Kosten privatwirtschaftlicher Produktion verkraften kann und die von Umweltschäden Betroffenen sich nur marginal zu artikulieren vermögen, ist gerade die beschränkte Rationalität der Kapitalverwertung dynamischer Faktor der ökonomischen Entwicklung. Die klassische Provokation Bernard de Mandeville's von den »private vices«, die sich in »public benefits« verkehren, hat ihre Berechtigung. Allerdings sind der Exter-nalisierungsstrategie (man könnte sie auch einen grandiosen Verdrängungsmechanismus im Freudschen Sinne nennen) Grenzen gesetzt: das im Prozeß ungestümer Industrialisierung entstandene Dioxin wurde zwar auf die Müllhalde gekippt, heute sickert es heraus und kann nur mit immensen Kosten neutralisiert werden. Die Kosten nehmen Geldform an und belasten nun die Produktion, verringern im Verlauf eines Prozesses der sozialen Umverteilung auch die Rentabilität des Kapitals.
Das Problem verdoppelt sich. Ursprünglich konnte durch Belastung der Umwelt wenigstens die Verwertung des Kapitals und damit die Akkumulationsgeschwindigkeit erhöht werden. Heute ist dieser »trade off« verun-möglicht: Die externen Kosten bleiben nicht extern, sondern schlagen intern zu Buche, so daß mit der Umweltzerstörung sogar die Profitabilität zurückgeht. Inzwischen haben in den entwickelten kapitalistischen Ländern die Unternehmen gelernt. Eine neue Branche entsteht, in der die herbeigeführten Schäden und Mißstände profitträchtig repariert werden. Der Versuch wird gemacht, den sauren Regen, der die Wälder zerstört, mit Kalkdüngung zu neutralisieren. Abgesehen davon, daß der technologischbiochemische Funktionsmechanismus nicht die gewünschten Resultate bringen kann, entstehen hier auch Probleme hinsichtlich der Akzeptanz eines Systems, in dem man den Dreck bezahlt und denen, die ihn produzieren, danach noch einmal Geld geben muß, damit sie ihn wieder beseitigen.
Wenn man nicht privatwirtschaftlich sondern gesellschaftlich kalkuliert, dann ergibt sich ein verblüffendes Resultat: Die Kosten des industriellen Wachstums übersteigen dessen Erträge. Damit aber verkehrt sich, an den eigenen Rationalitätskriterien gemessen, die Industrialisierungsstrategie ins Irrrationale. Nur Verzweifelte können in einer solchen Situation die alte Strategie beibehalten; hochverschuldete Länder, die unter dem Schuldendienst beinahe zusammenbrechen, holen aus ihren natürlichen Ressourcen das Letzte heraus, um den Zahlungsverpflichtungen nachkommen zu können. Es ist eine Tragödie, wie Ressourcen verschwendet und zerstört werden, wie die Lebensbedingungen der kommenden Generationen belastet und sogar vernichtet werden, nur um kurzfristig zahlungsfähig zu bleiben. Zwischen Umweltkrise und Kreditkrise gibt es einen feed back, aber einen positiven, sich selbst verstärkenden und die Krise noch verschlimmernden Rückkoppelungseffekt. Es ist nicht so sehr das Wachstum als solches, das für die Schädigungen der natürlichen Umwelt verantwortlich ist, gleichgültig ob Wachstum quantitativ oder qualitativ definiert wird. Es ist vielmehr die Form des Akkumulationsmusters, die zu den genannten Problemen führt: eine individualistische Rationalität, die die Gesellschaftlichkeit der Reproduktion, deren gesellschaftliche Kosten nicht berücksichtigt. Dann die dieser Rationalität entsprechende industrielle Form des Produktionsprozesses, um sich von den Begrenzungen, die im Arbeiter als Menschen liegen, zu befreien, also einen nicht mehr der menschlichen sondern einer abstrakt technischen Rationalität gehorchenden Apparat zu installieren. Schließlich führt die Dynamik dieses Akkumulationstypus zu einer Loslösung der monetären Prozesse von der realen Grundlage, treibt also die in der Wertabstraktion enthaltene Tendenz auf die Spitze und bringt damit eine Krise des Geldes hervor.
