Editorial

Kann der Sozialismus heute noch orientierender Leitfaden für kritische Intellektuelle und speziell Ökonomen sein? Ist er mehr als die anachronistische Vorstellung von einigen »68ern«, die von ihren früher einmal zeitgemäß scheinenden Idealen nicht abrücken wollen? Ist der Sozialismus noch ein Projekt, das zur Lösung praktischer Probleme taugt? Oder ist er passe?
Die zeitgeschichtlichen Gründe dafür, solche Fragen zu diskutieren, sind zu offensichtlich, als daß man sie lange explizieren müßte: die politischen Niederlagen der Linken sämtlicher Schattierungen in den letzten anderthalb Jahrzehnten; die alles in allem abschreckende Wirkung jener Gesellschaften, in den der Sozialismus real existiert; die neue politisch-oppositionelle Kraft der Grünen mit ihrer unfertigen, teils konservativen, teils progressiven Programmatik — aber da wird es schon unsicher: denn was ist heute »konservativ«, was »progressiv«?
Generell kann man wohl derzeit von einer gewissen Rat- und Konzeptionslosigkeit der Sozialisten sprechen, die sich übrigens nicht zuletzt auch der Selbstkritik sozialistisch/marxistischen Denkens verdankt. Auf die oben gestellten (Titel-) Fragen geben die Aufsätze dieses Bandes denn auch eher implizite und — seiner Konstruktion entsprechend — durchaus gegensätzliche Antworten.
Der reale Sozialismus hat wegen des Ausmaßes an politischer Unfreiheit und Unterdrückung, wegen seiner ökonomischen Ineffizienz und seines technologischen Konservativismus und nicht zuletzt wegen der Umweltzerstörung in seinem Herrschaftsbereich für praktisch die gesamte nichtkommunistische Linke der westlichen Industrieländer jegliche Attraktivität eingebüßt. Seine einzigen Aktiva, das hohe Maß an sozialer Sicherheit und die Vollbeschäftigung, fallen dagegen anscheinend nicht ins Gewicht. Freilich nützt die Distanzierung vom ungeliebten Realsozialismus den Linken wenig. Sie werden — ganz im Sinne der Erfinder jenes Begriffs — auf ihn festgenagelt. Wer einen anderen Sozialismus für möglich hält als den, der real existiert, gilt als utopischer oder gar gemeingefährlicher Spinner. Die Linken sind allerdings nicht ganz unschuldig daran: es rächt sich jetzt, daß sie es bis heute versäumt haben, eine theoretisch fundierte Kritik am Realsozialismus zu formulieren. Nach wie vor kann man die linke Kritik an ihm — wenn man einmal absieht von jener Variante, derzufolge es sich überhaupt nur um einen schlichten Irrtum handele, insofern der real existierende gar kein Sozialismus ist — in zwei Beriffen resümieren: er sei bürokratisch und undemokratisch. Diese Kritik ist gewiß zutreffend. Nur müssen sich kritische Ökonomen die Frage gefallen lassen, wie denn ein gesamtwirtschaftlicher Plan für eine industrielle Gesellschaft demokratisch und ohne eine mehr oder weniger große Wirtschaftsverwaltung zustande kommen soll?
Aber ist eine Planwirtschaft überhaupt unverzichtbarer Teil des Projekts Sozialismus? Im Gegensatz zu der Marx/Engelsschen Konzeption, in der Märkte keine Platz haben, plädieren die Autoren dieses Bandes durchweg dafür, »Märkte« und »Pläne« instrumentell, also nach Zweckmäßigkeitserwägungen, zu betrachten. Das ist ganz sicher ein Fortschritt gegenüber früher, weil dadurch die Gründe für eine Reihe »dogmatischer« und »prinzipieller« Streitereien entfallen. Selbstverständlich ist diese Position für linke Ökonomen freilich nicht. Sie wirft vielmehr diverse Fragen auf.
