Im Rahmen der Diskussion dieses Bandes über die Zukunft des Projekts Sozialismus soll ich der Frage nachgehen, inwieweit in die herrschenden linken Sozialismusvorstellungen bestimmte Konzepte von Technik eingehen und in welcher Weise sie kritisiert werden können und müssen. Ich bin nicht sicher, ob man ein »herrschendes Sozialismuskonzept« wegen der unterschiedlichen Auffassungen identifizieren könnte. Dennoch ist bei denjenigen, die sich zur marxistisch-sozialistischen Tradition bekennen, mindestens eine auffällige Übereinstimmung zu finden: Sie haben — wenngleich bei einigen mittlerweile etwas versteckt oder mit Einschränkungen versehen — immer noch eine grundsätzlich positive Einstellung zur verwissenschaftlichten Technik, zu den modernen Produktivkräften der Industriegesellschaft.
Lange Zeit war es ja vollkommen selbstverständlich, daß Marxisten und Sozialisten im Fortschreiten von Wissenschaft und Technik eine der wichtigsten Bedingungen entstehen sahen für den gesellschaftlich-sozialen Fortschritt. Diese Auffassung teilten sie mit anderen Befürwortern des Projekts der Moderne, etwa mit den bürgerlich Liberalen. Das Projekt Sozialismus war eine politisch-organisatorische Variante innerhalb des Projekts der Moderne, innerhalb des Industriesystems. Sie alle beflügelte eine evolutionäre Geschichtsphilosophie: Durch die herstellende Tatkraft des Menschen, durch Arbeit, Wissenschaft und Technik sollte sich die Menschheit insgesamt höherentwickeln und einen Schleichweg ins Paradies finden, wie Francis Bacon schon hoffte. Die Sozialisten verbanden diesen allgemeinen Fortschrittsoptimismus der bürgerlichen Arbeitsgesellschaft zusätzlich mit der großen Hoffnung auf eine Emanzipation aller Menschen von bedrückenden und erniedrigenden Verhältnissen. Durch eine richtige Organisation der kapitalistisch-industriellen Produktivkräfte sollte nicht nur der nun erst im großen Maßstab produzierbare »Reichtum« gerecht verteilt werden, sondern auch ein neues selbstbewußtes, emanzipiertes und glückliches Subjekt entstehen, das mit sich, den anderen Menschen und der Natur endlich versöhnt wäre.
Da Sozialisten die Entfaltung der »sinnlichen, geistigen und geselligen Potenzen« der Menschen so emphatisch verknüpften mit der Entfaltung der kapitalistisch-industriellen Produktivkräfte und weil sich hierfür real kaum Bestätigungen fanden, im Gegenteil sich sogar immer neue Formen der Entfremdung, Verkümmerung und Entsinnlichung zeigten, benötigten sie ein weiteres Postulat, das die Einlösung der sozialistischen Utopie auf der Grundlage kapitalistisch-industrieller Arbeit und Technik auf morgen vertagte: die Durchbruchs- oder Zweiphasenthese. Die erste Phase, die Modernisierung und kapitalistische Industrialisierung sei leider verbunden mit großem Elend und einer Verkümmerung der Subjekte. Durch diese Phase müßte die Menschheit jedoch hindurch, denn sie sei die historisch notwendige Voraussetzung für die zweite Phase, für sozialistische Emanzipation.
Seit Marx ist diese geschichtsphilosophische Hypothese von Sozialisten immer wieder formuliert worden. Eine dieser Formulierungen, die ich wegen ihrer Prägnanz und ihres Zynismus oft zitiert habe, stammt von Rolf Nemitz (Argument 103 [1977], 374):
»Die Geschichte der Arbeit ist die Geschichte der Vergesellschaftung der Individuen. Dabei treten die Entwicklung der Gesellschaft und der Individuen auseinander: durch eine ungeheure Vereinseitigung und Verkümmerung großer Teile der Gesellschaft ging die Entwicklung als ganze voran. Dennoch ist dieser Prozeß, in dem die sinnlichen und geistigen Kräfte der Mehrheit oft auf ein unmenschliches Niveau zurückgedrängt wurden, zugleich der Entfaltungsprozeß der sinnlichen, geistigen und geselligen Potenzen der Menschheit. Auf einem technischen Niveau, das unschöpferische Arbeit überflüssig macht, und in einer Gesellschaft, die sich selbst bewußt organisiert, können individuelle und gesellschaftliche Entwicklung wieder zusammenkommen.«
Ich halte diese geschichtsphilosophische Hypothese für eine der folgenreichsten Fehleinschätzungen im sozialistischen Diskurs. Sie hat die utopisch-kreative Phantasie zur Entfaltung emanzipativer Techniken lahmgelegt, die gesellschaftliche Utopie des Projekts Sozialismus in eine bürokratische Sackgasse geführt und die Hoffnung auf Befreiung der Subjekte dem Zynismus ausgeliefert.
Meiner Ansicht nach gibt es eine erdrückende Zahl von Sachverhalten, die diese Hypothese widerlegen, eine Hypothese, die ja im Gegensatz zu anderen marxistischen Prognosen nie einen empirischen Bezug hatte, sondern eine reine Kopfgeburt war, eine verzweifelte Hoffnung im Kontext des modernen Fortschrittsmythos. Jürgen Habermas bezeichnet sie als »Illusion, die das Selbstverständnis der Moderne verhext« habe und nun endlich verschwinden würde.
»In den Ordnungsutopien waren die Dimensionen von Glück und Emanzipation mit denen der Machtsteigerung und der Produktion gesellschaftlichen Reichtums zusammengeflossen. Die Entwürfe rationaler Lebensformen gingen mit der rationalen Beherrschung der Natur und der Mobilisierung gesellschaftlicher Energien eine trügerische Symbiose ein. Die in Produktivkräften entfesselte instru-mentelle Vernunft, die in Organisations- und Planungskapazitäten sich entfaltende funktionalistische Vernunft sollten den Weg zum menschenwürdigen, egalitären und zugleich libertären Leben bahnen.« (Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit, Die Krise des Wohlfahrtstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, in: Merkur 1/85, 14)
Diese sich hartnäckig haltende Konfusion (Habermas) beeinflußt immer noch die Theorienbildung vieler Marxisten, wie mir scheint, auch die von Niels Beckenbach. Betrachtet man beispielsweise seinen Aufsatz »Zukunft der Arbeit und Beschäftigungskrise — zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Neuen Techniken« (Prokla 55, Juni '84)*, (* Otto Ullrich bezieht sich relativ ausführlich auf den Aufsatz von Niels Beckenbach, weil letzterer ursprünglich als sein Kontrahent für diesen Band vorgesehen war. Erst nach Fertigstellung von Ullrichs Manuskript sagte Beckenbach überraschend ab; für ihn sprang Rolf Nemitz ein (Anm. d. Hrsg.), dann ist trotz des Versuchs, empirisch belegt zu argumentieren, und trotz skeptischer Untertöne erkenntnisselektierend die eben skizzierte philosophische Hypothese. Die »Ursachen für die aktuellen Krisensymptome« werden im »Bereich der Vermittlung von Bildungssystem, Arbeitsmarkt und Beschäftigungssystem« gesucht (22). Abhilfe für die aktuellen Krisen, die ja insbesondere lebensweltliche sind, soll also die richtige Organisation sein. Gesucht wird nach empirischen Belegen, »daß der zukünftige Prozeß der Modernisierung und Rationalisierung durchaus Ansatzpunkte für eine substantielle Humanisierung der Arbeit bietet ...« (24). Die sogenannten neuen Techniken seien nicht an sich bedrohlich, zum Krisenfaktor würden sie »erst vor dem Hintergrund spezifischer ökonomischer und institutioneller Rahmenbedingungen« (29). Auf die richtige Anwendung von Techniken kommt es also an. Unter sozialistischen Rahmenbedingungen, so kann man folgern, wären die kapitalistisch-industriellen Rationalisierungstechniken emanzipiert anwendbar. Die gegenwärtigen Computerisierungen und Rationalisierungen werden als »Chancen zu einer Intellektua-lisierung der Arbeit (in der herstellenden Arbeit als Gewinn, in den sekundären Bereichen als Erhalt von 'geistigen Potenzen' im Sinne von Marx ...)« gesehen und somit die aktuellen Informatisierungen, Verdatungen und Technisierungen als »durchaus optimistisch« beurteilt (37).
Mit Lutz Hieber (Technisierung von Umwelterfahrung, Prokla, Nr.55) kann man sich darüber wundern, warum die »zunehmende Zerstörung des Lebensnotwendigen in der Natur bis vor kurzem ohne jeden Widerstand durchgesetzt werden konnte« (93). Eine mögliche Erklärung sieht Hieber darin, daß die technischen Apparate, in und mit denen wir leben, etwa das Auto, wie ein Filter für Wahrnehmungen wirken. Durch die Technisierung unserer Lebenswelt verkümmerte unsere Wahrnehmung, die Sensibilität für Umweltzerstörungen ging dadurch stark verloren.
Als Filter für Wahrnehmungen wirken auch Theorien und ansozialisierte philosophische Hypothesen. Was den einen in der gegenwärtigen elektronischen Informatisierang und Rationalisierung als weiterer Schritt zur Entmündigung und Enteignung erkennbar wird, der nun auch einen größeren Teil der Ingenieure trifft, als deutliche Verschlechterung der Chance, Befriedigung in der Arbeit zu finden und den Produktionsprozeß zu demokratisieren, erscheint anderen durch den Filter einer Fortschrittsphi-losophie als informatorisch transparent werdender betrieblicher Gesamtarbeiter, als Chance zur Entfaltung geistiger Potenzen. Im Lichte von historisch evolutionären Entwürfen und Großtheorien verblassen individuelle Leiden und konkrete Bedrohungen und Zerstörungen. (Auch Habermas spricht lediglich von »Problemen der Umweltbelastung« (Merkur 1/85, 2), wo allein für die Waldzerstörung oder die Bodenvergiftung »eingetretene ökologische Katastrophe« eine zutreffendere Bezeichnung wäre.)
Wie wäre es, wenn sozialistische Theoretiker wenigstens versuchsweise einmal die geschichtsphilosophische Hypothese der evolutionären Höherentwicklung durch Wissenschaft und Technik fallen ließen, wenn sie dadurch sensibler werden könnten für die Gefährdungen durch verwissenschaftlichte industrielle Technologien und über die Zusammenhänge zwischen Technik und »gutem Leben« neu nachdenken würden? Dieser Schritt erscheint mir dringend notwendig, da auf der politischen Ebene die Gemeinde der Technikfetischisten, die fast alle Probleme gelöst sieht durch Entwicklung »neuer« Technologien, sich erweitert hat durch bedenkenlose Strukturkonservative. Eine radikale Kritik gegenüber den anstürmenden, totalitär werdenden Technologien, ihren vollkommen undemokratischen Entstehungsmustern, gegenüber der naturwissenschaftlichen Rationalität, die in der Moderne die Funktion der Religion übernommen hat, ist eindringlich von linken Theoretikern, vor allem der Frankfurter Schule, vorbereitet worden und wird heute von einer beachtlichen Zahl von Autoren ausformuliert. Im politischen Feld jedoch wird diese Kritik gegenwärtig fast ausschließlich nur vom grünen Diskurs getragen, wobei grün nicht parteipolitisch einzugrenzen ist, sondern auch beispielsweise Grüne in der SPD umfaßt.
Viele Hoffnungen konzentrieren sich auf eine grün-rote Politik, die versuchsweise auch Ökosozialismus genannt wurde, wobei Ökologie als Ergänzung zu Sozialismus meiner Einschätzung nach zu kurz greift. Grüner Sozialismus wäre vielleicht besser. Aber was könnte ein grüner Sozialismus bedeuten? Was bliebe übrig vom Projekt Sozialismus, wenn die geschichtsphilosophische Hypothese der Höherentwicklung und des Durchbruchs aufgegeben würde, wenn man nicht mehr davon ausginge, daß über kapitalistisch-industrielle Produktivkraftentfaltung die Basis für ein gutes Leben gelegt sei, wenn man verwissenschaftlichten Prozessen gegenüber grundsätzliche Skepsis übte und wenn das Vergesellschaftungsmodell vollkommen neu formuliert werden müßte? Kann die Forderung nach aufrechtem Gang, nach Gerechtigkeit und ihre organisatorische Ausformulierung hinreichendes und notwendiges Ergänzungsrot sein für grüne Politik? Ob das Projekt Sozialismus jede emanzipative Ausstrahlung schon verloren hat, kann nur nach sorgfältiger theoretischer und praktischer Prüfung festgestellt werden. Wenn jedoch das Projekt Sozialismus gefesselt bliebe an die genannten Postulate bürgerlich modernen Ursprungs oder auch nur an das Konzept einer zentralmachtorientierten Vergesellschaftung, dann wäre Sozialismus als Leitbild einer wünschbaren Zukunft passe.
Ich bin sehr gespannt, ob und wie eine Neudefinition des Projekts Sozialismus (Nils Beckenbach) gelingt. Für diesen Versuch möchte ich nun auf einer anderen Ebene, d.h. konkreter auf Techniken bezogen, einige ergänzende Argumente auflisten, die nach meiner Einschätzung dabei berücksichtigt werden müßten. (Für umfassendere Einwände gegen die alte sozialistische Utopie etwa gegen das zentralmachtorientierte Vergesellschaftungsmodell vgl. mein »Weltniveau«, Berlin 1979, u.a. Kap. 6: Warum ist eine 'sozialistische Industriegesellschaft' ein Widerspruch in sich?)
Die Technikvision in der alten sozialistischen Utopie ist die große, selbsttätige Produktionsmaschine, aus der sich der Mensch heraushalten kann, neben die er sich als Wächter und Regulator stellt. Es müßte einmal systematisch aufgearbeitet werden, aus welchen Mythologien, Herrschaftssehnsüchten und Männerphantasien diese Technikvision entstanden ist. Sie und ihre heutigen materiellen Realisationen konnten vielleicht so geschichtsmächtig werden, weil sie sich aus einer Vielzahl von Wünschen und Interessen zusammensetzte: aus dem Wunsch feudaler Herren nach automatisch funktionierender Dienerschaft, aus der Sehnsucht des gebeutelten Volkes nach den Heinzelmännchen oder dem Schlaraffenland, aus dem Ideal des Militärs nach der Kampfmaschine, die exakt einem Befehl gehorcht, aus der Sehnsucht der Magier, durch eine Formel aus der Distanz Herrschaft über fremde Mächte zu gewinnen, aus dem Ideal der neuen Naturwissenschaft, körperausschaltend die Natur in reproduzierbare mathematische Bahnen zu pressen, aus dem Interesse von Kapitalisten an störungsfreien kontinuierlichen Produktionsprozessen und insgesamt aus dem Prinzip der Moderne und der Industrie, tendenziell Organisches durch Synthetisches, eigenwillig Lebendiges durch verplanbares Totes zu ersetzen.
Die Analyse der historischen »Triebstruktur« der Großen Maschine kann wichtige Aufschlüsse geben über deren Charakter, Dynamik und Richtung. Zu ergänzen wäre sie durch eine Analyse der konkreten Auswirkungen auf die Menschen, auf die Produkte und auf die natürliche Mitwelt der Menschen. Ist die körperausschaltende verwissenschaftlichte Produktionsmaschine aneignungsfähig und demokratisierbar für die Menschen, die mit ihr zu tun haben? Für wieviele Menschen bietet sie Raum zur befriedigenden, persönlichkeitsentfaltenden Tätigkeit? Sind ihre Produkte wenigstens für die wichtigsten Lebensbedürfnisse zufriedenstellend, ansprechend und bekömmlich? Bietet sie die Chance für einen dauerhaften Frieden mit der Natur?
Die philosophische Hypothese der Höherentwicklung und die Durchbruchshoffnung deckte Fragen dieser Art zu. Man entkam ihnen durch einen unmaterialistischen Sprung in den Idealzustand der sozialistischen Gesellschaft. Dabei hätten gerade Materialisten sorgfältiger prüfen müssen, ob im realen Prozeß wenigstens Tendenzen enthalten sind für die erhoffte Entwicklung. Der idealistische Sprung betraf vor allem die Auswirkungen auf die Menschen und die Natur. Bei den Produkten der industriellen Maschine scheint der Glanz der Oberflächen zu blenden oder die bloße massenhafte Verfügbarkeit ausreichendes Kriterium zu sein für deren positive Beurteilung.
Den Gewerkschaften wird vorgeworfen, daß sie sich bis heute so gut wie gar nicht um die Produkte der Arbeit kümmern. Ihr Interesse bleibt arbeitsteilig eingegrenzt auf Lohnhöhe, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen. Die Industrie-Soziologen und insbesondere die marxistisch orientierten Sozialwissenschaftler haben sich noch weniger um die Produkte gekümmert. Sie konzentrierten sich fast ausschließlich auf die Mittel und vergaßen — wie die ganze Epoche — die verfolgten Zwecke. Diese Produktvergessenheit hat zu tun mit dem erwähnten verhexten Selbstverständnis der Moderne, sich von entfalteter funktionaüstischer Vernunft zugleich ein menschenwürdiges Leben zu versprechen. Hiernach schien es selbstverständlich, daß durchrationalisierte technische Produktionssysteme lebensweltlich passende Produkte erzeugen. Eine grüne Technikkritik hat dieses Selbstverständnis durch exemplarische Beispiele fragwürdig werden lassen. Für systematische Forschungen eröffnet sich hier ein weites Feld, wofür ich hier nur einige Stichworte erwähnen kann.
Die wichtigsten Zwecke des produktiven Sektors einer Gesellschaft sind die Schaffung von Nahrung, Behausung, Kleidung und Mitteln zur Mobilität. Welche Leistungen hat hier die verwissenschaftlichte industrielle Produktionsweise erbracht, und wie sieht die in ihr angelegte Tendenz aus?
Die chemisierte, industrialisierte Landwirtschqft ist eindeutig in eine Sackgasse geraten. Dafür gibt es zahlreiche empirische Befunde. Die Rationalisierung durch Chemie in Form von Industriedünger, synthetischen Kampfstoffen und Pharmaka zerstört die Fruchtbarkeit des Bodens und erodiert ihn, zerstört die Artenvielfalt und freiwillige Mittätigkeit der Natur, erhöht das Leiden der Tiere und vergiftet die Produkte der Landwirtschaft. Die Rationalisierung durch große und schwere Kombinationsmaschinen zerstört ebenfalls den Boden und die Möglichkeiten der freiwilligen Mittätigkeit der Natur, da großflächige Monokulturen, fehlende Hecken und Tümpel usw. keine Grundlage hierfür bieten. Für die Gewinnung der Nahrungsmittel bietet die moderne industrialisierte Produktionsweise keine Perspektive. Deren Schädigungen und Kontraproduktivität sind nicht durch angehängte ökologische Korrekturen zu beheben, sondern nur durch eine grundsätzliche Umkehr. Die praktizierten Alternativen eines ökologisch orientierten Landbaus gründen sich nicht auf das Projekt der wissenschaftlich-technischen Produktivkraftentfaltung, sondern auf hierzu konträre Traditionen und Erfahrungen.