Am Ende einer außerordentlich dynamischen Entwicklungsperiode stellt sich in einer globalen und epochalen und systemübergreifenden Krise die Begrenztheit eines Regulierungstyps heraus. Es wäre zu einfach, wenn dieser mit der kapitalistischen Produktionsweise identifiziert würde. Der Rationalisierungsmodus, die Form der Industrialisierung haben ihre Schuldigkeit getan.
Marx hat die Begrenztheit des industriellen Regulierungstypus' in seinen verschiedenen Manifestationen durchaus erkannt, als er in den »Grundrissen« davon sprach, daß das Maß des gesellschaftlichen Reichtums nicht mehr die Arbeit sondern die disposable time, die arbeitsfreie Zeit wäre. Hier wird ausgedrückt, daß die Logik industriell-rationaler Arbeit an einem bestimmten Punkt der Entwicklung der Produktivkräfte nicht zureicht, um deren Potenzen für die Menschen zu realisieren. Nun ist aus dieser Marxschen Bemerkung immer eine Tendenz herausgelesen worden, als ob sich die industrielle Entwicklung der Produktivkräfte sozusagen in einer quasi-automatischen Reichtumsproduktion erfülle, die viel arbeitsfreie Zeit zur Entfaltung des Reichtums individueller Persönlichkeiten übrig lasse. Aus heutiger Sicht am Ende des 20. Jahrhunderts erscheint diese Utopie als wenig konkret. Sicherlich, der potentielle Reichtum ist ungeheuer groß. Aber genauso wichtig sind die aktuellen Zerstörungen von natürlichen Ressourcen und möglicherweise noch schlimmer: die mit der industriellen Form der Reichtumsproduktion verbundenen Zersetzungstendenzen gesellschaftlicher Strukturen in globalem Ausmaß, bevor sich die Marxsche Utopie überhaupt nur ansatzweise konkretisieren läßt, sind die im Funktionsmechanismus des Industriesystems enthaltenen Konfliktpotentiale zu entschärfen. Es würde der Sachlage nicht gerecht werden, wenn die Unterschiedlichkeit von kapitalistischer und realsozialistischer Produktionsweise konvergenztheoretisch unberücksichtigt bliebe. Trotzdem bleibt festzuhalten, daß die Probleme auch im realen Sozialismus existieren, und daß diese ohne eine Transformation des realsozialistischen Regulierungstyps nicht gelöst werden können. Bevor das Reich der Freiheit beginnt, muß auch im realen Sozialismus der Industriemüll beiseite geräumt werden.

IV. Kriegsgefahr

In einer Situation der internationalen Krise eines Entwicklungsmodells nehmen auch die Konflikte zu, die innergesellschaftlichen wie die zwischenstaatlichen. Der Konsens über den Entwicklungsweg und die Form seiner politischen Regulierung ist in der Krise weiter weg denn je zuvor. Ein Minimum an Konsens in der Weltgesellschaft ist aber notwendig, um Konflikte regulieren und damit eine hegemoniale Struktur aufrechterhalten zu können. Hier sind wir mit einem noch größeren Problem als den bislang aufgeführten konfrontiert: Die Entwicklung der Produktivkräfte im Sinne der Reichweite ihrer Effizienz, der Präzision des Einsatzes, der Geschwindigkeit der Transportmittel, der Miniaturisierung bei Ausdehnung des Wirkungskreises findet nicht nur, und noch nicht einmal zu allererst, im Sektor der zivilen Produktion, sondern im militärischen Sektor statt. Der Fortschritt der Produktivkräfte wirkt sich unmittelbar als Steigerung der Destruktionsfähigkeit aus. Bis zur absoluten Sinnlosigkeit, d.h. zur Selbstvernichtung der Erde, der Menschheit, des Lebens.