Zu allererst natürlich die, welches denn die theoretischen Kriterien zur Beurteilung der Zweck- oder Unzweckmäßigkeit einer bestimmten Organisationsform der Produktion sind. Die einzige Theorie, die hier konsistente Antworten liefert, ist die neoklassische Allokationstheorie. Meines Erachtens muß sich jede zeitgemäße ökonomische Theorie, die für den Sozialismus plädiert, den strengen Kriterien und Normen dieser Theorie aussetzen — sei es, daß man sich ihnen unterwirft, sei es, daß man explizit begründet, wieso man sie nicht übernimmt. Freilich gerät man dann schnell ins Schwimmen.
Da ist zunächst die ideologische Form, in der das Problem — etwa im Bereich der Umweltökonomie — gegenwärtig im »grün-roten Spektrum« artikuliert wird: der Markt wird nur als Gegensatz zum Staat gefaßt. Nun bedeutet die Kreation von Umweltmärkten die Schaffung einer ganzen Menge dauerhafter Arbeitsplätze: im Bereich der Umweltpolizei und — wie der jüngste Skandal um Diethylenglykol im Wein zeigt — der staatlichen Gebrauchswertkontrolle. Das unterscheidet sie gewiß nicht von allen anderen Lösungen — aber es relativiert doch deutlich den Stellenwert des Gegensatzes »Markt-Staat«.
Ist es schon für kritische — erst gar für marxistische — Ökonomen eine ungewöhnliche und schwierige Zumutung, sich auf die neoklassische Allokationstheorie allgemein einzulassen, so wird die Situation noch verwirrender, wenn man sich den neoklassischen Theorien über Planwirtschaften zuwendet. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil sieht hier der »Ertrag« für die Sozialisten nämlich alles andere als schlecht aus. Es sind die Neoklassik bzw. ihre Spielarten, die die bis heute relevanten Planungstheorien formuliert haben: die Theorie der Optimalplanung bzw. der optimal funktionierenden ökonomischen Systeme. Paradoxerweise müßte sich ein Sozialist, der für die Allokation via Pläne plädiert, eher auf die Neoklassik als etwa auf die Versatzstücke marxistischer Theorien berufen. Aber die Allgemeine Gleichgewichtstheorie ist ja nicht unumstritten; ihre Problematik liegt in der Art und Weise, wie sie die Zeit (die ungewisse Zukunft) bzw. das Geld theoretisiert. Interessanterweise sind dies auch die Punkte, die an den neoklassischen Planungsmodellen zu kritisieren sind. Das sollte jedoch nicht dazu führen, diese Modelle schlicht zu verwerfen; eher gäbe es Grund zu einer begrifflichen Unterscheidung zwischen »neoklassischem Sozialismus« und »Staatssozialismus«.
Die wichtigste Implikation eines theoretischen Verständnisses von Plänen und Märkten als Allokationsinstrumente dürfte darin bestehen, daß das Thema »Sozialismus« endgültig aus einem — der Manschen Theorie entstammenden — revolutionstheoretischen und geschichtsphilosophischen Kontext herausgelöst wird, demzufolge es historische Zwangsläufigkeit gibt. So wenig die Arbeiterklasse notwendigerweise den Sozialismus erkämpfen wird, so wenig gibt es eine sachliche Zwangsläufigkeit, sozialistische Verhältnisse zur Lösung der dringendsten Probleme einzuführen. Zwar kann man mit einigem Grund behaupten, daß unfreiwillige Arbeitslosigkeit ein kapitalismusspezifisches Problem ist, das »endgültig« erst im Sozialismus überwunden werden kann. Aber wie z.B. die Diskussion über ein garantiertes Mindesteinkommen zeigt, gibt es durchaus sozialpolitische Mittel, um die Folgen von Arbeitslosigkeit so abzufedern, daß aus ihr keine die Existenz des Gesamtsystems gefährdende Krise folgt. Ähnliches gilt für das Ökologieproblem. So sicher es keinen Kapitalismus ohne Kapitalakkumulation gibt, so sicher gibt es für etliche Einzelprobleme Marktlösungen, die administrativen Lösungen überlegen sind, und so unwahrscheinlich ist es, daß der Kapitalismus an den Problemen der Naturzerstörung scheitern wird: weder wird er daran zugrundegehen, noch wird er auf eine ökologische Katastrophe zusteuern — vielmehr wird »Natur« produziert werden, und zwar kapitalistisch.