Auch die industrielle Verarbeitung und Verteilung der Nahrungsmittel bekommt ihnen schlecht. Die industriellen Erfordernisse der Fließbearbeitung, Verpackungsfähigkeit, Lagerhaltung und großräumigen Verteilung standardisieren die Produkte, verderben ihren Geschmack, berauben sie von Vitalstoffen und Frische und verquicken sie mit energieverschwendenden und müllerzeugenden Verpackungen und Transporten. Das Vergesellschaftungsmodell der alten sozialistischen Utopie, die großräumig vernetzte gesellschaftliche Arbeitsteilung, muß zumindest für die Produktion und Verteilung der Nahrungsmittel verändert werden in Richtung einer entflechteten, kleinräumigeren, dezentalisierten, nichtindustriellen Produktionsweise.
Was die industrielle Produktionsweise den Wohnungen und Häusern angetan hat, ist ebenfalls kaum als Fortschritt zu feiern. Diese Produkte der Moderne sind als Hochhaus oder Einfamilienhaus in der Regel häßlich, ohne Gesicht und ansprechenden Reiz. Sie sind zur Entfaltung einer humanen Lebenswelt kaum geeignet und, soweit sie auf industriell vorfabrizierten Bauelementen beruhen wie Beton oder zusammengepappten Fertighauswänden, ohne Spielraum zur Mitgestaltung durch ihre Bewohner. Zudem stellt sich mehr und mehr heraus, daß die chemiedurchsetzte moderne Bauweise nicht nur die Seele ihrer Bewohner angreift, sondern auch ihren Körper.
Oder die modernen Zentralheizungen in diesen Häusern bieten zwar einen Knopfdruckkomfort, aber kein angenehmes und gesundes Raumklima. Außerdem verschwenden sie in unverantwortbarer Weise nicht erneuerbare Energiequellen. Auch die Produkte für die Ausstattung der Wohnungen sind in der Regel ein erbärmlicher Schund, dem man schon bei der Produktion ansieht, daß der Aufenthalt in den Wohnungen nur von kurzer Dauer sein wird und der eigentliche Bestimmungsort die Müllhalde ist, auf der sie auch eine weit größere Zeitspanne verbringen. Um den industriellen, kontinuierlich ablaufenden und standardisierten Produktionserfordernissen zu entsprechen, wird beispielsweise im Möbelbau das volle Holz zerspant, aus dem chemisierten Holzbrei werden energieaufwendig Platten gepreßt, diese mit Holzdekoren kunststoffbeschichtet, um daraus Wegwerfmöbel zusammenzuklemmen.
Erst langsam beginnen einige Architekten wieder landschaft- und klimagerechtes ökologisches Bauen zu lernen. Sie errichten zusammen mit den künftigen Bewohnern aus gesundheitsverträglichen Baustoffen Häuser, die abgestimmt sind auf die Lebensbedürfnisse der Menschen, die mit eleganten architektonischen Mitteln ohne aufgesetzte Maschinen eingebettet sind in den Energiekreislauf der Umgebung. Die Anknüpfungslinien zur Entwicklung einer humanen und naturangepaßten Architektur liegen nicht im Projekt der Moderne, in den Potenzen einer verwissenschaftlichten Produktionsmaschine — diese Bauweise muß gegen sie durchgesetzt werden —, sie liegen in den verschütteten Traditionen alter Baumeister und handwerklicher Kunst.
Auch die Kleidung als weiteres lebenswichtiges Produkt hat von der Industrialisierung und Verwissenschaftlichung kaum profitiert. Die genuin industriell-wissenschaftliche Leistung in diesem Bereich, die Kleidung aus synthetischen Fasern, ist ein Fehlgriff, da sie nicht hautverträglich ist. Angenehme Kleidung besteht ganz überwiegend aus natürlichen Fasern, aus pflanzlichen und tierischen Produkten. Auch vor der Industrialisierung hat man beispielsweise aus Wolle, Baumwolle und Seide Stoffe von höchster Qualität herstellen können. (Lewis Mumford: »Die Textilien des alten Damaskus oder Perus wurden an Dauerhaftigkeit und Schönheit nie mehr übertroffen ...« Mythos der Maschine, Fankfurt 1977, 531). Ob die höhere Produktivität industrieller Webmaschinen nicht zum erheblichen Teil aufgezehrt wird durch die nicht nur modisch bedingte Kurzlebigkeit heutiger Kleidung, müßte einmal untersucht werden.
Schließlich noch eine Bemerkung zu einem Mittel, das gedacht war zur Förderung der menschlichen Mobilität. Das herausragende moderne Produkt zur Fortbewegung, das Automobil, das zusammen mit seiner Infrastruktur einen dominierenden industriellen Produktionssektor darstellt und auch sonst das Leben des industriellen Menschen weitgehend durchdringt, entpuppt sich als grandiose Fehlentwicklung. Das Autosystem erzeugt unermeßlichen sozialen und ökologischen Schaden, der in keinem Verhältnis zu seinem Nutzen steht, und es fördert noch nicht einmal die Mobilität der Bevölkerung. Die angelegte Linie der wissenschaftlich-technischen »Höherentwicklung« dieses Produkts durch motorische und elektronische Aufrüstung führt auch hier in eine Sackgasse. Wollte man sozial und ökologisch verträglichere Fortbewegungsmittel, müßte diese Entwick-lungslinie umgekehrt werden zu leistungs- und geschwindigkeitsmäßig stark abgerüsteten Fahrzeugen, und langfristig müßte die Individualmoto-risierung fast vollständig ersetzt werden durch andere Verkehrsmittel (vgl. Holzapfel/Traube/Ullrich: Autoverkehr 2000, Wege zu einem ökologisch und sozial verträglichen Autoverkehr, Karlsruhe 1985)
Meine These ist zusammengefaßt, daß für die wichtigsten Lebensbedürfnisse die Bilanz für die verwissenschaftlichten und industriell erzeugten Produkte nicht günstig aussieht und daß sie auch keine günstige Entwicklungsperspektive haben, die auf einen Durchbruch hoffen ließen. Die größten Leistungen zeigt das Industriesystem in der Hervorbringung von Produkten, die nicht so lebenswichtig sind, oder die zur Kompensation
von Problemen dienen, die das Industriesystem selbst erst geschaffen hat. Viele dieser Produkte, wie beispielsweise der größte Teil der Unterhaltungselektronikbranche, könnte in einer humanen Gesellschaft höchst entbehrlich sein.
Aus dem großen Komplex der Auswirkungen der verwissenschaftlichten Großen Produktionsmaschine auf den Menschen greife ich nur zwei Themen heraus: die Chance zur Aneignung und die Chance zur Befriedigung in der Arbeit, auch hier verbunden mit der Frage, ob wenigstens die Richtung der vorhandenen Technologieentwicklung Anlaß zu Hoffnungen gibt.
Ein Ziel der alten sozialistischen Utopie ist die Übernahme der Produktivkräfte in die Verfügungsgewalt der Werktätigen, die demokratische Aneignung des wissenschaftlichen Fortschritts. Der reale Prozeß der Industrialisierung bietet hierfür jedoch zunehmend geringere Chancen. Es erfolgte eine schrittweise Enteignung der Arbeiter von umfassenden Fertigkeiten und Kompetenzen. Betriebe wurden zielstrebig so organisiert und in ihrer Größe und Vernetzung ausgedehnt, zentralmachtorientiert vergesellschaftet, daß sie typische nicht demokratisierungsfähige Gebilde wurden. Man erkannte, daß beispielsweise das Volkswagenwerk oder die Siemens AG durch die Arbeiter nicht aneignungsfähig sind, sondern ihre heutige Produktionsfunktion nur aufrechterhalten können durch ein autokratisches, zentralistisches Management.
Nahezu vollständig vereitelt wird die Aneignungsfähigkeit modemer Produktivkräfte durch ihre ständig steigende Verwissenschaftlichung. Eine kritische demokratische Öffentlichkeit hat kaum noch eine Chance, die »Kluft zwischen lebensweltlichem Wissensbestand und naturwissenschaftlicher Erkenntnis« (Hieber) zu überbrücken, um Kontrolle ausüben zu können gegenüber den technologievorantreibenden Interessen. Der »Verlust an Beurteilungskompetenz durch Verwissenschaftlichung«, die relative »Dequalifizierung durch den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt« (Hieber in Prokla 55, 82) charakterisiert auch die betriebliche Situation in steigender Tendenz. Der gegenwärtige Rationalisierungsschub durch die elektronische Informatisierung dequalifiziert auch erhebliche Teile der Ingenieure und kaufmännischen Planer. Wie kann man diesen Prozeß »durchaus optimistisch beurteilen« und hier von einer »Intellek-tualisierung der Arbeit« sprechen? — Das gelingt auch wieder nur durch eine Fiktion: durch die Annahme eines rational handelnden Gesamtarbeiters. Die Dequalifizierung und Entmündigung ehemals anspruchsvoller und selbständiger Angestelltentätigkeit durch sogenannte neue Technologien beschreibt Beckenbach, sich auf Baethge berufend, als »Entindivi-dualisierung des Erfahrungswissens« und als »zunehmende 'externe' Kontrolle im Hinblick auf das Arbeitsergebnis und zunehmend auch auf die Arbeitszeit«. Dadurch ist sprachlich seine Schlußfolgerung vorbereitet:
»Diese Tendenz zur 'Rationalisierung der Rationalisierer' bzw. zur 'Effektivie-rung der Effektivierer' könnte das letzte Glied in der bislang allerdings noch nicht geschlossenen Kette einer informatorisch transparenten betrieblichen Gesamtarbeit darstellen.« (Prokla 55, 34)
Für wen soll das ganze transparent werden, wenn noch nicht einmal die Programmierer selbst ihre komplexen Systemverschachtelungen durchschauen (vgl. z.B. Weizenbaum: Kurs auf den Eisberg, Zürich 1984, 132f.)? Die Annahme, daß dieser hochspezialisierte, sich verselbständigende Prozeß im »Körper« eines Gesamtarbeiters wieder rationale Gestalt annehmen wird im Sinne eines vernünftigen Ganzen, um dann von einem kollektiven Subjekt aneignungsfähig zu sein, ist eine idealistische Konstruktion wie die »unsichtbare Hand«, die das Chaos des Marktgeschehens zu einem guten Ende führen solle, oder wie der Hegelianische »Weltgeist«, durch den noch die letzte Schandtat Preußens als Entfaltung der Vernunft interpretiert wurde. Im Zusammenhang des »jämmerlichen Zu-stands« der marxistischen Klassentheorie hat beispielsweise David Lockwood auf Gemeinsamkeiten von Rationalitätsfiktionen bei liberalen und marxistischen Theorien hingewiesen. Der Liberalismus hat die falsche Vorstellung, Individuen würden in ihrem Verhalten zweckrationalen Abwägungen folgen. Der Marxismus unterstellt ein mindestens so fragwürdiges Konzept der Rationalität kollektiven Handelns (vgl. Lockwood in Prokla Nr. 58). Auf dieser Rationalitätsfiktion beruht sowohl die empirisch unsinnige Revolutionstheorie (vgl. z.B. Gorz: Abschied vom Proletariat, Frankfurt/M. 1980, 11ff.) als auch der Mythos eines aneignungsfähigen Gesamtarbeiters (vgl. Gorz, a.a.O., 17f.: Die unmögliche kollektive Aneignung).
Als Schlußfolgerung ergibt sich aus diesen Überlegungen: In einer Neudefinition des Projekts Sozialismus muß entweder die Zielsetzung einer Demokratisierung der Produktivkräfte fallengelassen werden, oder man müßte endlich eingestehen, daß die verwissenschaftlichten Produktivkräfte der kapitalistischen Industrialisierung nicht demokratisch aneignungsfähig sind, was zu entsprechenden Konsequenzen bei der Beurteilung moderner Technologien führen müßte.
Beim Thema Chancen zu befriedigenden Tätigkeiten werden zwei Bereiche unterschieden: Befriedigung in der Arbeit und befriedigende Tätigkeiten außerhalb der Arbeit. Die Marxsche Auffassung, daß zur umfassenden menschlichen Befriedigung die selbstbestimmte, körperlich aktive Tätigkeit dazugehört, ist sehr wahrscheinlich von überhistorischem, anthropologischem Gewicht. Der Mensch ist ja auch ein Körperwesen, das ohne umfassende Ansprechung seiner leiblichen Antriebe und Sinne verkümmert. Für viele Sozialisten war darum Bestandteil der sozialistischen Utopie, auch in der Arbeit eine Chance zur befriedigenden Tätigkeit zu finden.
Oskar Negt greift diese Forderung erneut auf und begründet sie zunächst mit eindrucksvollen Gedanken der Klassiker, etwa mit Hegel:
»Daran, daß ich etwas zur That und zum Daseyn bringe, ist mir viel gelegen: ich muß dabei sein; ich will durch die Vollführung befriedigt werden. Ein Zweck, für welchen ich thätig sein soll, muß auf irgend eine Weise auch mein Zweck sein; ich muß meinen Zweck zugleich dabei befriedigen, wenn der Zweck, für welchen ich thätig bin, auch noch viele andere Seiten hat, nach denen er mich nichts angeht. Dies ist das unendliche Recht des Subjekts, daß es sich selbst in seiner Thätigkeit und Arbeit befriedigt findet.« (vgl. Negt: Lebendige Arbeit, enteignete Zeit, Frankfurt/M. 1984, 174)
Negt meint, daß auch Marx diese Auffassung vertreten habe, »daß der gesellschaftliche Reichtum an Dingen, Verhältnissen, kulturellen Gebilden zu einer tödlichen Bedrohung für die Menschen wird, wenn sie versuchen wollten, ihre lebendige Arbeit daraus zurückzuziehen und sich daneben ein gesondertes Reich des autonomen Willens und der Gedankenfreiheit aufzubauen.« (173). Marx habe eine »Befreiung von der Schwerkraft des eigenen Leibes und der äußeren Natur für illusionär, ja, wenn sie möglich wäre, für nicht besonders wünschenswert« gehalten, wobei hier Negt auf die Frühschriften von Marx verweist (175).
Man kann Zweifel haben, ob das typisch ist für das Marxsche Werk, wenn man beispielsweise an die spätere recht schroffe Gegenüberstellung vom Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit jenseits der Arbeit denkt (vgl. MEW 25, 828). Die Faszination für die kapitalistisch-industriellen Produktivkräfte hat Marx letztlich in einen »eklatanten Widerspruch« verstrickt, wie Hannah Arendt hervorhob. Er besteht darin,
»daß Marx in allen Stadien seines Denkens davon ausgeht, den Menschen als ein Animal laborans zu definieren, um dann dieses arbeitende Lebewesen in eine ideale Gesellschaftsordnung zu führen, in der gerade sein größtes und menschlichstes Vermögen brach liegen würde. Ungeachtet seiner Größe endet das Marxsche Werk schließlich mit einer unerträglichen Alternative zwischen produktiver Knechtschaft und unproduktiver Freiheit.« (Arendt: Vita acitiva oder Vom tätigen Leben, München 1981, 95)
Ich bin nun nicht an der erneuten Auflage von Marxexegesen interessiert, sondern an Folgerungen aus Widersprüchen für heute. Einerseits halte ich es für äußerst wichtig, daß in eine vielleicht mögliche Neudefinition des Projekts Sozialismus das Ziel übernommen wird, daß auch in der Arbeit, in der Tätigkeit zur Bewältigung lebenswichtiger Aufgaben, eine Chance gegeben ist zur umfassenden Befriedigung. Allein für verantwortliches Handeln in der Arbeit muß der tätige Zweck »auf irgend eine Weise auch mein Zweck sein«, muß eine Verknüpfung zwischen Produzieren und Konsumieren gegeben sein. Zur befriedigenden und verantwortbaren Arbeit gehört ein erheblicher Umfang der Selbstbestimmung in der Arbeit und eine sinnliche Rückkopplung, eine alle Sinne des Menschen ansprechende Körperreflexivität. Für verantwortbares und befriedigendes Handeln muß ich »dabei sein« können mit meinem Verstand, meinen Sinnen und meinen zweckorientierten Interessen. Eine zweckindifferente, entsinnlichte Arbeitsmotivation in einer Produktionsmaschine, die die Nachfrage nicht abwarten kann, wird zur tödlichen Bedrohung für die Menschen und die Natur. Sie würde uns ersticken mit nutzlosen und schädlichen Dingen, uns in immer größere Zeitarmut hetzen und unsere Seelen veröden. Anzuknüpfen wäre darum an Utopien wie die von William Morris von 1890:
»Überdies haben wir ... allmählich genau herausgefunden, was wir brauchen, und wir machen deshalb nie mehr, als wir brauchen; und da wir nicht gezwungen sind, eine große Masse nutzloser oder gar schädlicher Dinge zu machen, so haben wir Zeit und Hilfsmittel genug, die Anfertigung der notwendigen Güter als ein Vergnügen zu betrachten. Alle Arbeit, die schwer mit der Hand zu verrichten wäre, wird mit... Maschinen gemacht, und alle Arbeit, die mit der Hand herzustellen ein Vergnügen ist, wird ohne Maschine angefertigt.« (Morris: News form Nowhere, Köln 1974, 132)
Befriedigende körperreflexive Arbeit, die nicht die »Schwerkraft des eigenen Leibes und der äußeren Natur« auschaltet, wäre in erheblichem Ausmaß durchmischt mit handwerklich orientierter Tätigkeit. Auf der anderen Seite ist es offensichtlich, daß die verwissenschaftlichte industrielle Produktionsmaschine für diese Perspektive keine Chance bie tet. Die Möglichkeiten zur umfassenden Befriedigung in der Arbeit neh men kontinuierlich ab. Das ganze industrielle Projekt ist angelegt auf Kör perausschaltung, Entsinnlichung, auf Abtrennung des tätig-reflexiven Menschen aus dem Produktionsprozeß, auf zweckindifferente Arbeitsmotivation und Fremdbestimmung durch Vorgaben aus Planungszentren. Zudem »kann die Großindustrie nicht die Nachfrage abwarten« (Marx). Sie zwingt uns, »eine große Masse nutzloser oder gar schädlicher Dinge zu machen« (Morris) und läßt uns keine Zeit, mit Ruhe und Sorgfalt nur die Dinge herzustellen, die wir wirklich brauchen und die bei der Herstellung Vergnügen bereiten.