Die Grenzen des industriellen Regulierungstyps zeigen sich als Brüchig-keit einer politischen Ordnung, national wie international. Wenn die Krise der Arbeit, die Versorgungskrise und die Tragödie der Verschuldung Konflikte erzeugen, Widerstand der betroffenen Klassen und Völker hervorrufen, dann verschärft sich die akute Bedrohung des Weltfriedens. Es zeigt sich, daß die Probleme tatsächlich miteinander zu tun haben; ohne eine Lösung der ökonomischen Krisentendenzen ist der Frieden gefährdet. Ohne eine neue Friedensordnung wird sich eine einigermaßen konsensuale Lösung der ökonomischen Probleme nicht finden lassen. Dieser Schwierigkeit muß sich heute ein sozialistisches Projekt stellen. Die verschiedenen Bewegungen, die in der vergangenen Dekade entstanden sind, und gewissermaßen wie die Single point-Bewegungen der sechziger Jahre Single issues
aufgreifen — die Friedensbewegung Abrüstung und Entspannung, die Gewerkschaften Arbeitsbeschaffung und Versorgung, die Ökologiebewegung den Schutz von Umwelt und Natur — bewegen sich jeweils auf eines der Krisensyndrome zu und bilden so, wie der unscharfe Begriff es ausdrückt, »antisystemische Bewegungen«. Doch weder Frieden noch Umweltschutz noch Arbeitsbeschaffung sind für sich genommen ein politisches Projekt. Erst wenn eine Strategie der Transformation des noch dominanten Regulierungstyps verfolgt wird, kann von einem politischen Projekt die Rede sein.
Ein politisches Projekt ist mehr als die Projektion einer vergangenen und gegenwärtigen Entwicklung in eine nahe oder ferne Zukunft. Die konkrete Utopie ist auch mehr als eine Prognose oder technologische Vision. An letzteren herrscht am »epochalen Scheideweg« kein Mangel; im Gegenteil. Wie viel wissenschaftlicher Sachverstand und noch mehr Scharlatanerie werden gerade in einer Situation bemüht, in der nach zehn Jahren struktureller Krise allenthalben erkannt worden ist, daß es nicht mehr so weitergehen kann wie gehabt, in der aber auch die Radikalität des strukturellen Bruchs verdrängt und folglich die Hoffnungen in eine bessere, weil technisch mögliche Zukunft investiert werden. Die einen sehen denn auch ganz optimistisch das Ende des Mangels voraus, eine den ökologischen Erfordernissen weich angepaßte technologisch sophistifizierte Gesellschaft mit Arbeit für alle. Die anderen hingegen beschreiben eher pessimistisch die Grenzen des Wachstums wie Meadows oder Mesarovic und Pestel. Freilich geht es nicht um Optimismus versus Pessimismus in der Prognose, sondern um eine Verbindung von theoretischer Analyse und konkreter Utopie, mithin um die Einlösung des von Ernst Bloch vorgestellten Programms. Prognosen sind prinzipiell einseitig, sie können allenfalls mit der Rechnerkapazität von Computern verfeinert werden. Kon-rete Utopien hingegen entwerfen das mögliche Bild, das noch zu realisieren ist. Praxis ist ein Element von Utopie, während man auf die Erfüllung von Prognosen auch warten kann; sie treten ein oder auch nicht. Allerdings sind wissenschaftlich begründete Prognosen Elemente von Utopien; schließlich kann auch die Analyse als »nachträgliche Prognose« verstanden werden. Der Satz, daß Prognosen Elemente von konkreten Utopien sind, läßt sich allerdings nicht umkehren. Es kommt also alles auf eine am Ende des 20. Jahrhunderts neue, erneuerte Verbindung von wissenschaftlicher Analyse und konkreter Utopie an.