Was also bleibt vom »klassischen« Sozialismuskonzept übrig? Es bleibt die sozialistische Kritik am Privateigentum an Produktionsmitteln als nach wie vor demokratisch nicht legitimierte Hauptquelle gesellschaftlicher Macht. Es bleibt der Versuch, gesellschaftliche Verhältnisse zu denken und herzustellen, in denen Herrschaft auf das Minimum reduziert wird, das historisch möglich ist, und in denen deshalb die Probleme, mit denen auch eine sozialistische Gesellschaft konfrontiert wäre, rationaler diskutiert und gelöst werden können, als es derzeit möglich ist.
Das Projekt Sozialismus bleibt meines Erachtens deshalb vernünftig, weil es im Gegensatz zum Kapitalismus erst einen Primat der Politik über die Ökonomie ermöglicht. Polanyi hat in seiner »Great Transformation« gezeigt, welche Konsequenzen die historisch einmalige umfassende Organisation der Ökonomie über Märkte mit Privateigentum an Produktionsmitteln hat. Durch dieses Organisationsprinzip wurde die Ökonomie erstmalig autonom: sie funktionierte nach ihren eigene Gesetzen, und zwar automatisch. Der Schutz der Gesellschaft vor den Auswirkungen des Marktsystems — notgedrungen in Form staatlicher Eingriffe — implizierte immer, daß die Geltung der Marktmechanismen eingeschränkt wurde.
Ein funktionsfähiges, nur nach seinen eigenen Gesetzen funktionierendes Marktsystem bedeutet die gnadenlose Unterordnung der Gesellschaft unter die Ökonomie.
Zwar ist heute das wirtschaftspolitische Steuerungspotential des kapitalistischen Staates enorm gewachsen — aber am Ende zeigt sich in der Regel, daß Politik »gegen den Markt« entweder aussichtslos oder enorm teuer ist. Im realen Sozialismus gibt es zwar ein Primat der Politik, aber dessen nicht nur ökonomische, sondern auch politische Kosten (die nicht der Staat, sondern vorzugsweise die Gesellschaft zu tragen hat) sind unakzeptabel hoch.
Freilich liegt die Beweislast dafür, daß ein Primat der Politik ohne ökonomische Effizienzverluste möglich ist, bei den Sozialisten. Ihre ökonomischen Theorien haben sich daher erstens vor der »bürgerlichen« Alloka-tionstheorie auszuweisen, wenn sie überhaupt wissenschaftlich ernst genommen werden wollen.
Zweitens sollte jede Sozialismuskonzeption sich um formale und nicht (nur) um inhaltliche Regelungen bemühen. Man glaubt den Sozialisten ja gerne ihren guten Willen, die »sozialistische Demokratie zur Entfaltung zu bringen«, aber Kriterien — und das können nur formale sein —, nach welchen wer was zu entscheiden hat, wann z.B. eine »gute« ( = ökologische, sozialistische etc.) Regierung abzutreten hat zugunsten der Opposition, findet man in der sozialistischen Literatur so gut wie nie.
Drittens müßten die Sozialisten — übrigens ganz im Sinne Marx' — ihren Etatismus überwinden. Das bedeutet mehr als die — längst fällige — Kritik am realen, d.h. Staatssozialismus. Generell sollten sozialistische Gesellschaftskonzeptionen nicht mehr »vom (Ideal-) Staat her« gedacht werden, sondern »von unten«, also von den Gesellschaftsmitgliedern her. Der methodologische Individualismus der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie kommt dieser Forderung entgegen.

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Vorwort