Wenn also das unendliche Recht des Subjekts, in seiner Tätigkeit und Arbeit Befriedigung zu finden, eingelöst weden soll, wenn in der Arbeit verantwortliches Verhalten möglich und nicht Völkermord und Naturzerstörung als humanisierte Arbeit tarnbar werden sollen, müssen die vorhandenen industriellen Produktivkräfte fundamental umgestaltet werden. Damit zusammenhängend müßten einige selbstverständlich gewordene Fortschrittsformeln aus der alten sozialistischen Utopie, die sich auf Arbeit und Technik beziehen, überdacht und aufgegeben werden. Dazu gehört das Ziel einer vollständigen Verwissenschaftlichung der Produktion oder, wie Marx sagte, die »Ersetzung der Menschenkraft durch Naturkräfte und erfahrungsmäßiger Routine durch bewußte Anwendung der Naturwissenschaft« (MEW 23, 407). Dies kann kein vernünftiges Ziel sein, wie wir heute wissen, genauso wenig, wie die ständige Reduzierung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit durch Maschinen. Der Einsatz der Menschenkraft ist unabdingbar für eine Produktionsweise, die die Schwerkraft des eigenen Leibes nicht ignoriert, er ist erforderlich für körperreflexive Tätigkeiten, für sozial und ökologisch verträgliche Mobilität, für die Erstellung lebensweltlich passender Gebrauchsgegenstände etwa beim handwerklich durchmischten Möbelbau aus vollem Holz. Und für die Anfertigung notwendiger Güter, deren Herstellung ein Vergnügen bereitet, gibt es keinen Anlaß, die Arbeitszeit durch Maschinen zu verkürzen.
Zur Neudefinition des Projekts Sozialismus gehört also eine radikale Neudefinition von Produktivität. Bisher übernehmen hier Sozialisten phantasielos die bürgerlich-kapitalistische Definition der abstrakten Ökonomie der Zeit: möglichst viele Produkte in möglichst kurzer Zeit herstellen zu können ohne Rücksicht auf die Qualität der Arbeitszeit, die Qualität der Produkte als Gebrauchswert und ohne Rücksicht auf die zahllosen Kostenverschiebungen durch eine sogenannte produktive Maschine. Auch Negt zieht aus seinen Darlegungen über die Wichtigkeit leiblich-sinnlicher Reflexivität überhaupt keine systematischen Folgerungen für seine theoretischen Überlegungen. Er hält weiterhin eine fortlaufend steigende Produktivität der Arbeit für selbstverständlich (176) und eine beschleunigte Verwissenschaftlichung der Produktionsprozesse (166). Er hält am körperausschaltenden Wächter- und Regulator-Modell der Arbeit fest (193) und schwärmt von der entsinnlichenden Umwälzung durch die Mikroelektronik (u.a. 167, 189). Die Computertechnologie sei »Vergegenständlichung lebendiger Arbeit in Gestalt angewandter lebendiger Wissenschaft« (193). Na also, alles ist lebendig, da können die Schönsprecher vom Entsorgungspark vielleicht noch etwas lernen. So nichtssagend abstrakt gesehen ist auch die mit Computern vollgestopfte Cruise-Missile vergegenständlichte lebendige Arbeit in Gestalt angewandter lebendiger Wissenschaft.
Wenn man den Fortschrittsmythos der verwissenschaftlichten industriellen Produktivkräfte über alles stellt, wird man das Ziel einer umfassenden Befriedigung in der Arbeit fallen lassen und nach Möglichkeiten außerhalb der Arbeit suchen. Die Konzeption der zwei Reiche, die Aufspaltung in entfremdete notwendige Arbeit und freie Zeit, bietet dieses theoretische Schlupfloch. Die unerträgliche Alternative zwischen produktiver Knechtschaft und unproduktiver Freiheit (Arendt) scheint, für mich überraschend, in jüngster Zeit auch wieder für Andre Gorz Attraktivität gewonnen zu haben, obwohl er hierzu in früheren Schriften schon andere Akzente gesetzt hatte. Die notwendigen Produkte sollen in der heterono-men Sphäre entstehen, und der autonome Bereich ist gerade gut genug für das Überflüssige.
Ich halte diese Aufspaltung für eine unerträgliche und in die Irre führende Alternative. Die Folgen, die damit verbunden sind, müßten bei einer Neudefinition des Projekts Sozialismus sorgfältig untersucht werden. Hier nur einige Stichworte und Vermutungen. Um den menschen- und erdzerstörenden produktivistischen Bann, den Teufelskreis von Produktivismus und Konsumismus zu brechen, müßte gerade die Produktion der notwendigen Güter in die selbstbestimmte, körperreflexive Sphäre verlagert werden. Die Neubestimmung von Produktivität müßte dominant werden für die gesamte Gesellschaft. Das gelingt nicht, wenn im Sektor der Produktion notwendiger Güter weiterhin kapitalistisch-industrielle Effizienz-Kriterien gelten.
Überhaupt wäre ein großes Problem die verbleibende Ausstrahlung der hochproduktiven industriellen Sphäre auf die Lebenswelt. Es ist ja nicht nur so, daß die entfesselte instrumentelle Vernunft keinen Weg bahnt für ein gutes Leben, sie steht der Lebenswelt sogar feindlich und zersetzend gegenüber. So wie die Natur geschützt werden muß vor den anstürmenden Technologien, so müßte die Lebenswelt vor ihnen durch einen Kulturschutz bewahrt werden. Wie will man diesen Schutz aber gewährleisten für Menschen, die gezwungen sind, in der hochproduktiven, fremdbestimmten und entsinnlichten Sphäre zu arbeiten? Ist ihre Psyche, ihre Einstellung zu Tätigkeiten, zum Lebendigen, zur Verantwortung und Selbständigkeit auch bei wesentlich kürzerer Arbeitszeit nicht so deformiert, daß nur noch geringe Chancen bestehen, in der »Freizeit« genau entgegengesetzte Tugenden zu leben? Ist für diesen Wechel zwischen den konträren Sphären nicht ein schizophrenes Wesen notwendig, das letztlich in keinem der beiden Reiche eine erfüllende Befriedigung findet?
Grüne Technikkritik wird in der Öffentlichkeit oft noch reduziert auf Ökologiethemen. Mit der Ökologiebewegung hatte grüne Politik zwar begonnen, aber für mich war es wichtig, herauszustellen, daß grüne Technikkritik gerade auch die sozialen Schädigungen moderner industrieller Technologien betont, die Auswirkungen auf die Menschen und die Produkte. Für die Auswirkungen auf die natürliche Mitwelt der Menschen will ich mich hier nur auf einen Punkt konzentrieren: auf die Schöpferarroganz der Industriekultur.
Ein durchdringendes Prinzip der Moderne, das die Logik der naturwissenschaftlichen Technik in gleicher Weise beherrscht wie die Logik des Kapitals, ist das Analyse-Synthese-Verfahren: Vorgefundenes wird in Einzelteile zerlegt und nach Kriterien der besseren Beherrschbarkeit neu zusammengesetzt. Die Kapitalisten verfuhren so mit den vorgefundenen Arbeitsformen und menschlichen Lebenswelten, und die Gemeinde der Naturwissenschaftler verfuhr so mit der Natur. Die außermenschliche Natur betrachtet die Moderne als bloße Ressource für menschliche Zwecke. Durch das totalitär werdende Analyse-Synthese-Verfahren wird die Absicht verfolgt, nach der Zerschlagung die Welt neu herzustellen, sie neu zu schaffen nach dem Bild des menschlich-männlichen verrechnenden Verstands. Diese Schöpferarroganz ist auch Bestandteil der alten sozialistischen Utopie, die hier ganz wesentlich die Vision von Wissenschaft, Technik und Arbeit bestimmt.
Dieses »Naturverhältnis« der Moderne ist in mindestens doppelter Weise zu kritisieren. Der Mensch ist ein Teil der Natur, und er hat kein Recht, seine Mitwelt in dieser Weise zu unterjochen und beispielsweise ungezählte Tiere unsäglich zu quälen und zu töten allein für Testzwecke irgend eines industriellen Warenplunders. Die rücksichtslose Mißachtung der Eigen-rechte der außermenschlichen Mitwelt und die Betrachtung der Natur als bloße Rohstoffquelle ist kulturell sehr tiefstehend. »Menschen, Tiere, Pflanzen und die Elemente sind naturgeschichtlich verwandt und bilden eine Rechtsgemeinschaft der Natur.« (Meyer-Abich: Wege zum Frieden mit der Natur, München 1984, 190)
Seit der analytisch-synthetische Zugriff grenzenlos in die Struktur der Materie eindringt und sie umformt für vordergründige menschliche Zwecke, seit der Atombombe, der synthetischen Chemie, der Atomkraftwerke und der Gentechnologie, wird erkennbar, daß dadurch auch die Lebensgrundlage der Menschen irreversibel gefährdet und zerstört wird. Ein »Durchbruch« kann hier keine Hoffnung bieten, nur eine Umkehr, ein neues Lernen von durch die Moderne in Verruf geratenen Fähigkeiten der Menschen wie Ehrfurcht, Scheu, Mitleid, Grenzbewußtsein.
Wie man sieht, wird eine Neudefinition des Projekts Sozialismus erhebliche Arbeit bereiten. Ein bloßes Anhängen von vergessenen und unterschlagenen Themen von Ökologie und Feminismus, von sanfter Technik und Eigenarbeit an den Korpus der alten Theorie hat nicht die geringste Chance, ernst genommen zu werden.
Grüne Technikkritik: Fortschrittsdenken, umgestülpt
Antwort auf Otto Ulrich
Ist eine Kritik der Produktionsverhältnisse ausreichend oder muß sie ergänzt werden durch eine Kritik der Produktivkräfte? So lautet eine Kapitelüberschrift in Otto Ullrichs Buch »Weltniveau«. Damit ist die Frage klar formuliert, und ich denke, daß wir lernen müssen, hierauf eine ebenso klare Antwort zu geben. 1977 hatte ich in einem Aufsatz über »Technik als Ideologie« die Technikkritik zurückgewiesen, die verschiedene Autoren im Umkreis der Frankfurter Schule formuliert hatten. Ich denke zwar immer noch, daß viele meiner Einwände haltbar sind. Aber ich hatte einen gravierenden Fehler gemacht: ich hatte die Antworten dieser Autoren zurückgewiesen, ohne mir ihre Frage zu stellen. Muß also die Kritik der Produktionsverhältnisse durch eine Kritik der Produktivkräfte ergänzt werden? Ich denke, in diesem entscheidenden Punkt hat Ullrich recht: Ja, wir brauchen auch eine Kritik der Produktivkräfte. Offenbar war die metaphorische Form der Technikkritik bei Marcuse und anderen, vor allem die problematische Gleichsetzung von »Naturbeherrschung« und »Herrschaft über Menschen«, eine Art des Vorausdenkens: die Fixierung einer Einsicht, die gleichwohl noch nicht argumentativ dargelegt werden konnte. Heute ist die Technikkritik mehr als ein poetisch formulierter Gedankenblitz. Politische Bewegungen haben die praktische Relevanz einer Kritik der Produktivkräfte gezeigt, vor allem die Ökologiebewegung, die Friedensbewegung und die Bürgerrechtsinitiativen gegen den Einsatz von Überwachungstechniken. Autoren wie Commoner und Lovins haben gezeigt, daß es praktikable Alternativen zur Atomstrompolitik gibt. Ullrichs Konzept der »strukturellen Affinität« zwischen Technik und Herrschaft verläßt die Ebene der metaphorischen Gleichsetzungen; nach Günter Anders Theorem vom »prometheischen Gefälle« (zwischen dem, was wir machen können, und dem, was wir uns vorstellen können) war dies — soweit ich es überblicke — der zweite Versuch, allgemeine Beziehungen zwischen Technik und Herrschaft nachzuweisen, der sich nicht in erster Linie auf eine Reihe von rein verbalen Gleichsetzungen stützt. Zwar greift auch Ullrich auf diese traditionelle Argumentationsstrategie zurück (vgl. die Kritik von Axt 1982); aber man übersieht das Neue, wenn man Ullrichs Überlegungen auf dieses Element reduziert, so wie ich es in meinem Aufsatz über »Technik als Ideologie« irrtümlich getan habe.
In den folgenden Bemerkungen will ich Ullrichs Hauptargumente genauer untersuchen. Die Industrialisierung führt seiner Meinung nach zu ökologischen Katastrophen — hierauf beziehe ich mich in Teil 1 meiner Antwort; zur zentralmachtorientierten Vergesellschaftung — dies ist das Thema von Teil 2; und zu unbefriedigender Arbeit (Teil 3). Ullrichs These von der »strukturellen Affinität« zwischen Technik und Herrschaft ist eine Herausforderung an die marxistische These vom »Widerspruch« zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Ich habe diese Kritik so aufzugreifen versucht, daß ich die klassischen marxistischen Konzepte überprüfe. Das Schwergewicht liegt im ersten Teil auf dem Begriff der »Produktivkräfte«, im zweiten geht es vor allem um die »Produktionsverhältnisse«, im dritten schließlich darum, was man unter dem »Widerspruch« zwischen beiden verstehen könnte.
1. Kritik der Produktivkräfte: Auswahl oder Ausstieg?
In diesem Teil geht es darum, was »Kritik der Produktivkräfte« genau heißen könnte. Die Hauptfrage ist: Gibt es eine »sozialistische« oder »ökologische« Anwendung kapitalistisch entwickelter Technologien? Am Beispiel der Landwirtschaft wird das näher untersucht. Dabei setze ich stillschweigend »Technik« oder »Technologie« gleich mit »Produktivkräften«. Das ist jedoch problematisch. Im letzten Unterabschnitt dieses Teils will ich deshalb erläutern, was ich unter »Produktivkräften« genauer verstehe.
Gibt es eine sozialistische Anwendung kapitalistisch entwickelter Technik?
»In der geschichtlichen Phase des industriellen Kapitalismus entstehen ... auch Technologien, die sozialistisch angewendet werden können. Welche materiellen Produktivkräfte in eine sozialistische Gesellschaft übernommen werden können, läßt sich ... nur nach einer gründlichen Einzelanalyse herausfinden.« (Weltniveau, 64)
Ullrichs Position ist eindeutig:
- Es gibt eine sozialistische Anwendung kapitalistisch entwickelter Technik.
- Der Irrtum des traditionellen Konzepts von der sozialistischen Anwendung kapitalistisch entwickelter Technologien besteht nicht darin, daß so etwas prinzipiell unmöglich ist, sondern darin, daß diese Anwendbarkeit umstandslos für sämtliche im Kapitalismus entwickelten Technologien unterstellt wird.
- »Sozialistische Anwendung von kapitalistisch entwickelter Technik« wird von Ullrich faktisch neu definiert. Der sozialistische Charakter in der Anwendung kapitalistisch entwickelter Techniken besteht darin, daß im einzelnen geprüft wird, ob diese Techniken verschiedenen Kriterien genügen: ob sie tatsächlich Kosten einsparen oder nur Kosten auf die Gesellschaft verschieben; ob sie hierarchische Arbeitsverhältnisse befördern oder blockieren; ob sie befriedigende Arbeit ermöglichen; ob sie umweltverträglich sind.
Man kann diese Argumentation ausdehnen: von der Anwendung gegebener Technologien auf die Entwicklung neuer Technologien. Sozialistische Technikentwicklung würde dann bedeuten, daß ausgewählt wird, welche Techniken entwickelt werden sollen und welche nicht. »Kritik der Technikentwicklung« wäre dann kritische Sichtung der vorhandenen Techniken und der möglichen Entwicklungspfade.
Kritische Sichtung der vorhandenen Techniken und der möglichen Entwicklungspfade: ein solches Projekt bedeutet allerdings nicht, daß die Grenzen des Machbaren eingeschränkt werden. Im Gegenteil, sie werden erweitert. In der klassischen Konzeption des gesellschaftlichen Fortschritts durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik sind Wissenschaft und Technik selbst der blinde Fleck. Sie scheinen zwar die Mittel zu sein, mit deren Hilfe sich alles gestalten läßt — aber ihre Entwicklung scheint selbst nicht gestaltet werden zu können. Die Handlungsmöglichkeiten scheinen verkümmert zu sein auf die flache Alternative »fördern« oder »hemmen«. Technik und Wissenschaft scheinen die letzte Grenze zu sein, vor der bewußte Planung — und das heißt: Auswahl unter möglichen Alternativen — haltmachen muß. Kritik der Technikentwicklung, wählerische Technikentwicklung ist nicht die Absage an das »Projekt der Moderne« sondern seine Radikalisierung. Wenn wir unter »Projekt der Moderne« die Versuche verstehen, die Prozesse zu beherrschen, denen wir unterworfen sind, dann heißt Kritik der Technikentwicklung, dieses Projekt zu kritisieren — aber nicht weil es zu viel will, sondern weil es zu wenig will. Kritik der Technikentwicklung heißt, die vorhandenen Techniken, Wissenschaften, Organisationsstrukturen zerlegen, die Elemente sichten und das Brauchbare neu zusammensetzen. Es hat mich verblüfft, daß Ullrich »Grenzbewußtsein« propagiert und daß er das »Analyse-Synthese-Denken« kritisiert. Faktisch läuft sein Konzept einer Kritik der Technikentwicklung aufs Gegenteil hinaus. Ullrich definiert neue Bereiche, die der gesellschaftlichen Regulation unterworfen werden sollen; er verlangt die Zerlegung und Neuzusammensetzung historisch gewachsener technischer Strukturen. Und ich denke, daß er damit recht hat.
Neben diesem Konzept von »Kritik der Technikentwicklung« findet man bei Ullrich ein zweites. So heißt es etwa in seinem Aufsatz in diesem Band, daß man sich »endlich eingestehen« solle, »daß die verwissenschaftlichten Produktivkräfte der kapitalistischen Industrialisierung nicht demokratisch aneignungsfähig sind«. Das ist nun etwas ganz anderes. Die beiden Positionen schließen sich aus. Entweder man vertritt die Auffassung, daß bestimmte Technologien demokratisch angeeignet werden können und andere nicht, oder man erklärt »die« Produktivkräfte der kapitalistischen Industrialisierung insgesamt für unbrauchbar. Entweder man macht Unterschiede oder man macht keine.
Die zweite Position erinnert in vielen Zügen an die Fortschrittsphilosophie, die Ullrich so heftig kritisiert. Beidesmal handelt es sich um die Vorstellung einer linearen Entwicklung, beidesmal ist der Grundgedanke, daß sich ein bestimmtes Prinzip universell durchsetzt. Bei Ullrich geht die Entwicklung in umgekehrter Richtung als in der Fortschrittsphilosophie, sie geht zurück statt nach vorn. Aber die Tiefenstruktur ist dieselbe. Das Fortschrittsdenken wird umgestülpt. Aus der totalen Bejahung wird die totale Verneinung.