Die Analyse zeigt die Tiefe der Krise, ja ihre Ausweglosigkeit im Rahmen des überkommenen Regulierungstyps. Dies gilt für den realen Sozialismus ebenso wie für die kapitalistische Welt, da beide trotz nicht zu vernachlässigender relevanter Unterschiede in ihrer Entwicklungslogik und praxeologischen Entscheidungsstruktur ganz ähnliche Problemlagen aufweisen: Krise (industrieller) Arbeit und Produktion, Krise des Geldes, Schädigung oder gar Zerstörung der natürlichen Umwelt, Kriegsgefahr. Die konkrete Utopie einer anderen gesellschaftlichen Regulierung existiert aber bereits in den politischen Bewegungen, die auf einzelne Krisensyndrome zielen, die sich als Anwälte der Umwelt, des Friedens und der Arbeit annehmen. Es wäre unzeitgemäß und rückschrittlich, wollte man die neuen Bewegungen auf die alten Werte, die Moral des industriellen Produktivismus, die traditionellen Organisationsformen verpflichten, die einem Regulierungstyp angemessen waren, der nicht mehr so dynamisch wie in den vergangenen fast 70 Jahren seit der Oktoberrevolution wird expandieren können.

V. Ein unbefriedigendes Fazit

Unsere Ausführungen können nicht abgebrochen werden, ohne ein Fazit zu ziehen. Wenn hier die Grenzen des industriell-fordistischen Regulierungstyps beschrieben und analysiert worden sind, dann sicher nicht mit den leichtfertigen Schlußfolgerungen des »Ausstiegs aus der Industriegesellschaft« — hier und heute —, wie sie etwa von Rudolf Bahro und anderen »Fundamentalisten« in der grünen Bewegung gezogen wird. Ganz abgesehen davon, daß der Begriff des »Ausstiegs« das Problem verharmlost, da ja alle Aspekte und Momente der Lebensformen der Menschen einer radikalen (und regressiven) Veränderung unterworfen würden und mithin die »Aussteiger« nicht ihre erworbene Identität bewahren könnten, ist es wichtig festzuhalten, daß Industrie und industriell-fordistischer Regulierungstyp nicht identisch sind. Auf industrielle Produktionstechnologien ist schlechterdings nur um den Preis eines brutalen und mörderischen Rückschritts zu verzichten. Die Grenze der Entwicklung, von der die Rede ist, bezieht sich vielmehr auf die Rationalität, die sich mit dem Maschinensystem auf die Arbeit, den Umgang mit der Natur, die Beziehung der Menschen zueinander, auf die Zeitdimension (time is money; die Beschleunigungskategorie bei exponentiellen Raten, wie zum Beispiel beim Zins und Zinseszins) gelegt und eine bornierte Logik der Destruktion entfaltet hat. Diese war viele Jahrzehnte, vielleicht ein ganzes Jahrhundert lang überdeckt von den offensichtlichen und faszinierenden Erfolgen, die Industrie und rationale Arbeitsorganisation für die Produktion materieller Reichtümer gehabt hat. Aber inzwischen ist es ebenso offensichtlich, daß die Reichtümer eine finstere Kehrseite haben: nämlich Umweltzerstörung, Arbeitslosigkeit, Verschuldung und nicht zuletzt die Entwicklung menschheitsbedrohender Destruktivkräfte, deren Zerstörungskapazität in den gleichen Kategorien gemessen wird wie die Produktionskapazität der Produktivkräfte. Die Auffassung wäre eine Illusion, daß die Destruktivität des industriell-fordistischen Regulierungstyps schon dadurch aufgehoben werden könnte, daß der Sozialismus realisiert wird. Sicherlich, viele Mängel der Gesellschaftsformation des hochentwickelten Kapitalismus hat der reale Sozialismus nicht. Doch er löst die grundlegenden Probleme, die hier in gebotener Knappheit präsentiert worden sind, nicht, so lange er nichts anderes betreibt als eine Art nachholender Industrialisierung. Der Regulierungstyp des Sozialismus, mit hochentwickeltem Industriesystem zwar, aber auch mit postindustrieller Perspektive ist sowohl analytisch als auch als konkrete Utopie erst noch an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zu entwickeln. Sonst bleibt, wie Marx in etwas anderem Zusammenhang drastisch ausführte, doch nur die »alte Scheiße«.

Autor(en)