Der totalisierende Blick, der Austausch des positiven Einerleis durch das negative Einerlei, ist nicht haltbar. Genauer: die Totalkritik ist nur auf einer abstrakt philosophischen Ebene stabilisierbar. In der Praxis muß sie scheitern. Das wird deutlich, wenn man sich die Techniken anschaut, die Ullrich für den »sanften Weg einer nachindustriellen kommunalen Energieversorgung« propagiert (Weltniveau, 137ff.). Als Übergangstechnik schlägt er die Kraft-Wärme-Kopplung in kleinen und mittleren Einheiten vor. Ein Dieselmotor treibt hier einen Generator an, der Strom erzeugt; die Abwärme wird als Heizwärme verwendet. Dieselmotor und Generator sind nicht gerade Nebenprodukte der Industrialisierung. Es handelt sich um klassische Schlüsseltechnologien. Der Dieselmotor ist ein Paradebeispiel für die »verwissenschaftlichten Produktivkräfte der kapitalistischen Industrialisierung«. Er ist bis heute die entscheidende Technik für die Industrialisierung der Landwirtschaft; zugleich ist er der erste Motor, der unmittelbar als Anwendung einer bestimmten physikalischen Theorie entwickelt wurde. (Die Anwendung in der Landwirtschaft zeigt übrigens, daß es im Kapitalismus nicht nur eine Tendenz zur Entwicklung von Großbetrieben gibt, sondern auch eine entgegenwirkende zur Verkleinerung von Produktionsanlagen und zur technischen Förderung von Kleinbetrieben.) Der Generator ist, neben dem Elektromotor, das Kernstück der Elektrifizierung; seine Entwicklung hängt untrennbar zusammen mit dem Aufstieg der Elektroindustrie.
Nun begreift Ullrich diese Techniken jedoch nur als Übergangslösungen. Langfristig soll die Energieversorgung so umgestellt werden, wie Lovins es vorgeschlagen hat: auf Sonnenkollektoren, Biokonversion, Windkraftsysteme, kleine Wasserkraftanlagen und Solarzellen. Aber auch hier stoßen wir allenthalben auf die entscheidenden Technologien der kapitalistischen Industrialisierung: auf Elektromotoren und Wärmepumpen, auf Kunststoffe (für Kollektoren und Wassertanks) und auf Beton (ebenfalls für die Tanks zur Warmwasserspeicherung). Aber nicht nur die traditionellen Branchen Chemie- und Elektroindustrie kommen ins Spiel, sondern auch die modernen Sektoren Mikroelektronik und Biotechnik. Lovins — dem Ullrich folgt — schlägt den Einsatz fotoelektrischer Zellen für die dezentrale Energieversorgung vor (nicht zu verwechseln mit Sonnenkollektoren!). Diese Photozellen sind eng verknüpft mit der Entwicklung der modernen Physik. Die Theorie des photoelektrischen Effekts — der Verwandlung von Licht in Elektrizität — stammt von Einstein. Die Entwicklung von Technologien, die diesen Effekt ausnutzen, ist ein Ergebnis der Weltraumtechnik: photoelektrische Zellen dienen als Elektrizitätslieferanten für Satelliten. Die Biokonversion — die Verwandlung von organischer Masse in Brennstoffe — ist einer der Hauptbereiche der im Aufstieg begriffenen biotechnischen Industrie. Insbesondere Biokonversion unter Einsatz von Enzymen und Bakterien, wie Lovins sie propagiert, ist verkoppelt mit der modernsten Technik der kapitalistischen Industrie, mit der Gentechnik.
Auch die Vorstellungen zur langfristigen Umstrukturierung der Energieversorgung basieren also auf der Anwendung kapitalistisch entwickelter Technologien. Dabei geht es um die Anwendung derjenigen Technologien, auf denen die gesamte Industrialisierung beruht. »Es gibt ... technische Elemente, die für den harten und sanften Weg geeignet sind, je nachdem, zu welchen Techniksystemen sie zusammengefügt werden. Ein Beispiel sind die Solarzellen... Solarzellen sind... ein sehr gut geeignetes Element für eine dezentrale Energieversorgung im sanften Weg.« (Ullrich 1981, 58)
Die Diskussion, ob es eine sozialistische und ökologische Anwendung kapitalistisch entwickelter Technik gibt, ist in meinen Augen eine Scheindiskussion. Die Hauptvertreter der Position, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in »die« Technik »eingebaut« seien, propagieren selbst zugleich das entgegengesetzte Konzept der alternativen Anwendung. Was könnte der Grund für diese Inkonsistenz sein? Vielleicht ist es diese Widersprüchlichkeit, die den Erfolg von Autoren wie Ullrich erklärt. Seine Technikkritik läßt sich doppelt lesen: als Totalkritik und als Aufforderung zur wählerischen Aneignung. Damit werden unterschiedliche Lesergruppen angesprochen: eine kulturkritische Gruppierung, die prinzipiell gegen moderne Technik ist, sich aber nicht ernsthaft mit möglichen Alternativen auseinandersetzt, und eine Gruppe von Praktikern, von Ingenieuren, Bastlern und alternativen Landwirten, die an machbaren Alternativen arbeitet, und die allenthalben darauf stößt, daß man zwar auswählen muß, daß neue Forschungs- und Entwicklungsprioritäten notwendig sind, daß man aber aus der Welt der kapitalistisch entwickelten Technologien nicht aussteigen kann.
Übrigens ist auch Illichs Plädoyer für »konviviale Werkzeuge« keine Totalkritik, sondern ein Konzept der wählerischen Aneignung kapitalistisch entwickelter Technologien. Er rühmt die Vorzüge des Telefons und der Nähmaschine; er lobt das Verkehrssystem, das in den 30er Jahren in Mexiko entwickelt wurde, und das auf dem Einsatz von Lastwagen im Linienverkehr beruhte. Nicht einmal das Fernsehen müsse man ablehnen, meint lllich, es komme vielmehr darauf an, den einzelnen vor dem Zwang zu schützen, sich in einen Voyeur zu verwandeln. Das ist aber nichts anderes als das vielgescholtene Konzept der alternativen Anwendung kapitalistisch entwickelter Technologien, ergänzt um zwei entscheidende Gedanken: Auswahl nach bestimmten Kriterien und gezielte Neuentwicklungen. Es wäre viel gewonnen, wenn Technikkritiker wie Ullrich zugeben würden, daß die Kritik am Konzept der »alternativen Anwendung« ein reines Scheingefecht ist. Es gibt keine sozialistische Anwendung der kapitalistisch entwickelten Technik insgesamt — hier haben sich Marx und viele Marxisten geirrt —, aber jede realistische Kritik der kapitalistisch entwickelten Technik enthält die veränderte Anwendung von bestimmten kapitalistisch entwickelten Technologien (so verstehe ich auch die Positionen von Czeskleba-Dupont und Tjaden sowie von Hallerbach und Mez). Ich möchte diese Konzeption im folgenden an einem Einzelfall entwickeln.
Kann nur eine Entindustrialisierung der Landwirtschaft
die ökologische Katastrophe verhindern?
Ullrich schreibt in seinem Aufsatz in diesem Band, die chemisierte, industrialisierte Landwirtschaft sei »eindeutig in eine Sackgasse geraten«, die Probleme seien »nicht durch angehängte ökologische Korrekturen zu beheben, sondern nur durch eine grundsätzliche Umkehr«.
Zweifellos hat die Industrialisierung der Landwirtschaft zu schweren ökologischen Zerstörungen geführt. Die Mineraldüngung hat die Gewässer verunreinigt und damit viele Arten ausgerottet. Die Verseuchung durch Pflanzenschutzmittel bedroht langfristig die Bodenfruchtbarkeit. Es gibt eine Fülle von Befunden, die dafür sprechen, daß sich die psychischen Störungen der Tiere häufen; die Massentierhaltung führt zu erhöhter Infektionsgefahr.
Problematisch ist Ullrichs Behauptung, die Chemisierung und Mechanisierung führe zur Bodenerosion. Erosionsfördernd ist der Einsatz von Unkrautvertilgungsmitteln, da hierdurch Flächen frei gehalten werden, deren Verunkrautung man früher dulden mußte. Auch die Schaffung großer Flächen, die der Mechanisierung zugänglich sind, und die Rodung der »Knicks« begünstigen die Winderosion. Es gibt aber zugleich entgegenwirkende Tendenzen. Die Änderung des Bodenzustands durch die moderne Landwirtschaft wirkt im allgemeinen erosionshemmend, etwa die Erhöhung der Krümelstabilität. Die Erosionsgefahr wird auch vermindert durch die Produktivitätssteigerung im Ackerbau und durch die damit verbundene Reduktion der für den Ackerbau benötigten Flächen — vor allem durch das Zurückweichen des Ackerbaus vom Hang. Aus der Intensivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft kann deshalb nicht ohne weiteres eine Erhöhung der Erosionsgefahr abgeleitet werden. (Ich stütze mich hier und im folgenden auf Hampicke 1977; vgl. auch Hampicke 1980 und 1981. Der Aufsatz von 1980 enthält weitere Einwände zu Ullrichs Darstellung der industrialisierten Landwirtschaft.)
Falsch ist Hampicke zufolge auch Ullrichs Auffassung, daß große Landmaschinen zwangsläufig den Boden zerstören. Ullrich unterstellt, daß deren Gewicht den Boden verdichte und so die Fruchtbarkeit vermindere. Solche Veränderungen müßten sich aber — anders als die langfristige Zerstörung der Böden durch die Agrarchemie — kurzfristig in sinkenden Erträgen bemerkbar machen; davon kann keine Rede sein. Das verweist darauf, daß es gelungen sein muß, dieses Problem in den Griff zu kriegen. Tatsächlich ist der Bodendruck unter großen Traktoren wegen der größeren Reifen geringer als unter kleinen. Für den Boden ist überdies der Druck nicht so schädlich wie der Schlupf der Reifen — größere Schlepper haben geringeren Schlupf, sind deshalb weniger bodenschädlich. Die Hauptursache der Unterboden Verdichtung ist die Pflugsohlenbil-dung; diese läßt sich mit großen Schleppern leichter oder überhaupt erst vermeiden. Diese Details sind wichtig für die Lösungsstrategie. Aus ihnen folgt, daß das Problem bei der Chemisierung liegt, nicht bei der Mechanisierung. Hiervon ausgehend hat Hampicke eine ökologisch Strategie für die Landwirtschaft entwickelt. Sie besteht nicht in einer Entindustrialisie-rung, sondern in einem Weg, den man als wählerische Industrialisierung bezeichnen könnte. Diese ökologische Strategie enthält folgende Elemente:
- Das Problem der Gewässerbelastung durch Mineraldünger könnte dadurch gelöst werden, daß verhindert wird, daß Mineraldünger in die Gewässer übertritt. Bei den punktuellen Übergangsstellen — Abflüsse und ähnliches — ist dies durch rein technische Maßnahmen lösbar: durch Absperrung und Klärung. Notwendig wäre eine Zentralisierung der Kläranlagen, um sie wirkungsvoller kontrollieren zu können. Schwieriger ist die Abdichtung an den diffusen Übergangsstellen, der Übertritt auf dem Luftweg, durch Auswaschung usw. Hier käme es vor allem auf die sachgerechte Düngung an. Auf sehr leichten Böden müßte die Phosphordüngung reduziert werden; bei Stickstoff wäre eine möglichst lange assimilierende Pflanzendecke im Ackerbau und eine richtig terminierte Düngung anzustreben. Der Mineraldünger dürfte nicht bei Wind ausgebracht werden. Durch solche Maßnahmen könnte die Einleitung in Gewässer nicht hundertprozentig unterbunden werden, deshalb müßten in der Nähe von Gewässern Äcker in Wald oder Magerwiesen verwandelt werden.
- Die Umweltzerstörung durch Pflanzenschutzmittel kann nur durch radikales Abgehen von den Pestiziden verhindert werden. Pflanzenschutz müßte statt dessen betrieben werden durch Erhöhung der Widerstandskraft des Bodens gegen Krankheiten, wie es die Vertreter der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise fordern, und durch Rückkehr zu traditionellen Grundsätzen des Ackerbaus, vor allem zu den Grundsätzen der gesunden Fruchtfolge, des vielfältigen Anbauspektrums und des standortgemäßen Ackerbaus. Neben diesen vorindustriellen Maßnahmen schlägt Hampicke zwei moderne Methoden vor: den »biologischen Pflanzenschutz« durch Förderung natürlicher Feinde — der wie die Biokonversion mit der modernen Biotechnik verbunden ist — und die Ersetzung von chemischen Agrartechniken durch mechanische. Es wäre notwendig, die immer noch plumpe Maschinenausstattung zu überwinden und eine »Feintechnologie« zu entwickeln, die chemische wie manuelle Bearbeitung ersetzen kann, ähnlich der Rübenvereinzelungsmaschine.
- Die Bodenerosion kann zum einen bekämpft werden durch das Abgehen von Herbiziden — dies würde eine leichte Verunkrautung fördern. Zum anderen würde die Entwicklung einer landwirtschaftlichen Feintechnologie es erleichtern, eine weniger begradigte Landschaft, mit Hecken und unregelmäßigen Strukturen, zu bearbeiten. Auch heute schon ist die Rodung von Hecken jedoch nicht zwingend für den Einsatz von Großmaschinen.
- Es könnte sein, daß die Massentierhaltung — von den psychischen Problemen für die Tiere ganz zu schweigen — letztlich unlösbare hygienische Probleme aufwirft und schon aus diesem Grunde aufgegeben werden muß. Allerdings fehlt es in diesem Bereich an Grundlagenforschung.
Dies wäre eine ökologische Strategie für die industrialisierten Länder. Ob sie ohne weiteres auf die Dritte Welt angewandt werden kann, ist fraglich. Hier leuchtet mir die Auffassung der Industrialisierungskritiker ein. Die Industrialisierung der Landwirtschaft in den unterentwickelten Ländern ist nicht deswegen problematisch, weil Großtechnologien an sich schlecht und Kleintechnologien an sich gut sind, auch nicht primär deswegen, weil es in der Dritten Welt an Fähigkeiten fehlt, mit industrieller Technik umzugehen. Hauptproblem ist vielmehr, daß die Industrialisierung, durch die Wirkungsweise des Weltmarkts, die Abhängigkeit der unterentwickelten Länder vorantreibt und damit die strukturelle Heterogenität dieser Gesellschaften weiter zuspitzt: die hierarchische Anordnung verschiedener Produktionssektoren mit unterschiedlichen Produktionsweisen und die Verelendung und Zerstörung des subsistenzwirtschaftlichen Sektors durch die hochkapitalisierten Sektoren, ohne daß diese in der Lage sind, Grundbedürfnisse zu befriedigen. Selektive Abkoppelung vom Weltmarkt und Wiedergewinnung der Fähigkeit zur Selbstversorgung scheint, wie Senghaas und Collins/Lappe argumentieren, mittelfristig die einzig realistische Strategie zu sein, realistischer als die Hoffnung auf eine gerechte Weltwirtschaftsordnung in absehbarer Zeit. Eine solche Abkoppelung ist aller Erfahrung nach am ehesten bei sozialistischer Wirtschaftverfassung möglich, welchen konkreten Typs auch immer. Nach einer Abkoppelungsphase von ungefähr 20 bis 30 Jahren und dem Umbau der ökonomischen Binnenstruktur, besteht jedoch auch hier die Möglichkeit, den Weg der Industrialisierung einzuschlagen und die Schinderei einer Entwicklung mit Hacke und Schaufel zu überwinden. Zwar ist es einigen unterentwickelten Ländern möglich gewesen, den Weg einer weltmarktorientierten kapitalistischen Industrialisierung einzuschlagen. Dies geschah jedoch unter so speziellen Bedingungen, daß es fraglich ist, ob diese »Modelle« imitiert werden können: Hongkong und Singapur waren Zentren des internationalen Schiffshandels in unmittelbarer Nähe zu China; Taiwan und Südkorea wurden für die USA entscheidend im Kampf um die Hegemonie in Südostasien (in Taiwan kam eine bürgerliche Agrarreform hinzu). Überdies ist unklar, ob es diesen Ländern gelingen wird, die strukturelle Hete-rogenität zu überwinden. Die Industrialisierung beruht auch hier auf der Ausbeutung extrem billiger Arbeitskräfte, obwohl die Einkommensunterschiede geringer sind als sonst in der Dritten Welt. Damit ist die Binnennachfrage beschränkt auf Konsumgüter für die wohlhabende Minderheit, auf Güter für die staatliche Infrastruktur und auf Produktionsmittel. Viele Ökonomen und Entwicklungssoziologen bezweifeln, daß es gelingen könnte, bei einer durch die niedrige Lohnquote derart beschränkten Binnennachfrage die strukturelle Heterogenität zu überwinden.
Hampicke hat nicht nur zu zeigen versucht, daß eine ökologische Strategie, wie er sie entworfen hat, möglich ist. Er argumentiert auch, daß eine solche Strategie wünschbar ist. Eine Strategie der Entindustrialisierung würde eines der gravierendsten ökologischen Probleme nicht lösen, sondern verschärfen: die rapide Vernichtung der Arten. Es sind prinzipiell zwei Strategien möglich, um diese Zerstörung zu verhindern. Entweder man nutzt den Vorteil hoher Flächenproduktivität. Hier bleibt viel Fläche übrig, die landwirtschaftlich nicht benötigt wird; sie kann dazu dienen, Ökosysteme aufrechtzuerhalten, die bei hoher Produktivität nicht überleben können. Für diesen Weg plädiert Hampicke. Oder man nutzt aus, daß bei großer landwirtschaftlicher Nutzfläche der Produktivitätsdruck geringer ist. Hierdurch schrumpft jedoch der Raum für Ökosysteme, die auf dem landwirtschaftlich genutzten Boden überleben könnten. Die entscheidende Frage ist dann: Läßt sich die Produktivität so weit senken, daß keine Arten zerstört werden und genügend Fläche für die Arten übrig bleibt, die keine Art landwirtschaftlicher Nutzung vertragen? Hampicke hat zu zeigen versucht, daß dies nicht möglich ist. Er nimmt in seiner Berechnung an, daß im Raum der Bundesrepublik dieselbe Menge an Nahrungsenergie und derselbe Anteil an tierischen Nahrungsmitteln wie bisher hergestellt werden sollten. Zwar ließe sich durch Erhöhung des Pflanzenanteils am Endkonsum die erforderliche Produktion stark verringern (pflanzliche Nahrungsenergie kann nur mit hohem Verlust in tierische Nahrungsenergie verwandelt werden, es ist also rationeller, wenn Menschen pflanzliche Energie direkt konsumieren, statt daß sie als Viehfutter verwendet wird).
Der hohe Anteil an tierischen Nahrungsmitteln wird in dieser Berechnung jedoch als Reserve beibehalten. In der Bundesrepublik wird ungefähr ein Fünftel der pflanzlichen Primärenergie und ein Drittel des tierischen Eiweißes importiert. Wenn man diese Importe verringern will, könnte die hierfür erforderliche Erzeugung von Nahrungsenergie im Inland durch Erhöhung des Anteils an pflanzlicher Nahrung zustande kommen. Wie weit ließe sich die Produktivität senken, um die bisherige Menge herzustellen? Selbst wenn man die landwirtschaftliche Fläche der Bundesrepublik um ein Gebiet von der Größe des gesamten bisherigen Waldes vergrößern würde (knapp ein Drittel der Gesamtfläche), müßte die Landwirtschaft immer noch mit einer Produktivität arbeiten, die etwa bei zwei Dritteln der heutigen Produktivität läge. Es wäre aber unmöglich, in einem solchen Areal, in dem jährlich durchschnittlich 33 Dezitonnen Getreide pro Hektar geerntet werden müßten, Ökosysteme aufrechtzuerhalten, die nur eine geringe Intensität menschlicher Eingriffe ertragen. Nutzungsfreien Raum gäbe es für sie nicht mehr. Die von Ullrich propagierte Strategie der Entin-dustrialisierung der Landwirtschaft müßte entweder dazu führen, daß noch unter dieser Produktivitätsgrenze gearbeitet wird — dann gäbe es Schwierigkeiten mit der Ernährung der Bevölkerung. Oder sie wäre relativ produktiv, wenn auch weniger als jetzt — dann würde dies zur weiteren Ausrottung von Pflanzenarten, Tierarten und Ökosystemen führen. Es bleibt deshalb kein anderer Weg als die ökologische Strategie einer selektierenden Industrialisierung der Landwirtschaft.
Bernd Vatter hat übrigens gegen Bahros Kommunevorstellungen eine ähnliche Rechnung aufgemacht; Bahro hat darauf reagiert, indem er sich auf märchenhafte Zahlen zurückzog: er stellt sich vor, daß die für eine Person benötigte Anbaufläche auf ein Zwanzigstel reduziert werden könnte. Wenn das kein Traum universeller Machbarkeit ist! Dabei taucht in der Kontroverse zwischen Vatter und Bahro das Problem der Artenvernichtung überhaupt nicht auf.
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse
»Kritik der Produktivkräfte«: damit diese Formulierung einen Sinn gibt, muß ich die Bedeutung des Begriffs »Produktivkräfte« präzisieren. Das wäre einfach, wenn Produktivkräfte nichts anderes als Technologien wären. Aber warum dann den Begriff »Produktivkräfte« bemühen? Der Begriff verliert seinen Sinn, wenn man ihn aus dem Bündel der Konzepte herauslöst, auf die er verweist. Marx und Engels bezeichnen als »Produktivkräfte« eine ganze Reihe von Phänomenen, Arbeitsteilung, Wissenschaft, Technik, manchmal sogar die Produktionsverhältnisse! Sie sprechen meist von »gesellschaftlichen Produktivkräften« und grenzen sie von »natürlichen Produktivkräften« ab (z.B. Bodenfruchtbarkeit) sowie von »individuellen Produktivkräften« (etwa eine außergewöhnliche Begabung). Zum anderen ist »Produktivkräfte« der Gegenbegriff zu »Produktionsverhältnissen«. Die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung besagt bekanntlich, daß der Übergang von einer Gesellschaftsformation zur anderen vorangetrieben werde durch Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Von der Frage nach der Bedeutung des Begriffs »Produktivkräfte« wird man so unvermeidlich weitergeschickt zur Frage nach den »Produktionsverhältnissen«. Insgesamt geht es um das Problem, in welchen Begriffen wir Vergesellschaftungsvorgänge erfassen wollen. Das ist eine ziemlich theoretische Frage — genauer: eine Frage, die sich auf die innere Bauweise der Marxschen Gesellschaftstheorie bezieht. Wenn man sich die Mühe ersparen will, sich damit auseinanderzusetzen, sollte man sich auf eine »Kritik der Technik« beschränken. Aber wenn man — wie Ullrich — eine »Kritik der Produktivkräfte« will, muß man sich wohl auch auf Fragen der Begriffsbildung einlassen.
Produktivkräfte sind nicht Technologien. Zwar kann man auch Technologien als Produktivkräfte bezeichnen, aber man betrachtet sie dann unter einem bestimmten Aspekt. Es kommt darauf an, diesen Aspekt zu präzisieren. Der übliche Katalog zur Definierung der Produktivkräfte enthält Arbeitsteilung, Wissenschaft, Technik und Qualifikationen. Das Gemeinsame ist die »Gesellschaftlichkeit«. Man muß das Wort »gesellschaftlich« in der Formulierung »gesellschaftliche Produktivkräfte« betonen. Dies ist der Grundgedanke von Marx und Engels: In der Auseinandersetzung mit der »Natur« ist das entscheidende Vermögen der Menschen die Entfaltung ihrer »Gesellschaftskräfte«. Produktivkräfte sind »Gesellschaftskräfte«. Grundform der Produktivkraftentwicklung ist deshalb für sie die Arbeitsteilung. Wissenschaft und Maschinerie sind Ausprägungsformen der Arbeitsteilung — nämlich der Arbeitsteilung zwischen »Kopfarbeit« und »Handarbeit«. Wir kommen damit zu folgendem verwirrendem Ergebnis: die Grundform der Produktivkraftentwicklung ist die Arbeitsteilung; Arbeitsteilung ist ein Verhältnis, das die Menschen in der Produktion des Lebens eingehen: also sind Produktivkräfte nichts anderes als Produktionsverhältnisse. Genau diese Auffassung vertritt Balibar. Man kann tatsächlich zeigen, daß es Marx und Engels um die Entfaltung der Fähigkeit zu planvoller umfassender gesellschaftlicher Produktion geht, wenn sie über Produktivkräfte reden. Produktivkräfte sind die Formen, in denen sich diese Fähigkeit entwickelt, sei es durch Ausdehnung der miteinander verknüpften Bereiche, sei es durch Entwicklung der Planmäßigkeit. Selbst wo Produktivkraftentwicklung sehr eng verstanden wird, nämlich einfach als Produktivitätsentwicklung, geschieht dies bei Marx und Engels in der Perspektive planmäßiger gesellschaftlicher Produktion.
Man kann die totale Konfusion an dieser Stelle nur vermeiden, wenn man Produktionsverhältnisse eines bestimmten Typs (die traditionellen Produktivkräfte) von Produktionsverhältnissen eines anderen Typs (die traditionellen Produktionsverhältnisse) unterscheidet. Hier stößt man jedoch auf zwei neue Probleme. Zum einen sind die Vorstellungen von Gesellschaftlichkeit, die Marx und Engels mit dem Begriff der Produktivkräfte verbunden haben, kritikwürdig. Zum anderen ist der traditionelle Begriff der Produktionsverhältnisse doppeldeutig. Marx und Engels verstanden unter »Produktivkraftentwicklung« die Entfaltung der gesellschaftlichen Potenzen der Menschen schlechthin, während sie sich mit dem Begriff der »Produktionsverhältnisse« auf bestimmte Formen beziehen, die diese reine Gesellschaftlichkeit annimmt. Reichelt und Zech haben gezeigt, daß hier eine alte Feuerbachianische Vorstellung wirksam ist, nämlich das Konzept der »Gattungskräfte«. Demnach ist »Produktivkraftentwicklung« der Prozeß, in dem sich die »Gattungskräfte« entfalten; die »Produktionsverhältnisse« sind die äußerlichen, entfremdeten Formen, in die diese »Gattungskräfte« gezwängt werden. Hieraus ergibt sich eine problematische Vorstellung von Kommunismus: Kommunismus ist dann die Entfaltung einer Gesellschaftlichkeit schlechthin, einer Gesellschaftlichkeit, die selbst keine bestimmte soziale Form mehr darstellt, sondern schlicht den Produktivkräften entsprechen soll. Dieses Konzept einer Gesellschaftlichkeit an sich ist ein metaphysischer Rest im Herzen der materialistischen Geschichtsauffassung (auch in Hassenpflugs Kritik an Ullrich findet man die Auffassung von den Produktivkräften als »Gattungskräften«). Wenn wir den Produktivkraftbegriff übernehmen, sollten wir mit Marx und Engels an der Auffassung festhalten, daß Produktivkräfte Aspekte der Vergesellschaftung sind, aber gegen Marx und Engels geltend machen, daß die Vergesellschaftung immer bestimmte Formen hat. Es gibt keine Entfaltung von Gesellschaftlichkeit schlechthin. Diese Korrektur öffnet den theoretischen Raum für eine Kritik der Produktivkräfte. Wenn die Produtivkräfte nichts anderes sind als die Entfaltung von Gesellschaftlichkeit überhaupt oder von »Gattungskräften«, ist jede Kritik sinnlos. Aber wenn Gesellschaftlichkeit immer nur als bestimmte Sozialform existiert, ist sie kritisierbar.
Nun zur Doppeldeutigkeit im Begriff »Produktionsverhältnisse«. Was ist das kapitalistische Produktionsverhältnis im traditionellen Sinne: das Klassenverhältnis von Lohnarbeit und Kapital? Marx hat im »Kapital« gezeigt, daß dieses Verhältnis ein Spätprodukt der Kapitalverwertung ist. Die Grundstruktur der Kapitalverwertung hat er mit der Formel G- W-G' dargestellt: Geld wird in Ware verwandelt, um diese wiederum mit einem Überschuß in Geld zu verwandeln. Eine solche Kapitalverwertung hat es jahrhundertelang ohne relevanten Einsatz von Lohnarbeit gegeben; sie beruhte in den Südstaaten auf Sklaverei, in den frühen kolonialen Plantagenwirtschaften auf Zwangsarbeit, auf den osteuropäischen Landgütern auf feudaler Abhängigkeit. Lohnarbeit — verbunden mit der systematischen Effektivierung der Produktionsmittel — wird erst bei hochentwickelter Konkurrenz zum wichtigen Mittel der Kapitalakkumulation. Es hat nun viel Streit darüber gegeben, worauf man sich bei der Definition von »Produktionsverhältnissen« beziehen soll. Die einen verweisen damit auf das soziale Verhältnis zwischen den einzelnen Produktionseinheiten. Ein kapitalistisches Produktionsverhältnis ist ihrer Vorstellung nach dann gegeben, wenn Privateigentümer über den Markt zueinander in Beziehung treten, um Kapital zu akkumulieren (dies ist die Position von Wallerstein). Die anderen definieren »Produktionsverhältnisse« primär durch die sozialen Verhältnisse in den Produktionseinheiten. Ein kapitalistisches Produktionsverhältnis liegt dann vor, wenn in den Produktionseinheiten Lohnarbeit angewendet wird (dies ist die Position derjenigen, die Wallerstein kritisieren, etwa von Brenner, Worsley oder Hauck). Man kann aus der Debatte lernen, daß die Rede von »dem« kapitalistischen Produktionsverhältnis mit einer Scheinklarheit verbunden ist. Gewöhnlich werden zwei unterschiedliche Bedeutungen miteinander vermengt: die Form der gesellschaftlichen Synthesis — in Gestalt der Kapitalakkumulation am Markt — und die Verhältnisse in den Produktionseinheiten. Michael Burawoy (1983) hat den Vorschlag gemacht, die »relations o/pro-duction« — das kapitalistische Marktverhältnis — von den »relations in production« — den Verhältnissen in den Produktionseinheiten — zu unterscheiden.
Es wird etwas kompliziert. Statt der überschaubaren Gegenüberstellung von »Produktivkräften« und »Produktionsverhältnissen« haben wir jetzt drei verschiedene Arten von Produktionsverhältnissen. Und alle drei Definitionen können sich auf Marx und Engels berufen, denn immer geht es um die Verhältnisse, die die Menschen in der Produktion des unmittelbaren Lebens eingehen. Wir werden im folgenden Teil dieses Aufsatzes sehen, daß sich weitere sinnvolle Verwendungen für den Begriff »Produk-tionsverjiältnis« finden lassen. In diesem Abschnitt bleibt noch zu klären, welche Art von Produktionsverhältnissen man sich unter »Produktivkräften« vorstellen könnte, worin sie sich von den »Produktionsverhältnissen« im traditionellen Sinne unterscheiden.
Mein Vorschlag besteht darin, bestimmte Dimensionen der Vergesellschaftung in der Produktion des unmittelbaren Lebens zu unterscheiden. Diese Dimensionen sind nicht empirisch gegeben, sie können nur analytisch rekonstruiert werden. Konkrete Formen der Vergesellschaftung, beispielsweise die in einem kapitalistischen Industriebetrieb, kann man als Resultat des Aufeinandereinwirkens dieser verschiedenen Dimensionen der Vergesellschaftung auffassen. Mit »Produktivkräfte« kann man den Aspekt der Vergesellschaftung bezeichnen, der hervortritt, wenn man die Produktion ausschließlich daraufhin untersucht, mit welchen Mitteln welche Produkte hervorgebracht werden. Ein bestimmtes Produkt erzwingt in den seltensten Fällen eine bestimmte Form der Vergesellschaftung. Diese Dimension der Vergesellschaftung ist mit den anderen Dimensionen verschränkt: mit der gesellschaftlichen Synthesis durch Kapitalakkumulation am Markt und mit den Herrschaftsverhältnissen in den Produktionseinheiten. Zur normalen Reproduktion eines kapitalistischen Industriebetriebes gehören Aktivitäten, durch welche die verschiedenen Dimensionen halbwegs aufeinander abgestimmt werden. Die Entwicklung derjenigen Produktionsverhältnisse, die im Marxismus meist als »Produktivkräfte« bezeichnet werden, unterscheidet sich, wie Balibar es dargestellt hat, von der Entwicklung der anderen Vergesellschaftungsdimensionen durch den eigenen Entwicklungsrhythmus. Ein Nutzen der analytischen Trennung von »Produktivkräften« und »Produktionsverhältnissen« besteht darin, daß man so von der Verschiedenheit dieser Rhythmen Rechenschaft ablegen und die Spannungen zwischen ihnen analysieren kann.
»Kritik der Produktivkraftentwicklung« heißt dann, daß wir auch diejenige Entwicklungsdimension der Vergesellschaftung als Feld von politischen Eingriffen begreifen, die zutage tritt, wenn man die Produktion ausschließlich unter dem Gesichtspunkt betrachtet, mit welchen Mitteln welche Produkte hervorgebracht werden. Da im Kapitalismus die Produktivkraftentwicklung zum Zweck der Kapitalakkumulation vorangetrieben wird, kommt eine Kritik der Produktivkraftentwicklung nicht umhin, sich mit den Produktionsverhältnissen auseinanderzusetzen, sei es das Produktionsverhältnis des Weltmarktes, sei es das der betrieblichen Herrschaft. Aber dennoch gibt es hier ein eigenes Handlungsfeld; denn »Produktivkräfte« sind nicht »Gattungskräfte«, sondern bestimmte Verhältnisse, die die Menschen in der Produktion des materiellen Lebens eingehen.
2. Ist die zentralmachtorientierte Vergesellschaftung
das herrschende Produktionsverhältnis?
Ich komme nun zum zweiten Argumentationskomplex. Ullrich kritisiert die Industrialisierung deswegen, weil sie die »zentralmachtorientierte Vergesellschaftung« befördere. Er nimmt folgenden Zusammenhang an: Die Entwicklung der Maschinerie befördert die Bildung von Großbetrieben; Großbetriebe haben eine ausgeprägte Arbeitsteilung; diese Arbeitsteilung führt zu zentralisierten Hierarchien; diese Organisationsform dehnt sich, von der Produktion ausgehend, auf die gesamte Gesellschaft aus. Gegen diese Vergesellschaftungsform propagiert er die Selbstversorgung in kleinen Einheiten, die Bildung von Kommunen. Im folgenden setze ich mich Schritt für Schritt mit diesen Annahmen auseinander. Ich habe mir folgende Fragen gestellt:
- Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Maschinenanwendung und Betriebsform in der Industriellen Revolution?
- Welche Arbeitsteilung finden wir in Betrieben mit automatisierter Produktion?
- Welche Formen nimmt die Herrschaft im automatisierten Produktionsprozeß an?
- Ist »zentralmachtorientierte Vergesellschaftung« das Modell, nach dem die Gesamtgesellschaft organisiert ist?
- Welche Probleme könnte eine kommunale Selbstversorgung lösen?
Entsteht der Maschinenbetrieb aus der Maschine?
Marx hat versucht, die Industrielle Revolution mit der Erfindung eines bestimmten Maschinentyps zu erklären, nämlich der Werkzeugmaschine: die Führung der Werkzeuge wird hier durch einen Mechanismus statt durch die menschliche Hand besorgt. Aber damit verstrickte er sich in einen Widerspruch, denn Werkzeugmaschinen sind, wie Marx selbst wußte, viel älter als die Industrielle Revolution. In Gestalt der Wind- und Wassermühlen waren Werkzeugmaschinen seit Jahrhunderten in Gebrauch. Müller und Winkelmann haben für mich überzeugend nachgewiesen, daß Marx hier den technizistischen Konzepten der von ihm benutzten Sekundärliteratur aufgesessen ist. Die entscheidende Erfindung der Industriellen Revolution war, wie Müller und Winkelmann argumentieren, nicht technisch, sondern sozial: nicht die Maschine, sondern der Maschinenbetrieb. Freilich ist die Industrialisierung auch nicht einfach aus dieser neuen Institution ableitbar. Entscheidend ist deren Eingliederung: die Stellung Englands auf dem Weltmarkt; die Verbindung der Industriellen Revolution mit einer agrarischen und einer kommerziellen Revolution; die Existenz einer knappen, wohlorganisierten und damit teuren Arbeiterschaft, deren Löhne Druck auf die Produktivkraftentwicklung ausüben und zugleich für massenhafte Nachfrage auf den Binnenmärkten sorgen. Nicht nur nach außen, auch im Inneren ist der Maschinenbetrieb nur in seiner Verknüpfung begreifbar. Er besteht aus einer Kombination von zum Teil uralten Elementen: Lohnarbeit, Arbeitsteilung, hierarchische Arbeitersorganisation, Maschine. Historisch gesehen, kommt jedes dieser Elemente auch ohne die anderen vor. Freie Lohnarbeit gibt es schon im alten Ägypten, die hierarchische Organisation ist so alt wie der Staat. Es gibt hochindustrialisierte Miniaturbetriebe — man denke an die heutige Landwirtschaft. Und auch die klassische Maschine der Industriellen Revolution besteht aus einer Verknüpfung von zwei traditionellen Elementen: sie verbindet die, wie gesagt, seit langem bekannte Werkzeugmaschine mit der Dampfmaschine, die vor der Erfindung der Spinnmaschine — dem klassischen Datum der industriellen Revolution — fünfzig Jahre lang in tausenden von Exemplaren in Gebrauch war. (Selbst die Erfindung der Spinnmaschine — Hargreaves Spinning Jenny — führte noch nicht zur Entwicklung des Maschinenbetriebs, die Jenny war vielmehr die typische Maschine der Heimindustrie; vgl. Bohnsack.) Kurz: der Maschinenbetrieb ist eine neuartige Kombination aus traditionellen Elementen. Er ist eine Collage — und deshalb läßt er sich in seine Elemente zerlegen und neu zusammensetzen. Allerdings gibt es mehr oder weniger rationelle Kombinationen.
Es gibt historisch einen engen Zusammenhang zwischen der Dampfmaschine und dem Großbetrieb: Dampfmaschinen waren so kostspielig, daß sie nur ökonomisch eingesetzt werden konnten, wenn sie eine Vielzahl von Einzelmaschinen antrieben. Damit entstand jedoch zugleich ein ökonomischer Anreiz, Antriebsmaschinen zu entwickeln, die auch in Kleinbetrieben angewendet werden können. Die Lösung war der Elektromotor in der Industrie und der Dieselmotor in der Landwirtschaft: zwei durch und durch kapitalistisch entwickelte Produktionstechniken, die den industrialisierten Kleinbetrieb ermöglicht haben.
Fördert die Automatisierung
die Bildung von Großbetrieben und die betriebliche Arbeitsteilung?
Ullrich führt als Belege für die Tendenz zur »zentralmachtorientierten Vergesellschaftung« Siemens und VW an. Das wäre unproblematisch, wenn er nicht zugleich behaupten würde, daß diese Tendenz wesentlich durch die technische Entwicklung erzeugt sei. Siemens und VW sind jedoch Großunternehmen, die aus einer Vielzahl von Einzel betrieben bestehen, die technisch oft wenig oder gar nichts miteinander zu tun haben. Die durchschnittliche Betriebsgröße (nicht zu verwechseln mit der Unternehmensgröße) in der Bundesrepublik korreliert auffällig mit dem technischen Entwicklungsniveau: sie ist in den modernsten Branchen am geringsten. In den klassischen Industrien, in der eisenschaffenden Industrie und im Kohlebergbau, liegt die durchschnittliche Betriebsgröße zwischen 1500 und 2500 Beschäftigten. In den modernen Industriezweigen der Elektrotechnik, der Mineralölindustrie und der chemischen Industrie liegt sie ungefähr bei 300 Beschäftigten. Ullrich hält Produktionseinheiten bis zu 1500 Beschäftigten für demokratisch organisierbar (Weltniveau, 120). Von der Betriebsgröße her gesehen, dürfte es da kein Problem geben.
Die stärkste Arbeitsteilung findet man heute in den Bereichen, die technisch am geringsten entwickelt sind, vor allem bei der Montage von Einzelteilen und bei vergleichbaren Tätigkeiten. (Für dies und das folgende stütze ich mich auf unsere eigenen Untersuchungen: PAQ 1980, 1981a und b, 1983; zu ähnlichen Ergebnissen sind Kern und Schumann 1984 gelangt.) Die technische Ausstattung dieser Arbeitsplätze ist einfach, sie besteht meist aus Werkzeugen oder werkzeugähnlichen Maschinen, ähnlich den elektrischen Handbohrern, hinzu kommt eine unter technischem Gesichtspunkt primitive Einrichtung: das Fließband. Experten schätzen, daß ein Großteil dieser Arbeiten in den nächsten 10 bis 15 Jahren ersetzt werden durch Roboter und Sensortechnologie. Was übrig bleiben wird, sind dieselben Tätigkeiten, die in der automatisierten Produktion heute schon vorherrschen: Überwachen, Instandhalten und Programmieren. Überwachungsarbeiten beziehen sich in der automatisierten Produktion auf riesige Komplexe, oft auf ganze Produktionsbetriebe. Häufig gibt es nur eine Arbeitsteilung zwischen dem Überwachungspersonal in der Zentralwarte und den »Rundgängern« — das sind diejenigen, die durch die Anlagen laufen, um »vor Ort« Störungen zu entdecken. Viele Firmen — etwa die Mineralölkonzerne — legen Wert darauf, daß das Überwachungspersonal sich zwischen diesen beiden Arbeitsplätzen abwechselt: das erhöht die Flexibilität des Arbeitskräfteeinsatzes, die bei den oft winzigen Schichtgrößen schnell zum Problem wird. Es gab Versuche von Unternehmerseite, im Instandhaltungsbereich, mit seinem hohen Anteil an qualifizierten Facharbeitern, den Anteil der unqualifizierten Arbeiter zu erhöhen. Diese Versuche sind, nach allem was man weiß, gescheitert. Eine solche Strategie hätte zur Voraussetzung gehabt, daß sich Störungen weitgehend vorausplanen lassen. Das ist jedoch nur selten der Fall (vgl. Mickler u.a. 1977 sowie Mickler 1981; dieser Befund ist um so bedenkenswerter, als die Untersuchung ausdrücklich das Ziel verfolgt hatte, die Möglichkeit einer Polarisierung der Instandhaltungsarbeit nachzuweisen; vgl. Baethge u.a. 1976, 76ff.). Es zeichnet sich eher die Tendenz ab, die traditionelle Arbeitsteilung im Instandhaltungsbereich abzubauen, nämlich die Arbeitsteilung zwischen Schlossern und Elektrikern.
Im Programmierbereich ist die Entwicklung unübersichtlich. Es gibt viele Versuche, eine hohe Arbeitsteilung durchzusetzen, um die Produktivität des Programmierens zu erhöhen. Dies hat jedoch nicht viel gebracht. Während sich bei der Hardware — dem Geräteteil der Computer — das Verhältnis von Preis und Leistung um einen Faktor von vielleicht einer Million verbessert hat, hat sich die Produktivität des Programmierens in den letzten 25 Jahren nur verdoppelt bis verdreifacht (Ernst, 93). »In den letzten zwanzig Jahren sind die Arbeitsaufgaben immer mehr zerlegt worden und das Magagement hat immer mehr Entscheidungsfunktionen an sich gezogen. Jedoch steht weder für die Arbeiter noch für das Management fest, ob diese Veränderungen tatsächlich die Arbeitsproduktivität erhöht und die Effizienz vergrößert haben.« (Greenbaum, 23) Oft ist die hierarchische Arbeitsteilung des Programmierens kontraproduktiv. Frederic Brooks, der die Herstellung des IBM-Systems 360 geleitet hat, hat eine aufschlußreiche Analyse dieses Projekts verfaßt. Es zog sich zu lange hin, benötigte zu viel Speicherkapazität und funktionierte nicht besonders gut. Brooks ist der Auffassung, daß das Problem in einer falschen Arbeitsteilung und in einer zu starken Kontrolle der Programmierer bestand. Das führte dazu, daß Programmfehler vertuscht wurden — man muß dazu wissen, daß Fehlersuche eine der Hauptaufgaben beim Programmieren ist. Eine starke Arbeitsteilung wird vom Management also oft gegen die technischen Anforderungen durchgesetzt. Das gilt auch für die Arbeit an Werkzeugmaschinen mit eingebauten Mikrocomputern (CNC-Maschi-nen). Technisch ist es möglich, daß die Arbeiter an diesen Maschinen nicht nur Überwachungs-, sondern auch Programmierfunktionen wahrnehmen. Jedoch wird die Arbeitsteilung meist aufrechterhalten — gegen die Technik. Insgesamt zeichnet sich die Tendenz ab, (a) daß sich die Arbeiten in der industrialisierten Produktion auf drei Tätigkeitsfelder konzentrieren: Instandhaltung, Überwachung und Programmieren, (b) daß die In-standhaltungs- und Überwachungstätigkeiten mit geringer oder sinkender Arbeitsteilung einhergehen, (c) daß die Abgrenzungen zwischen diesen drei Arbeitsfeldern schwächer werden: Elemente des Programmierens und des Instandhaltens gehören zunehmend zur Aufgabe von Überwachungspersonal.
Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich, wenn auch verzögert, im Verwaltungsbereich ab. Der Tätigkeitsbereich, der sich besonders für hohe Arbeitsteilung und monotone Tätigkeiten eignet, schrumpft rasch zusammen: das Daten- und Texterfassen. Die riesigen Datenbestände der Versicherungsgesellschaften sind inzwischen weitgehend in den Elektronischen Datenverarbeitungsanlagen gespeichert, und die Großraumbüros werden allmählich aufgelöst. Neue Daten sind entweder maschinenlesbar oder werden in der Regel gleich von den Sachbearbeitern erfaßt. Man wird im Verwaltungsbereich in Zukunft also eine ähnliche Triade finden wie in der Fertigung: Sachbearbeiter, Instandhaltungspersonal und Programmierer. Auch hier werden mehr und mehr Programmierfunktionen in die Sachbearbeitertätigkeit integriert. Die Durchsetzung des »Dialogverkehrs« mit dem Computer am Arbeitsplatz der Sachbearbeiter führt dazu, daß die traditionellen Abteilungsgrenzen aufgelöst werden, etwa die in Debitoren-und Kreditorenbuchhaltung oder die klassische Aufteilung in Bestandsverwaltung und Leistungsgewährung bei den Versicherungen. Auch die Unterscheidung in routinisierte und qualifizierte Sachbearbeitung wird aufgehoben, da die meisten Routinetätigkeiten maschinell erledigt werden; die verbleibenden Routinetätigkeiten werden in das Arbeitsspektrum der qualifizierten Sachbearbeiter integriert. Das Ergebnis ist die Entwicklung von »Allround-Sachbearbeitern« bzw. von »Allround-Sachbearbei-tergruppen«, die die eingehenden Fälle von Anfang bis Ende bearbeiten und die Arbeit nur nach der Menge teilen (vgl. Gottschall u.a. sowie Karl/Ohm).
Despotie und Hegemonie
Wie verändern sich die Betriebshierarchien mit der Automatisierung der Produktion? Alle mir bekannten industriesoziologischen Untersuchungen zeigen, daß die Zahl der Hierarchieebenen schrumpft. Das hat auch technische Gründe. Man kann sie sich am Beispiel der Instandhaltung — Reparatur und Wartung — leicht klarmachen. Eine typische Aufgabe besteht hier darin, Störungsursachen zu ermitteln. Unter welchen Bedingungen kann diese Tätigkeit so organisiert werden, daß Planung und Ausführung getrennt sind? Offenbar setzt dies voraus, daß den Vorgesetzten halbwegs klar ist, was getan werden müßte. Das ist aber in modernen technischen Anlagen immer weniger möglich. Hier sind teilweise riesige Komplexe technisch integriert, so daß sich Störungen in die entlegensten Gebiete fortpflanzen können. Dabei überlagern sich Prozesse auf der mechanischen, elektrischen und elektronischen oder pneumatischen Ebene. Vorgesetzte können deswegen in immer weniger Fällen vorausbestimmen, in welcher Zeit die Fehlersuche erledigt sein muß, welche Mittel hierzu verwendet werden sollen und welche Kooperationsbeziehungen dabei eingegangen werden dürfen. Vorgesetzte können kaum mehr überprüfen, ob die eingeschlagenen Fehlersuchstrategien wirklich rationell waren. Allerdings können sie verlangen, vor jeder größeren Entscheidung gefragt zu werden, und man findet eine solche Organisationsstruktur in vielen Betrieben. Diese Arbeitsorganisation ist zeitraubend. Sie richtet sich gegen die technische Struktur. Unserer Erfahrung nach werden solche offiziellen Strukturen oft durch informelle Grenzüberschreitungen unterlaufen (vgl. PAQ 1983).
Es ist zwar richtig, daß Betriebe im allgemeinen hierarchisch organisiert sind. Aber läßt sich die Art und Weise, wie Herrschaft in den Betrieben reproduziert wird, auf die hierarchische Organisation reduzieren? Funktioniert eine Fabrik wie eine große Maschine? Ullrich scheint dies anzunehmen; in »Weltniveau« betont er immer wieder den »despotischen« Charakter des Fabriksystems. Diese Auffassung von »Herrschaft« ist problematisch. Es fehlt die Dimension der »Hegemonie«.
Neuere industriesoziologische Untersuchungen haben gezeigt, daß die Vorstellung von der Fabrikordnung als einem reinen Zwangsverhältnis immer schon problematisch war. Das ist das wichtigste Ergebnis der »labour process debate«, die im Anschluß an Harry Bravermans »Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß« in den angelsächsischen Ländern geführt worden ist. Braverman hatte die Trennung von Planung und Ausführung zum ewigen Prinzip des kapitalistischen Arbeitsprozesses erklärt. Andrew Friedman konnte zeigen, daß Manager mit dem Versuch, die »direkte Kontrolle« des Arbeitsprozesses durchzusetzen, in England bei besser organisierten Arbeitern auf Widerstand gestoßen sind; die Unternehmer haben hierauf reagiert, indem sie eine andere Strategie entwickelten, die Strategie der »verantwortlichen Autonomie« der Arbeitenden. Demnach ist die Befehlsförmigkeit des Arbeitsprozesses auch abhängig von der Widerstandskraft der Arbeitenden. Darüber hinaus gibt es jedoch — laut Friedman — auch technische Faktoren, die eine Strategie der »direkten Kontrolle« erschweren: technische Umstellungsprozesse sind schlecht mit »direkter Kontrolle« vereinbar, da bei Umstellungen die Initiative der Arbeitenden eine entscheidende Rolle spielt.
Vor allem die Untersuchungen Antonio Gramscis haben bei Marxisten die Einsicht befördert, daß Herrschaftsverhältnisse keineswegs nur durch politischen und ökonomischen Zwang aufrechterhalten werden, sondern auch »hegemonial«, durch »freiwillige«, selbsttätige Einordnung der Beherrschten in die Herrschaftsverhältnisse. Dies geschieht vor allem dadurch, daß die Herrschenden die Beherrschten an der Bewältigung der großen gesellschaftlichen Aufgaben beteiligen. Obwohl sich diese Einsicht unter Marxisten herumgesprochen hat, werden die Verhältnisse in den kapitalistischen Betrieben regelmäßig ausgeklammert. Michael Burawoy ist meines Wissens der einzige, der versucht hat, das Konzept der Hegemonie für die Analyse von kapitalistischen Arbeitsprozessen systematisch fruchtbar zu machen. Er zeigt, daß es neben den »despotischen« Zügen der Betriebsverhältnisse auch die Dimensionen der »Freiwilligkeit« gibt, die Selbsttätigkeit, das Unterstützen der Mehrwertproduktion durch die Arbeitenden. Hierfür ist entscheidend, daß es Bereiche von Ungewißheit gibt, in denen die Arbeitenden Wahlen treffen, in denen sie ihre eigenen Spielregeln definieren und in denen sie darum kämpfen, daß diese Regeln eingehalten werden. Sie übernehmen nicht einfach die Aufgaben, die ihnen gestellt werden, sondern definieren sie neu. Die Automatisierung führt nun dazu, daß die Bewältigung von Situationen der Ungewißheit zur Hauptaufgabe der Arbeitenden wird. Tracy Kidder hat in seinem Buch »Die Seele einer neuen Maschine« das »Spiel« einer Gruppe von Systemprogrammierern dargestellt: es besteht darin, daß die Arbeitsgruppe versucht, die »perfekte Maschine« zu konstruieren, und dies nicht nur gegen eine konkurrierende Arbeitsgruppe desselben Unternehmens durchzusetzen versucht, sondern auch gegen die eigenen Vorgesetzten.
Von der technischen Entwicklung her gibt es also kaum einen Druck zur Ausbildung von zentralen Hierarchien. Je automatisierter die Produktion läuft, desto kleiner sind in der Regel die Betriebsbelegschaften und desto geringer ist der Grad der Arbeitsteilung. Das heißt nicht, daß die Betriebs-hierarchien faktisch verschwinden — allerdings nimmt die Zahl der Hierarchieebenen ab und der Führungsstil wird integrativer. Das heißt nur, daß es in den technisch besonders weit entwickelten Betrieben von der Seite der Technik her besonders wenig Druck gibt, viel Personal, ausgeprägte Arbeitsteilung und eine starke Hierarchie zu haben. Das Problem besteht meines Erachtens auch nicht darin, daß sich in den Betrieben eine »Blockstruktur« herausbildet, wie Ullrich es in »Technik und Herrschaft« nennt: der Fachidiotismus relativ qualifizierter Arbeiter. Die einzelnen Arbeitsplätze werden vielmehr zunehmend direkt auf das Betriebsganze bezogen. Das heißt nicht, daß die gegenwärtige Phase der Industrialisierung ohne Probleme wäre. Nur liegen die Probleme meines Erachtens woanders als dort, wo Ullrich sie sucht. Soweit ich sehe, gibt es drei Hauptprobleme:
- Die technische Entwicklung fördert die Herausbildung des Betriebsegoismus: indem die Arbeiten sich mehr und mehr auf den Gesamtbetrieb beziehen, wachsen die Beschäftigten gewissermaßen in die Position von Kapitaleigentümern hinein.
- Die technische Entwicklung fördert, da sie unter kapitalistischen Bedingungen stattfindet und mit einer Weltwirtschaftskrise zusammenfällt, die Marginalisierung wachsender Teile der Bevölkerung. Wenn alles so bleibt wie bisher, werden dies Frauen, Ausländer, Junge und Alte sein.
- Die Automatisierung der Produktion geht einher mit der Entwicklung neuartiger Kontrolltechnologien.
Solche Umbrüche könnten jedoch auch Gelegenheiten sein, in denen gelernt wird. Ob diese Gelegenheiten genutzt werden, läßt sich nicht vorhersagen. Entscheidend wird sein, ob Feminismus, Ökologiebewegung, Friedensbewegung und Bürgerrechts-Initiativen in den Betrieben Fuß fassen und ob es gelingt, eine Politik des Antirassismus zu entwickeln. Eine wichtige Rolle könnte die automome Aneignung der neuen Techniken in Frauenwerkstätten, Frauenlehrgängen und Frauenbetrieben spielen, verbunden mit dem Versuch, alternative Entwicklungen von hier aus in Gang zu setzen (vgl. Cockburn 1983 und 1984).
Zu den Gefahren der modernen Informationstechnologie gehört ihre Eignung als Herrschaftsinstrument (vgl. Friedrich 1978). Die hier ausgeübte informationelle Gewalt ist durch die Technik geprägt. Speicher- und Verarbeitungskapazitäten ermöglichen eine neue Form der Identifizierung. Charakteristisch ist die mittelbare informationelle Überwachung und das sekundäre Auswerten von Datenbeständen, die in anderen Zusammenhängen gewonnen wurden. Das Modell der informationellen Gewalt im Computerzeitalter ist die Rasterfahndung. Entscheidend ist nicht mehr das unverwechselbare Merkmal wie Körpermaße und Fingerabdrücke. Die Identifizierung erfolgt vielmehr statistisch, nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. Identifiziert wird man durch die Bündelung von Merkmalen, die jedes für sich wenig bedeutet. Man darf hierbei aber nicht die entgegenwirkenden Tendenzen übersehen (vgl. van Treeck). Im Betrieb verfügt das Management zwar über bessere Möglichkeiten als je zuvor, die Arbeitenden zu überwachen. Aber zugleich ist es in wachsendem Maße von Entscheidungen der Beschäftigten abhängig. Dies ist der eine Widerspruch. Der andere besteht darin, daß Überwachungssysteme verwundbar sind. Noch ist die Kunst, Sicherheitscodes zu knacken und in verbotenes Datengelände einzudringen, weitgehend auf die Subkultur der »Hacker« beschränkt. Aber die Fähigkeit zum intelligenten Umgang mit dem Computer verallgemeinert sich rasch. Für die kommende Generation wird das Knacken von Codes vermutlich genauso zum Arbeitsalltag gehören wie heute die informellen Arbeitsabsprachen, wenn der Zeitnehmer kommt, um die Vorgabezeiten zu erhöhen.
Insgesamt schafft die Automatisierung eher günstige Bedingungen für eine Strategie der Arbeiterselbstverwaltung oder der Arbeiterkontrolle, wobei zugleich die Möglichkeiten wachsen, die Arbeitenden zu aktiven Trägern des Verwertungsprozesses zu machen. Günstig ist, daß die Automatisierung die schroffen Tätigkeitsunterschiede beseitigt, wenn auch nur im Inneren der Betriebe. Die technische Entwicklung könnte so dazu beitragen, ein Problem zu lösen, das für die Arbeiterselbstverwaltung typisch ist, nämlich daß die Selbstverwaltung meist nur von den technischen Kadern getragen wird, also jenen Gruppierungen, die schon von ihrer Tätigkeit her mit gesamt betrieblichen Problemen zu tun haben.
Das Ensemble der Vergesellschaftungsformen
Mit dem Begriff »zentralmachtorientierte Vergesellschaftung« bezieht sich Ullrich zunächst auf die Vergesellschaftungsform des kapitalistischen oder sozialistischen Industriebetriebs. Er meint, daß diese Sozialform sich auf andere Bereiche der Gesellschaft ausgedehnt habe. »Dieser Typus der Pro-dukü'onsorganisation, eine zentral steuerbare Groß-Produküons-Maschi-ne, ist eines der wesentlichsten Kennzeichen des Industriesystems. Er wird zum Leitmodell für alle anderen Organisationen der Gesellschaft und letztlich für die Organisation der Gesellschaft selbst.« (Weltniveau, 32) Diese Überlegung hat zwei schwache Punkte. Zum einen ist sie historisch unhaltbar. Mit »Organisation der Gesellschaft selbst« bezieht sich Ullrich vermutlich auf die bürokratische Staatsform; er behauptet, daß sich diese Staatsform nach dem Modell des Industriebetriebes entwickelt habe. Die bürokratischen Staatsverfassungen der kapitalistischen Länder haben sich jedoch schon im Absolutismus herausgebildet. Im Zeitalter der Kolonien und Manufakturen, lange vor der Entstehung des Maschinenbetriebs. Die Bewegung ging in umgekehrter Richtung: traditionelle Elemente der staatlichen Organisation wurden in den Maschinenbetrieb integriert.
Zum anderen besteht die Organisation unserer Gesellschaft bekanntlich nicht nur aus privaten Industriebetrieben und staatlichen Einrichtungen. Daneben gibt es zwei weitere, nicht minder wichtige Vergesellschaftungsformen, die Ullrich zu übersehen scheint: den Markt und die privaten Haushalte, die über Einkünfte aus Lohnarbeit und aus staatlicher Unterstützung an den Markt angeschlossen sind und in denen die Arbeitskräfte produziert und reproduziert werden, meist in der Form der Familie. In all diesen Sozialformen findet die Produktion und Reproduktion des unmittelbaren Lebens statt: die Erzeugung von Gütern und von Menschen. Die Aktivitäten der Staaten beschränken sich nicht auf Grenzpolitik, Rechtsprechung, Besteuerung und Ausübung von Waffengewalt; mit der Herstellung der ökonomischen Infrastruktur und als Eigentümer von Unternehmen sind die Staaten unmittelbare Produzenten sowohl von Gütern als auch von Menschen (»öffentlicher Sektor« und staatliche Einrichtungen der Erziehung, der Ausbildung und des Gesundheitswesens). Auch die privaten Haushalte sind Vergesellschaftungsformen der Produktion, sowohl die weitgehend proletarisierten Familienhaushalte der Zentren als auch die subsistenzwirtschaftlich arbeitenden Familienhaushalte der Peripherie (vgl. Meillassoux 1978 und die Debatte über Hausarbeit im Anschluß an dalla Costa und James 1973). Im kapitalistischen Weltsystem ist der Weltmarkt die umgreifende Verknüpfungsinstanz für die betrieblichen, familialen und staatlichen Produktionseinheiten. Die alles umfassende »Organisation« ist keine Zentralmacht, sondern die Nicht-Organisation des Marktes. Staaten und Konzerne sind Machtzusammenballungen, die im Rahmen der ökonomischen Gesamtstruktur des Weltmarktes operieren, die diesem Weltmarkt und dem Imperativ der Kapitalakkumulation unterworfen sind; es sind Inseln der Machtzentralisierung in einem Meer von dezentralen Marktbeziehungen. Hierin gibt es zwar Abhängigkeiten, sowohl zwischen Staaten als auch zwischen Unternehmen, aber insgesamt gibt es keine Zentralmacht, die den Gesamtzusammenhang kontrolliert. Historisch hat es Weltreiche gegeben, die tatsächlich von einem Staat beherrscht wurden, etwa die Imperien der Römer und der Chinesen. Das Neuartige an der kapitalistischen Vergesellschaftung ist jedoch, wie Wallerstein argumentiert, daß es hier kein Weltreich gibt, sondern ein System von konkurrierenden Nationalstaaten, eingespannt in übergreifende Weltmarktzusammenhänge und in die Dynamik der Kapitalakkumulation. Auch die privaten Haushalte sind in diesem Zusammenhang eingespannt, als Produzenten von Arbeitskräften. Und selbst die staatssozialistischen Länder sind letztlich der Weltmarktdynamik unterworfen und können sich immer nur partiell hiervon abkoppeln. Damit will ich nicht den dezentral organisierten Weltmarkt statt der Zentralmacht zum »Leitmodell« der gesellschaftlichen Organisation erklären. Der Markt verknüpft vielmehr Vergesellschaftungsformen, die im Inneren nicht marktmäßig organisiert sind. Die Gesamtproduktion ist nicht homogen strukturiert — wie Ullrich es darstellt —, sondern heterogen.
In den Kämpfen der Arbeiterbewegung, der nationalen Bewegungen, der Frauenbewegung, der Ökologiebewegung dient jede Vergesellschaftungsform als Stützpunkt gegen die andere; hieraus erklärt sich ein Teil der Gegensätze in und zwischen diesen Bewegungen. Was für die einen Angriffsziel ist, dient den anderen als Stützpunkt. In der Arbeiterbewegung verläuft eine Spaltungslinie zwischen denjenigen Teilen, die sich vor allem gegen betriebliche und staatliche Herrschaft wenden, den Anarcho-Syndikalisten, und denjenigen, die sich primär gegen den Markt wenden und sich dafür auf den Staat stützen. Die Arbeiterbewegung hat sich in ihren Kämpfen fast immer auf die Familie gestützt (vgl. Ketelhut u.a.). Teile der Frauenbewegung bekämpfen die Familie und stützen sich dafür auf den Staat. Offenbar hängt politische Handlungsfähigkeit davon ab, ob es gelingt, die Unterschiede zwischen den verschiedenen Vergesellschaftungs-formen der Produktion fruchtbar zu machen. Diese Unterschiede werden in Ullrichs Darstellung unsichtbar.
Wir stoßen hier auf eine weitere sinnvolle Bedeutung von »Produktionsverhältnissen«. Im ersten Teil dieses Aufsatzes habe ich, mit Balibar, argumentiert, daß auch die Produktivkräfte Produktionsverhältnisse sind, Vergesellschaftungsformen der Produktion. Davon kann man, zweitens, die Produktionsverhältnisse als kapitalistische Marktbeziehungen und drittens die betrieblichen Herrschaftsverhältnisse unterscheiden. Viertens kann man unter »Produktionsverhältnissen« das oben skizzierte Ensemble von Vergesellschaftungsformen verstehen. Auch diese vierte Bedeutung läßt sich mit Argumenten von Marx und Engels rechtfertigen: Wenn man, wie Marx und Engels, unter »Produktionsverhältnissen« diejenigen Verhältnisse versteht, die die Menschen in der Produktion des unmittelbaren Lebens eingehen, und wenn man unter »Produktion des unmittelbaren Lebens« die Erzeugung nicht nur von Gütern, sondern auch von Menschen versteht (vgl. MEW 3, 330, und MEW 21, 27f.), dann sind Betrieb, Familie, Markt und bestimmte staatliche Einrichtungen Produktionsverhältnisse in einem ganz engen Sinne. Und — fünftens — könnte man unter Produktionsverhältnissen die großen Herrschaftsverhältnisse verstehen, die nicht mit diesen Vergesellschaftungsformen zusammenfallen, sondern sie durchqueren: Klassenverhältnisse, Männerherrschaft, staatliche Herrschaft nach innen und nach außen. Man könnte daraus den Schluß ziehen, daß der Begriff »Produktionsverhältnisse« sinnlos ist, weil zu vieldeutig. Ich möchte jedoch den umgekehrten Schluß ziehen: der Begriff »Produktionsverhältnisse« ist brauchbar, weil wir auf seiner Spur zu der Einsicht gelangen, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Menschen in der Produktion des unmittelbaren Lebens eingehen, nicht homogen sind, daß es nicht ein Produktionsverhältnis gibt, daß wir es vielmehr mit einer Vielzahl sich überschneidender Vergesellschaftungsformen zu tun haben. Dies erklärt einen Teil der Gegensätze in und zwischen den systemkritischen Bewegungen.
Ullrichs Vorstellung einer Homogenisierung der Verhältnisse nach dem Modell »zentralmachtorientierte Vergesellschaftung« erinnert an den hegelianisierenden Marxismus etwa von Lukäcs. Bei Lukäcs sind Warenfetischismus und Verdinglichung die Urphänomene, die die gesamte Gesellschaft nach einem einzigen Prinzip gestalten, bei Ullrich sind es Technik und zentralmachtorientierte Vergesellschaftung. Althusser hat dieses Denkmodell der »expressiven Totalität« gründlich analysiert und kritisiert; der Marxismus der letzten 20 Jahre ist beherrscht von dem Versuch, die hegelianischen Denkformen zu überwinden. Ullrich steckt tief in der klassisch bürgerlichen Tradition, die er kritisiert, er vertauscht nur die Vorzeichen. Wie die bürgerlichen Fortschrittsphilosophen sieht er eine zunehmende Entfaltung eines Prinzips, wie sie konstruiert er die Welt aus einem Prinzip heraus. Gemeinsam ist beiden die Unfähigkeit, die Verbindungen von Verschiedenem zu analysieren.
Im Ensemble der Vergesellschaftungsformen der Produktion — Betriebe, Haushalte, Markt und Staaten — hat die Technikentwicklung unterschiedliche Funktionen. Sie kann zusammengehen mit der Stärkung von Zentralmächten — von Privatunternehmen und Staaten. Sie fördert aber zugleich die Dezentralisierung, indem sie dazu beiträgt, immer mehr Bereiche an die kapitalistische Warenproduktion anzuschließen und damit in die Marktkonkurrenz zu integrieren. Die Technisierung wirkt auch in die Familienhaushalte hinein. Die relative ökonomische Stabilität der Zentren beruht ja unter anderem darauf, daß die proletarisierten Haushalte selbst zum Großabnehmer für Industrieprodukte geworden sind, und zwar nicht nur von Konsumgütern, sondern von Maschinen: von Autos und Elektrogeräten, von Nachrichtentechniken und neuerdings von Datenverarbeitungsanlagen. Zwar sind die Familien selbst von Herrschaftsverhältnissen durchzogen, sie sind gewissermaßen der Stammsitz der Frauenunterdrückung, aber dieses Herrschaftsverhältnis hat nicht die Form einer zen-tralmachtorientierten Vergesellschaftung. Die Maschinisierung der Familienhaushalte hat auch keine Tendenzen in dieser Richtung hervorgerufen.
Welche Probleme sind durch kommunale Selbstverwaltung lösbar?
Ein Ausweg aus einem System, das von einem einheitlichen Prinzip durchdrungen ist, scheint nur dann möglich zu sein, wenn es gelingt, sich auf Vergesellschaftungsformen zu stützen, die außerhalb des Systems stehen. Ullrich propagiert das Leben in kleinen Einheiten, die kommunale Selbstversorgung (vgl. Weltniveau, 118ff.). Von hier aus bekommt die Kritik der industriellen Technik ihren praktischen Sinn. Die Kommune ist für ihn das Gegenmodell zur zentralmachtorientieren Vergesellschaftung.
Die kommunale Selbstversorgung ist in der bisherigen Menschheitsgeschichte gewissermaßen die Normalform der Reproduktion gewesen. Erst der Kapitalismus hat sie in den industrialisierten Zentren weitgehend aufgelöst. Die Formen kommunaler Selbstversorgung waren mit Herrschaft gut vereinbar. Im großen und ganzen dürfte es zwei Grundformen der Reproduktion gegeben haben: kommunale Selbstversorgung ohne Staat und solche mit Staat. In den staatslosen Gesellschaften ist es zwar gelungen, Herrschaftsverhältnisse zwischen den einzelnen Dorfgemeinschaften systematisch zu verhindern (vgl. Sigrist 1979), aber nichts spricht dafür, diese Gesellschaften als herrschaftsfrei zu bezeichnen. Im Inneren der Dörfer herrschten die Männer über die Frauen. Zwar haben auch die Frauen in diesen Dorfgemeinschaften eine gewisse Macht, aber in letzter Instanz sind es die Männer, die, wie Godelier es formuliert, »den Gipfel der Machthierarchie besetzen« (1981, 10). Meillassoux spricht deshalb von Klassenverhältnissen. Die kommunale Selbstversorgung hat sich, historisch gesehen, als unfähig erwiesen, die Herausbildung von »zentral-machtorientierter Vergesellschaftung« zu verhindern. Das ägyptische, das chinesische, das inkaische Weltreich — alle bauen sich auf selbstversorgenden, tributpflichtigen Dorfgemeinschaften auf. Und natürlich erhob sich auch über den chinesischen Volkskommunen der Staat.
Ein besonders abschreckendes Beispiel des Kommunenlebens ist in meinen Augen übrigens das von Bahro propagierte Benediktinerkloster. Nach innen sind diese Klöster durch Gehorsam geprägt: durch die Unterordnung unter den Abt. Nach außen beruht ihre Attraktivität — vor allem zur Zeit der kluniazensischen Reform, der Hochblüte des Benediktiner-tums — auf einer Verschwendungsökonomie. Die Klassenteilung zwischen »Kopfarbeitern« und »Handarbeitern« durchzieht auch die Kloster-»Ge-meinschaften«: die einen beten, und die anderen — die Laienbrüder — arbeiten (vgl. Duby 1984). Wenn man schon ein historisches Vorbild braucht, dann würde ich die Ketzergemeinschaften vorziehen: sie waren egalitär und propagierten und praktizierten die Gleichheit von Männern und Frauen, sie wollten die Trennung zwischen Arbeitern und Grund- und Gerichtsherren beseitigen, jeder arbeitete mit den eigenen Händen (vgl. Duby 1981, 194ff.).
Die Bildung von selbstversorgenden Kommunen wird weder die ökologischen Probleme lösen noch die zentralmachtorientierte Vergesellschaftung blockieren. Sie kann auch nicht vor Herrschaftsverhältnissen im Inneren schützen. Sie könnte jedoch dazu beitragen, experimentell neue Formen der Vergesellschaftung zu entwickeln, vor allem Lebensweisen ohne die Trennung von Ökonomie, Politik und Kultur. In Kommunen könnte eine praktische Kritik der kapitalistischen Zivilisation entwickelt werden. Aber solche Kommunen könnten niemals »aus dem Industriesystem aussteigen«. Die Rede vom »Ausstieg« dient vor allem dazu, den Widerspruch zu verdrängen, daß jeder Versuch, mit den herrschenden Verhältnissen zu brechen, in diesen Verhältnissen selbst angesiedelt ist und deshalb immer in Gefahr steht, in die Reproduktion des Systems eingebaut zu werden (vgl. hierzu auch Frieder Otto Wolfs Kritik an der Rede vom »Ausstieg«). Ob solche kulturellen Alternativen die Sprengkraft entwickeln, zur Umwälzung der sozialen Strukturen beizutragen, wird davon abhängen, wie sie eingegliedert sind in das Gesamtsystem, und das heißt auch: wie sie verknüpft sind mit den anderen Versuchen der Befreiung.
In allen systemkritischen Bewegungen ist dies eine Zerreißprobe: Einstieg oder Ausstieg, Automomie oder Eroberung der Kommandohöhen. In der Arbeiterbewegung stellte sich diese Frage vor allem als Frage nach dem Verhältnis von Parlamentarismus und Antiparlamentarismus Ende des 19. Jahrhunderts; aber zu diesem Zeitpunkt gab es schon Erfahrungen mit anderen »Ausstiegs«-Strategien: mit der Gründung von Kommunen und Gesossenschaften. In der neuen Frauenbewegung ist das Verhältnis von »Gleichberechtigung« oder »Anderssein«, von Autonomie oder Eindringen in die Männerwelt eine der großen Streitfragen. In den nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt geht es um das Verhältnis von westlicher Zivilisation und einheimischer Kultur. Offenbar handelt es sich hier auch um ein fundamentales strategisches Dilemma. Das Problem jeder Ausstiegsstrategie besteht darin, daß es kein Außen gibt. Es ist unmöglich, der Dynamik des Gesamtsystems zu entkommen. Denoch ist die Strategie der Autonomisierung günstig für die Entwicklung von Alternativen, für das Experimentieren, für die Selbstveränderung. Auch die Tücken der Einstiegsstrategie sind leidlich bekannt. Alle Bewegungen, die versucht haben, das System von innen heraus zu verändern, mußten Kompromisse in Kauf nehmen und haben ursprünglich bekämpfte Imperative der Gesamtstruktur übernommen. Aber auch dieser Weg hat Vorteile gebracht, für die Arbeiterbewegung der Industrieländer etwa den Wohlfahrtsstaat, und das ist nicht wenig. Es sieht so aus, als ob alle systemkritischen Bewegungen in der Gefahr stehen, sich in diesem Dilemma zu verschleißen. Ein großer Teil der Energie wird im Kampf zwischen den Vertretern der Einstiegsstrategie und der Ausstiegsstrategie verausgabt. Muß man hieraus nicht die Lehre ziehen, daß eine wichtige Aufgabe darin besteht, diese wechselseitige Blockierung zu verhindern? Und daß das System zugleich von »innen« und von »außen« verändert werden muß (vgl. Poulantzas, 229ff.)? Eine Bedingung dafür ist, daß das Plädoyer für die eine oder andere Alternative mit der Darlegung von deren inneren Widersprüchen verbunden wird.
Bildung von Kommunen könnte noch einen anderen Sinn haben als den, kulturelle Alternativen zu entwickeln. Marx hat die Bildung von Kommunen nach dem Muster der Pariser Kommune propagiert; »Kommunismus kommt von kommunal« heißt es deshalb bei Michael Jäger. Eine Kommunalisierung in diesem Sinne hätte jedoch nicht die Form der Sezession, des Auszugs aus dem System, sondern wäre identisch mit dem Umbau des Staates in der Perspektive seines Absterbens. Auch bei einem solchen Umbau bleibt langfristig das Problem, wie zwischen den dezentralisierten Einheiten Absprachen getroffen werden. Dieses Problem kann nicht dadurch gelöst werden, daß die Arbeitsteilung stark eingeschrumpft wird, wie Ullrich es sich vorstellt. Die Geschichte kann hier tatsächlich etwas lehren: eine minimale Arbeitsteilung zwischen den Produktionseinheiten ist völlig ausreichend zur Herausbildung riesiger Zentralstaaten. Die einzige radikale Lösung bestünde in einer totalen Abkapselung der Kommunen gegeneinander. Niemand propagiert das ernsthaft. Auch in einer Wirtschaft, die weitgehend auf kommunaler Selbstversorgung beruht, müßten unterschiedliche Formen der Vergesellschaftung verknüpft werden. Auch wenn die staatliche Vergesellschaftung nicht die Lösung sein kann, es bleibt die alte kommunistische Frage nach alternativen Formen der Regelung des Gesamtzusammenhangs. Und es bleibt die feministische Einsicht, daß auch in dezentralisierten Produktionseinheiten Herrschaft ausgeübt wird.
3. Die Entwicklung der Produktivkräfte und das Verhältnis von
geistiger und körperlicher Arbeit
Ich habe im ersten Teil dieses Aufsatzes versucht, das Konzept »Kritik der Produktivkraftentwicklung« zu präzisieren. Im zweiten Teil ging es um die Produktionsverhältnisse; ich habe zu zeigen versucht, daß die Technikentwicklung nicht einfach mit zentralmachtorientierter Vergesellschaftung verbunden ist, sondern mit einer Kombination sehr verschiedener Vergesellschaftungsformen. In diesem letzten Teil möchte ich die beiden Argumentationsfäden zusammenbinden: die Frage der Produktivkraftentwicklung und die der Produktionsverhältnisse. Letztlich geht es um die Frage, ob sich das klassische marxistische Theorem vom Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen halten läßt. Hierfür beziehe ich mich auf ein neues Problemfeld: auf die Rolle der Körper in der modernen Produktion. Ullrich kritisiert die Industrialisierung aus drei Gründen: weil sie zu ökologischen Zerstörungen führe (vgl. den ersten Teil meiner Antwort), weil sie mit zentralmachtorientierter Vergesellschaftung einhergehe (hierauf bin ich im zweiten Teil eingegangen) und weil die Arbeit unbefriedigend sei. Befriedigende Arbeit ist für Ullrich verbunden mit körperlicher Arbeit; die moderne Technik schalte jedoch den Körper aus.
Eliminiert die Automatisierung die körperliche Arbeit?
Tätigkeiten, bei denen Fein- und Grobmotorik Entscheidendes zum Gelingen beitragen, werden auch in der vollautomatisierten Produktion nicht verschwinden. Zwar sind Programmieren, Systemüberwachen und Sachbearbeiten typische »Schreibtischarbeiten«, das Instandhalten wird jedoch weiterhin Elemente körperlicher Arbeit enthalten. Es wird auch in Zukunft notwendig sein, Maschinen auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Dies erfordert körperliche Bewegung im Raum, das Akzeptieren von körperlichen Risiken wegen der Gefahr von Unfällen und Verletzungen, den Einsatz der Muskelkräfte und der Feinmotorik. Dasselbe gilt für den Maschinenbau und andere Formen der Groß-Montage, etwa im Baugewerbe. Man könnte die Arbeit so organisieren, daß in möglichst viele Arbeitsplätze Elemente dieser körperlichen Arbeiten integriert werden.
Es werden zwei weitere Tätigkeitsfelder mit Elementen körperlicher Arbeit bestehen bleiben: 1. das Reinigen von Betrieben, Haushalten und kommunalen Einrichtungen und 2. das Aufziehen von Kindern, das Pflegen von Kranken und Alten. Diese Arbeiten gehören genauso zur notwendigen materiellen Reproduktion einer Gesellschaft wie das Herstellen von Produktions- und Lebensmitteln. Ich weiß nicht, ob Ullrich das als körperlich befriedigende Arbeiten begreifen würde. Aber wenn er meint, daß körperlich befriedigende Arbeit verschwindet, hat er offenbar nicht an das Kinderaufziehen und ähnliches gedacht. Das verweist darauf, daß in die Vorstellungen von »körperlich befriedigender Arbeit« eine Reihe stillschweigender Voraussetzungen eingehen. Nur das Handwerk scheint ernstzunehmende körperliche Arbeit zu sein. Man kann daraus folgern, daß die Vorstellungen von körperlich befriedigender Arbeit nicht anthropologisch begründet sind, wie Ullrich es darstellt. Es scheint sich bei dem, was er sich unter körperlich befriedigender Arbeit vorstellt, weniger um ein menschliches als vielmehr um ein männliches Bedürfnis zu handeln. Man kann über körperliche Arbeit nicht sinnvoll reden, ohne über die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zu sprechen.
Die Unterminierung der Diskursspaltungen
durch die Produktivkraftentwicklung
In einem lesenswerten Aufsatz über Gentechnologie schreibt die Biologin Donna Haraway:
»Ich beobachte mit großem Vergnügen, wie traditionelle, weiße, westliche männliche Philosophen sich plötzlich mit dem Körper, dem Animalischen, identifizieren, wenn sie ihre menschliche Identität durch die EntScheidungsprozesse eines Computers bedroht sehen. Mensch sein, heißt für sie jetzt nicht mehr Geist, sondern Körper zu sein, weil die Maschine im 20. Jahrhundert den Geist in einer Weise zu bedrohen scheint, wie sie im 19. Jahrhundert den Körper bedrohte.« (1984, 80)
Offenbar ist Ullrichs Plädoyer für körperlich befriedigende Arbeit mehr als eine individuelle Vorliebe. Vor unseren Augen scheint sich ein Paradigmen-Wechsel abzuspielen, der Übergang vom Geist-Diskurs zum Körper-Diskurs, und dieser Wechsel scheint wiederum mit einem Umbruch in der Identität von weißen, westlichen, männlichen Intellektuellen zusammenzuhängen. Der klassische Gegensatz von körperlicher und geistiger Arbeit kommt in Bewegung. Ullrich operiert weiterhin im Rahmen der Gegensätze von Körper und Geist, Lebendigem und Totem, Natürlichem und Künstlichem, von Mensch und Natur; und auch hier nimmt er nur eine Reihe von Umpolungen vor: die körperliche Arbeit wandert gewissermaßen vom Minuspol zum Pluspol. Was hat es mit den zugrundeliegenden dualen Schemata auf sich?
Der Gegensatz von »geistiger« und »körperlicher Arbeit« oder von »Kopf«- und »Handarbeit« ist eines der wichtigsten Denkmuster, durch die hindurch in unserer Gesellschaft die gesellschaftlichen Verhältnisse gedacht werden. Wörtlich genommen sind die Begriffe Unsinn. Eine typische »körperliche Arbeit«, wie die eines Drehers, ist mit viel »Kopfarbeit« verbunden; auf der anderen Seite werden oft Ärzte oder Musiker als Kopfarbeiter angesehen, obwohl sie nicht weniger handwerklich arbeiten als ein normaler Facharbeiter. Das Kriterium dafür, ob jemand auf der Seite der »Kopfarbeit« oder der »Handarbeit« angesiedelt wird, ist nicht die Rolle seines Kopfes oder seiner Hand bei der Arbeit, sondern seine Funktion für die gesellschaftliche Reproduktion. Jeder Mensch ist ein Intellektueller, schreibt Gramsci, aber nur einige haben die Funktion, Intellektuelle zu sein. Diese Funktion ist nicht primär dadurch bestimmt, daß man besonders viel denkt, sondern daß man an der Regulation übergreifender sozialer Zusammenhänge teilhat. Ein Handwerker wie Yehudi Me-nuhin gehört deshalb zur »Geisteswelt«, weil er mit seinem Geigenhandwerk an der Konstituierung einer Welt der »Bildung« teilhat, und weil diese »geistige« Welt wiederum wichtig ist für die Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse. »Geistige« und »körperliche Arbeit« sind keine empirisch tragfähigen Kategorien, sondern ideologische Größen. Auch das Belastungskriterium taugt nicht zur Unterscheidung: »geistige Arbeit« — zum Beispiel die von Programmierern — kann körperlich ruinös sein. Das Ideologem »körperliche/geistige Arbeit« hängt zusammen mit einem grundlegenden Mechanismus ideologischer Vergesellschaftung: damit, daß Herrschaftsverhältnisse als ideelle Verhältnisse aufgefaßt werden. Der Staat herrscht so als geistige oder ideelle Sphäre über die Gesellschaft mit ihren schmutzigen materiellen Interessen; Männer verkörpern den Geist, Frauen die Natur; die Kolonisatoren sind die Träger des Geistes, der Zivilisation, die Kolonisierten sind die Barbaren, ungezügelte Natur. Das sind nicht nur Vorstellungen. Das Ausbildungswesen sorgt ganz praktisch dafür, daß Herrschaftsverhältnisse in Qualifikationsdifferenzen übersetzt werden. Ein grundlegender Mechanismus der ideologischen Vergesellschaftung besteht also darin, daß die Herrschaftsfunktionen der arbeitsteiligen Regulation von übergreifenden gesellschaftlichen Zusammenhängen in den Gegensatz von Geist und Körper übersetzt werden oder in verwandte Dualismen (Subjekt/Objekt, Kultur/Natur usw.). Vergesellschaftung durch Herrschaft erscheint so als Vergesellschaftung durch Ideen, als »ideelle Vergesellschaftung von oben«, wie W.F. Haug es formuliert hat. Ideologische Vergesellschaftung ist der Vorgang, durch den die »Vergesellschaftung von oben« als eine »ideelle Vergesellschaftung« erscheint.
Das »Ideelle« hat keine andere Existenz als die einer Diskursspaltung: es existiert in der Reihe der Dualismen von Geist und Materie, Subjekt und Objekt usw. Die sozialen Spaltungen — die Macht- und Herrschafts-verhältnisse — werden dadurch ideologisch reproduziert, daß sie in solche Diskursspaltungen transformiert werden. Dies geschieht nicht nur auf der Ebene der Rede, sondern auch institutionell, durch die Wirkungsweise der Wissenschafts- und Ausbildungsinstitutionen. Das Ensemble der Vergesellschaftungsformen — Markt, Staat, Betrieb, Familie — wird nicht zuletzt durch solche diskursiven Spaltungen zusammengehalten. Auch das Verhältnis Familie — Betrieb wird oft in einer solchen Polarität gedacht und gelebt: nämlich im Dualismus von Lebendigem und Mechanischem. Die Familie ist dann, wie bei Habermas, die »Leferaswelt«, der Betrieb hingegen ist die Sphäre des »instrumentellen Handelns«.
Die ideologischen Dualismen von Geist und Körper, von Lebendigem und Mechanischem geraten heute in die Krise, und zwar vor allem durch die Entwicklung der modernen Produktivkräfte, durch Computertechnik und Gentechnologie. Der Computer übernimmt viele Funktionen, die traditionell als »Denken« bezeichnet werden; damit wird der Gegensatz von »Bewußtsein« und »Sein«, von »Geist« und »Materie«, von »Subjekt« und »Objekt« absurd. Dies halte ich für eine der positivsten Seiten der Computerisierung: die Ideologeme, die mit der Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse verkoppelt sind, geraten unter Druck. Bamme und andere sprechen deshalb auch zustimmend von einer »zunehmenden Ent-mythologisierung geistiger bzw. psychischer Qualitäten des Menschen ..., so wie vorher durch die klassich-mechanischen Wissenschaften Erscheinungen der toten Natur entmytholigisiert wurden, wie zum Beispiel das Phänomen eines Gewitters, also Blitz und Donner« (157). Bamme und andere sehen aber nicht, daß damit die ganze dualistische Konstruktion von Geistigem und Materiellem oder Immateriellem und Materiellem unsinnig wird. Computer sind nicht »geistig« oder »immateriell«, sondern sie verarbeiten Informationen, es sind Sprach- oder Symbolmaschinen. Mit »Information«, »Sprache«, »Zeichen« oder »Symbol« sind wir nicht mehr in einer dualen Logik. Wir befinden uns auch nicht im geheimnisvollen Reich der »Einheit« von Geist und Mysterie — solche Versuche, den Dualismus durch die Propagierung von »Einheiten« zu überwinden, sind gewöhnlich noch mystifizierender als die dualisitischen Konzepte, da sie die Spaltung indirekt reproduzieren (vgl. meine Kritik an Capra). Mit Kategorien wie »Information« oder »Symbol« befinden wir uns in einer völlig anderen Begriffsanordnung. Hier geht es um Grundbegriffe wie Stoff, Energie und Information, wozu man vielleicht, wie Miller, Galanter und Pribram vorgeschlagen haben, eine vierte Kategorie hinzufügen kann: die Steuerung.
Auch die Sprache der Gentechnologen ist informationstheoretisch. Das Geheimnis des Lebendigen wird entschlüsselt in Kategorien des »Kodie-rens«, des »Kopierens« und der genetischen »Software«. Wie die Computertechnik hat auch die Gentechnologie ihre Gefahren: die bloß pharmazeutisch und kurativ orientierte Medizin bekommt neuen Auftrieb; ähnlich wie bei der Computerisierung besteht die Gefahr zunehmender Überwachung, im Fall der Biotechnik die Gefahr genetischer Überwachung und genetischer Selektion für Arbeitsplätze und im Rahmen von Gebärpolitiken; die Gentechnik ist für die bakterioligsche und chemische Kriegsführung geeignet. Vielleicht stehen wir am Beginn eines neuen genetischen Determinismus und neuer genetischer Normalisierungsstrategien (vgl. Herbig 1982); der Kabarettist Martin Buchholz versucht seit Jahren, die Linke auf den modernisierten Rassismus aufmerksam zu machen, den die Begründer der neueren Biologie ausgebrütet haben.
Zugleich untergräbt die moderne Biotechnik, wie die Computerisierung, die ideologischen Dualismen von Geist und Körper, Lebendigem und Mechanischem, Künstlichem und Natürlichem. Man kann das gut an Ullrichs Aufsatz in diesem Band beobachten. Ullrich behauptet, die Industrialisierung habe zum Prinzip, Lebendiges durch Totes zu ersetzen. Er operiert damit noch im Rahmen der traditionellen Logik: er verteidigt das gute Lebendige gegen das schlechte »Tote« und meint mit dem »Toten« das Mechanische, die Industrie. Die Bioindustrie ist mit diesem Denkmuster nicht mehr faßbar. Sie ersetzt nicht das Lebendige durch das Tote, sondern umgekehrt das Tote durch das Lebendige. Sie schaltet das Lebendige nicht aus — sie schaltet es ein.
Dies ist die Situation, in der »traditionelle, weiße, westliche männliche Philosophen sich plötzlich mit dem Körper, dem Animalischen identifizieren«, wie Donna Harraway schreibt. Die Pole werden umgewertet — aber die Polarität bleibt erhalten. Die Seele zieht sich auf den Körper zurück, der Körper wird zum Träger der Identität, des Ichs. Ich fühle, also bin ich. Damit wird eine Chance vertan. Die grundlegende Struktur bleibt, sie wird unter umgekehrten Vorzeichen verteidigt: die Spaltungslogik von Körper und Geist, von Lebendigem und Mechanischem, von Natürlichem und Künstlichem. Aber diese Dualismen und dieser Traum einer festen Identität sind der Zement, der die Herrschaftsverhältnisse so stabil macht.
Ullrich greift hier, als Intellektueller, auf eine Körpersymbolik zurück, die bei männlichen Industriearbeitern eine große Rolle spielt. Ein Großteil der Arbeiter grenzt sich von »denen da oben« aktiv durch die Betonung der Körperlichkeit ab; ihre Körperbetonung hat ein antikapitalistisches Element. Zugleich richtet sie sich, wie Willis gezeigt hat, gegen die Frauen. Der Antikapitalismus verschmilzt so mit der Männerherrschaft. Hieraus erklärt sich zum Teil die Kritik von Arbeitern an der »Körperausschaltung«. Die Arbeitstätigkeiten werden in ihren Augen »weiblich«; sie sehen ihre Art der Männlichkeit bedroht, die mit Elementen der »Körperkraft« und der »körperlichen Geschicklichkeit« verbunden ist (vgl. Räthzel; Cockburn 1983; PAQ 1983, 125ff.). Das konnte etwa dazu führen, daß die Männer, die während des Störfalls im Atomkraftwerk bei Harrisburg arbeiteten, sich weigerten, die Gefahr anzuerkennen. Sie hätten akzeptieren müssen, daß da etwas geschah, was mächtiger war als sie, was sie nicht sehen, nicht schmecken und nicht berühren konnten. Das lag nicht einfach an der für Menschen undurchdringlichen Unsinnlichkeit des Prozesses — den Ehefrauen dieser Männer war das Problem sofort klar. Es lag daran, daß die Männer sich nicht eingestehen konnten, daß es etwas gab, was außerhalb ihrer Körperkompetenzen lag. Die Frauen von Harrisburg haben dafür den Ausdruck »nuclear macho« geprägt (vgl. B. Nemitz). Die Automatisierung führt die Körper in eine Krise. Was »männlich« und was »weiblich« ist — alles scheint durcheinanderzugeraten. Auch die traditionellen Formen, die Körper in der Arbeit gesund zu erhalten, versagen (vgl. Projekt Automationsmedizin; Waldhubel). Aber könnte das nicht auch eine Chance sein, zu lernen, die Körper auf eine weniger herrschaftliche Weise zu vergesellschaften?
Ich denke, wir sollten dem Vorschlag Donna Haraways folgen, und den Zusammenbruch der Dualismen von Geist und Körper, Lebendigem und Mechanischem, Natürlichem und Künstlichem und die damit verbundenen Identitätskrisen als Möglichkeiten begreifen, die uns bereichern könnten. Vielleicht können wir so das klassische marxistische Konzept vom Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen neu fassen. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse blockieren nicht die Produktivkräfte, und die Produktivkräfte sprengen nicht die Produktionsverhältnisse. Aber die Produktivkraftentwicklung führt die etablierten Strukturen der betrieblichen Vergesellschaftung in eine »Krisenanordnung« (F. Haug). Dabei geraten nicht nur die tradierten Formen betrieblicher Herrschaft in Unordnung; die Produktivkraftentwicklung kollidiert auch mit den ideologischen Spaltungen, die den Kitt der Herrschaftsverhältnisse bilden. Die festen Konturen verwischen sich, die Fronten geraten durcheinander. Es entsteht eine Situation, in die man eingreifen kann.